I. Das Milieu.

Über Theodor Michailowitsch Dostojewsky in seiner Gesamt-Erscheinung als Dichter, Psychologe, als Ethiker und Mensch zu sprechen, ein erschöpfendes Bild seines Lebens und seiner künstlerischen, sowie vor allem seiner seelenzwingenden Wirksamkeit zu geben, das wäre heute, sogar in Russland unter seinen Landsleuten, ein gewagtes Unternehmen. Einerseits ist er der gegenwärtigen Generation noch zu nahe; alles was über ihn gesagt werden könnte, stünde noch im Zeichen des Kampfes. Er hat ja, wie alle mächtig ausgeprägten Individualitäten, im Leben bis zu seinem letzten Atemzuge heftig gekämpft und Kampf erzeugt.

Anderseits leben seine nächsten Angehörigen, seine Freunde noch, und diese sind im Besitze der intimeren Erinnerungen und Äusserungen seines persönlichen Lebens, die sie begreiflicherweise heute schon preiszugeben nicht geneigt sein können; ganz abgesehen davon, dass die Ausnützung intimer Lebensverhältnisse zum Zwecke des Litteraturklatsches, ohne Hinblick auf die inneren Zusammenhänge und die Einheitlichkeit des Wesens, dem man nahe zu kommen trachtet, nicht scharf genug als müssige Indiskretionen gebrandmarkt und verpönt werden können.

Wir Europäer hinwieder bringen dem Dichter eines uns in hohem Grade interessierenden Volkes eine Art unbehaglicher, verblüffter Neugierde entgegen, zu der uns der grosse Seelen- und Krankheitskenner und Maler wohl zwingt, lehnen aber die nähere Bekanntschaft seines tiefen Zusammenhanges mit jenem Volke aus Bequemlichkeit, aus Furcht vor dem Fremdartigen dieses Volkes ab, das, wie Nietzsche sagt, „die allerstärkste und erstaunlichste Kraft, zu wollen, in sich aufgespeichert hat, mit der ein Denker der Zukunft wird rechnen müssen“. Dazu tritt noch, dass unser grosses Publikum alles, was von Russland kommt, unserer heutigen Ideenrichtung nach nur dann besonders fesselt, wenn es die Äusserungen sozialistischer, revolutionärer, atheistischer Anschauungen einer unter harter Despotie seufzenden Intelligenz vermittelt. Äusserungen, deren Intensität im Gegensatze zu den sie hervorrufenden Zuständen, es fast als litterarische Pikanterie geniesst.

Aber mit der eigentümlichen Erscheinung eines Dichters, der zugleich lebensvoll (nicht asketisch wie Tolstoi) und mystisch religiös, der durchaus demokratisch und dabei durchaus konservativ ist, wissen wir nichts anzufangen.

Dostojewsky ist, wenn nicht der einzige, so doch der grösste Repräsentant dieser merkwürdigen Konstellation, und wir müssen die scheinbaren Widersprüche, die darin liegen, in der Grösse seines Genies und seines Herzens auflösen und etwa so ansehen, wie wir die Widersprüche der Natur ansehen, welche Tag und Nacht, Ost und West mit einem grossen Ringe umspannt. Vor allem dürfen wir Dostojewsky nicht litteraturmässig auffassen, sondern als einen grossen, seelenbewegenden Schöpfer „in einem ungeheuern Reich, mit einem ungeheuern Willen“. Unter uns hört man oft den Ausspruch: „Dostojewsky ist ein grosser Künstler, aber sein mystisches Christentum ist sehr störend“. So angesehen zerfällt sein Bild sofort in einzelne Teile. Man muss vielmehr sagen: er ist ein Apostel des Glaubens an die Mission der Volksseele, an die Läuterung auch Europas durch das russische Volk, und er kann, vermöge seines unvergleichlichen Dichtergenius, seine Wahrheiten nicht anders hinausrufen, als in Werken von hohem künstlerischen Werte.

So gefasst bleibt uns seine Erscheinung eine Einheit, die wir in allen seinen Werken wiederfinden, so fest und kompakt wie etwa ein Urgestein, das bei dem kleinsten Bruch dieselbe Krystallgestalt zeigt.

