II. Kindheit und Jugend. (1821-1849.)

Theodor Michailowitsch Dostojewsky war der Sohn eines in Civildienste übergetretenen Militär-Arztes, welcher unter dem Titel eines Stabsarztes im Moskauer Armenspital angestellt war, wo er mit seiner zahlreichen Familie eine aus zwei, später drei Zimmern, einem Vorzimmer und einer Küche bestehende Wohnung einnahm. Bei der Knappheit der Räumlichkeiten half man sich, wie man sich in den minder wohlhabenden Familien in Russland zu helfen pflegt, mit dem Holzverschlag. Ein solcher Holzverschlag teilte das Vorzimmer in zwei Teile, wovon der vordere, mit dem Fenster versehene als Entrée, der rückwärtige, halb finstere Teil als Schlafzimmer der beiden ältesten Kinder, Michael und Theodor, diente.

Theodor M. Dostojewsky wurde am 30. Oktober 1821 geboren. Zu seinen ersten Erinnerungen gehört jene aus seinem dritten Lebensjahre, dass er einmal von der Kinderfrau in die gute Stube geführt und veranlasst worden war, hier, vor der „heiligen Ecke“ kniend, in Gegenwart einiger Freunde der Eltern sein tägliches Abendgebet aufzusagen. Das Gebet lautete: „Alle Zuversicht, Herr, lege ich auf dich, Mutter Gottes, nimm mich unter deinen Schutz.“ Den Wortlaut dieses Gebets hat er sein Leben lang bewahrt und dieses später seinen Kindern übermittelt. Vier Jahre alt wurde er schon ans Buch gesetzt. Den ersten Unterricht im Buchstabieren nach alter Methode besorgte die Mutter, später bekamen die Knaben einen Lehrer für französische Sprache und die üblichen Schulgegenstände, sowie als Religionslehrer einen Diakon, welcher ihnen „die hundertundvier Geschichten des alten und neuen Bundes“ vortrug und damit den grössten Eindruck auf sie machte.

Man muss hier beide Brüder immer zusammen nennen, denn es verband sie ausser der Kameradschaft so naher Altersgenossen (sie waren nämlich nur um ein Jahr im Alter von einander getrennt) ein Band innigster Freundschaft, das ihr ganzes Leben hindurch währte. Der ältere, Michael, war jedoch durchaus anders veranlagt als Theodor, welcher überschäumend von Temperament war, „das reine Feuer“, wie ihn die Eltern nannten. Er war natürlich Angeber und Anführer in allen Spielen, während sich Michael ihm widerstandslos unterwarf. An Winterabenden war es zumeist ein Kartenspiel, das sie nach ihrem streng verbrachten Arbeitstage vornahmen, wobei Theodor, in seiner Ungeduld zu gewinnen, sehr oft betrog.

Im Sommer spielten sie, wenn die Familie ihr kleines Landgütchen bezogen hatte, im nahegelegenen Birkenwäldchen meist „Indianer“; sie kleideten sich dazu ganz aus, tättowierten sich, schmückten sich mit Laubgürteln und Hahnenfedern, fabrizierten Pfeile und Bogen und führten erbitterte Kämpfe. Der Gipfel des Vergnügens war erreicht, wenn die Mutter an einem heissen Sommertage ihnen erlaubte zu Mittag im Walde zu bleiben, und ihnen unter irgend ein Gebüsch ihr Essen stellen liess, das sie ohne Benutzung von Gabel und Messer verzehrten, sodass sie bis in den späten Abend hinein „wild“ bleiben durften. Ein Übernachten im Walde jedoch, das sie so sehr wünschten, wurde ihnen niemals gestattet. Als die Knaben grösser wurden, übernahm der Vater den vorbereitenden Lateinunterricht für das Gymnasium. Das war eine harte Plage. Der Vater nahm sie gewöhnlich abends nach seiner zweiten Runde bei den Patienten vor. Der Unterricht währte meistens eine Stunde, wobei die Schüler, nicht nur sich nicht setzen, sondern sich auch nicht einmal an den Tisch lehnen durften. In dieser Zeit verschlang Theodor viele Bücher. Namentlich begeisterte ihn Walter Scott, dessen Quentin Durvard er unzählige Male las. Als sie dann in ein vortrefflich geleitetes Privat-Pensionat kamen (die Eltern zogen dies, obwohl es sie grosse Opfer kostete, dem übel beleumundeten Gymnasium vor), wurden sie an jedem Sonnabend nach Hause gebracht und kramten sofort bei Tische den ganzen Schulklatsch aus; namentlich erzählten sie gerne die schlechten Streiche ihrer Kameraden. „Dabei gab unser Vater,“ so erzählt Andreas Dostojewski, „den Brüdern keinerlei Lehren. Bei der Erzählung verschiedener Streiche, die in der Klasse verübt worden waren, sagte er nur: ‚Ei, der Nichtsnutz, ei, der Elende‘ — — —, allein er sagte nicht ein einziges Mal: ‚sehet zu, dass ihr es nicht auch so macht.‘ Damit sollte angedeutet werden, dass der Vater solche Schelmenstücke auch nicht im entferntesten von ihnen erwartete.“

Die Brüder lasen fortwährend sehr viel. Michael, der zumeist Gedichte las, versuchte sich auch poetisch, Theodor war zu ungeduldig, um jemals etwas in gebundener Rede auszuarbeiten. Er zog auch im Lesen die Prosa vor und las, wenn nichts Neues da war, Karamsins russische Geschichte immer wieder. In Puschkin aber einigten sich die Brüder und es gab keine damals bekannte Dichtung Puschkins, welche sie nicht auswendig gekannt hätten, wie denn auch Theodor überhaupt ein leidenschaftlicher Deklamator war, dessen Vortrag die Grenzen künstlerischer Mässigung immer überschritt. Im Jahre 1837 starb die Mutter, und die Söhne verliessen die Vaterstadt, um in die höhere Militär-Ingenieurschule in Petersburg einzutreten. Der Vater rechnete hierbei auf die Protektion eines Verwandten, der Generallieutenant im Armee-Inspektorat war und so den Jünglingen zu einer, bei ihren geringen Mitteln sehr wünschenswerten, schnelleren Karriere helfen konnte.

Nun traf es sich aber, dass der sie untersuchende Arzt den älteren Bruder, der kerngesund war, für krank erklärte, während er Theodor, der von Kindheit an kränklich und schwächlich war, für tauglich annahm. Das führte die Trennung der Brüder herbei. Michael kam in die medizinische Akademie nach Reval, während Theodor in Petersburg blieb. Um diese Zeit besuchte ihn ein Freund des Hauses, Dr. Riesenkampf, der uns sein Äusseres folgendermassen schildert: „Ein ziemlich runder, voller, heller Blondin mit einem runden Gesicht und etwas aufgestülpter Nase ... die hellkastanienfarbigen Haare waren kurz geschoren. Unter einer hohen Stirne und schwachen Augenbrauen waren kleine, tiefliegende graue Augen wie verborgen; die Wangen waren bleich, mit Sommersprossen besäet, die Gesichtsfarbe war krankhaft, erdig, der Mund etwas wulstig. Theodor war bedeutend lebhafter, beweglicher, heftiger als sein gesetzter Bruder.“ ... Die kränkliche Gesichtsfarbe war das Begleitsymptom einer sehr früh gesteigerten nervösen Reizbarkeit, die, wie wir wissen, noch vor seiner Gefängniszeit in Epilepsie ausartete. Schon als Kind hatte er manchmal Hallucinationen gehabt, an deren eine er die Erinnerung an den Bauer Marej knüpft. Er erzählt diese Geschichte in seinem „Totenhause“, und ein zweites Mal im Januarheft 1876 seines „Tagebuchs eines Schriftstellers“ mit derselben Betonung der „Volkswahrheit“ wie dort.

Wir fügen hier diese kleine Begebenheit samt den Betrachtungen ein, welche der Dichter 46 Jahre später daran knüpft. Er beginnt damit, wie er in der Strafkaserne in Sibirien oft von Erinnerungen an die Kinderzeit heimgesucht worden war, und fährt fort: „Ich erinnerte mich an einen August in unserem Dorfe. Der Tag war hell und trocken, doch etwas kühl und windig; der Sommer ging zur Neige und nun hiess es: bald nach Moskau zurück und wieder den ganzen Winter hindurch über den französischen Lektionen sitzen. Und mir wars so leid, das Dorf zu verlassen. Ich ging um die Scheunen herum, stieg in den Hohlweg hinab und wieder durch die „Schlucht“ hinauf; so wurde ein dichtes Strauchwerk von uns genannt, das jenseits des Hohlweges bis zum Wäldchen hinanstieg. Da verlor ich mich tiefer ins Gebüsch und hörte, wie, ungefähr 30 Schritte von mir, auf einer Waldwiese ein Bauer ganz allein die Pflugschar führte. Ich erkenne, dass er gegen die steile Höhe hinauf pflügt, dass das Pferd mühsam hinaufklimmt, und höre, wie hie und da des Bauern Zuruf „Nu, nu!“ zu mir herüberklingt. Ich kenne fast alle unsere Bauern, nur weiss ich nicht, welcher von ihnen eben pflügt. Aber es ist mir ganz gleich, denn ich bin ganz in meine Arbeit vertieft, denn auch ich bin beschäftigt; ich breche mir eine Haselnuss-Staude, um damit die Frösche zu peitschen. Die Haselstauden sind so schön, aber so unhaltbar — ganz anders als die Weidengerten! Auch die hartgeflügelten Käferchen interessieren mich, ich sammle sie, es giebt sehr zierliche darunter. Ich liebe auch die kleinen, behenden, hellgelben Eidechsen mit den schwarzen Fleckchen, aber die kleinen Schlangen fürchte ich. Übrigens trifft man die Schlänglein bei weitem seltener an als die Eidechsen. Schwämme giebt es hier wenige. Nach Schwämmen muss man ins Birkenwäldchen gehen und ich mache mich auf den Weg dahin. Nichts in der Welt liebe ich so sehr, wie den Wald mit seinen Schwämmen und wilden Beeren, mit seinen Käfern und Vögelchen, den Igelchen und Eichhörnchen und dem mir so angenehmen feuchten Geruch verwesender Blätter. Und jetzt auch, da ich dieses schreibe, habe ich den Duft unseres Birkenwäldchens leibhaftig verspürt. Diese Eindrücke bleiben fürs Leben. Plötzlich, mitten in das tiefe Schweigen hörte ich laut und deutlich einen Schrei: „Der Wolf kommt“. Ich schrie auf und lief ausser mir und schreiend geradeaus nach der Wiese auf den pflügenden Bauer los.

Das war unser Bauer Marej. Ich weiss nicht, ob es einen solchen Namen giebt, aber alle nannten ihn Marej. Es war ein Bauer von etwa fünfzig Jahren, stämmig, ziemlich gross, mit einem breiten, stark gesprenkelten dunkelblonden Barte. Ich kannte ihn, doch hatte es sich bis dahin nicht ereignet, dass ich mit ihm gesprochen hätte. Er brachte sein Pferdchen zum Stehen, als er mein Schreien gehört hatte, und als ich im vollen Anlauf mit einer Hand mich an die Pflugschar, mit der zweiten an seinen Ärmel hing, da erkannte er mein Entsetzen.

