Einleitung

Die Bhagavadgîtâ ist ein philosophisches Gedicht – und nicht mit Unrecht nennt Wilhelm von Humboldt sie „das schönste, ja vielleicht das einzig wahrhafte philosophische Gedicht, das alle uns bekannten Literaturen aufzuweisen haben.“ In der Tat ist es wohl das einzige in der Weltliteratur, welches ganz diesem Begriff entspricht, d. h. wirklich philosophisch und doch zugleich ein echtes, von höchstem poetischen Schwunge getragenes Gedicht ist, was sich nicht einmal von dem berühmten gedankenreichen, aber doch mehr trockenen, philosophischen Gedichte des Lucrez „De natura rerum“ völlig behaupten läßt. Daß ein solches Gedicht gerade bei den Indern entstehen konnte, ja entstehen mußte, das begreift sich leicht, wenn man weiß, in welchem Grade dies hochbegabte Volk vor anderen Völkern schon früh, schon im vedischen Altertum von großen philosophischen Gedanken erfaßt und durchdrungen wird, mit welcher Energie es um die Klärung und Ausgestaltung seiner Weltanschauung fort und fort ringt, in welcher Ausdehnung hier philosophische Gedanken durch Jahrhunderte und Jahrtausende sich mit den religiösen Vorstellungen verbinden und verschmelzen, aus ihnen erwachsen und sie wiederum bestimmen, ja auch Leben und Handeln bestimmen und beherrschen. Es begreift sich, wenn man zugleich die Kraft der Poesie, die echt arische Fähigkeit hochfliegender Begeisterung kennt, die in diesem merkwürdigen Volke seit alters wirkt und lebt, bald schlummernd, träumend, bald in hellem Jubel erwachend, mit elementarer Macht aufflammend. Schon aus dem Rigveda tönen uns so erhabene, ergreifende Klänge philosophischer Poesie entgegen, wie sie jenes berühmte Lied vom Weltenursprung enthält, das mit den Worten anhebt: „Damals war weder Sein noch Nichtsein“ usw. Und dann gleich in den ältesten Upanishads, vielleicht 7–800 Jahre vor Christo, welche Größe und Kraft, welche Kühnheit und Klarheit der philosophischen Gedanken und Bilder, mit welchem poetischem Schwung, mit welcher feurigen und stolzen Begeisterung verkündet! Wie tief lassen uns die schon oft geschilderten philosophisch-theosophischen Wettkämpfe jener Zeit hineinblicken in das leidenschaftliche Suchen und Ringen nach Erkenntnis der Wahrheit, in die Kraft der Begeisterung, mit der die gefundene Weisheit verkündet wird. Und diese Bewegung der Geister setzt sich fort in der weiteren Upanishaden-Literatur, sie zieht sich durch das große Epos Mahâbhârata, sie gewinnt im Buddhismus und Jainismus neue Formen, sie kristallisiert sich in den verschiedenen philosophischen Systemen und Kommentaren, sie lebt auch in den Gesetzbüchern, sie schimmert und leuchtet in den Purânen und unzähligen anderen Werken. Und IIsie treibt die Menschen dazu, der Welt zu entsagen, um nur den großen, ewigen Gedanken zu leben.

Sie erfaßt in der Folge auch die Eroberer, die Herrscher des Landes aus nichtindischem Stamme, zwingt den edlen Prinzen Mohammed Daraschakoh, Krone und Reich der Großmoguln in die Schanze zu schlagen, um für die Wahrheit siegend unterzugehen[1]. Sie erfaßt auch die höher gearteten europäischen Besucher des wunderbaren Landes mit unwiderstehlicher Gewalt. Sie setzt sich fort bis in die Gegenwart, bis zu jenem nackten Heiligen mit dem Gesichte eines alten deutschen Professors, Lehrers oder Pastors, der vor kurzem noch in einem Garten von Benares vor einer Kapelle saß, die sein eigenes Bildnis in Marmor enthielt, und der zu den Bemerkungen lebenslustiger Spötter wohl milde lächeln und ihnen kopfschüttelnd zuflüstern konnte: „Alles, was uns umgibt, ist nicht Wirklichkeit, sondern nur ein Traum!“[2].

Ja, in diesem Lande konnte und mußte philosophische Dichtung entstehen, wie sie in schönster, reichster Blüte die Bhagavadgîtâ uns vorführt.

Seit Jahrhunderten, ja seit Jahrtausenden schon ist die Bhagavadgîtâ in Indien selbst berühmt und hoch gefeiert. Ebendarum gehörte sie wohl auch schon zu den ersten Werken der altindischen Literatur, die in Europa bekannt wurden. Schon im Jahre 1785 wurde die geistvolle Dichtung durch den Engländer Wilkins übersetzt und trug nicht wenig dazu bei, die Aufmerksamkeit der Europäer auf die alte Sanskrit-Literatur zu richten. Der Führer der Romantiker, die sich Indien so wahlverwandt fühlten und fühlen mußten – denn Indien ist das Land der Romantik – August Wilhelm von Schlegel, der erste Professor des Sanskrit in Deutschland, gab den Originaltext des Gedichtes im Jahre 1823 heraus und versah denselben mit einer musterhaften lateinischen Übersetzung[3]. Und ein Mann wie Wilhelm von Humboldt war so mächtig davon ergriffen, daß er an seinen Freund Gentz, den bekannten Diplomaten, schrieb: er danke Gott, daß er ihn so lange habe leben lassen, um dieses Gedicht noch lesen zu können! – Das Wort ist schon oft angeführt worden, doch hier ist es am Platze und durfte nicht fehlen. Humboldt widmete diesem Gedichte dann noch eine eingehende geistvolle Abhandlung, die zum besten gehört, was über den Inhalt der Bhagavadgîtâ geschrieben ist[4].