Wir werden also vor allem diese ethische Einheit im Auge haben, wenn wir es versuchen, an der Hand lückenhafter russischer Biographieen, sowie des Materials, das uns seine Tagebücher, die Aufzeichnungen seiner Gattin, seiner Freunde und Mitarbeiter und vor allem seine Werke vermitteln, ein, soweit es möglich ist, getreues Bild seines Lebens und Wirkens einem deutschen Leserkreis zu geben.

Ehe wir aber das biographische Material ausgestalten, müssen wir einige Vorbemerkungen über das Milieu einschalten, dem der Dichter entsprossen ist.

Wenn wir nämlich die Werke französischer, englischer, italienischer, kurz europäischer Schriftsteller lesen, so bringen wir ihrem Milieu so viel Kenntnis und Anpassungsvermögen entgegen, dass wir ohne weiteres sagen, der oder jener schildere die Menschen so oder so. Lesen wir indes russische Werke, so ist unser Urteil steuerlos; wir sehen ein fremdartiges, uns sehr unbequemes Milieu und darin — einen Russen, den wir uns erst in unser Menschliches übersetzen müssen, wobei wir oft unsere liebe Not haben. Das hat seine tiefe Bedeutung. Wir haben da wohl mit Halbbarbaren zu thun, aber mit jungen, ungebrochenen Kräften, mit einem Volke, das wir erst kennen lernen, demgegenüber wir manches „umlernen“ müssen.

Allerdings kann ein Nichtrusse, namentlich, wenn er sich nicht eine lange Zeit im Lande selbst umgesehen hat, kein lebendiges und ganz zutreffendes Bild von Russland und seinem Volke entwerfen. Lässt ja Dostojewsky selbst in einem seiner Romane zwei gute Patrioten ein Gespräch miteinander führen, in dem der eine ungefähr sagt: „Der M. N. giebt vor, zu wissen, was Russland ist — ja wissen wir es denn selbst?“

Nun aber kann ein Fremder, der sich die Sprache so zu eigen gemacht, dass er ihre intimen Nüancen, die familienhafte Unmittelbarkeit ihrer Laute nachempfindet, ein solcher Fremder kann wohl mit frischem Blicke und ganz unbefangen gewisse Hauptmerkmale der Volksseele, die diese Sprache ausdrückt, gewahr werden. Dies ist hier um so leichter der Fall, als alles Russische ein so durchaus uneuropäisches Gepräge an sich trägt.

Was uns als ein durch alle Schichten dieses Volkes gehender Zug vor allem auffallen muss, ist die familienhafte Zusammengehörigkeit und Brüderlichkeit aller mit allen. Dies drückt sich schon in der Sprache aus: Väterchen, Mütterchen, du mein Verwandter, oder: du meine Verwandte sind die gebräuchlichsten Formen der Anrede. Dieses Familiengefühl geht von unten hinauf, nicht umgekehrt, allein das ist es, was ihm ewige Dauer sichert. Dadurch, dass der Sprachgebrauch in der direkten Anrede keine Titel und keinen Geschlechtsnamen, nur Taufnamen mit dem höflichen Zusatz des Vatersnamens zulässt, geht eine, wenigstens formale Intimität durch die ganze Nation, von welcher sich kein modern „demokratisches“ Volk etwas träumen lässt. Nicht nur der Bauer, sondern auch der Hoflakai führt für den Kaiser oder Grossfürsten keine andere Benennung oder Anrede im Munde als etwa: „Nikolai Alexandrowitsch, Helene Pawlowna lässt Euch bitten“ oder ähnliches. Für das Volk ist diese Form eine intime Herzenssache, für die „Gesellschaft“ hat sie nur den Wert einer patriarchalischen Reminiscenz, und das Volk selbst als „Brüder“ zu betrachten, ja einen wie immer beschaffenen Massstab an seine Leiden und Freuden zu legen, hat die Gesellschaft der oberen Zehntausend bis heute noch nicht geträumt. Darin liegt wohl, wie es scheint, die scharfe Trennung der konservativen russischen Kreise von den neueren liberalen. Allerdings wachsen auf diesem Gebiete Missverständnisse wie die Disteln empor. Denn, indem sich viele energische Liberale nicht auf die Vermenschlichung ihrer Beziehungen zum Volke, auf den guten Einfluss der Bildung allein beschränken, die sie diesem hochintelligenten, aber in tiefe, abergläubische Religiosität eingesponnenen Kinde vermitteln, so fallen ihnen andere Wohlmeinende in die Hände, welche von der Vernichtung der Unwissenheit und des Aberglaubens auch jene des Glaubens und der Ehrfurcht befürchten; so wird die Beziehung der Intelligenz zum Volke in ein Gebiet übergeleitet, das sich von den ursprünglichen Absichten allmählich und unbemerkt entfernt.