„Der Wolf kommt,“ schrie ich atemlos.

Er wendete den Kopf und sah sich unwillkürlich ein wenig im Kreise um, mir einen Augenblick fast glaubend.

„Wo ist der Wolf?“

„Man hat gerufen ... jemand hat eben gerufen: der Wolf kommt,“ stammelte ich.

„Was sagst du, was sagst du, was für ein Wolf — geschienen hat es dir, geh! Was soll hier für ein Wolf sein!“ murmelte er, mich beruhigend. Allein ich zitterte noch immer und klammerte mich noch fester an seinen Zipun und muss sehr blass gewesen sein. Er sah mich mit einem beunruhigten Lächeln an und war offenbar um mich in Angst und Sorge.

„Geh, schau, bist erschrocken, aj, aj!“ sagte er kopfschüttelnd. „Genug, mein Trauter. Geh, Kleiner, aj!“

Er streckte die Hand aus und streichelte mir plötzlich die Wange.

„Nu, genug doch, nu, Christus ist mit dir, mach das Kreuz.“ Allein ich bekreuzte mich nicht; meine Mundwinkel zuckten und das scheint ihn besonders ergriffen zu haben. Er streckte seinen dicken, mit Erde beschmutzten Daumen mit dem schwarzen Nagel leise aus und berührte damit ganz leise meine zuckenden Lippen.

„Geh doch, aj,“ lächelte er mich mit einem mütterlichen, auf seinen Lippen verweilenden Lächeln an. „Herrgott, was ist denn das, geh doch, aj, aj!“

Ich begriff endlich, dass kein Wolf da war, und dass mir etwas wie ein Schrei „der Wolf kommt“ nur so geklungen hatte. Der Schrei war übrigens sehr laut und deutlich gewesen, allein solche Schreie (nicht nur von Wölfen) hatte ich schon früher ein- oder zweimal zu vernehmen geglaubt und ich wusste davon. (Später vergingen diese Hallucinationen mit den Kinderjahren.)

„Nun werde ich gehen,“ sagte ich fragend und schaute ihn furchtsam an.

„Geh du nur, ich werde dir schon nachschauen. Ich werde dich schon dem Wolf nicht geben!“ fügte er hinzu, indem er mir immer noch mütterlich zulächelte, „nu, Christus sei mit dir, nu geh,“ und er machte das Zeichen des Kreuzes über mich, dann über sich selbst.

Ich ging weiter und schaute mich fast bei jedem zehnten Schritte um. Marej blieb, so lange ich ging, mit seinem Pferdchen immer da stehen und schaute mir nach, mir, so oft ich mich umsah, mit dem Kopfe zunickend. Offen gestanden schämte ich mich ein wenig vor ihm, darüber, dass ich solche Furcht gehabt hatte, allein sie erfasste mich auch im Gehen noch hie und da, ehe ich nicht zur ersten Riege des Abhanges gelangt war. Hier verliess mich die Angst schon ganz; und plötzlich, wie vom Boden heraus, sprang mir unser Hofhund Wölfchen entgegen. Mit ihm an meiner Seite wurde ich schon ganz mutig und wendete mich zum letzten Male nach Marej um. Sein Gesicht konnte ich nicht mehr genau unterscheiden, aber ich fühlte, dass er mich noch immer mit demselben zärtlichen Lächeln ansah und mit dem Kopfe nickte. Ich winkte ihm mit der Hand, auch er winkte mir zu und dann trieb er sein Pferdchen an.

„Nu, nu!“ hörte man in der Ferne wieder seinen Zuspruch, das Pferdchen zog wieder an seiner Pflugschar. —

Als ich damals von Marej nach Hause kam, erzählte ich niemand mein Erlebnis. Ja, was war es denn auch für ein Erlebnis? Auch Marej habe ich damals sehr bald vergessen. Wenn ich ihn später seltene Male traf, so sprach ich gar nie mit ihm, weder vom Wolf, noch überhaupt. Und plötzlich jetzt, zwanzig Jahre später in Sibirien, fiel mir diese ganze Begegnung mit einer solchen Klarheit, bis in das kleinste Detail ein. Das heisst also, dass sie sich in meine Seele festgesetzt hatte, unbewusst, ganz allein und ohne meinen Willen, und plötzlich ist sie dann aufgetaucht, wann sie nötig war.

Es tauchte dieses sanfte, mütterliche Lächeln des armen leibeigenen Bauern in mir auf; seine Kreuze, sein Kopfschütteln, sein „Geh schon, bist erschrocken, Kleiner!“ Und besonders sein dicker, mit Erde beklebter Finger, mit welchem er still und mit sanfter Zärtlichkeit meine zuckenden Lippen berührt hatte. Gewiss hätte ein jeder einem kleinen Kinde Mut zugesprochen, allein hier in dieser einsamen Begegnung geschah etwas von gleichsam ganz anderer Art, und wenn ich sein leiblicher Sohn gewesen wäre, so hätte er mich nicht mit einem von hellerer Liebe leuchtenden Blicke ansehen können — wer aber hat ihn dazu genötigt? Er war unser eigener Höriger, ich aber war immerhin sein junges Herrchen; das hätte niemand erkannt, als er mich streichelte und mich es nicht fühlen liess. Liebte er etwa so sehr die kleinen Kinder? Solche giebt es. Die Begegnung war in völliger Abgeschiedenheit erfolgt, auf einem öden Feld, und nur Gott sah vielleicht von oben, mit welchem tiefen und heiligen Menschheitsgefühl, und mit welcher feinen, fast weiblichen Zartheit das Herz manches groben, tierisch unwissenden, leibeigenen russischen Bauern erfüllt sein kann, eines solchen, der seine Befreiung auch nicht einmal erwartete, nicht ahnte. — Sagt mir, ist es nicht das, was Konstantin Aksakow verstand, als er von der hohen Bildung unseres Volkes sprach?

Und sieh da, als ich von meiner Pritsche herunterstieg und mich rings umsah, da, ich erinnere mich dessen, fühlte ich plötzlich, dass ich mit ganz anderen Blicken auf diese Unglücklichen zu schauen vermochte, und dass mit einem Male, wie durch ein Wunder, jeder Hass und jeder Zorn in meinem Herzen ausgelöscht war. Ich ging umher und schaute in die Gesichter der mir Begegnenden. Jener geschorene und entehrte Bauer, gebrandmarkt, berauscht, der da sein betrunkenes heiseres Lied brüllte, das kann ja ebenfalls der nämliche Marej sein; ich kann ja nicht in sein Herz hineinschauen.“

Bald nach dem Tode der Mutter gelangte zu den Jünglingen die Nachricht vom tragischen Ende Puschkins. Hätten sie nicht schon Trauergewänder getragen, so hätten sie um die Erlaubnis gebeten, solche nach Puschkin anlegen zu dürfen. In jedem Falle verabredeten sie sich auf der Reise nach Petersburg, sofort nach ihrer Ankunft den Ort aufzusuchen, wo das Duell stattgefunden, und die Stube, wo der Dichter seinen Geist ausgehaucht hatte.

Diese Fahrt in langen Tagereisen, mit unterlegten Pferden und wechselnden Fuhrleuten, war reich an Hoffnungen und poetischen Stimmungen, namentlich des älteren Bruders, der: „täglich etwa drei Gedichte machte, auch unterwegs“ —, wie Theodor in seinem Tagebuche 1876 erzählt. Er selbst dachte wohl ebenfalls nicht an die Aufnahmeprüfung in der Mathematik: er deklamierte, disputierte und ereiferte sich über poetische Fragen, hatte aber doch offene Sinne für alles, was um ihn her vorging. So machte ihm eine Scene Eindruck, die er vom Fenster des Einkehrhauses eines kleinen Dorfes beobachtete. Es war an das Stationsgebäude eine Kurier-Trojka herangeflogen, ein betresster und befiederter Feldjäger sprang herab, trank ein Gläschen Schnaps und schwang sich auf die Telega zurück, wo indessen der neue Kutscher, ein junger Bursche, ein neues armseliges Dreigespann angebracht hatte. Kaum hatte sich dieser Junge auf seinen Platz geschwungen, als der Feldjäger aufstand und ihm ohne jegliche Erregung, ohne ein Wort zu reden, mit der Faust einen wuchtigen Hieb in den Nacken verabfolgte. Unmittelbar darauf setzte der Kutscher diesen Hieb in einen Knutenstreich auf die Pferde um. Das wiederholte sich so lange, als der Zuschauer das Gefährt nicht aus dem Auge verlor, so dass gleichsam aus jedem Faustschlag, wie durch eine Feder geschnellt, der Knutenhieb hervorsprang. Dostojewsky erwähnt in späten Jahren diese Begebenheit gelegentlich eines Artikels über den Petersburger Tierschutzverein, dem er diesen Vorgang als Emblem auf das Petschaft gravieren lassen möchte.

Die Trennung vom Hause und dem Bruder ruft die erste Korrespondenz hervor. Wir finden darin die erste reale Misère um einiger Kopeken willen und den ersten philosophischen Weltschmerz, der sich jedoch schon in der, Dostojewsky eigentümlichen, mystischen Weise ausdrückt. So sagt er in einem Briefe an den Bruder: „Ich weiss nicht, ob meine traurigen Gedanken je verstummen werden — mir scheint unsere Welt ist ein Fegefeuer himmlischer Seelen — die ein sündiger Gedanke verwirrt hat — aus der hohen, herrlichen Seelenhaftigkeit ist — eine Satire herausgekommen.“ — — — Weiter sagt er: „Sehen, wie unter einer spröden Hülle sich eine Welt in Qualen windet, wissen, dass ein Willensausbruch genügt, sie zu zerbrechen, und mit der Ewigkeit zusammenzufliessen, das wissen und dem niedersten der Geschöpfe gleich sein — — schrecklich! Wie armselig ist doch der Mensch! Hamlet, Hamlet!“ Weiter heisst es: „Pascal sagt einmal: Wer gegen die Philosophie protestiert, ist selber ein Philosoph“ — eine traurige Philosophie das!“ —

Wir sehen unter anderem aus diesem Briefe, dass seine Lektüre sich den Franzosen zugewendet hat; er zählt einmal auf, was er im Übungslager alles gelesen hat: „Mindestens nicht weniger, als Du“, ruft er dem Bruder zu. Den ganzen Hoffmann, den ganzen Victor Hugo, den er unter anderem mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit mit Homer vergleicht, einen Homer in „christlichem, engelhaftem Sinne“ nennt. Einen ganz ausserordentlichen Eindruck macht auf ihn George Sand, „eine der hellsehendsten Ahnenden, einer die Menschheit erwartenden glücklichen Zukunft.“ So drückt er sich im Jahre 1876 im Junihefte seines Tagebuches aus. In der Nachschrift eines Briefes finden wir eine Verteidigung der französischen Klassiker in folgenden hitzigen Worten: „Hast du Cinna gelesen? Armseliger, wenn du ihn nicht gelesen hast! Besonders das Gespräch Augusts mit Cinna, wo er ihm den Verrat verzeiht ... Du wirst sehen, so sprechen nur beleidigte Engel ... Hast du Le Cid gelesen? Lies ihn, erbärmlicher Mensch, und sinke in den Staub vor Corneille ..... Übrigens“, schliesst er begütigend, „sei mir um meiner beleidigenden Ausdrücke nicht böse .....“

Sehr merkwürdig ist seine Beurteilung des Vaters. „Mir ist leid um den armen Vater. Ein seltsamer Charakter! Ach, wieviel Unglück hat er nicht schon ertragen! Es ist bis zu Thränen bitter, dass man ihn mit nichts erfreuen kann! — Und, weisst du? — Papachen kennt die Welt ganz und gar nicht; er hat fünfzig Jahre darin gelebt und ist bei der Meinung über die Menschen geblieben, die er dreissig Jahre vorher von ihnen gehabt hat. Glückliche Unwissenheit! — Allein er fühlt sich sehr enttäuscht, das scheint unser allgemeines Los zu sein.“ Hier bietet sich schon ein Stück echt Dostojewskyscher psychologischer Feinheit, welche im Vater die Enttäuschung über die Welt und zugleich die Unfähigkeit sieht, daraus Nutzen zu ziehen und anderer Meinung über die Menschen zu werden.

