5

Als Öyvind am nächsten Morgen die Augen aufschlug, erwachte er aus einem langen, erquickenden Schlaf und glücklichen Traum. Marit hatte auf dem Berge gelegen und Laub auf ihn herabgeworfen; er hatte es aufgefangen und wieder hinaufgeworfen. In tausend Farben und Figuren war es auf und nieder geflattert; die Sonne schien darauf, und der ganze Berg schimmerte von oben bis unten. Als er erwachte, sah er sich um, in der Hoffnung, alles wiederzufinden; da entsann er sich aber des gestrigen Tages, und er empfand wieder denselben stechenden heftigen Schmerz in der Brust. Den werde ich wohl nie wieder los, dachte er, und eine Schlaffheit kam über ihn, als versinke die ganze Zukunft vor ihm.

„Jetzt hast du lange genug geschlafen,“ sagte die Mutter; sie saß nebenan und spann. „Steh jetzt auf und iß! Dein Vater ist schon im Walde und fällt Holz.“ — Es war, als hülfe ihm diese Stimme; ein wenig mutiger stand er auf. Die Mutter dachte wohl an die Zeit, wo sie selber getanzt hatte; denn sie saß am Spinnrad und trällerte eine Tanzmelodie vor sich hin, während er sich ankleidete und aß. Deswegen mußte er vom Tisch aufstehn und an das Fenster treten; dieselbe Schwere und Unlust legte sich auf ihn, er mußte sich zusammennehmen und an die Arbeit denken. Das Wetter war umgeschlagen, die Luft war ein wenig kälter geworden, so daß das, was gestern als Regen gedroht hatte, heute als feuchter Schnee niederfiel. Er setzte seine Pelzmütze auf, zog Schneestrümpfe, eine Seemannsjacke und Fausthandschuhe an, sagte Lebewohl und ging mit der Axt über der Schulter von dannen.

Der Schnee fiel langsam in großen, nassen Flocken; er arbeitete sich den Schlittenberg hinan, um links in den Wald einzubiegen; nie zuvor, weder im Winter noch im Sommer, war er den Schlittenberg hinangegangen, ohne an etwas zu denken, was ihn fröhlich stimmte, oder wonach er sich sehnte. Jetzt war es ein toter, schwerer Weg; er glitt aus in dem feuchten Schnee. Die Knie waren ihm steif, entweder vom gestrigen Tanz oder von der Unlust; jetzt fühlte er, daß es mit dem Schlittenfahren für dieses Jahr vorbei sei, und damit für immer. Nach etwas anderm sehnte er sich, wie er da so zwischen den Baumstämmen dahinging, wo der Schnee lautlos fiel. Ein aufgescheuchtes Schneehuhn schrie und flatterte einige Schritte vor ihm auf, sonst stand alles da, als wartete es auf ein Wort, das nie gesagt wurde. Aber was es war, wonach es ihn verlangte, wußte er selber nicht deutlich; es war keine Sehnsucht nach Hause oder in die Ferne, weder nach Lustbarkeit noch nach Arbeit; es war etwas, das wie ein Lied geradeswegs zum Himmel aufsteigt. Allmählich nahm es die Gestalt eines bestimmten Wunsches an, nämlich im Frühling konfirmiert zu werden und bei der Gelegenheit Nummer eins zu sein. Das Herz klopfte ihm, als er daran dachte, und ehe er noch des Vaters Axt in den zitternden Bäumchen zu hören vermochte, erfüllte ihn dieser Wunsch mehr als irgend etwas seit seiner Geburt.