Ein anderer Zug, welcher durch alle Schichten des russischen Volkes geht (die Gesellschaft als solche aus dem Spiel gelassen), ist eine Fähigkeit zum Leiden und Mit-Leiden, das sich auf den Schuldigen und Verbrecher erstreckt. Auch hier giebt uns die Sprache bedeutsame Fingerzeige; das Volk nennt jeden Verbrecher einen „Unglücklichen“, und die Sprache selbst, welche für das Menschliche drei Ausdrücke streng unterscheidet, nämlich: „Menschlich“, „Allgemeinmenschlich“ und „Allmenschlich“, sie hat für die Nüancen der Schuld, die wir dreifach besitzen: „Übertretung“, „Vergehen“, „Verbrechen“, ausser dem Worte Schuld nur das eine Wort „Übertretung“ (Prestupljenie).

Wir sehen hier, dass wir es mit etwas anderem zu thun haben, als mit unserem europäischen Mitleid, das die Franzosen unter anderem „une fonction purement cérébrale“ nennen, eine reine Gehirnangelegenheit, im Gegensatze zur allmächtigen und allberechtigten „passion“. Hier ist eine Kluft zwischen den Ausgangspunkten der ethischen Anschauungen von Ost und West, die man nicht ernst genug betrachten kann.

Ein anderer auffallender Zug der russischen Natur ist die mit tiefer Religiosität verbundene Demut des Russen, die auch da erhalten bleibt, wo, wie in den Kreisen der dem Westen nachstrebenden Intelligenz, jede Spur von Glauben gewichen ist. Der Russe ist sehr schnell bereit, sein Unrecht einzusehen und auch einzugestehen, sowie sich um deswillen vor Freund und Feind zu demütigen oder anzuklagen. Da nun ein solcher Einsichtswechsel bei seiner nervösen, grübelnden und immerfort „die Wahrheit“ suchenden Natur sehr oft vorkommt, so bietet er uns Westländern, die wir Dekadenten, d. h. mit unseren Gebrechen kokettirende Menschen sind, ein Bild feiger Selbsterniedrigung. Denn der Westen versteht heute zumeist unter dem Begriff „Charakter haben“, dass man nichts verzeihen und nichts zugeben solle, und es ist ihm um viel realere Güter zu thun, als um die bei den Russen in jeder Lebenslage auftauchende Sorge und Frage „wie soll mein Leben sein?“

Ein dritter, hervorstechender Zug, der uns bei dem Russen auffällt, ist das, was wir Deutsche Unzuverlässigkeit, Unpünktlichkeit, Regellosigkeit nennen müssen. Wenn man die Unmöglichkeit erprobt hat, ein echtes Kind der russischen Erde zu einer festgesetzten Zeit an einen bestimmten Ort zu bekommen, oder in seinem Hause, seiner Tageseinteilung auch nur das geringste System oder die geringste Ordnung zu finden oder zu schaffen, so möchte man fast das bekannte Sprichwort erweitern und sagen: „Dem Glücklichen, sowie dem Russen, schlägt keine Stunde“. Russen können zu jeder Stunde des Tages ihr Lager aufsuchen, wenn sie etwa verstimmt sind, zu jeder Stunde der Nacht Thee trinken und Freunde besuchen. (Dabei spielt wohl der Einfluss der hellen, den Schlaf bannenden Nächte eine grosse Rolle.) Aber nicht das allein. Sie bringen ihre Freunde zu anderen Freunden, ohne Anfrage, ohne Umstände, zu allen Mahlzeiten, mitten in der Nacht. Diese Freunde der Freunde sind etwa krank, erkranken dort in fremdem Hause, oder sie erhalten dort eine schwere Nachricht — so ist das ganze fremde Haus, das nun nicht mehr ein fremdes ist, in Mitleidenschaft gezogen. Man bleibt zusammen auf, man quartiert den Freund des Freundes und sich im eigenen Hause wie in einem Bivouac ein, das man zum erstenmal bezogen, kurz es ist eine selbstverständliche Lebensgemeinschaft. Ein Russe, dem man einmal seine absolute Unpünktlichkeit vorwarf, erwiderte mit vielem Ernste: „Ja, das Leben ist eine schwere Kunst! es giebt Augenblicke, die richtig gelebt sein wollen und viel wichtiger sind, als das pünktlichste Worthalten.“