III

Wenn man die Bhagavadgîtâ ein philosophisches Gedicht nennt, so ist das eigentlich nicht genug – die Bezeichnung ist nicht erschöpfend. Philosophie, Dichtung und Religion, einschließlich die Moral, sind hier tatsächlich eins. Es wäre zu wenig, wenn man sagen wollte, sie sind untrennbar eng verbunden, unauflöslich mit einander verschmolzen – denn es handelt sich hier nicht um eine Verbindung oder Verschmelzung! Nein, sie sind eins, sind ein Ganzes, als solches organisch gewachsen, und ebendarum untrennbar. Der Forscher mag die Elemente sondern, wie er auch die Pflanze oder den Tierkörper zerlegt, in Wahrheit aber liegt eine organische Bildung vor, die ganz einheitlich aus dem indischen Geiste entsprossen ist – eine religiös-philosophische Dichtung mit starkem ethischen Einschlag – ein für Indien höchst charakteristisches Produkt, denn gerade die Einheit von Philosophie, Religion und Moral, getragen von hohem dichterischen Schwunge, tritt uns in diesem Lande so eindrucksvoll entgegen, womit nicht gesagt sein soll, daß die Inder nicht auch streng systematische, nüchtern analytische philosophische Betrachtung gekannt haben. In der Bhagavadgîtâ aber handelt es sich in der Tat „um eine Philosophie, die nicht als Lehrgebäude bewundert werden, sondern den ganzen Menschen durchdringen und erneuern, also Religion sein will, die verlangt, daß man sie lebt“[5].

Mit Recht hebt Chamberlain gerade diese organische Einheit von Philosophie und Religion als das auszeichnende Merkmal des indischen Geistes hervor. „In einer Beziehung – sagt er – steht das geistige Leben der Indoarier unerreichbar hoch über dem unsrigen: insofern nämlich dort die Philosophie Religion war und Religion Philosophie“. „Kein Mann stand in Indien geistig so tief, daß er nicht etwas Philosophie besessen hätte, kein kühnster Flügelschlag des Denkens erhob den außerordentlich Begabten so hoch, daß er nicht noch inbrünstig religiös geblieben wäre“[6].

Äußerlich betrachtet erscheint die Bhagavadgîtâ als eine Episode des großen Epos Mahâbhârata, dem sechsten Buche desselben angehörend, eine Episode, die in der orginellsten, ja in wahrhaft indischer Weise der Erzählung eingefügt ist:

Krishna, eine Inkarnation des Gottes Vishnu, geleitet den Pânduiden Arjuna als dessen Wagenlenker in den großen Kampf der Kuru und Pându-Söhne. Als Arjuna seine Verwandten, Freunde und Lehrer vor sich in den Reihen der Feinde erblickt, zögert er vorzugehen, wird unschlüssig und kleinmütig. IVWie soll er mordend vorgehen gegen diese ihm nahestehenden Menschen? – Da ermahnt ihn Krishna, solche Bedenken fahren zu lassen und seine Pflicht als Kämpfer zu tun. Es entspinnt sich ein Gespräch und Krishna entwickelt nun angesichts beider Heere in achtzehn Gesängen dem Arjuna seine ganze Welt- und Lebensanschauung, aus welcher die Pflicht, handelnd vorzugehen, als praktische Konsequenz resultiert[7].

Entsprechend diesem unmittelbar praktischen Anlaß der ganzen Erörterung ist es vor allem die praktische Moral, die in leuchtenden Zügen hier hervortritt, als das große Ergebnis alles dessen, was Krishna vorträgt, der strahlende Gipfel seiner gesamten Darlegung, wohl geeignet, als Leitstern des Lebens zu dienen. Auf dem Grunde metaphysischer Spekulation baut sich hier eine erhabene Sittenlehre auf, wie wir sie in den eigentlichen Systemen der Philosophie schmerzlich vermissen, eine Sittenlehre, die in ihrer Strenge und Reinheit wahrhaft imponierend wirkt und es wohl verdient, dem kategorischen Imperativ Immanuel Kants an die Seite gestellt zu werden.

Tu deine Pflicht!
Nach dem Erfolg des Handelns frage nicht!

Das ist das Leitmotiv dieser Lehre. Den ewigen heiligen Geboten der Moral folgend sollen wir unentwegt tapfer handelnd unsere Pflicht erfüllen, unbekümmert darum, wie schwer es uns ankommt; nie darnach fragend, welcher Erfolg uns dabei erblühen möchte. Dann winkt uns zuletzt als schönster Lohn „die höchste Bahn“, d. h. der Eingang zu der ewigen heiligen Gottheit, die die Grundlage der gesamten Weltordnung bildet und auch uns allen unsere Pflichten gesetzt hat.