Der Vater sagte wie gewöhnlich nicht viel zu ihm; sie schlugen beide Holz und setzten es in Haufen zusammen. Sie begegneten sich wohl hin und wieder einmal, und bei einer solchen Begegnung ließ Öyvind die schwermütigen Worte fallen: „Ein Häusler hat doch ein mühseliges Leben.“ — „Er wie andre!“ entgegnete der Vater, spie in die Hand und griff wieder zur Axt. Als der Baum gefallen war und der Vater ihn auf den Haufen hinaufzog, sagte Öyvind: „Wenn du ein Hofbesitzer wärst, würdest du dich nicht so abmühen.“ — „Ach, dann gäbe es sicher andres, was auf mir lastete!“ — Er griff mit beiden Händen zu. Die Mutter kam mit dem Mittagessen zu ihnen hinauf; sie setzten sich. Die Mutter war fröhlich, sie saß da und summte eine Melodie vor sich hin und schlug die Füße aneinander im Takte. „Was willst du werden, wenn du groß bist, Öyvind?“ sagte sie plötzlich. — „Für einen Häuslersohn gibt es nicht viele Wege,“ erwiderte er. — „Der Schulmeister sagt, du müßtest aufs Seminar,“ sagte sie. — „Gibts da Freistellen?“ fragte Öyvind. — „Die Schulkasse bezahlt,“ versetzte der Vater und aß weiter. — „Hast du Lust dazu?“ fragte die Mutter. — „Ich habe Lust, etwas zu lernen, aber nicht, Schulmeister zu werden.“ — Sie schwiegen alle drei eine Weile; sie summte wieder eine Melodie vor sich hin und sah zu Boden. Öyvind aber ging fort und setzte sich für sich allein.

„Wir brauchen nicht gerade aus der Schulkasse zu leihen,“ sagte sie, als der Junge gegangen war. Der Mann sah sie an: „Arme Leute wie wir?“ — „Ich mag es wirklich nicht, Thore, daß du dich immer für arm ausgibst, da du es ja doch einmal nicht bist.“ — Sie sahen beide verstohlen zu dem Jungen hinüber, ob er es auch nicht hören könnte. Dann sah der Vater seine Frau zornig an: „Du redest, wie du es verstehst.“ — Sie lachte. „Es ist wirklich, als wenn wir Gott nicht dafür danken sollten, daß es uns so ergangen ist,“ sagte sie und wurde ernsthaft. — „Man kann ihm wohl auch danken, ohne silberne Knöpfe daran,“ meinte der Vater. — „Ja, aber damit, daß wir Öyvind so zum Tanze gehn lassen wie gestern, danken wir ihm auch nicht.“ — „Öyvind ist ein Häuslersohn!“ — „Deswegen können wir ihn anständig kleiden, wenn wir Rat dazu haben,“ sagte sie und sah den Mann tapfer an, der finster dreinblickte und den Löffel hinlegte, um zur Pfeife zu greifen. — „So eine elende Stelle wie die unsre!“ sagte er. — „Ich muß über dich lachen! Immer sprichst du von der Stelle; weshalb erwähnst du die Mühlen denn nie?“ — „Ach du mit deinen Mühlen! Ich glaube, du kannst sie nicht gehn hören!“ — „Doch, Gott sei Lob und Dank! Möchten sie nur Tag und Nacht gehn.“ — „Jetzt haben sie schon länger als seit Weihnachten gestanden.“ — „Die Leute mahlen aber doch nicht in der Weihnachtszeit!“ — „Sie mahlen, wenn Wasser da ist, aber seit sie eine Mühle bei Nyström gebaut haben, geht es bei uns nur kläglich.“ — „Davon sagte der Schulmeister heute nichts.“ — „Ich werde meine Geldangelegenheiten von einem verschwiegnern Mann als dem Schulmeister besorgen lassen.“ — „Ja, er sollte zu allerletzt mit deiner eignen Frau davon sprechen!“ — Thore erwiderte nichts hierauf; er hatte seine Pfeife gerade angezündet, lehnte sich jetzt gegen ein Reisigbündel und ließ den Blick erst zu der Frau, dann zu dem Sohn hinüberschweifen, bis er an einem alten Krähennest hängen blieb, das halb zerdrückt an einem Föhrenzweige hing.

Öyvind saß allein da, vor ihm lag die Zukunft wie eine lange, blanke Eisfläche, über die er zum erstenmal von einem Ufer bis zum andern dahinsauste. Daß die Armut ihn nach allen Richtungen hin hemmte, fühlte er, aber deswegen gingen auch alle seine Gedanken darauf hinaus, an ihr vorüber zu gelangen. Von Marit hatte sie ihn sicher für immer getrennt; er betrachtete sie als halbwegs mit Jon Hatlen verlobt. Aber all sein Sinnen war darauf gerichtet, den Wettlauf durch das ganze Leben mit ihr und mit ihm aufzunehmen. Sich nicht wieder wegpuffen lassen wie gestern, deswegen sich fernhalten, bis etwas aus ihm geworden war, das nahm er sich vor, und es stieg kein Zweifel in seiner Seele auf, daß ihm das nicht gelingen sollte. Er hatte das dunkle Gefühl, daß er durch Studium seinen Zweck am besten erreichen würde; zu welchem Ziel es ihn führen sollte, darüber mußte er später nachdenken.