Und nun die russischen Frauen. Sie leben und weben von innen heraus, sie haben grosse Ziele, ernste Interessen, ein offenes Auge für die Aussenwelt, für das, was sie umgiebt und was not thut. Die russische Frau verbindet die Reinheit und den Enthusiasmus eines jungen Mädchens mit der Klarheit und der Vorurteilslosigkeit des Mannes; sie hat etwas Jünglinghaftes an sich. Dabei nimmt sie es allerdings mit der bis ins kleinste gehenden Akkuratesse einer deutschen Hausfrau, oder mit der bis in die feinste Abschattung durchgeführten Eindrucks-Delikatesse der Französin nicht auf. Das Daheim einer echten Russin wird mitunter ein Chaos aufweisen, das unsere Landsmänninnen, namentlich jene des Nordens, abschrecken müsste. Doch auch die Russin wird uns auf unsere Vorstellungen über Genauigkeit und Ordnung antworten: „Ja, jeder Augenblick will richtig gelebt werden, das Kleine darf das Grosse, das Detail nicht das Allgemeine verbauen“, und wir hörten einmal eine Russin sagen, dass die Petersburger Frauen und Mädchen auf der Strasse sehr eilig gehen und in die Ferne schauen, so dass man sehen könne, wie sie einem Ziele entgegen gehen, während die Frauen europäischer Grossstädte so gehen, als wäre die Strasse selbst das Ziel. Es ist eben die „breite russische Natur“ („schirokaia russkaia natura“), wie sie es nennen, was sich überall geltend macht, und wir möchten uns, gerade auf diese so unharmonisch scheinende Verbindung gestützt, der Anschauung Dostojewskys anschliessen, welcher sagt, dass die nächste Zukunft des Menschengeschlechtes in der Hand der Russin liegt.

Hier muss jedoch sofort betont werden, dass diese Umgestaltung nicht auf dem Wege der Frauenbewegung als vor sich gehend gedacht werden darf. — Die russische Frau hat ihre ethische und soziale Befreiung längst vollzogen und zwar — wenn wir die Spezies Nihilistin ausnehmen — ganz organisch, von einem rein natürlichen Standpunkt aus in Angriff genommen, von dem der Mütterlichkeit. Sie will und muss die Gefährtin, ja Führerin ihrer männlichen Hausgenossen sein, ihre Interessen teilen, in ihrem Rate eine vollwichtige Stimme haben. Ferner wirkt im Gemüte der russischen, von Vorurteilen befreiten Frau vor allem der Wunsch, nützlich zu sein, ihrem Volke zu dienen. So ist es gekommen, dass die Russin heute ihre Fähigkeit zu Freiheit und Kultur schon durch ihr Leben bewiesen hat, während die europäische bewegte Frau ihre Freiheit und Kultur mittels des Beweises anstrebt, dass sie fähig sei, abseits von der Familie zum Leben zu gelangen. Dies ist ein grundlegender Unterschied.

Den genannten Hauptcharakterzügen des Russen gesellt sich ein unausrottbares Misstrauen in allen seinen Beziehungen zum Nebenmenschen bei, allein ein Misstrauen, das viel mehr dem immerwachen Gefühle der eigenen Unzulänglichkeit und „Sündhaftigkeit“ entspringt, als dass es sich auf den Unwert des anderen bezöge. Es ist das Misstrauen der Demut im Gegensatze zum Misstrauen der Routine.