Entsprechend dem System der Sânkhya-Philosophie, wie auch der vereinigten Sânkhya-Yoga-Lehre, wird hier – zum mindesten in gewissen Partieen des Textes – ein ursprünglicher Dualismus von Natur und Geist gelehrt (prakriti und purusha). Beide sind anfangslos und ewig (vgl. Bhag. XIII, 19); der Körper, dem Bereiche der Natur angehörig, ist zusammengesetzt und vergänglich, an seiner Erhaltung nichts gelegen. Die Seele einfach und unvergänglich, mit verschiedenen Körpern sich umkleidend, bis sie die Vereinigung mit dem höchsten Wesen erlangt. Diese Vereinigung soll aber nicht in untätiger Beschaulichkeit gesucht werden, obwohl auch die zeitweilige Meditation ihre volle Berechtigung hat. Wir sollen vielmehr handelnd unsere Pflicht erfüllen, aber mit absolutem Gleichmut, ohne Rücksicht Vauf die Folgen, ohne Begier nach den Früchten unseres Tuns, nur dem reinen Pflichtgebot gehorchend.

Ich habe soeben die dualistische Sânkhya-Lehre als philosophische Grundlage der Bhagavadgîtâ erwähnt. Indessen kann keine Rede davon sein, daß wir die Lehren dieser Philosophie in dem Gedichte rein und konsequent vorgetragen finden. Es gibt vielmehr nicht wenige Stellen, welche zu diesem System durchaus nicht stimmen wollen, sondern ihm geradezu widersprechen. Diese Widersprüche konnte schon W. v. Humboldt s. Z. nicht übersehen. Er suchte dieselben, recht einleuchtend, folgendermaßen zu erklären: „Es ist ein Weiser – sagt er – der aus der Fülle und Begeisterung seines Gefühls spricht, nicht ein durch eine Schule geübter Philosoph, der seinen Stoff nach einer bestimmten Methode verteilt und an dem Faden einer kunstvollen Ideenverkettung zu den letzten Sätzen seiner Lehre gelangt“[8].

Mit diesen Worten W. v. Humboldts, die zweifellos ihre volle Berechtigung haben, suchte man sich lange über die vielen anscheinenden Widersprüche und Divergenzen des tiefsinnigen Gedichtes hinüberzuhelfen. Es ist ein Gedicht und soll ein Gedicht sein, darum darf man eine streng systematische Gedankenentwicklung hier auch nicht erwarten. Es ist ein Weiser, ein hochgestimmter Dichter, der hier redet, kein Philosoph von Fach – wie man heute sagen würde –, ein tief religiös und ethisch gerichteter, mit allerlei Philosophie und Theosophie seines Landes vertrauter und dafür begeisterter Dichter, der aus dem Überschwang seiner Empfindung heraus in wechselnden Stimmungen redet. Das ließ in der Tat so manche Inkonsequenzen erklärlich und entschuldbar erscheinen[9].

Dennoch war es nicht leicht, sich mit diesen Dingen abzufinden, wenn man sich in das Studium der Bhagavadgîtâ mit einigem Ernst vertiefte. Der Dichter bekannte sich anscheinend deutlich zur Sânkhya-Yoga-Lehre. Er nannte sie öfters mit ihrem Namen, pries ihre Weisheit mit hochklingenden Worten und sagte direkt, daß er sie verkünde. Er gab das dualistische Grundprinzip dieser Lehre klar an, bediente sich einer ihr so charakteristischen Theorie wie der Lehre von den drei Gunas, den drei Qualitäten, nach denen die ganze Welt geordnet und eingeteilt ist (sattva Güte oder Wesenheit, rajas Leidenschaft, tamas Finsternis) u. a. m. Aber es fehlte auch nicht an zahlreichen VIVersen, die ganz deutlich Vedântagedanken aussprachen; Gedanken, die ganz wohl in einer Upanishad stehen konnten und die es durchaus begreiflich erscheinen ließen, daß die Bhagavadgîtâ selbst geradezu als eine Upanishad bezeichnet wurde, resp. die einzelnen Kapitel derselben als Upanishaden[10].