Übrigens finden wir nur in den Jugendbriefen und erst wieder in den Briefen aus des Dichters letzten Jahren Ausbrüche persönlichster Innerlichkeit, wie wir das nennen möchten. Dies ist indessen zum grossen Teil auf die unglückliche Auswahl der zu publizierenden Briefe zurückzuführen, deren wir oben erwähnten. Es ist da, als ob die Herausgeber durch diese Zusammenstellung die Armut und die ewigen Nahrungssorgen des Dichters so recht herauskehren wollten. Sein späterer Briefwechsel mit seiner Gattin Anna Grigorjewna (er schrieb ihr während seiner kleinsten Abwesenheiten täglich, so dass sie, die immer nur sehr kurz von ihm getrennt war, 464 Briefe von ihm besitzt), den die Witwe aus begreiflichen Gründen zurückhält, ist voll von solchen Ausbrüchen. Allein wir würden irren, wenn wir annähmen, dass es schwunghafte Dichterbriefe seien. Nein, so schlicht, dabei gegenständlich bis ins kleinste, so voll von Zweifeln an sich selbst, berauschtem Stolz über einen Erfolg, Kleinmut und Zerknirschung, wenn er wieder so nichtswürdig schwach gewesen, alles zu verspielen, mit einem Wort, so unlitterarisch sind sie, wie jene, die wir vor uns haben. Auch so naiv in einem gewissen Sinne. So frägt er in einem Briefe aus Moskau, wohin er zur Puschkinfeier gereist ist, am Tage dieser Feier: Was meinst du, soll ich im Frack erscheinen oder im Gehrock? Doch von dieser Korrespondenz später.

Eine andere sehr wertvolle Korrespondenz, welche mir vom Besitzer zur Verfügung gestellt wurde, ist leider im Schlosse des Grafen Alexis Tolstoi, dessen Gast jener war, bei einem Brande, dem das ganze Schloss zum Opfer fiel, zu Grunde gegangen. In dieser Korrespondenz hätten wir wohl viel Polemisches, vieles über des Dichters politische Anschauungen ausgedrückt gefunden, allein sicher nicht mehr Andeutungen über Arbeitspläne, als jene Briefe enthalten, die wir vor uns haben. Dostojewsky hatte eine Art darüber in Briefen zu schweigen, welche die Annahme nicht zulässt, als habe er dies nur je nach der Person und dem Augenblick gethan. Zur Zeit seiner grössten litterarischen Thätigkeit bewegen sich viele seiner Briefe zumeist um Äusserliches. Doch auch davon später.

Auch im Verkehr mit den Kameraden war Dostojewsky sehr zurückhaltend; er schloss sich immer ab, mischte sich nicht in die gemeinsamen Unternehmungen und teilte sich niemand mit. Die Schwächeren, namentlich die Neueintretenden, welche Spott und Unbill zu erleiden hatten, verteidigte er energisch. In den Unterrichtsfächern blieb er im geometrischen Zeichnen und im Reglement zurück, so dass er ein Jahr wiederholen musste, was ihn um des Vaters willen sehr kränkte. Seine Briefe an diesen letzteren sind zumeist Schulberichte, Bitten um Geld und Aufzählung seiner notwendigsten Ausgaben. An den Bruder schreibt er einmal: „Du beklagst dich über deine Armut — — auch ich bin nicht reich — da ist nichts zu sagen — wirst du mir glauben, dass ich, als wir das Lager verliessen, nicht eine Kopeke hatte? Auf dem Marsche erkrankte ich infolge Erkältung und Hunger (es regnete den ganzen Tag und wir gingen blank) und ich hatte keinen Groschen, um mir die Kehle mit einem Schluck warmen Thees anzufeuchten. Aber ich wurde wieder gesund. Doch auch im Lager war mein Zustand ein erbärmlicher, bis ich Väterchens Geld bekam. Da bezahlte ich die Schulden und behielt das Übrige zurück. Aber die Beschreibung deines Zustandes übersteigt alles. Kann man denn wirklich fünf Kopeken nicht haben, sich mit Gott was füttern müssen, und nur mit lüsternen Blicken die herrlichen Beeren betrachten, die du sehr liebst!“ Er hat eben erst erzählt, dass er, hungrig und krank, keinen Groschen zu einem Schluck warmen Thees gehabt; dies scheint er aber in der Entrüstung darüber, dass sich der Bruder die geliebten Beeren nicht kaufen kann, ganz zu vergessen.

Um diese Zeit liest er viel Schiller und schreibt einmal an den Bruder, der ihm vorwirft, Schiller nicht zu kennen: er habe ihn mit einem teuern Freunde gelesen, der nun fort sei, und dies sei der Grund, warum auch der Name Schiller ihm wehe thue, nicht über seine Lippen komme. Er bearbeitet Maria Stuart in seinem Sinne, ebenso auch Puschkins Boris Godunow; beide Manuskripte sind in Verlust geraten. Überhaupt sieht man ihn viel heimlich schreiben, Nächte hindurch, und einige seiner Biographen sind der Meinung, er habe seinen am sorgfältigsten ausgearbeiteten Roman „Arme Leute“ in der ersten Fassung schon in der Akademie begonnen.

Am 5. August 1841 wurde er zum Unteroffizier ernannt, mit Belassung in der Anstalt, um den Offizierskurs zu vollenden, und am 11. August 1842 wird er nach bestandener Prüfung in die Offiziersklasse versetzt. In dieser Zeit scheint er schon auswärts gewohnt, nach dem Tode des Vaters seine Erbschaft angetreten und den jüngeren Bruder Andreas bei sich beherbergt zu haben, was ihn sehr einengt und worüber er sich gegen Michael beklagt.

Im Jahre 1843 trat Dostojewsky aus dem höheren Offizierskurs aus und wurde dem Petersburger Kommando des Ingenieurkorps zugeteilt. Nun scheint ein freies, genusssüchtiges und sehr kostspieliges Leben für ihn begonnen zu haben. Seine Jahreseinkünfte waren durchaus nicht gering; er bezog eine jährliche Rente und einen Offiziersgehalt, die zusammen 5000 Rubel ausmachten. Allein, da er einerseits seinen Neigungen lebte, andererseits ausserordentlich unpraktisch in der Einteilung seiner Finanzen war, geriet er bald in Schulden. Er besuchte sehr fleissig das Theater, „auch das Ballett“, sagt Orest Miller, alle kostspieligen Konzerte etc. Zudem mietete er eine geräumige Wohnung, nur weil ihm das Gesicht des Hausherrn sympathisch war und er sah, dass ihn dieser Mann nie stören würde. Freilich standen in der grossen Wohnung nur ein Bett, ein Divan, ein Tisch und einige Stühle. Dazu zeigte sichs bald, dass nur sein Arbeitskabinett heizbar war, also lebte er in diesem, behielt jedoch die ganze Wohnung weiter. Eine andere Ursache der Verwirrung seiner Geldangelegenheiten war die, dass er einen Diener bei sich behielt, der ihm auch so sympathisch war, dass keine Mahnung, er solle ihn weggeben, da er ihn bestehle, bei ihm Eingang finden konnte. „Mag er mich doch bestehlen,“ sagte Dostojewsky, „er wird mich nicht ruinieren.“ Thatsächlich, erzählt O. Miller, ruinierte dieser Diener ihn doch, denn er hatte eine Geliebte mit grosser Familie, die schliesslich alle auf Kosten seines Herrn lebten, bis es nicht mehr weiter ging, dieser in Schulden geriet und endlich doch die Wohnung aufgeben musste. Als es anfing schief zu gehen, zog sich Dostojewsky von allem zurück, schloss sich in sein Arbeitszimmer ein und verkehrte mit niemand. Nach den Mitteilungen des Doktors Riesenkampf, der ihn zu jener Zeit oft besuchte, war er sehr in sich gekehrt, verschlossen, sehr leidend, ohne es zugeben zu wollen. Seine Stimme war infolge einer schweren Halskrankheit, die er noch im Elternhause durchgemacht hatte, beständig heiser, seine Gesichtsfarbe erdfahl.

Hier beginnt seine intensive Beschäftigung mit der Litteratur; er liest viel französisch: Balzac, George Sand, Victor Hugo, Lamartine, Soulié. Entwürfe zu Erzählungen jagten einander nur in seinem Kopfe. Bei diesen Beschäftigungen war ihm sein militärischer Beruf eine grosse Last, die er indes nicht abzuschütteln wagte, weil der Vormund ihm mit Entziehung seiner Rente drohte.

Wie wechselnd Schicksal und Laune des Dichters zu jener Zeit waren, davon giebt uns die Erzählung Dr. Riesenkampfs ein drastisches Bild. Zur Zeit der grossen Fasten im Jahre 1842 sei plötzlich ein Geldzufluss bei Dostojewsky sichtbar geworden. Er besuchte die Konzerte Liszts, der eben angekommen war, sowie die des Sängers Rubini und eines berühmten Klarinettisten. Nach Ostern traf ihn Riesenkampf in einer Aufführung von Puschkins „Ruslan und Ludmila“. Im Mai aber schloss er sich abermals ein und versagte sich jedes Vergnügen, um sich zur letzten Prüfung vorzubereiten. Zu gleicher Zeit hatte sich Riesenkampf zur medizinischen Prüfung vorbereitet, erkrankte infolge zu grosser Anstrengung und hütete noch am 30. Juni das Bett. Da erscheint plötzlich Dostojewsky an seinem Lager, bis zur Unkenntlichkeit verändert; strahlend, gesund aussehend, mit sich und dem Schicksal zufrieden, denn er hatte eben die Prüfung sehr gut bestanden, war als Lieutenant aus der Anstalt entlassen; hatte überdies vom Vormund eine so grosse Geldsumme erhalten, dass er imstande war, seine Schulden zu bezahlen. Zudem hatte er einen längeren Urlaub bekommen, den er benutzen wollte, um seinen Bruder, welcher sich inzwischen verheiratet hatte, in Reval zu besuchen, was er am folgenden Morgen zu unternehmen gedachte. Nun zerrt er den Freund aus dem Bette, kleidet ihn an, setzt ihn auf einen Wagen und führt ihn in eines der ersten Restaurants am Newsky Prospekt. Hier verlangt er ein gesondertes Zimmer mit einem Flügel, bestellt ein lukullisches Mahl mit kostbaren Weinen und nötigt den kranken Freund, mit ihm zu essen und zu trinken. Diese zwingende Heiterkeit wirkte wohlthätig auf den Kranken; er ass und trank, musizierte und — wurde gesund. Am anderen Morgen begleitete er den Freund zum Dampfer!