Sehen wir uns dazu den geographischen und historischen Hintergrund an, aus dem heraus sich diese Volkspersönlichkeit entwickelte, so finden wir ein ungeheures, kompaktes Reich mit uferlosen Steppen und einem unermesslichen Horizont, wo das träumende Auge des Steppenbewohners in eine grenzenlose Einsamkeit hinausblickt, dünn bevölkert, ohne bedeutende Küstenentwicklung, ohne namhaften Welthafen — „ein Riese in einer grossen, niedern Stube“, wie Dostojewsky sagt. Diese kolossale Einheit ist einer Sprache, eines Glaubens, sie hat keine durchgreifenden Mischungen und sprachlichen Umbeugungen erlitten, kein fremdes Blut, es sei denn finnisches, hat diesen Riesenkörper durchädert. Sein „weisser Kaiser“ ist ihm Vater, hoher Priester, Herr, zu dem es als zu dem Helfer in aller Not blind vertrauend aufblickt. Dieses Volk macht seine Entwickelungsprozesse langsam durch, steht heute in seiner Kindheit und wandelt seinem Mittelalter zu. Ackerbau und Viehzucht sind noch heute seine vornehmlichen Lebensquellen, die Städte sind dünn gesäet, der Kleinhandel ist in den Händen des moskowitischen Kleinbürgers, Grosshandel und Industrie ebenfalls in den Händen des grossen Moskauer Kaufherrn, sowie in denen des Ausländers und des Juden. So giebt es denn kein eigentliches grosses Bürgertum, und die Gesellschaft, die wir heute Bourgeois nennen, setzt sich aus dem kleinen Landsassen — Gutsbesitzer — und dem Beamtenstande zusammen.

Dieses höchst langsame, doch organische Wesen der Volksentwickelung hat Peter der Grosse mit seinen Reformen durchrissen. Ein mit unermesslichen Mühen und Opfern dem Meere abgerungenes Stadtgebiet ist der Beginn und gleichsam das Symbol seiner zivilisatorischen Thätigkeit. Petersburg, das „ausgebrochene Fensterchen“ gegen Europa zu, hat europäische Luft und europäisches Wesen, Europas Sitten und Unsitten, Europas Philosophie, Aufklärung und Dekadenz, kurz den „Europäismus“, wie sich Dostojewsky ausdrückt, hereindringen lassen. Die kompakte Masse des Volkes indessen ist von diesen Neuerungen nicht berührt worden, und wenn auch hie und da in den Städten der altrussische Bart der europäischen Schere, und der Zipun, der altrussische Kittel, dem europäischen Kleide zum Opfer gefallen ist, so ist doch der Bauer bis auf den heutigen Tag nicht zum Bewusstsein seiner Bürgerrechte im europäischen Sinne erwacht. Gleichwohl ist er im Besitze gewisser alter Gemeinderechte und -freiheiten (Obščina, Mir), welche in den Augen vieler zeitgenössischer Agrarier als die einzige Lösung aller Schwierigkeiten des Grundbesitzes und als das einzige Arcanum gegen die Proletarisierung des Bauernstandes erscheinen. Ob dies eine richtige Anschauung sei, können wir hier nicht untersuchen.[1] Auch über die wichtigste Streitfrage, welche die führenden Geister Russlands seit der nachpetrinischen Zeit bewegt hat und noch heute bewegt, wiewohl sie im Erlöschen zu sein scheint, können wir hier nur ganz kurz sprechen, müssen sie jedoch berühren, weil die zwei Hauptströmungen des russischen Lebens aus ihr entspringen und dem Europäer nur durch den Einblick in diese Frage das Verständnis für Russland und sein künftiges Werden aufzugehen vermag. Es ist dies die Frage, die v. Reinholdt in seiner „Geschichte der russischen Litteratur“ folgendermassen formuliert: „Wie verhält sich die orthodoxe Kirche zur römischen und protestantischen? als ursprüngliche Gemeinschaft anfänglicher Unterschiedslosigkeit, aus welcher, auf dem Wege späterer Entwickelung und des Fortschritts andere, höhere Formen religiöser Weltanschauung sich entwickelten, oder als ewig dauernde und ungeschmälerte Vollkommenheit der Offenbarung, welche in der occidentalen Welt der römisch-germanischen Anschauungen sich unterworfen, und infolgedessen in entgegengesetzte Pole sich spaltete“? Endlich: „Worin besteht der Gegensatz zwischen der russischen und der westeuropäischen Zivilisation? — bloss in der Entwickelungsstufe oder in der Eigentümlichkeit der Bildungselemente? Steht es der russischen Zivilisation bevor, nicht allein von den äusseren Resultaten, sondern auch von den Grundlagen der westeuropäischen Bildung durchdrungen zu werden? — oder wird sie, nachdem sie ihr eigenes orthodox-russisches geistiges Leben tiefer erfasst, die Grundlagen einer neuen, künftigen Phase allgemein menschlicher Bildung abgeben?“