Gegen Abend wurde wieder Schlittenbahn, die Kinder kamen auf den Hügel, Öyvind aber kam nicht. Er saß am Herd und lernte, und er hatte keinen Augenblick zu verlieren. Die Kinder warteten lange, endlich wurde eins nach dem andern ungeduldig, sie kamen herauf, preßten das Gesicht gegen die Fensterscheibe und riefen hinein; er aber tat, als höre er es nicht. Es kamen immer mehr, einen Abend nach dem andern; sie gingen in großer Verwunderung vor dem Hause umher, er aber wandte ihnen den Rücken zu und las, indem er sich getreulich bemühte, den Sinn des Gelesenen zu verstehn. Später hörte er, daß Marit auch nicht mehr käme. Er lernte mit einem Eifer, von dem selbst der Vater sagen mußte, daß er zu weit ginge. Er wurde ernsthaft; das Gesicht, das so rund und so weich gewesen war, wurde magrer, schärfer, das Auge strenger; selten sang, nie spielte er mehr; es war, als lange die Zeit nicht. Wenn die Versuchung an ihn herantrat, war es, als flüstre ihm jemand zu: Später! Später! und immer wieder: Später! Die Kinder kamen, riefen und lachten eine Weile wie früher, als sie ihn aber nicht zu sich hinauslocken konnten, weder durch ihre eigne Fröhlichkeit beim Schlittenfahren noch durch ihr Rufen mit gegen die Fensterscheiben gepreßten Gesichtern, so blieben sie allmählich weg; sie fanden andre Spielplätze, und bald stand der Hügel leer.

Der Schulmeister aber merkte bald, daß es nicht mehr der alte Öyvind war, der lernte, weil es sich so gehörte, und spielte, weil das notwendig war. Er sprach oft mit ihm, forschte und spähte; aber es wollte ihm nicht gelingen, des Burschen Herz so leicht zu finden wie in alten Zeiten. Er sprach auch mit den Eltern und kam verabredetermaßen eines Sonntagsabends gegen Ende des Winters zu ihnen und sagte, nachdem er eine Weile bei ihnen gesessen hatte: „Komm jetzt, Öyvind, wir wollen ein wenig hinausgehn, ich möchte gern mit dir reden.“ — Öyvind zog sich an und folgte ihm. Es ging bergauf, in der Richtung nach den Heidehöfen, die Unterhaltung war lebhaft, drehte sich aber um nichts Wichtiges; als sie in die Nähe der Höfe kamen, bog der Schulmeister nach dem in der Mitte gelegnen ein, und als sie weiter gelangten, drangen ihnen Rufe und Fröhlichkeit entgegen. — „Was ist denn hier los?“ fragte Öyvind. — „Hier wird getanzt,“ sagte der Schulmeister; „wollen wir nicht hineingehn?“ — „Nein!“ — „Du willst nicht mit zu einem Tanze, Junge?“ — „Nein, noch nicht!“ — „Noch nicht? Wann denn?“ — Er antwortete nicht. — „Was meinst du mit dem ‚Noch nicht‘?“ — Als der Junge nicht antwortete, sagte der Schulmeister: „Komm jetzt, laß den Unsinn!“ — „Nein, ich gehe nicht!“ — Er war sehr bestimmt und zugleich bewegt. — „Daß dein eigner Schulmeister hier stehn und dich bitten soll, zum Tanze zu gehn!“ — Es entstand ein längeres Schweigen. — „Ist dadrinnen jemand, den zu sehen du dich fürchtest?“ — „Ich kann es nicht wissen, wer da ist.“ — „Könnte aber jemand da sein?“ — Öyvind schwieg. Da trat der Schulmeister gerade vor ihn hin und legte ihm die Hand auf die Schulter: „Fürchtest du dich, Marit zu sehen?“ — Öyvind sah nieder, sein Atem ging schwer und kurz. — „Sag es mir, Öyvind, hörst du!“ — Öyvind schwieg. — „Du schämst dich vielleicht, es einzugestehn, da du noch nicht eingesegnet bist; sage es mir aber trotzdem, Öyvind, und du sollst es nicht bereuen.“ — Öyvind blickte auf, vermochte aber kein Wort hervorzubringen und sah zur Seite. — „Du bist auch in der letzten Zeit gar nicht mehr so fröhlich; mag sie denn andre lieber als dich?“ — Öyvind schwieg noch immer, der Schulmeister fühlte sich ein wenig verletzt und wandte sich von ihm ab; sie gingen zurück.