In Reval scheint Dostojewsky durch Herrnhutersche Unduldsamkeit einen sehr üblen Eindruck empfangen zu haben, der ihn Zeit seines Lebens gegen die Deutschen, denen er höhere Kultur zugeschrieben hatte, verstimmt liess.

Der Bruder Michael hatte indessen mit Hilfe seiner Frau Theodor mit neuer Wäsche und Kleidern ausgestattet und bat nun Riesenkampf, welcher auch nach Reval gekommen war, er möge, da er sich in Petersburg niederlasse, gemeinschaftlich mit dem Bruder wohnen, damit er, der niemals etwas über den Stand seiner Habe wisse, sich an dessen deutscher Ordnungsliebe ein Beispiel nehme. Als Riesenkampf im September 1843 nach Petersburg zurückkam, erfüllte er diesen Wunsch. Er fand Theodor ohne eine Kopeke, von Milch und Brot, und das sogar auf Kredit, lebend. „Theodor Michailowitsch,“ schliesst er den Bericht, „gehört zu jenen Personen, neben denen zu leben allen wohl wird, die aber selbst immer in Not sind.“ Man bestahl ihn unbarmherzig, allein bei seiner Vertrauensseligkeit und Güte wollte er den Dingen weder auf den Grund gehen noch seine Diener samt Anhang beschuldigen, die sich seine Harmlosigkeit zu nutze machten. Ja, sogar das Zusammenleben mit dem Arzte war ein neuer Anlass zu vergrösserten Auslagen. „Jeden armen Teufel nämlich, der um ärztlichen Rat zum Doktor kam, nahm er wie einen teuren Gast auf,“ erzählt Orest Miller. — Darüber zurecht gewiesen, antwortete er entschuldigend: „Da ich mich daran mache, die Lebensweise armer Leute zu beschreiben, so bin ich froh, dass ich Gelegenheit habe, das Proletariat der Hauptstadt näher kennen zu lernen.“ Bei Abschluss der Monatsrechnungen fand sich, dass eine ganze Herde von Menschen ihren Vorteil aus Dostojewskys Sorglosigkeit gezogen hatte; nicht nur Bäcker und Krämer, sondern auch Schneider und Schuster reichten unerhörte Rechnungen ein. Dazu war die Wäsche und Garderobe, die bei jedem Geldzufluss immer wieder neu hergestellt wurde, immer ganz zusammengeschmolzen. Seine äusserste Not dauerte um diese Zeit zwei Monate. Da plötzlich fand ihn der Doktor eines Tages laut, selbstbewusst und stolz im grossen Saale auf und ab gehen — er hatte aus Moskau 1000 Rubel erhalten. „Am anderen Morgen aber,“ erzählt Dr. Riesenkampf, „kam er wieder in seiner gewöhnlichen stillen, sanften Weise in mein Schlafzimmer und bat mich, ihm 5 Rubel zu leihen.“ Der grösste Teil des Geldes war zur Tilgung von Schulden aufgegangen, und das, was übrig blieb, hatte er zum Teil im Billardspiel verloren; die letzten 50 Rubel waren ihm von einem Fremden, den er zu sich gerufen und in seinem Zimmer allein gelassen hatte, gestohlen worden.

Im März 1844 musste Dr. Riesenkampf von Petersburg scheiden und Theodor Michailowitsch zurücklassen, ohne dass sein deutsches Beispiel etwas gefruchtet hätte.

Um diese Zeit herum beschäftigt sich der Dichter, um Geld zu verdienen, mit Übersetzungen. Er übersetzt Eugenie Grandet von Balzac, Schillers Don Carlos und George Sand, wofür er 25 Papierrubel für den Druckbogen erhält. Nun reicht er um Entlassung aus dem Militärdienst ein, „denn“, schreibt er an den Bruder, „ich bin des Dienstes überdrüssig, überdrüssig wie einer Kartoffel“ — — —

In einem Briefe vom 30. September 1844 sagte er: „Ich habe einen Roman geschrieben, im Umfange der Eugenie Grandet; bis zum 14. (der Termin seiner Dienstentlassung) werde ich gewiss schon Antwort darüber haben. Er ist ziemlich originell.“

Den Geldverlegenheiten hofft Theodor Michailowitsch so zu begegnen, dass er auf seinen Gutsanteil verzichtet, wenn man ihm 500 Silberrubel sofort, später abermals 500 in monatlichen Raten sendet. Er ist immer „verloren“, wenn man ihm nicht hilft, ihn nicht rettet, fleht um aller Heiligen willen, der Bruder möge ihm helfen, sonst müsse er ins Gefängnis. „Chlestakow“ (aus Gogols „Revisor“), sagt er, „erklärt sich bereit ins Gefängnis zu gehen, wenn nur in nobler Weise. Wie soll ich aber nobel ins Gefängnis gehen, wenn ich keine Hosen habe?“ Dabei ist der Brief noch immer aus der kostspieligen Wohnung datiert. In der Nachschrift heisst es: „ich bin mit meinem Roman ausserordentlich zufrieden“. Er blickt auf diesen Roman als auf seinen Rettungsanker. Er sieht in ihm den Probierstein seiner dichterischen Kraft, und nun, nachdem er ihn dem Dichter Njekrássow übergeben, welcher damals an der Redaktion des „Zeitgenossen“ teilnahm, kommt für ihn die bedeutende grosse Lebenswende, die er uns 30 Jahre später in seinem Tagebuch eines Schriftstellers folgendermassen erzählt, wobei begreiflicherweise im Gedächtnis des Dichters eine kleine Verschiebung bezüglich des Zeitpunktes stattfindet.

„Es geht manchmal eigentümlich zu mit den Menschen; wir haben einander [hier ist der Dichter und Njekrássow gemeint] nicht oft im Leben gesehen, es hat auch Missverständnisse zwischen uns gegeben — aber etwas hat sich doch mit uns ereignet, eine Begebenheit, die ich niemals habe vergessen können. Und nun, als ich unlängst Njekrássow besuchte, fing er, der Kranke und Erschöpfte, beim ersten Worte an, von diesen Tagen zu sprechen. Damals (es sind nun 30 Jahre her) geschah etwas so jugendliches, frisches, hübsches, eine der Begebenheiten, die für immer im Herzen der Beteiligten fortleben. Wir waren damals etwas über zwanzig Jahre alt. Ich lebte nach meinem Austritt aus dem Ingenieurkorps schon ein Jahr in Petersburg, ohne zu wissen, was ich anfangen würde, voll von dunklen, unbestimmten Zielen. Es war im Mai des Jahres 1845. Anfangs des Winters hatte ich plötzlich meine Erzählung „Arme Leute“ begonnen, ohne vorher je etwas geschrieben zu haben. Als ich diese Erzählung beendet hatte, wusste ich nicht, was ich damit anfangen, wem ich sie übergeben sollte. Litterarische Bekanntschaften hatte ich absolut gar keine, ausser etwa D. W. Grigorowitsch, aber dieser hatte damals selbst ausser einer kleinen Erzählung für eine Sammlung (die Erzählung hiess „Petersburger Leiermänner“) noch nichts geschrieben. Ich glaube, er war damals im Begriff nach seinem Landsitz hinauszufahren; vorläufig wohnte er für einige Zeit bei Njekrássow. Als er einmal zu mir kam, sagte er: „Bringen Sie doch Ihr Manuskript (er hatte es selbst noch nicht gelesen); Njekrássow will zum nächsten Jahr ein Sammelwerk herausgeben, und da will ich ihm das Manuskript zeigen.“ Ich brachte es ihm, sah Njekrássow etwa eine Minute — wir reichten einander die Hand. — Ich schämte mich bei dem Gedanken mit meinem Werke gekommen zu sein und ging so schnell als möglich fort, fast ohne mit Njekrássow ein Wort gesprochen zu haben. Ich dachte wenig an Erfolg und vor dieser „Partei der Vaterländischen Annalen“ (eine Zeitschrift, welche damals von einer Anzahl vortrefflicher und gesinnungstüchtiger Schriftsteller und Kritiker herausgegeben wurde), wie man sie damals nannte, fürchtete ich mich. Belinsky las ich schon seit einigen Jahren mit Bewunderung, aber er erschien mir fürchterlich, dräuend und — der wird meine „Armen Leute“ verlachen — dachte ich manchmal bei mir. Aber nur manchmal. Ich hatte die Erzählung mit leidenschaftlicher Glut, ja fast unter Thränen geschrieben. Sollte denn alles dies, sollten all diese Augenblicke, die ich mit der Feder in der Hand bei dieser Erzählung verlebt hatte, sollte das alles Lüge, Gaukelei, unwahre Empfindung gewesen sein? Doch dachte ich nur für Augenblicke so, und die Zweifel kehrten immer gleich wieder.

Am Abend desselben Tages nun, da ich die Handschrift abgegeben hatte, ging ich irgendwo hin, weit fort, zu einem ehemaligen Kameraden; wir sprachen die ganze Nacht durch über die „toten Seelen“; wir lasen darin, ich weiss nicht zum wievieltenmale; das war damals so unter den jungen Leuten. Es kommen zwei, drei zusammen: „Wollen wir nicht etwas im Gogol lesen, meine Herren?“ Sie setzten sich und lasen — wohl meist die ganze Nacht durch. Damals gab es unter den jungen Leuten sehr, sehr viele, die von irgend etwas durchdrungen waren, die irgend etwas erwarteten. Ich kehrte nach Hause zurück — es war schon vier Uhr morgens, eine weisse, taghelle Petersburger Nacht. Es war herrlich warmes Wetter, und als ich in meine Wohnung gekommen war, legte ich mich nicht zu Bette, sondern öffnete das Fenster und setzte mich daran. Plötzlich höre ich zu meinem grössten Erstaunen die Thürklingel ertönen — und da stürzen auch schon Gregorowitsch und Njekrássow über mich her, umarmen mich in voller Entzückung, und es fehlt nur noch, dass sie beide zu weinen anfangen. Sie waren am Vorabend zeitig heimgekehrt, hatten mein Manuskript in die Hand genommen und zur Probe zu lesen angefangen — „nach zehn Seiten wird man schon sehen“. — Aber nachdem sie zehn Seiten gelesen hatten, beschlossen sie weitere zehn zu lesen, und darauf lasen sie schon ohne Unterbrechung die ganze Nacht durch, laut, einer den andern ablösend, wenn dieser ermüdet war. „Er liest vom Tode des Studenten“, erzählte mir später, als wir allein waren, Gregorowitsch, „und da, an der Stelle, da der Vater dem Sarge nachläuft, merke ich, wie Njekrássows Stimme umschlägt, einmal, das zweite Mal, und plötzlich hält er’s nicht aus und schlägt mit der flachen Hand auf das Manuskript „Ach! dass ihn doch! — damit meinte er Sie, und so gings die ganze Nacht“.