Die Anhänger der westlichen Einflüsse bejahen den ersten Teil dieser Frage, die Slavophilen den zweiten. Einige Slavophilen, darunter J. Kirejewsky, erwarten von einer Synthese beider, einander so widersprechender Bildungsformen das Heil künftiger Menschheitsentwickelung und zwar so, dass die westliche Kultur die Gedankenwelt des Ostens entwickele und kläre, die östliche tiefe Seeleneinheitlichkeit hinwieder die Gefühlswelt und Ethik des Westens mit ihrer „Allmenschlichkeit“ befruchte. Und in der That, wer seine Hoffnungen und Schlüsse für die Zukunft des grossen Volkes mit der „erstaunlichen Kraft zu wollen“ nicht nur auf seine Historie, sondern auf diese in jedem Russen zu findende latente und eigenartige Menschheitskraft und Fähigkeit aufbaut, der muss, unbefangen urteilend, finden, dass nicht sowohl Russland von unserer Zivilisation etwas Umgestaltendes zu erwarten hat, als dass vielmehr wir von seiner Kraft eine Rückkehr zur Natur, eine Neu-Vermenschlichung zu empfangen gewärtig sein können.

Es ist hier, wie angedeutet, nicht der Ort, die bedeutenden Führer im Streite ihre Sache selbst führen zu lassen. Die slavophile Richtung wurde zum erstenmale theoretisch formuliert durch den unter Katharina II. lebenden Geschichtschreiber, Fürsten Michael Schtscherbatow, um das Ende des 18. Jahrhunderts herum; die bedeutendsten späteren Vertreter dieser Richtung sind Kirejewsky,[2] Chomjakow, die Brüder Aksakow u. a. Die westlichen Einflüsse vertreten vornehmlich Belinsky, A. Herzen, Granowsky u. a.

Am eindringlichsten und tiefsten ward diese Frage durch Dostojewsky behandelt, wie wir dies in seinem Leben und seinen Werken erkennen. Indessen geht schon durch die ganze russische Litteratur neben der Frage nach dem Werte der westlich-östlichen Kultur, ja als Wurzel dieser Frage die Sorge des russischen Menschen hindurch: „wie soll mein Leben sein?“ — Dostojewsky hat in seiner berühmten Puschkin-Rede im Jahre 1880 in Moskau die Bedeutung Puschkins, dessen Standbild man eben enthüllte, dahin erklärt, dass dieser Dichter — nachdem mehr als ein Jahrhundert nach Peters Reformen verflossen war, ehe sich der Keim einer russischen Litteratur entwickelte — nicht nur, wie Gogol gesagt hatte, des russischen Geistes grösste und einzige, sondern auch seine prophetische Offenbarung gewesen sei. Dostojewsky führt in dieser Rede den Gedanken aus, dass Puschkin schon in seiner früheren Periode der Nachahmung André Cheniers und Byrons plötzlich einen neuen, ganz und nur russischen Ton gefunden hat, die echt russische Antwort auf die Frage, die „verfluchte Frage“, wie er sie anführend nennt, „nach dem Glauben und der Wahrheit des Volkes“. Diese Antwort laute: „Demütige dich, stolzer Mensch, und vor allem brich deinen Hochmut, demütige dich, eitler Mensch, und vor allem mühe dich auf heimatlichem Boden“ — und weiter: „nicht ausser dir ist deine Wahrheit, sondern in dir selbst; finde dich in dir und du wirst die Wahrheit schauen“.