Vedânta und Sânkhya liegen weit auseinander. Der Vedânta, dessen feste Grundlage in den Upanishaden, den ältesten philosophischen Traktaten der Inder, vorliegt, ist streng monistisch und idealistisch – die indische All-Eins-Lehre. Der Atman-Brahman, die heilige Weltseele, ist der Urgrund alles Seins, aus ihm allein ist Alles, ist die gesamte Welt hervorgegangen, wie die Funken aus dem Feuer springen, wie das Spinngewebe aus dem Leibe der Spinne hervorgeht, wie die Töne aus der gespielten Laute herausquellen. Unsere eigene Seele aber ist im innersten Kern mit dieser Weltseele identisch. Nur ein Irrtum läßt uns überall Verschiedenheit sehen, denn in Wahrheit ist das ganze All nur Eins, das ἑν καὶ πᾶν – und das principium individuationis ist bloß eine Täuschung, durch Unwissenheit erzeugt, bloß ein Schein. Wer diese Täuschung erkennt, diesen Schein durchschaut, in Allem nur das Eine sieht – den einen Herrn[11] –, sich selbst als identisch mit dem Atman-Brahman erkennt, der ist erlöst. Die Sânkhya-Philosophie ist im Gegensatz dazu streng dualistisch, realistisch und rationalistisch. Sie geht von dem aus, was die empirische Beobachtung uns darbietet. Die Materie (Natur) auf der einen Seite, eine Vielheit individueller Seelen auf der anderen Seite, das sind nach dieser Lehre die beiden, total voneinander verschiedenen, gleicherweise ewigen Prinzipien, aus denen diese Welt zusammengesetzt und aufgebaut ist. Die vielen individuellen Seelen sind in die Körper gebannt, sie wandern durch die Körper, von einem zum andern, bis endlich die Seele zu der Erkenntnis ihrer totalen wesenhaften Verschiedenheit von dem Körper gelangt. Dann ist sie erlöst, dann wandert sie nicht weiter nach dem Tode, ist für immer von dem Körper befreit. Von einem Gott, von einer Weltseele ist in diesem System nicht die Rede. Wie war es möglich, in ein und demselben Dichterwerke so fundamental verschiedene Lehren wie Sânkhya und Vedânta zu vereinigen, zu mischen oder auch nur nebeneinander zu verkünden? Und wie ging es zu, wie ließ es sich erklären, daß ein Gedicht von so ausgesprochen theistischer Tendenz VIIwie die Bhagavadgîtâ, der Verherrlichung des großen Gottes Krishna-Vishnu gewidmet, gerade die Sânkhya-Lehre sich zur philosophischen Grundlage erwählen konnte, – die Sânkhya-Lehre, deren atheistischer Charakter so deutlich hervortrat? Hier lagen große Rätsel verborgen. Doch sie sollten nicht vergeblich ihrer Lösung harren.

Diese Lösung wurde in zielbewußter Weise vorbereitet durch die gründliche Erforschung der altindischen Philosophie, der sich die europäischen Indologen insbesondere in den letztvergangenen drei Jahrzehnten mit großem Erfolge gewidmet haben. Gerade die deutschen Gelehrten sind an dieser Arbeit in erster Linie beteiligt gewesen, allen voran Paul Deussen und Richard Garbe, welche beide sich ein unvergängliches Verdienst um diesen Zweig der Forschung erworben haben[12].

Doch der erste Anstoß, durch welchen der philosophische Inhalt der Bhagavadgîtâ in ein ganz unerwartet neues Licht gestellt werden sollte, erfolgte von anderer Seite her. Er ging von dem scharfsinnigen und gelehrten Jesuitenpater Joseph Dahlmann aus, der sich mit großer Energie in das gewaltige indische Epos und die überaus schwierige Frage seiner Entstehung und Zusammensetzung hineingearbeitet hatte. Dahlmann veröffentlichte zunächst i. J. 1895 ein geistvolles Buch über das Mahâbhârata als Epos und Rechtsbuch[13] und ließ demselben schon in dem darauffolgenden Jahre ein glänzend geschriebenes Werk über den wichtigen Begriff des Nirvâna folgen, das als Studie zur Vorgeschichte des Buddhismus bezeichnet war, in der Tat aber weit mehr bot, als sich nach diesem Titel erwarten ließ[14]. In diesem VIIIBuch untersuchte der Verfasser mit großem Scharfsinn die älteste Entwicklung der Philosophie bei den Indern, kam vielfach zu neuen Resultaten und versuchte, auf Grund derselben ebenso kühn wie energisch eine neue Konstruktion der Entstehung und Entwicklung des indischen Denkens. Er bemühte sich zu zeigen, daß der nüchtern rationalistischen und atheistischen Sânkhya-Philosophie, wie sie uns aus den erhaltenen Lehrbüchern des indischen Mittelalters bekannt ist, eine ältere, noch ganz und gar theistische Form ebenderselben Philosophie vorausgegangen sein möchte. Und er findet diese ältere Form der Sânkhya-Philosophie in dem großen Epos Mahâbhârata, insbesondere auch in der berühmtesten philosophischen Episode desselben, unsrer Bhagavadgîtâ, erhalten. Was man früher als das Resultat eines Synkretismus, einer Verschmelzung von Sânkhya und Yoga mit theistischen und vedântistischen Elementen ansah, das erklärte Dahlmann kühn für das Ältere, Ursprünglichere, aus dem die uns bekannte Form der rationalistischen und atheistischen Sânkhya-Lehre erst auf dem Wege einer Jahrhunderte langen Umbildung sich entwickelt hätte. Durch diese Theorie wurde der Bhagavadgîtâ, wie auch den anderen philosophischen Partien des Mahâbhârata ein sehr viel höherer Wert zugesprochen, als man ihnen früher beizumessen wagte; und es steht dieselbe in deutlichem Zusammenhang mit Dahlmanns Ansicht von dem hohen Alter, dem organischen Wachstum und durchaus einheitlichen Charakter des Mahâbhârata, welches er sich schon lange vor Buddha entstanden und ohne wesentliche Veränderung erhalten denkt, im Gegensatz zu der herrschenden Theorie einer mehrfach stattgefundenen tiefgreifenden Überarbeitung, die übrigens auch in der Tradition eine starke Stütze hat. Im ganzen hat Dahlmanns geistreich und scharfsinnig verfochtene Hypothese bei den kompetenten Fachgenossen nur wenig Beifall gefunden. Speziell der Theorie, daß die Bhagavadgîtâ und verwandte philosophische Teile des großen Epos eine ältere, resp. die älteste Form der Sânkhyalehre uns darböten, ist einer der vorzüglichsten Kenner der altindischen Philosophie, Hermann Jacobi, mit nüchterner Kritik sehr bestimmt entgegen getreten[15]. Sie fand auch sonst entschieden mehr Ablehnung als Beistimmung, trotzdem Dahlmanns Buch überaus fesselnd geschrieben ist und die Theorie in seiner Darstellung etwas sehr Bestechendes hat. Die meisten Forscher – so Garbe, Jacobi, Pischel u. a. – hielten an der Anschauung fest, daß wir in der Bhagavadgîtâ und den verwandten philosophischen Texten des Mahâbhârata, im ganzen, d. h. in der vorliegenden Form, nichts Altes und Ursprüngliches vor uns haben, vielmehr jüngere Entwicklung, IXWeiterbildung, Kontamination und Verschmelzung verschiedener Lehren, somit also Texte von nur mäßiger Bedeutung für die Geschichte der indischen Philosophie.