Als sie geendet hatten (es waren sieben Druckbogen!), da beschlossen sie einstimmig, sofort zu mir zu gehen. „Was liegt daran, dass er schläft, wir wecken ihn auf, das ist mehr wert als der Schlaf!“ — Wenn ich später den Charakter Njekrássows betrachtete, wunderte ich mich öfters über diesen Augenblick. Sein Charakter ist verschlossen, misstrauisch, vorsichtig, wenig mitteilsam. So wenigstens ist er mir immer erschienen, sodass dieser Augenblick unserer ersten Begegnung in Wahrheit die Offenbarung einer tiefen Empfindung bedeutete. Sie blieben damals etwa eine halbe Stunde bei mir. In dieser halben Stunde sprachen wir, weiss Gott was alles durch, einander in halben Worten verstehend, in Ausrufungen, hastig — — Wir sprachen von Poesie und Wahrheit, von der „damaligen Lage“, natürlich auch von Gogol, indem wir Stellen aus seinem Revisor, aus seinen „toten Seelen“ citierten. Aber hauptsächlich sprachen wir von Belinsky. „Noch heute bringe ich ihm Ihre Erzählung, und Sie werden sehen — ja das ist ein Mensch, o was für ein Mensch ist das!“ rief Njekrássow mit Entzücken, indem er mich mit beiden Händen an den Schultern fasste und schüttelte. „Nun aber gehen Sie schlafen, schlafen Sie, wir gehen fort und morgen — zu uns“. Wie hätte ich daraufhin einschlafen können! Welches Entzücken, was für ein Erfolg! und vor allem das kostbare Gefühl, ich erinnere mich dessen sehr gut: hat ein anderer Erfolg, nun man lobt ihn, man beglückwünscht ihn, man kommt ihm entgegen — aber seht, diese kommen mit Thränen in den Augen herbeigelaufen, um vier Uhr morgens, um mich zu wecken, „weil das mehr wert ist, als der Schlaf“! — Ach! wie schön! so dachte ich; wo wäre da Schlaf gekommen?

Njekrássow brachte das Manuskript den selben Tag zu Belinsky. Er betete Belinsky an und es scheint, dass er ihn sein lebenlang mehr geliebt hat, als alle andern. Damals hatte Njekrássow noch nichts von der Bedeutung geschrieben, wie dies ihm im nächstfolgenden Jahre gelingen sollte. Njekrássow befand sich, soviel mir bekannt ist, ungefähr sechzehn Jahre in Petersburg. Er schrieb ungefähr schon seit seinem sechzehnten Jahre. Über seine Bekanntschaft mit Belinsky weiss ich wenig, aber dieser hat ihn gleich anfangs richtig taxiert und hat wahrscheinlich grossen Einfluss auf seine Dichtung genommen. Ungeachtet des damals noch jugendlichen Alters Njekrássows und des grossen Altersunterschiedes, der zwischen ihnen bestand, waren sicherlich auch damals solche Augenblicke vorgekommen und solche Worte zwischen ihnen gefallen, welche auf das ganze Leben Einfluss nehmen und unlösbare Bande knüpfen.

„Ein neuer Gogol ist erstanden“, rief Njekrássow, als er, die „armen Leute“ in der Hand, bei Belinsky eintrat. „Bei Euch wachsen die Gogols wie die Pilze“, antwortete ihm strenge Belinsky, — aber er nahm das Manuskript. — Als Njekrássow wiederkam, da kam ihm Belinsky entgegen „geradezu bewegt“: bringen Sie ihn her, bringen Sie ihn schnell!

Und da brachten sie mich (schon am dritten Tage) zu ihm. Ich erinnere mich, dass mich beim ersten Anblick sein Äusseres sehr frappiert hat; seine Nase, sein Kinn — ich hatte mir ihn, Gott weiss warum, durchaus anders vorgestellt, diesen schrecklichen, diesen furchtbaren Kritiker. Er begegnete mir mit ausserordentlichem Ernst und grosser Zurückhaltung. „Nun es muss ja auch so sein“, dachte ich bei mir; allein es verging kaum eine Minute und alles hatte sich verwandelt. Es war nicht der Ernst einer bedeutenden Persönlichkeit, eines grossen Kritikers, welcher einem 22jährigen Jünglinge entgegen kam, der eben seine schriftstellerische Laufbahn betritt, sondern dieser Ernst floss sozusagen aus der Achtung vor jenen Gefühlen, die er so schnell als möglich in mich giessen wollte, vor jenen wichtigen Worten, die er mir zu sagen sich gedrängt fühlte. Er redete mich nun leidenschaftlich, mit leuchtenden Augen an: „Ja, verstehen Sie denn selbst — wiederholte er mehreremale, nach seiner Gewohnheit schreiend —, was Sie da geschrieben haben?“ Er schrie immer, wenn er in starker Bewegung sprach, „das haben Sie nur durch unmittelbares Gefühl, nur als Künstler schreiben können. Aber haben Sie denn selbst die schreckliche Wahrheit bedacht, auf die Sie uns hingewiesen haben? Es kann nicht sein, dass Sie mit Ihren 20 Jahren das verstehen könnten. Ja, dieser Ihr unglücklicher Beamte, ja, der ist schon dahin gekommen und hat sich selbst schon dahin gebracht, dass er sich selbst aus Erniedrigung sogar nicht mehr einen Unglücklichen zu nennen wagt und die geringste Klage als eine Freidenkerei ansieht; der es nicht einmal wagt, sich das Recht zuzusprechen, unglücklich zu sein, und als ihm der gute Mensch, der General, jene 100 Rubel giebt, ist er ganz zermalmt, ganz vernichtet vor Verwunderung, dass „ihre Excellenz haben“ einen solchen, wie er ist, bemitleiden können, „ihre Excellenz haben“, wie Sie ihn sich ausdrücken lassen, nicht „seine Excellenz hat“. Und der abgerissene Knopf, und der Augenblick, da er dem General das Händchen küsst, ja, da ist nicht mehr Mitleid mit einem Unglücklichen, da ist Grauen! Grauen! In dieser Dankbarkeit liegt etwas Grauenhaftes, das ist eine Tragödie. Sie haben das innerste Wesen der Sache getroffen, das allerwichtigste mit einem Strich gezeigt. Wir Publizisten und Kritiker beurteilen nur, wir trachten das Ding mit Worten zu erklären, aber Sie, der Künstler, stellen mit einem Strich die tiefste Wesenheit der Sache im Bilde hin, so dass man es auf einmal fassen kann, dass dem urteilslosesten Leser mit einem Male alles begreiflich werde. Da haben Sie das Geheimnis des Künstlertums, da haben Sie die Wahrheit in der Kunst. So dient Ihr der Wahrheit. Ihnen ist sie offenbart und verkündet als einem Künstler; Sie haben sie als ein Geschenk empfangen. — Schätzen Sie also diese Gabe hoch, bleiben Sie ihr treu, und Sie werden ein grosser Künstler werden!“

Alles dieses sagte er mir damals, alles dieses sagte er auch später über mich vielen anderen, die jetzt noch leben und es bezeugen können. Ganz berauscht ging ich von ihm fort; ich blieb an der Ecke seines Hauses stehen, sah den Himmel über mir, sah den hellen Tag, die Vorübergehenden, und fühlte mit meinem ganzen Wesen, dass in meinem Leben ein feierlicher Augenblick eingetreten war, ein Durchbruch nach der Ewigkeit, etwas ganz Neues; aber etwas, das ich damals auch in meinen leidenschaftlichsten Träumen nicht vermutet hatte (und ich war damals ein schrecklicher Träumer!). „Wär’ es möglich, bin ich in Wahrheit so gross?“ — dachte ich schamhaft, in einer Art schüchterner Entzückung, bei mir. O, lachet nicht! Niemals nachher habe ich gedacht, dass ich gross sei, aber damals — konnte man denn das ertragen! O, ich werde dieses Lobes würdig sein! — Und was für Menschen, was für Menschen! Ich werde es verdienen, ich werde trachten so prächtig zu werden wie sie, ich werde ausharren, getreu sein! O, wie bin ich doch leichtsinnig! Wenn Belinsky nur sähe, was für niedere, schändliche Dinge in mir sind! Übrigens giebt es solche Leute nur in Russland, sie stehen allein, aber bei ihnen allein ist Wahrheit; und diese, das Gute und Wahre siegen und triumphieren überall. — So werden wir über das Böse und das Laster siegen — o, zu ihnen also, mit ihnen! ......

Das alles dachte ich, ich erinnere mich des Augenblicks in seiner ganzen Klarheit, und niemals habe ich ihn später vergessen können; das war der hinreissendste Moment meines ganzen Lebens.

Mit dieser Erzählung „Arme Leute“, sagt N. Strachow, „hat Dostojewsky einen neuen Ton in die russische Litteratur gebracht. Die Situation und die Figur des armen Helden, welche eine gewisse Ähnlichkeit mit der Hauptfigur aus Gogols „Mantel“ hat, weist Züge rührender Schönheit und Herzenseinfalt auf, während Gogol nur das Factum, das Erniedrigende und Lächerliche desselben darstellt“. Dass Dostojewsky mit vollem Bewusstsein diesen grossen Schritt gethan und diesen echt russischen Zug von Teilnahme und Liebe zu den Unbegabten und Erniedrigten in die Litteratur gebracht hat, beweist die Stelle, wo Makar Djewuschkin (der Held), dem das geliebte Mädchen Bücher leiht und einmal Gogols „Mantel“ zu lesen anrät, diese Erzählung als ein böswilliges Pasquill auf alle Armen aufnimmt, „die man ja jetzt auf der Strasse erkennen kann“, und sich in seiner Verzweiflung zum ersten Male im Leben — einen Rausch antrinkt. Es ist dies Dostojewskys schärfste Kritik Gogols, den er im übrigen unendlich bewundert und den er sich infolge ähnlicher Anlage zum Humor eine Zeit lang äusserlich zum Muster nimmt. — Wir mussten länger bei dieser Erzählung verweilen, weil sie eigentlich schon das „Leitmotiv“ der litterarischen Thätigkeit von Dostojewskys ganzem Leben anstimmt. Im Gegensatze zu anderen Dichtern, welche in ihren Erstlingswerken höchst unoriginal sind und erst später zu sich selbst kommen, setzt Dostojewsky kräftig und zielbewusst mit dem Ton an, der durch alle seine Werke geht, den er in der Seele hört, und um deswillen allein er schreibt. Seine Biographen und Arbeitsgenossen nennen vier Anlässe oder Anläufe des Dichters, welche seine vier, nach ihrer Grundidee bedeutendsten Werke hervorgerufen haben, gleichsam grosse Etappen auf seiner Dichterlaufbahn. N. N. Strachow, des Dichters Freund und Mitarbeiter, sagt in seinem Nachruf: „In seiner litterarischen Thätigkeit hat Dostojewsky eine Lebenskraft und Energie gezeigt, wie kein Zweiter. Er hatte Perioden der Erschlaffung, gleichsam des Verfalles — dann aber hat er sich immer wieder höher aufgeschwungen als je zuvor und sich immer wieder von einer neuen Seite gezeigt. Man kann vier solche neue Krafterhöhungen bei ihm nachweisen: 1. „Arme Leute“, 2. „Das Totenhaus“, 3. „Schuld und Sühne“ und endlich 4. „Das Tagebuch eines Schriftstellers“.