Wir haben diese Stelle wörtlich angeführt, weil sie für Dostojewskys Stellung in der Litteratur und seine Auffassung vom Apostolat des Dichters und namentlich des Publizisten von grosser Wichtigkeit ist.

Der Herausgeber von Dostojewskys gesammelten Werken, K. Slutschewsky, sagt in seiner Vorrede ganz im Sinne Dostojewskys: „Mit ganz besonderer Schärfe treten in unserem Volke drei grundlegende, wesentliche, ausschliesslich ihm zukommende Züge hervor. Schon im Jahre 1861, in der Anzeige von der Ausgabe der „Wremja“ hat Dostojewsky gesagt, dass vielleicht die russische Idee die Synthesis aller jener Ideen sein werde, welche Europa entwickelt hat, weil wir nicht umsonst alle Sprachen sprechen, alle Zivilisationen begreifen, an den Interessen aller europäischen Nationen Anteil nehmen, was unbedingt bei keiner anderen Nation vorkommt. Unser zweiter, ausschliesslich uns gehöriger Zug, den Dostojewsky wiederholt dargelegt und mit Zähigkeit in That und Wort durchgeführt hat, das ist die in unserem Volke lebendige Erkenntnis seiner „Sündigkeit“, eine Erkenntnis, welche es sehr gut erklärt, warum wir so leicht verzeihen, so geneigt zur Selbstgeisselung sind, warum wir unsere Unvollkommenheit nicht in ein Gesetz zu bringen, die sogenannten „Rechtsverhältnisse“ nicht anzuerkennen vermögen und gerne das Kreuz innerer Reinigung und äusserer schwerer That tragen mögen, sei es auch unserem eigensten Ich zum Trotz. Der dritte Zug ist unsere rechtgläubige Religion, die niemals und nirgends, wie etwa der Katholizismus und Protestantismus (von den anderen zu schweigen), als streitende Kirche aufgetreten ist.“

Fügen wir noch zwei kleine, sehr bezeichnende Episoden aus Dostojewskys Erlebnissen hinzu, die hierher gehören, so haben wir annähernd ein Bild von dem Milieu gewonnen, aus dem heraus sich dieser Dichter-Genius entwickelt und auf das er hinwieder gewirkt hat.

K. Aksakow erzählt im März 1881, schon nach Dostojewskys Tode, folgendes: Auf einer Durchreise Dostojewskys geschah es, dass er sich in Moskau aufhielt und uns besuchte. Er begann unter anderem mit einer Art Begeisterung von dem verstorbenen Kaiser Nikolaus Pawlowitsch zu sprechen; davon, wie sich auf dem Hintergrunde der Vergangenheit das historische Bild dieses Monarchen grossartig abhebt, eines Monarchen, der fest an seine Würde, an sein Recht glaubte, und wie sympathisch ihm, Dostojewsky, dieses Bild sei. Während unseres Gespräches trat der englische Reisende Mackenzie Wallace bei uns ein, welcher schon einmal drei Jahre in Russland gelebt hatte, das Russische vortrefflich sprach und mit der russischen Litteratur sehr vertraut war. Als er erfuhr, dass er Dostojewsky vor sich habe, entbrannte seine Neugierde und er lauschte gespannt dem bei seinem Eintritte unterbrochenen und von Dostojewsky wieder aufgenommenen Gespräch über Nikolaus Pawlowitsch. Dostojewsky führte seine Rede zu Ende, ohne den Engländer im geringsten zu beachten, und entfernte sich bald darauf.