Als sie eine Strecke gegangen waren, blieb der Schulmeister stehn, bis Öyvind an seine Seite gekommen war. — „Du sehnst dich wohl danach, konfirmiert zu werden?“ fragte er. — „Ja!“ — „Was denkst du dann anzufangen?“ — „Ich möchte gern auf das Seminar.“ — „Und dann Schulmeister werden?“ — „Nein.“ — „Das scheint dir wohl nicht großartig genug?“ — Öyvind schwieg. Sie gingen wieder eine lange Strecke. — „Wenn du nun das Seminar durchgemacht hast, was willst du dann?“ — „Darüber habe ich noch nicht weiter nachgedacht.“ — „Wenn du Geld hättest, würdest du dir wohl gern einen Hof kaufen?“ — „Ja, aber die Mühlen würde ich behalten.“ — „Dann ist es am besten, du gehst auf die Ackerbauschule.“ — „Lernen sie denn da ebensoviel wie auf dem Seminar?“ — „Nein, das nicht. Aber sie lernen, was sie später gebrauchen können.“ — „Bekommen sie dort auch Zeugnisse?“ — „Weshalb fragst du danach?“ — „Ich möchte gern recht tüchtig werden.“ — „Das kannst du auch wohl ohne Zeugnis.“ — Sie gingen abermals schweigend weiter, bis sie das Haus sehen konnten; aus der Stube drang ihnen Licht entgegen, der Berg hing jetzt am Winterabend schwarz darüber, unten lag das Wasser mit blankem, schimmerndem Eis, der Wald stand ohne Schnee rings um die stille Bucht, der Mond schwebte darüber und spiegelte den Wald im Eise. — „Hier ist es schön bei euch,“ sagte der Schulmeister. Öyvind konnte seine Heimat zuweilen mit denselben Augen betrachten wie damals, als ihm die Mutter Märchen erzählte, oder mit dem Blick, den er zu haben pflegte, wenn er auf dem Hügel umherwanderte; jetzt war dies der Fall; alles lag hoch und hell da. — „Ja, es ist schön hier,“ sagte er, seufzte aber. — „Deinem Vater hat diese Stelle genügt, du könntest dir auch daran genügen lassen.“ — Das freundliche Aussehen der Gegend war mit einemmal verschwunden. Der Schulmeister stand da, als erwarte er eine Antwort, er erhielt aber keine. Er schüttelte den Kopf und ging mit ins Haus hinein. Dort saß er eine Weile bei ihnen, schwieg aber mehr, als daß er redete, wodurch auch die andern schweigsam wurden. Als er Abschied nahm, begleiteten ihn Mann und Frau vor die Tür; es war, als warteten sie beide darauf, daß er etwas sagen würde. — Sie blieben stehn und sahen in den Abend hinaus. — „Es ist hier so ungewöhnlich still geworden,“ sagte endlich die Mutter, „seitdem sich die Kinder einen andern Spielplatz gesucht haben.“ — „Ihr habt auch kein Kind mehr im Hause,“ sagte der Schulmeister. Die Mutter verstand, was er meinte. — „Öyvind ist in der letzten Zeit nicht mehr so fröhlich,“ sagte sie. — „Ach nein, wer ehrgeizig ist, ist nicht fröhlich!“ — Er schaute mit der Ruhe des Greises zu Gottes stillem Himmel empor.

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