Uns scheint diese Einteilung eine ziemlich äusserliche zu sein. Die vier Grundideen, welche sich in diesen vier Werken äussern, sind durchaus einheitlich und nur verschiedene Äusserungen des in „Arme Leute“ angeschlagenen Themas. Hat man aber dieses Grundthema herausempfunden, so wird man, nämlich seiner Wirkung nach aussen nach, finden, dass zwei andere Werke es noch kräftiger, eindringlicher, zwingender durchführen. Diese Werke sind: „Der Idiot“ und „Die Brüder Karamasow“. Wir werden bei der Besprechung jedes einzelnen eingehender darauf zurückkommen. Gleichwohl wird der aufmerksame Leser von Dostojewskys Werken in Bezug auf seine litterarische Entwickelung zwei Epochen seiner schriftstellerischen Thätigkeit unterscheiden. Die erste Phase, welche gleich nach dem herrlich sicheren Ansetzen des Lebensthemas in „Arme Leute“ beginnt, hat etwas Tastendes, sowohl was die Wahl der Stoffe, als was die Wahl der Form anlangt. Unmittelbar nach dem Erfolge der „Armen Leute“, die indessen noch nicht im Druck erschienen waren, da Njekrássow die Sammlung, in welcher der Roman untergebracht werden sollte, erst 1846 herauszugeben dachte — also im Jahre 1845 macht sich Dostojewsky daran, den „Doppelgänger“, den er schon lange mit sich herumgetragen und von dem er sich anfangs viel versprochen hatte, auf Papier zu bringen. Durch das Auf und Ab seiner eigenen Verhältnisse gequält, schreibt er, wahrscheinlich nach seinem Besuch in Reval, an seinen Bruder:

.... „Wie traurig war es mir zu Mute, als ich nach Petersburg hineinfuhr ...... Wenn mein Leben in diesem Augenblicke abgerissen wäre, so wäre ich, scheint mir, mit Freuden gestorben .... Mein Diener hat sich zu Hause nicht gezeigt, der Hausmeister gab mir den verwaisten Schlüssel meines 600 Rubel-Quartiers, dessen Zins ich schuldig bin ... Gregorowitsch und Njekrássow sind nicht in Petersburg .... Sie werden kaum bis zum 15. September da sein ... Wie schade, dass man arbeiten muss, um zu leben. Meine Arbeit verträgt keinen Zwang ... Ich bin jetzt selbst der wahrhaftige Goljadkin, mit dem ich mich übrigens gleich morgen beschäftigen werde. Goljadkin, der abscheuliche Schuft, will durchaus nicht vorwärts, will durchaus vor der Hälfte November seine Carriere nicht vollenden“ ....

Am 16. November 1845 schreibt Dostojewsky: „Überall unglaubliche Ehrerbietung, überall eine schreckliche Neugierde in Bezug auf mich: Fürst Odojewsky bittet mich, ihn mit meinem Besuch zu beglücken, und Graf Sologub reisst sich in Verzweiflung die Haare aus; Panajew hat ihm gesagt, dass ein Talent da ist, welches sie alle in den Staub tritt“. Weiter schreibt er: „Dieser Tage war ich ohne einen Groschen; Njekrássow hat indessen „Zuboskala“, einen prächtigen humoristischen Almanach, ins Leben gerufen, dessen Vorrede ich geschrieben habe. Diese Vorrede hat Lärm gemacht ... Dieser Tage, als ich kein Geld hatte, ging ich zu Njekrássow, und als ich so bei ihm sass, kam mir die Idee eines Romans in neun Briefen. Nach Hause gekommen, schrieb ich diesen Roman in einer Nacht; er wird in der ersten Nummer der Zuboskala gedruckt werden. Du wirst schon selbst sehen, ob dies schlechter ist, als Gogol“. Weiter schreibt er: „Ich denke, ich werde Geld bekommen; Goljadkin wird vortrefflich — er wird mein chef d’oeuvre sein“. Als Nachschrift heisst es: „Belinsky schützt mich vor den Unternehmern“. Eine zweite Nachschrift lautet: „Ich habe meinen Brief überlesen und finde mich erstens ungrammatikalisch und zweitens einen Prahler“. Eine letzte Nachschrift sagt: „Die Minnuschkas, Claruschkas und Mariannen etc. sind unglaublich schöner geworden, kosten aber schrecklich viel Geld. Neulich waren Turgenjew und Belinsky da und haben mich über mein unordentliches Leben ausgescholten“. In einem Briefe vom 1. Februar 1846 teilt Dostojewsky seinem Bruder mit, dass er endlich am 28. des vorhergegangenen Monates „seinen Schuft Goljadkin“ vollendet habe. Dann weiter: „Für Goljadkin habe ich rund 600 Silberrubel bekommen; ausserdem erhielt ich noch einen Haufen Geld, so dass ich nach meinem Abschied von Dir schon 3000 ausgegeben habe. Ich lebe eben sehr unordentlich und das ist die ganze Geschichte. Ich bin ausgezogen und habe zwei sehr schön möblierte Zimmer bei Vermietern genommen. Ich lebe sehr gut“. (Folgt die Adresse, zufällig dasselbe Haus, in dem er starb.) Zum Schluss schreibt er: „Ich bin nervenkrank und fürchte ein Nervenfieber; regelmässig leben kann ich nicht, so sehr bin ich unordentlich“.

Zwei Monate später, am 1. April, schreibt er:

„In meinem Leben giebt es jeden Tag soviel Neues, so vieles, das für mich gut und angenehm ist, soviel Unangenehmes und Widerwärtiges auch, dass ich selbst nicht Zeit habe, darüber nachzudenken. Erstens bin ich sehr beschäftigt, Ideen eine Unzahl, und schreibe unaufhörlich. Denke nicht, ich sei auf Rosen gebettet, Unsinn. Erstens habe ich gerade 4500 Rubel verbraucht seit der Zeit, da wir uns trennten, und habe um 4000 Papierrubel von meiner Ware voraus verkauft; ... aber das ist nichts, mein Ruhm hat seinen Höhepunkt erreicht. Innerhalb zweier Monate wurde 35 mal in verschiedenen Werken von mir gesprochen ... aber was widrig und quälend ist, ist das: die Meinen, die Unsern, alle sind mit meinem Goljadkin unzufrieden. Der erste Eindruck war massloses Entzücken, Reden, Lärm, Auseinandersetzungen, dann Kritik: Alle, das heisst die Unsern und das ganze Publikum, haben gefunden, dass Goljadkin so langweilig und fade, so in die Länge gezogen ist, dass es unmöglich ist, ihn zu lesen.“ Weiter sagt er zu seinem eigenen Troste: „Alle sind zornig über diese Längen, und alle lesen es doch über Hals und Kopf und lesen es wieder über Hals und Kopf.“ Noch weiter sagt er: „Ich habe ein schreckliches Laster: eine unbegrenzte Eigenliebe und Ehrliebe ... mir ist jetzt Goljadkin widerwärtig; vieles darin ist in Hast und Ermüdung geschrieben. Die erste Hälfte ist besser als die letzte; auf glänzend geschriebene Seiten folgt ein abscheulicher Schund, dass es einem die Seele umdreht und man nicht weiter lesen will. Das ist es, was mir in der ersten Zeit zur Hölle wurde, und ich bin aus Kummer krank geworden.“

Man sieht aus diesen überschwänglichen Mitteilungen, wie sehr der erste Erfolg dem 24jährigen Dichter zu Kopf gestiegen war und seine Selbstkritik geschädigt hatte, da er den Roman in neun Briefen „eine Perle, nicht schlechter als Gogol“ und den Doppelgänger sein chef d’oeuvre nennt. Bald jedoch, und das wieder von aussen angestossen, fällt sein Selbstbewusstsein, da „Alle, alle, die Unsern, sowie das Publikum über den Doppelgänger losziehen.“

Es ist für den Dichter eben jetzt erst die Zeit der Nachahmung und des Suchens nach seinem Stil angebrochen, ein Herumtasten, das ihn einerseits auf die Wege Gogols und der Humoristen führte, denen er seiner Anlage nach sehr nahe stand, andererseits den Spuren Balzacs und George Sands nachgehen hiess, wozu ihn der überwuchernde Reichtum seiner ethischen Phantasie und namentlich die Lust an Scenen- und Situationenwechsel verführen mochte. Dieser Periode des Tastens entsprangen ausser dem Doppelgänger und dem Roman in neun Briefen sehr bemerkenswerte kleinere und grössere Erzählungen, auf die wir an ihrer Stelle im einzelnen zurückkommen werden. Ihre Hauptmerkmale sind: Eine unwiderstehliche Situationskomik, wie in der „Frau des Andern“, „Eine heikle Geschichte“, ferner ein kräftig satirischer Zug, wie in „Das Krokodil“, und eine unendliche Zartheit und ehrfürchtige Jugendlichkeit in der Zeichnung weiblicher Gestalten, wie in „Njetotschka Njezwanowa“ und „Helle Nächte“. Es ist sehr zu bedauern, dass es keine Gesamtausgabe von Dostojewskys Schöpfungen in deutscher Sprache giebt, welche sie in der Reihenfolge ihrer Entstehung und damit ein übersichtliches Bild der inneren und äusseren Entwickelung des Dichters brächte. Es würden daraus dem eindringenden Leser die zwei Phasen vor und nach Sibirien sofort erkennbar werden; es würde daraus erhellen, wie der Dichter allmählich sich wieder findet, auf die glänzendste Komik und die reichste Ausgestaltung der Fabel sehr oft, nicht nur aus Hast und Geldmangel, oder weil ihm der Humor ausgegangen wäre, verzichtet, und immer kräftiger, unentwegter auf das Ziel seiner Lebensaufgabe lossteuert, bis er zuletzt zum „Tagebuch eines Schriftstellers“ gelangt, das ihm ermöglicht, ganz subjektiv, ohne Umschweife und künstlerische Umwege, rein publizistisch „die Wahrheit“ zu verkünden. — „Denn“, sagt er immer wieder, „ein Journal ist eine grosse Sache“.

Wir haben diese Abschweifung für notwendig erachtet, weil mit dem Hinweis auf die einheitliche Grundidee seines ganzen Lebenswerkes, die sich so mächtig in seinen Arbeiten vor uns auslegt, ein Punkt gewonnen ist, von wo aus wir sowohl sein Leben, als seine Thätigkeit und sein Streben bis ans Ende klar überblicken können.