„Sie sagen, dies sei Dostojewsky,“ fragte uns der Engländer. „Ja wohl.“ „Der Verfasser des ‚Totenhauses‘?“ „Derselbe.“ „Das kann nicht sein; er ist ja doch zur Zwangsarbeit verschickt gewesen.“ „Ganz richtig, was weiter?“ „Ja, wie kann er denn einen Menschen loben, der ihn zur Zwangsarbeit verurteilt hat?“ „Euch Ausländern ist das schwer zu begreifen,“ antworteten wir, — „uns aber ist es als ein durchaus nationaler Zug begreiflich.“

Als zweites, den nationalen Zug bezeichnendes Erlebnis erzählt K. Slutschewsky, Dostojewsky sei einige Monate vor seinem Tode auf einen Ball in irgend eine höhere Schule gekommen. Die Jugend, auf die er damals schon grossen Einfluss gewonnen hatte und die er immer aufrichtig liebte, war hoch erfreut und drängte sich dicht um ihn.

„Wir fingen zu plaudern an,“ erzählt er selbst, „und sie begannen eine Diskussion. Sie baten mich, ich solle von Christus reden. Ich fing an zu sprechen und sie lauschten mit grosser Aufmerksamkeit.“ „Eine Predigt über Christus auf einem Balle und nicht im geringsten durch die Musik und den Tanz zurückgeschreckt — fährt Slutschewsky fort — das Lob des Machthabers, der uns zur Zwangsarbeit verurteilte — wo könnte das jemals vorkommen als in Russland?“

Und nun wenden wir uns dem Lebenslauf des Dichters zu. Wir verdanken, was wir davon wissen, den zu einem Buche vereinigten Aufzeichnungen zweier seiner nächsten Bekannten, welchen die Witwe des Dichters die Durchsicht seiner Papiere und Briefe anvertraute, dem Litterarhistoriker Orest Miller, welchem auch ein bedingter Einblick in die Papiere des Prozesses Petraschewsky zugestanden wurde (was er jedoch nicht auszunutzen verstand) und dem mehrjährigen publizistischen Mitarbeiter Dostojewskys, Kritiker Nikolai Nikolaiewitch Strachow, ferner den Erzählungen seiner Witwe, Anna Grigorjewna Dostojewskaia, alter Bekannter, guter Freunde und Feinde, vor allem aber dem „Tagebuch eines Schriftstellers“, jenem Blatte, das der Dichter in seinen letzten Lebensjahren allein besorgte und das sehr viel autobiographisches Material enthält.

Orest Miller und Nik. Strachow haben sicher mit grosser Pietät alles zusammengetragen, was sie teils selbst miterlebten, teils durch Mitteilungen anderer, namentlich eines jüngeren Bruders, Andreas, sowie der Gattin des Dichters erlangten. Allein es will uns, besonders nach einigem Einblick in die intimere Korrespondenz des Dichters scheinen, als ob sie bei der Wahl jener Briefe, die sie der Öffentlichkeit übergaben, schlecht beraten gewesen seien und manchen intimen Brief ganz unbeschadet der Diskretion mit anderen hätten vertauschen sollen, die sich in immerwährenden Wiederholungen der Geldnot und Schuldenkalamitäten bewegen. Es ist, als hätte ein neidischer Geist heimlich da seinen Spuk getrieben, um einen Dichter, dessen Tod von Hunderttausenden öffentlich betrauert wurde, dessen Leichenzug ganz Petersburg war, dessen Hülle 63 Deputationen Kränze brachten und der Hof die letzte Ehre erwies, nicht allzusehr aufkommen zu lassen, sondern all diese Teilnahme lieber als einzelnes, die Leiden eines Kämpfenden verherrlichendes Faktum hinzustellen, als sie zu Ungunsten lebender Dichter auch noch durch eine bedeutende Korrespondenz zu bestätigen. Indessen sind auch die veröffentlichten Briefe interessant genug, um auszugsweise daraus Lebensdokumente herzuholen, was im weiteren Verlaufe unserer Aufzeichnungen an seiner Stelle geschehen wird. Die erwähnten Wiederholungen schildern, wie schon gesagt, unzählige immer wiederkehrende Sorgen, zeugen von Geldverlegenheiten, von einer unglaublich sich fortspinnenden Misere, einem ewigen Ringen um die Bestreitung des täglichen Unterhaltes für sich und die Seinen. Wir bekommen durch sie einen Blick in die unaufhörlichen Kämpfe mit Not, Krankheit, Widerwärtigkeiten aller Art, und staunen immer wieder über die ausserordentliche Kraft, die das alles überwand.

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