Diesen Standpunkt klar und bestimmt, mit ebenso viel Scharfsinn wie gründlichster Sachkenntnis, unter Aufstellung wesentlich neuer Gesichtspunkte verfochten und bis in seine letzten Konsequenzen hinein verfolgt zu haben, ist das unleugbare Verdienst von Richard Garbes Übersetzung der Bhagavadgîtâ und der ihr vorausgeschickten, eingehenden und hochinteressanten Einleitung[16]. Wenn dabei Dahlmanns energischer Vorstoß in ganz anderer Richtung unberücksichtigt bei Seite liegen blieb, so tut das dem Werte des von Garbe hier positiv Gebotenen keinen wesentlichen Eintrag.

Adolf Holtzmann, der Jüngere, glaubte die Widersprüche in der Bhagavadgîtâ in der Weise erklären zu können, daß er annahm, das Gedicht habe in seiner ursprünglichen Form einen ganz pantheistischen Charakter getragen, sei aber dann in dem Sinne einer speziellen Verehrung des Krishna-Vishnu, des zum Gotte erhobenen epischen Helden, theistisch umgearbeitet worden. Gerade umgekehrt will R. Garbe die Sache angesehen wissen. Er betont mit Recht, daß der ganze Charakter des Gedichtes, seiner Anlage und Ausführung nach, überwiegend theistisch sei: „Ein persönlicher Gott, Krishna, tritt auf, in der Gestalt eines menschlichen Helden, trägt seine Lehren vor, fordert von dem Hörer neben Pflichterfüllung vor allen Dingen gläubige Liebe zu ihm und Ergebung, offenbart sich dann in besonderer Gnade in seiner überirdischen, aber immer noch menschenähnlichen Gestalt, und verheißt dem Gläubigen als Lohn der Gottesliebe, daß dieser nach dem Tode zu ihm eingehen, in die Gemeinschaft Gottes gelangen werde“[17]. Dieser persönliche Gott Krishna, dessen Verehrung die ursprüngliche Fassung des Gedichtes mit Hilfe der Sânkhya-Yoga-Lehre philosophisch zu fundieren gesucht hätte, sei dann erst später, durch eine vedântistische Überarbeitung des Textes, die auch in anderen Teilen des Mahâbhârata sich erkennen lasse, zum Allgott erhoben worden.

Krishna ist die große Gestalt, die im Mittelpunkte der Bhagavadgîtâ steht. Er ist selbst der Bhagavant, der Erhabene, als dessen Sang (Gîtâ) das Gedicht bezeichnet wird. Er ist es, nach dem auch die alte monotheistische Sekte der Bhâgavatas sich benennt, als deren vornehmstes Erbauungsbuch wir die Bhagavadgîtâ zu betrachten haben, ja der sogar aller Wahrscheinlichkeit nach als der Stifter dieser Sekte anzusehen ist. Davon geht Garbe aus und Xdarauf legt er mit Recht ein besonderes Gewicht. Krishna, der Sohn des Vasudeva und der Devakî, der schon in der Chândogya-Upanishad erwähnt wird, und zwar in sehr charakteristischem Zusammenhang mit ausgesprochen ethischen Lehren[18], er ist bekanntlich einer der Haupthelden des Mahâbhârata, speziell der nationale Held des Stammes der Yâdava, dem er entsprossen. Aber er ist nicht nur ein sagenhafter Held, er ist ein wirklicher Mensch, eine historische Person gewesen, ein streitbarer Krieger, der zugleich Religionsstifter war, der in seinem Volke und unter den verwandten Nachbarstämmen eine theistische, resp. monotheistische Religion begründete, die in der Folge eine starke Lebenskraft bewährt hat und durch Râmânuja im 12. Jahrhundert nach Chr. neu reformiert zu hoher Bedeutung gebracht ward, die bis in die Gegenwart noch fortdauert. Es war von Anfang an eine populäre Religion, die, unabhängig von der vedischen Überlieferung und von dem eigentlichen Brahmanentum, wahrscheinlich von vornherein die moralische Seite betonte, eine kraftvoll ethische Kshatriya-Religion, jener von Garbe schon früher so eindrucksvoll geschilderten Zeit entsprossen, in welcher die Krieger und Könige in Indien so vielfach an Stelle der Priester die geistige Führung an sich gerissen hatten[19]. Einige Jahrhunderte vor Buddha dürfte dieser Held, im doppelten Sinne des Wortes, wohl gelebt haben, der nach seinem Tode dann selbst zum Gott erhoben, resp. als eine Verkörperung des von ihm verkündigten und gefeierten großen einen Gottes betrachtet wurde[20].