„Der Doppelgänger“ schildert den Zustand eines im Grunde mittelmässigen Menschen, welcher aus dem Unvermögen heraus, das wirklich darzustellen, zu thun, zu fordern, zu sein, was er darstellen, thun, sein und fordern will, wahnsinnig wird. Anfangs zwingt er sich zu allen jenen mutigen Lebensäusserungen, die seinem eigentlichen Wesen fehlen, da er sie aber an unrechtem Ort, zu unrechter Zeit und in unziemlicher Weise verübt, so ist Spott und Verachtung und niedrigste Entehrung sein Lohn, so dass er, nun in Wahnvorstellungen versunken, jenes andere Ich, das, er sein möchte, als Hallucination fortwährend an seiner Seite sieht, bis am Schluss sein Wahnsinn offenkundig und er in ein Irrenhaus gebracht wird. Nun wäre dieser Vorgang an sich verständlich und mit der feinen Dostojewskyschen Motivierung ergreifend, deutlich, wenn der Dichter hier nicht eine Gewaltsamkeit verübt hätte, welche die Einheit des Werkes und dadurch dessen Klarheit zerstört. Er stellt nämlich da, wo es zum Ausbruch der Katastrophe kommt, einen wirklichen, allen anderen sichtbaren Doppelgänger und zugleich Namensvetter des Herrn Goljadkin mitten in seine Karriere hinein, an Goljadkins Arbeitspult, unter Goljadkins Kollegen und Vorgesetzte und lässt in Wirklichkeit den Narren durch seinen klugen, streberhaften Doppelgänger verdrängen. Es ist, als ob der Dichter kein anderes Mittel gefunden hätte, um uns zu zeigen, dass oft kluge Routine allein sich an die Stelle dessen setzt, dessen Kraft nicht ausreicht, um in der Erscheinung ein Charakter zu werden. Man wüsste sonst nicht, warum dieser gewaltsam hingesetzte deus ex machina auftaucht, dessen es nicht bedurft hätte, um die Tragödie eines isolierten Charakters, wie ein geistvoller Essayist den Doppelgänger nennt, darzustellen.

In mehreren Briefen Dostojewskys finden wir Andeutungen darüber, dass das Buch ein „Bekenntnis“ und ein specifisch russisches Bekenntnis ist, dass es einem Grundfehler des „russischen Menschen“ an den Leib geht und dass es auch den Finger auf die Stelle legt, wo geistige Zerrüttung beginnt, die im Wahnsinn endet.

Der „Roman in neun Briefen“ entstand, wie wir gesehen haben, ebenfalls in der ersten Epoche von Dostojewskys schriftstellerischer Thätigkeit und, wie wir ja aus seinem Briefe an den Bruder sehen, in einer Nacht. Er ist nichts weiter, als eine psychologische Spielerei, in welcher der Dichter mit Meisterschaft die ebenbürtige, wenn auch sehr verschieden nuancierte Niederträchtigkeit von fünf Personen in knappster Weise in neun Briefen heraus arbeitet.

Im Dezember 1845 kommt der Dichter in einem Brief an den Bruder noch einmal auf den unglücklichen Goljadkin zurück und erzählt, Belinsky habe eigens einen Leseabend veranstaltet, zu welchem auch Turgenjew eingeladen gewesen sei, damit er einige Kapitel dieser Erzählung höre. Allein Turgenjew entfernte sich sehr bald nach Beginn der Vorlesung, äusserte sich sehr lobend, war aber sehr eilig fortzukommen. Drei oder vier Kapitel hätten Belinsky sehr gefallen, „obwohl sie es nicht wert waren“, wie Dostojewsky sich ausdrückt, worauf er sagt, dass diese Erzählung, der eine der ernstesten Ideen zu Grunde liege, welche der Dichter bis heute in die Litteratur eingeführt habe, dennoch misslungen sei. Er hat sie nach 15 Jahren einer gründlichen Umarbeitung unterzogen, sie aber dann noch als eine „völlig misslungene Sache“ bezeichnet. —

Des Dichters äussere Verhältnisse zeigen in dieser Zeit immer dasselbe Bild grösster Veränderlichkeit und Unordnung, dem immer auch ein Wechsel in der Stimmung entspricht. Eines aber ist bleibend: sein grosses Selbstgefühl. So sagt er in einem Briefe vom 1. April 1845: „Ein ganzer Schwarm neuer Schriftsteller ist aufgetaucht“. Die bedeutendsten darunter scheinen ihm Gontscharow und Herzen zu sein. „Man lobt sie ausserordentlich“, fährt er fort „der Vorrang aber bleibt vorläufig noch mir und wird wohl immer mir bleiben“.

Allerlei Pläne schwirren in seinem Kopfe herum. Er beginnt für Belinskys „Vaterländische Annalen“ zwei kleine Geschichten: „Der rasierte Backenbart“ und „Die zerstörten Kanzleien“. — Diese letztere dürfte wohl die unter dem Namen „Herr Prohartschin“ später erschienene Geschichte sein. „Beide“, sagt er, „haben ein erschütterndes, tragisches Interesse und sind — dafür stehe ich Dir gut — schneidig bis aufs äusserste“. Auch eine gemeinsame Übersetzung von Goethes Reineke Fuchs schlägt er dem Bruder vor.

Nach einem zweiten Besuch in Reval kündigt er dem Bruder an, dass er abermals ausziehen werde, zwei kleine, möblierte Zimmer in Aftermiete genommen habe, wohin er indes, wie wir später sehen werden, gar nicht übersiedelt. Er erzählt ferner, dass im „Zeitgenossen“, einer von Njekrássow redigierten Zeitschrift, Gogols geistiges Vermächtnis erscheine, worin dieser sich von allen seinen Werken lossage. „Also,“ fügt er hinzu, „ziehe selbst den Schluss daraus.“ — Dass man seinen Prohartschin in der Zeitschrift Njekrássows zu besprechen beginne, teilt er auch mit und schliesst abermals mit einem Ausbruch von Trauer und Melancholie, „wo es am besten sei zu schweigen“. Es ist diese Stimmung nämlich die Folge eines rivalisierenden Geplänkels der Redakteure, denen er sich abwechselnd verdingen muss, um schnell zu Geld zu kommen. Namentlich scheint Njekrássow immer in sehr kaufmännischer Weise alle Transaktionen geleitet zu haben. Ein bedeutendes Aufschnellen von Dostojewskys Stimmung tritt jedoch wieder ein, als der junge Dichter einen Kreis von Freunden findet, die festigend und ordnend in sein äusseres Leben eingreifen. Es sind die Brüder Beketow, vor allem aber S. D. Janowsky, mit dem er noch nach vielen Jahren in Korrespondenz stehen sollte. Nun schreibt er an den Bruder voll Vertrauen und Hoffnung, sich unabhängig zu machen, und voll Durst nach heiliger Kunst, nach einer reinen, heiligen Arbeit, mit der ganzen Aufrichtigkeit eines Herzens, „das noch nie in ihm so heftig erbebt habe, wie jetzt, da so viele neue Bilder in seiner Seele erstehen. Bruder,“ sagt er, „ich bin in einer Wiedergeburt begriffen, nicht nur geistig, sondern auch physisch; noch niemals habe ich eine solche Fülle und Klarheit in mir getragen, so viel Gleichmässigkeit des Charakters, so viel physische Gesundheit empfunden. Darin bin ich meinen teueren Freunden Beketow und — anderen tief verpflichtet, mit denen ich lebe. Das sind thätige, gescheite Menschen, Menschen, die ein vortreffliches Herz, Seelenadel, Charakter haben ... sie haben mich durch ihre Genossenschaft gesund gemacht. Zuletzt habe ich ihnen vorgeschlagen, dass wir miteinander wohnen sollten; wir haben eine grosse Wohnung aufgenommen, und die Gesamtauslagen für die Erhaltung jedes einzelnen übersteigen nicht 1200 Rubel jährlich. So gross ist die Wohlthat der Association.“

Dieser Schluss dürfte, wie Orest Miller richtig bemerkt, wohl schon im Zusammenhang mit Dostojewskys neuester Beschäftigung stehen, mit dem Sozialismus:

Ein tiefer gehendes Merkmal dieser Beschäftigung mit dem Sozialismus ist wohl der Umstand, dass sich der Dichter nachträglich in seiner eigenen Beurteilung der „Armen Leute“ von der rationalistischen Anschauung Belinskys beeinflussen lässt, welcher die positiven Schönheiten dieses Buches durchaus nicht in den weichen Schatten sieht, welche „Armut im Geiste“ über die Gestalt des Helden breitet, sondern ganz einfach in gewissen, schärfer hervortretenden, gleichsam das Mitleiden escomptierenden Zügen dieser missbrauchten, zertretenen Figur. Dostojewsky selbst schliesst sich, vermöge der seinen Geist jetzt beschäftigenden Ideen von Kollektivismus und Association, dieser flacheren Betrachtung an, und wir werden später sehen, wie er sich, seinem innersten Wesen nach, wieder davon lossagt.

Über des Dichters Leben in den Jahren 1846 und 47 geben uns sowohl die Berichte N. Strachows, Dr. Granowskys und anderer Freunde, als auch seine stets die Stimmung des Augenblicks malenden Briefe an den Bruder ein ziemlich klares Bild. Obwohl er noch immer im Verein mit den Freunden lebt, „angenehm und ökonomisch,“ wie er sagt, leidet seine nervöse Konstitution doch schwer unter den doppelten Qualen eines schöpferischen Dranges, die Probleme, die ihn förmlich bestürmen, auszulösen, sie mit allerfeinster analytischer Genauigkeit herauszuarbeiten, und der misstrauischen Ängstlichkeit, mit welcher er auf den Eindruck lauert, den seine Arbeiten hervorrufen; wobei seine Eigenliebe bald den Gipfel des entzückten Triumphes und der Selbstüberschätzung erklimmt, bald abgrundtief in Kränkung und melancholischen Unwillen versinkt. Zudem plagt ihn das Ungeordnete, das dem Schriftsteller-Handwerk durch die Zahlungs-Verhältnisse zwischen Dichter, Redakteur und Verleger an und für sich anhaftet, doppelt. Dennoch finden wir nicht einen Augenblick wirklicher Mutlosigkeit oder eines Nachlasses in der Arbeit, und wir sehen von hier an, wo sich sein schriftstellerischer Beruf ihm und aller Welt schon klar gezeigt hat, eine immer gesteigerte Arbeitskraft, die alle Widerwärtigkeiten, die schwere, sich entwickelnde Epilepsie und die daraus entstehende Gedächtnisschwäche überwindet und geradezu verblüffende Leistungen schafft. Im Dezember 1846 teilt er dem Bruder mit, dass er ganz in Arbeit versunken ist. Er schreibt Tag und Nacht, erholt sich nur hie und da, wie er gleichsam als Entschuldigung zufügt, an der italienischen Oper. Er schreibt an der Erzählung „Njetotschka Njezwánowa“ — „auch eine Beichte“, sagt er, „wie Goljadkin, wenn auch in einem andern Tone. Mir scheint immer“, fährt er fort, „als führte ich einen Prozess gegen unsere gesamte Litteratur; und mit den drei Teilen meines Romans, die in den Vaterländischen Annalen erscheinen werden, stelle ich auch für dieses Jahr meinen Vorrang gegenüber meinen Neidern fest.“ Anfangs 1847 drückt er dem Bruder sein Bedauern darüber aus, dass dieser „ohne Umgebung“ lebe. Wir haben oben gesehen, wie sehr ihm die Deutschen der Ostseeprovinzen missfielen. Doch tröstet er ihn mit Worten, welche gleichfalls die neue, seinem ursprünglichen Wesen widersprechende Richtung kennzeichnen. Weiter berichtet er in überschwenglichen Ausdrücken über seine „Wirtin“, die er eben schreibt, gerade so selbstzufrieden, als mit dem Roman in neun Briefen. „Diese Erzählung wird besser, als die „Armen Leute“, sie ist in derselben Art“, meint er. „Meine Feder treibt eine Quelle der Inspiration, nicht so wie bei Prohartschin, an dem ich mich einen ganzen Sommer lang herumquälte.“

„Herr Prohartschin“ ist eine jener Erzählungen aus der Zeit einer, wie wir oben gesagt, tastenden Nachahmung. Eine lächerliche, armselige Gestalt unter anderen armseligen und ungebildeten Menschen, bei einer armen Witwe „in Kost und Wohnung“ und von den anderen durch allerlei abgekartete Mystifikationen in die Flucht und dadurch in Krankheit und Tod geschreckt; dies wird namentlich durch die Angst Prohartschins gefördert, dass man sein durch zwanzig Jahre zusammengeknausertes Kapital von kleinen Münzen nicht in der schmutzigen Matratze vermute, die er in allen Mussestunden mit seinem Leibe deckt.