Einem Zuge der Zeit und des Volkscharakters folgend bemühte man sich nachmals, die Verehrung dieses vergöttlichten Religionsstifters Krishna auch philosophisch tiefer zu studieren, und verwendete dazu das altberühmte System der Sânkhya-Lehre (resp. Sânkhya-Yoga), dessen realistischen und dualistischen, rationalistischen und atheistischen Charakter ich bereits oben mit kurzen Zügen zu schildern versucht habe, ebenso wie seinen naturgemäß scharfen Gegensatz zu der ganz idealistischen All-Eins-Lehre des Vedânta, der Upanishaden. Diese Verbindung des ursprünglichen Monotheismus der Bhâgavatas mit den Lehren des Sânkhya-Yoga „erforderte – wie Garbe hervorhebt – mancherlei Umdeutungen und Entstellungen der beiden Systeme; denn nur so konnte der Theismus der Bhâgavatas mit den Lehren des ausgesprochen atheistischen Sânkhya-Systems und des nur äußerlich XImit einer theistischen Etikette versehenen Yoga-Systems verbrämt werden. Wenn deshalb die Gîtâ zahlreiche Abweichungen von den ersten Sânkhya-Yoga-Lehren, d. h. von den in den Lehrbüchern der beiden Systeme vertretenen Anschauungen aufweist, so wäre es ganz verfehlt, hier ältere Stufen des Sânkhya-Yoga zu erblicken“[21].

In der Folge wäre dann noch Krishna mit dem großen brahmanischen Gotte Vishnu identifiziert und die sektiererische Religion der Bhâgavatas durch diesen Prozeß dem eigentlichen Brahmanentum ganz einverleibt worden. Dies wäre nach Garbe der Standpunkt des echten alten Gedichtes der Bhagavadgîtâ gewesen: Verehrung des zum Gotte erhobenen, mit Vishnu identifizierten Krishna, nicht ohne Gewaltsamkeit aufgebaut auf der philosophischen Grundlage der Sânkhya-Yoga-Lehre[22].

Viel später, als dann die All-Eins-Lehre des Vedânta zur Vorherrschaft gelangte und in immer weiteren Kreisen populär wurde, so daß diese Bewegung auch das große Epos berührte und stark in Mitleidenschaft zog, hätte nach Garbes Darstellung eine vedântistische Überarbeitung der Bhagavadgîtâ, wie auch anderer Teile des Mahâbhârata, stattgefunden – seiner Berechnung nach etwa im 2. Jahrhundert nach Chr.[23]. Und damit erst wäre dem berühmten Gedichte diejenige Fassung gegeben worden, in welcher dasselbe auf uns gekommen ist. Kein Wunder also, daß es an Widersprüchen und Unstimmigkeiten aller Art nur allzu reich ist.

In seiner Übersetzung hat Garbe den kühnen Versuch gemacht, die von ihm vorausgesetzten Zusätze, im Sinn und Geiste der Vedânta-Lehre, in der Weise auszuscheiden, daß er sie durch kleineren Druck charakterisierte. Er glaubte dadurch mehrfach einen besseren Zusammenhang des Textes wiederhergestellt zu haben, als die überlieferte Form des Gedichtes ihn uns darbietet.

Ganz anders sieht Deussen die Sache an, ganz anders und weniger gewaltsam lösen sich in seinen Augen jene scheinbaren und wirklichen Widersprüche und Unstimmigkeiten der Bhagavadgîtâ.

Ein Jahr nach dem Erscheinen von Garbes Übersetzung der Bhagavadgîtâ ließ Deussen die seinige erscheinen[24], und zwei Jahre darauf (1908) kam die XIIdritte Abteilung des ersten Bandes seiner Allgemeinen Geschichte der Philosophie heraus, in welcher die nachvedische Philosophie der Inder, darunter auch die Philosophie des Epos, die Philosophie der Bhagavadgîtâ in grundlegender, sehr überzeugender Weise behandelt wurde[25].

Schon in dem Vorwort zu seiner Übersetzung der „Vier philosophischen Texte des Mahâbhâratam“ spricht sich Deussen dahin aus, daß er in der Bhagavadgîtâ nicht das Produkt eines philosophischen Synkretismus, nicht eine Mischphilosophie, sondern eine Übergangsphilosophie zu sehen geneigt sei[26], nicht das Resultat wiederholter Vermengung verschiedener Systeme, sondern ein organisch gewachsenes Denken, das den Übergang von der alten Philosophie der Upanishaden zu den späteren Systemen bildete. Und wenn er in seiner Übersetzung das Wort sânkhya durch „Reflexion“ oder „berechnende Überlegung“, das Wort yoga durch „Hingebung“, „Verinnerlichung“, „Meditation“ wiedergibt, so ließ sich schon daraus entnehmen, daß Deussen unter diesen Worten etwas wesentlich anderes verstehe als die später wohlbekannten Systeme, welche den Namen Sânkhya und Yoga tragen.