Die Aufhäufung menschlicher Schwächen und Lächerlichkeiten im Raum eines Druckbogens, dabei ein absichtliches Fernhalten aller jener Züge im Helden, welche Teilnahme erwecken müssten, also ein forcierter, bis ins Groteske gehender Humorismus mit Anklängen an Gogol und Dickens, und Stellen feiner Detailschilderung, die jener würdig wären, kennzeichnen diese Erzählung, an welcher sich der Dichter „einen Sommer lang herumquälte“.

„Die Wirtin“ wurde von Belinsky, wie wir später erfahren, sehr abfällig kritisiert. Es scheint uns diese Ablehnung gerade von Belinskys Seite erklärlich genug. Vor allem konnte dem scharfen Progressisten und Vertreter der sozialen Richtung in diesen Tagen der Bewegung ein Buch ohne Tendenz oder eine tendenziös auszunutzende Pointe nicht genügen. Andererseits war sein Geschmack zu fein, um jene Unebenheiten, jene Ungleichheiten im Ton derselben, sowie den jugendlich unrealen Romantismus, der im Hauptteil der Erzählung zu Tage tritt, nicht zu empfinden. Er hätte diese Mängel allenfalls milder beurteilen können, wenn sich dahinter eine zeitgemässe Forderung oder Anspielung verborgen hätte. Wie dem auch sei — wir sind trotz jener Fehler von diesem Jugendwerke hingerissen und erschüttert.

Die Gestalt des Alten, des eigentlichen Helden der Erzählung, wirkt auf den Leser mit derselben abstossenden Anziehung, wie sie nach der Schilderung Katharinas auf alle, die in seine Nähe kommen, wirkt. Wir begreifen seinen mystisch-verbrecherischen Sieg über das „schwache Herz“, das sich an seiner Seite vergeblich nach junger Liebe, jungem Leben sehnt, das sich losmachen möchte und ihm doch immer wieder anheimfällt. Ein Grauen durchbebt uns bei dem nächtlichen Bekenntnis Katjas, das in der geheimnisvoll-süssen Sprache der Primitiven mehr verschweigt als enthüllt, und die Schilderung der Brandnacht, jene der Flucht auf der Wolga mit dem Boot, das im Sturme „nicht dreie tragen kann“, hüllen uns, eine ossianische Ballade, in alle Schauer altnordischer Poesie. Die Herrlichkeit dieser Sprache, die Anschaulichkeit dieser Bilder, die ganz rein dichterisch wirken — das hat sich bei Dostojewsky nie mehr in dieser Art wiederholt. Was Belinsky darin gefehlt haben mochte, war wohl jene reife, frühreife Menschenkenntnis, die er in den „Armen Leuten“ so sehr bewundert hatte. Ihn mochte der Taumel des 26jährigen, „von einer Quelle der Inspiration getriebenen“ Dichters enttäuschen, dem Himmel und Hölle aus diesen zwei Menschenangesichtern entgegenschlugen. Auch konnte er unmöglich darüber hinwegsehen, dass Ordynow, der nominelle Held der Liebesgeschichte, nichts anderes ist, als ein Deus ex machina, eine Entladungsstelle für die elektrischen Pole Muryn und Katharina. Ordynow ist kein Mensch mit Fleisch und Knochen, sondern ein Bündel Nerven, an dem die Geschichte ausgeht. Auch könnte ein realistischer Kritiker durch die meisterhafte Zeichnung der Nebenfigur Jaroslaw Ilitsch, in welcher sich Dostojewskys ganze realistische Kraft mehr verrät als zeigt, nicht über das Schattenhafte alles übrigen ausgesöhnt werden. Wir aber finden in diesem Romantismus Stellen einer tiefen Seelenahnung auch vom Wesen der Frau — an welches der Dichter in der ersten Periode seines Schaffens überhaupt mit ehrfürchtiger Scheu herantritt. Am Schlusse der Erzählung spricht der Dichter durch den Mund Ordynows an folgender Stelle seinen Hauptgedanken aus:

„Es schien ihm (Ordynow), dass Katharinens Geist nicht gestört war, dass aber Muryn in seiner Weise Recht hatte, als er sie ein schwaches Herz nannte. Es schien ihm, dass ein Geheimnis sie mit dem Alten verbinde, dass aber Katharina, ohne ihre Schuld zu erkennen, so rein wie eine junge Taube, in seine Macht gekommen war. Wer waren sie? Er wusste es nicht; allein ihm träumte unaufhörlich von der tiefen, unentrinnbaren Tyrannei über ein armes, schutzloses Wesen. Und sein Herz wurde unruhig und pochte in ohnmächtiger Entrüstung in seiner Brust. Es schien ihm, dass man vor die erschreckten Augen der plötzlich erwachenden Seele hinterlistig ihren Fall hingestellt, in listiger Weise ihr armes, schwaches Herz gequält, Wahres und Falsches vor ihr vermengt hatte, da, wo es nötig schien, ihre Blindheit absichtlich unterhielt, in schlauer Weise den unerfahrenen Neigungen ihres aufstürmenden, beunruhigten Herzens schmeichelte; dass man nach und nach die Flügel ihrer fessellosen, freien Seele stutzte, so dass sie zuletzt nicht mehr fähig war, sich aufzurichten, noch ihren freien Schwung zu nehmen in das Leben der Wirklichkeit.“

Vielen Lesern dieser Erzählung hat sie unklar und unvollendet geschienen. Dies muss auch bei jenem französischen Übersetzer der Fall gewesen sein, welcher den Mut hatte, sie mit der 17 Jahre später geschriebenen Erzählung „Memoiren aus einem Souterrain“[3] (deutsch: Aus dem dunkelsten Winkel einer Grossstadt) zusammenzuschweissen und unter dem Titel „l’Esprit souterrain“ zu veröffentlichen. Derselbe französische Übersetzer hat es auch gewagt, die „Brüder Karamazow“ einer Verstümmelung zu unterziehen, indem er den Roman beim zweiten Buche beginnen lässt. Traduttori traditori!

Die „Wirtin“ wurde also von Belinsky sehr übel behandelt, was den Dichter tief kränkte, obwohl er sich gar nicht schriftlich darüber geäussert hat. Seine nächsten Mitteilungen an den Bruder sind wieder Berichte über angestrengte Thätigkeit, bestellte Arbeit, die man mit Vorschüssen sichert, „kurz eine Hölle“. Hier muss erwähnt werden, was er in allen seinen Briefen während der ganzen Dauer seiner Laufbahn immer wieder betont: „Auf Bestellung arbeiten werde ich niemals; ich habe es mir zugeschworen. Von solcher Arbeit würde ich zu Grunde gehen!“ — Der einzige Weg, den er einschlug, um durch seine Arbeit zu Gelde zu kommen, war der, dass er von den vielen Plänen und fertigen Entwürfen, die er immer mit sich herumtrug, einen oder den anderen den bekannten Redakteuren vorschlug und einen Termin angab, bis zu welchem er die Arbeit vollenden könnte. Meistens wusste er von vornherein fast ganz genau, wieviele Druckbogen sie ausmachen würde, und überschritt selten das selbst gestellte Mass. Um diese Zeit gestaltet sich Dostojewskys äusseres Leben sehr bewegt. Nach der einen Seite findet er im Hause des Malers Maikow, eines Bruders des bekannten Dichters dieses Namens, Anregung und Förderung durch den Verkehr mit Schriftstellern und bedeutenden Menschen, worunter Gontscharow, Dudyschkin, A. Maikow und andere. Er hat Gelegenheit, dort die Werke Gogols und Turgeniews bis in das kleinste Detail der Charakteristik analysierend zu besprechen, auch seinen Prohartschin herauszuarbeiten, welcher „den meisten Lesern unverständlich“ war, findet aber auch im Ehepaar Maikow thatkräftige Freunde, welche ihm bei seinen Geldkalamitäten hilfreich beispringen.

Nach der andern Seite tritt er in den Verkehr mit einem Kreis junger Leute, welche den neuen Ideen huldigen. Ein Brief aus dieser Epoche vom 9. September 1847 spricht nur eine energische Zustimmung zu des Bruders Absicht aus, seinen Abschied zu nehmen. Er rät ihm, gemeinsam eine Gesamtausgabe von Schillers Dramen, die er ja übersetzt habe, zu veranstalten, und schliesst mit den Worten: „Warte nur, Bruder, wir werden schon hinauf kommen; es ist unmöglich, dass wir beide uns nicht durchschlagen.“ Am Rande schreibt er: „Siehst Du, was Association bedeutet? Arbeiten wir getrennt, so gehen wir unter, zusammen aber gehen wir einem grossen Ziele entgegen — das ist etwas ganz anderes!“

Hier haben es die Herausgeber für angebracht befunden, eine Lücke von nahezu zwei Jahren in die Korrespondenz zu reissen, welche allerdings nicht sehr ausgiebig und nicht sehr expansiv gewesen sein dürfte. Die „neuen Ideen“ Sozialismus, Fourierismus hatten den Feuerkopf ergriffen. Er schloss sich um diese Zeit jenem Kreise sehr nahe an, in welchem über die künftigen Umgestaltungen Russlands, über eine Änderung der Staatsverfassung lebhaft debattiert wurde. Dies war aber zu einer Zeit, da es geradezu gefährlich sein mochte, sich eine Ansicht über den Umschlag des Wetters, eine Prognose zu erlauben. Sprach man schon im Kreise von Freunden und Gesinnungsgenossen, so hütete man sich wohl, die Worte, die gefallen waren, nach aussen auszusprechen oder aufzuschreiben; so kann es wohl sein, dass nicht viele Briefe Dostojewskys an seinen Bruder in Gang kamen. Theodor Michailowitsch war an und für sich nicht mitteilsam; wo er sich mitteilte, geschah es zumeist in nervöser, durch Gegensatz und Widerspruch oder durch eine aufgestachelte Lust am Paradoxen hervorgerufene Kampfstimmung.

Indessen sind aus dieser Zeit noch einige Briefe im Besitze der Rechtsnachfolger, welche sich noch heute in der schwierigen Lage befinden, den Dichter lavierend nach beiden Seiten hin schützen und immer fürchten zu müssen, ihn nach rechts oder nach links zu kompromittieren. Es wäre zu untersuchen, ob nicht ein kühnes Durchbrechen dieser Schwierigkeiten durch offene Darlegung des Sachverhalts, Veröffentlichung auch der „gravierendsten“ Briefe, mit einem Schlage die Luft um seine Erscheinung von allen Miasmen der Missgunst, des stillen Grolls und der Verurteilung zu reinigen vermöchte.

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