Bestätigung und weitere Aufklärung ließ nicht lange auf sich warten. In der dritten Abteilung des ersten Bandes seiner Allgemeinen Geschichte der Philosophie schildert uns Deussen in der Tat die Philosophie des epischen Zeitalters, speziell auch die Philosophie der Bhagavadgîtâ als eine Übergangsphilosophie der soeben angedeuteten Art, für welche er die Zeit etwa von dem Jahre 500–200 vor Chr. in Anspruch nimmt. Er weist mit vollem Rechte darauf hin, daß schon die Sprache und die Metrik des großen Epos in der Mitte stehen und einen Übergang bilden von der Zeit des Veda zu derjenigen des klassischen Sanskrit, im indischen Mittelalter. „Mehr aber noch als Sprache und Metrum sind es die im Mahâbhârata vorliegenden philosophischen Gedanken welche unzweifelhaft das verbindende Mittelglied zwischen der Vedaphilosophie der Upanishaden und den philosophischen Systemen der klassischen Zeit, vor allem dem späteren Sânkhya bilden“[27]. „Und wo sonst, wenn nicht in diesen, nach Sprache, Metrik und Gedanken zwischen der vedischen und der klassischen Literatur die Mitte haltenden epischen Texten hätten wir den Übergang vom Idealismus der älteren Upanishads zum Realismus des klassischen Sânkhya zu suchen? – – Freilich sind diese nicht die ursprünglichen (für uns verlorenen) Denkmäler jenes Entwicklungsganges, sondern enthalten nur deren poetische Reflexe im Geiste der Mahâbhârata-Dichter, welche keine systematischen Denker waren und XIIIdaher oft ältere und jüngere Gedanken in einer wenig zusammenstimmenden Weise bunt durcheinander mischen. In diesem Sinne ist nichts dagegen einzuwenden, wenn man in ihrer Philosophie eine Mischung sieht, nicht sowohl zwischen der Upanishadlehre und dem klassischen Sânkhya, als vielmehr zwischen den verschiedenen Phasen, welche von jener zu diesem im Verlaufe mehrerer Jahrhunderte übergeleitet haben“[28].

Die letztere Bemerkung Deussens stimmt durchaus zu der früher von uns angeführten Äußerung Wilhelm von Humboldts [29]. Im übrigen zeigt sich seine Annahme und Feststellung einer in den epischen Texten uns erhaltenen Übergangsphilosophie ganz unleugbar nahe verwandt mit der Theorie Dahlmanns von einer im Epos, und speziell auch in der Bhagavadgîtâ, aufbewahrten älteren Form der Sânkhya-Lehre, die sich von der späteren atheistischen Lehre dieses Namens durch einen kraftvollen theistischen Zug deutlich genug unterschieden und an die ältere Spekulation über das Brahman-Atman angelehnt hätte, resp. aus ihr hervorgewachsen wäre. Ein Sânkhya also, das noch tatsächlich Brahmavidyâ, d. h. noch Brahman-Wissenschaft war[30].

Allerdings wären nach Deussens Ansicht die Worte Sânkhya und Yoga in den epischen Texten überhaupt noch gar nicht als Bezeichnungen philosophischer Systeme zu fassen, wie dies in späteren Zeiten der Fall ist. „Ursprünglich aber haben sie eine andere Bedeutung und sind nur verschiedene Methoden, um zu demselben Ziele, nämlich zur Erlangung des Atman zu führen, welcher einerseits als die ganze unendliche Welt sich ausbreitet, andererseits voll und ganz im eigenen Inneren zu finden ist. Im ersteren Sinne kann der Atman erfaßt werden durch Reflexion über die mannigfaltigen Erscheinungen der Welt und ihre innere Wesensidentität, und diese Reflexion heißt Sânkhya (von sam + khyâ, berechnen, reflektieren); andererseits ist der Atman ergreifbar durch Zurückziehung von der Außenwelt und Konzentration auf das eigene Innere, und diese Konzentration heißt Yoga[31].

„Die Philosophie der epischen Zeit ist aus der Atmanlehre der Upanishads hervorgewachsen und schließt sich zunächst an diese an, um sich erst nach XIVund nach von derselben zu entfernen“[32]. Neben reinen Upanishadgedanken finden wir daher in den epischen Texten auch vielfach andersartige Gedanken und Lehren, unter denen die Ansätze und weitentwickelte Ansätze zu den späteren Systemen des Sânkhya und Yoga oft schon recht deutlich hervortreten[33]. Die Gedanken der All-Eins-Lehre, der Upanishaden oder des Vedânta, wären darnach aber doch durchaus als die älteren zu betrachten; diejenigen, welche zu dem späteren Sânkhya und Yoga stimmen, als die jüngeren. Die historische Darstellung muß sich bemühen, „deutlich zu sondern, was im Epos durcheinander wogt, und zu zeigen, wie der ursprüngliche Idealismus der Upanishadlehre nach und nach zum Realismus des Sânkhya-Systems sich verhärtet“[34]. Wie man sieht, eine durchaus andere Ansicht als diejenige, für welche Garbe eintritt. Sie hat vor der letzteren den unleugbaren Vorzug, daß unter diesem Gesichtspunkt die Philosophie der Bhagavadgîtâ, wie diejenige des Epos überhaupt, als ein ganz natürlich und einfach, organisch gewachsenes Gebilde sich darstellt, welches aus der in den philosophischen Texten der jüngsten Vedaperiode, den Upanishaden, verkündeten All-Eins-Lehre, der Atman-Philosophie oder Brahman-Wissenschaft, ganz unmittelbar hervorgeht, um dann allmählich und ganz naturgemäß zu späteren Lehren und Systemen hinüber zu leiten. Die Annahme gewaltsamer Konstruktionen und Überarbeitungen, die geflissentlich bemüht gewesen wären, den ursprünglichen Charakter der ursprünglich hier verkündeten philosophischen Gedanken zu verwischen und zu verdecken, die Annahme der ganz unnatürlichen Zusammenschweißung einer ausgesprochen theistischen Religion mit einer ebenso ausgesprochen atheistischen Philosophie, kommen in Wegfall. Und ein weiterer Vorzug in Deussens Betrachtung ist seine umfassende Heranziehung der anderen philosophischen Texte des Mahâbhârata, zu denen die Bhagavadgîtâ gehört und in deren Mitte sie durchaus organisch hineinpaßt. Man hat den Eindruck einer durchaus gut möglichen Entwicklung[35].

Und es liegt auf der Hand, daß eine theistische Religion, wie der Held und Religionsstifter Krishna sie nach Garbes überzeugenden Ausführungen verkündet zu haben scheint, nicht nur sehr natürlich in der letzten Vedazeit XVerwachsen konnte, die an monotheistischen Neigungen und Ansätzen auch sonst noch so manches aufweist, resp. in der Zeit des Übergangs vom Veda zum Epos[36], sondern daß auch eine solche Religion sich recht einfach und natürlich mit der Atman-Brahman-Lehre der Upanishads verbinden mochte, weit natürlicher als mit einer ausgesprochen atheistischen Lehre, wie die eigentliche Sânkhya-Philosophie dieselbe darbietet.

Gerade unter dieser Voraussetzung versteht man sehr viel besser, wie der kraftvolle Theismus der Krishna-Religion, der innige Gottesglaube, die hingebende Gottesliebe, die sogen. Bhakti der Bhâgavatas, sich unentstellt auf der philosophischen Grundlage erheben und erhalten konnte, die man ihr untergebaut hatte. Entwicklungsansätze und kräftig vorschreitende Gedanken in ganz anderer Richtung waren damit, wie wir bereits bemerkt haben, nicht ausgeschlossen[37].

Daß aber die Gottesliebe nach der Bhagavadgîtâ der Gipfel aller Weisheit ist, daß dieser erhabene religiöse Begriff geradezu den Grundton der Bhagavadgîtâ bedeutet, auf den alles gestimmt ist, in dem alles ausklingt; und daß gerade dadurch dies Gedicht als Lehrbuch der Bhâgavatas deutlich hervortritt, hat Garbe selbst sehr eindrucksvoll geschildert. Die Bhagavadgîtâ ist, wie er sagt, „das Hohelied der Bhakti, der gläubigen und vertrauensvollen Gottesliebe. Sowohl auf dem Wege der Erkenntnis wie auf dem der selbstlosen Pflichterfüllung führt die Liebe zu Gott mit unbedingter Sicherheit zum Ziel. Von diesem Gedanken ist das ganze Gedicht erfüllt, um ihn zu verkünden, ist es verfaßt worden“[38].

Das ist in der Tat der herzerwärmende, begeisternde Kern des herrlichen Gedichtes, die zentrale Kraft desselben, die das Ganze durchstrahlt und in Verbindung mit den erhabensten philosophischen Gedanken ihm immer aufs Neue, in Ost und West, die Herzen erobert hat. Als die köstlichste Frucht dieses Wunderbaums aus dem fernen Osten erscheint aber weiter jene reine, strenge, erhabene, mannhaft tapfere Sittenlehre, deren wir bereits gedacht haben, deren ganze Schönheit aber nur das Gedicht selbst offenbaren kann.

Ich verzichte darauf, den Inhalt desselben hier auch nur in flüchtigen Strichen zu zeichnen. Es ist besser, den Text selbst reden zu lassen, auch aus dem Grunde, weil eine eigentliche Gedankenentwicklung gar nicht vorliegt. Gleich in seiner ersten Rede, ja in den ersten Versen derselben, offenbart Krishna den innersten Kern seiner Weisheit, zu dem er auf den verschiedensten XVIWegen immer wieder zurückkehrt. Es ist ganz richtig, was Richard Fritzsche in seiner schönen Besprechung von Deussens „Vier philosophischen Texten des Mahâbhârata“, deren Perle ja die Bhagavadgîtâ darstellt, darüber bemerkt[39]: „Die Texte lassen sich wie in Bibelsprüche zerlegen und zeigen auch keinen eigentlichen Gedankenfortschritt, sondern es ist, wie Goethe im Westöstlichen Divan sagt“:

„Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe,
Anfang und Ende immerfort dasselbe“[40].

BHAGAVADGITA

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