Erstes Kapitel
Wo der Hering längere Zeit regelmäßig Einkehr hält, da bildet sich so allmählich, wenn die Bedingungen im übrigen günstig sind, eine kleine Stadt. Von solchen Städten kann man nicht nur sagen, das Meer habe sie ausgespien; sondern sie sehen auch von weitem tatsächlich wie ans Land geschwemmte Balken und Wrackstücke aus, oder wie ein Häuflein umgekippter Boote, die die Fischer in einer Sturmnacht über sich gezogen haben. Kommt man näher, so sieht man, wie zufällig das Ganze sich aufgebaut hat; da liegt ein Block Klippen mitten im Ort, oder der ganze Flecken ist durch das Wasser in drei, vier Teile gespalten,—Straßen, die sich krümmen und winden. Nur eine Bedingung ist allen diesen Ansiedlungen gemeinsam: sie haben einen Hafen, der den größten Schiffen Schutz gewährt, indem es dort still ist wie in einer Blechbüchse. Und darum sind diese Schlupfwinkel den Schiffen, die mit zerfetzten Segeln und zertrümmertem Plankenwerk aus hoher See angetrieben kommen, um Atem zu schöpfen, auch gar viel wert.
In solch einem kleinen Städtchen ist es still. Alles, was etwa Lärm verursacht, ist auf die Landungsbrücken verwiesen, wo die Boote der Bauern sich festgebissen haben, und wo die Schiffe laden und löschen. Längs den Landungsbrücken läuft die einzige Straße unseres Städtchens; an ihrer andern Seite liegen die weiß- und rotgestrichenen, ein- und zweistöckigen Häuschen; aber nicht Wand an Wand, sondern getrennt durch schmucke Gärten; das gibt auf diese Weise eine lange und breite Straße, wo es übrigens bei Seewind nach allem zu duften pflegt, was auf den Brücken herumliegt. Still ist es hier—nicht etwa aus Furcht vor der Polizei: denn in der Regel ist gar keine da—sondern aus Angst vor dem Gerede der Leute; denn hier kennt sich alles untereinander. Geht man die Straße hinunter, so muß man in jedes Fenster hineingrüßen und hinter jedem sitzt auch meist ein altes Frauchen und grüßt wieder. Ferner muß man jeden grüßen, der einem auf der Straße begegnet. Denn all diese stillen Menschen denken an nichts anderes, als was sich im allgemeinen und im besonderen für sie selber schickt. Wer die Grenzlinie, die seinem Stande oder seiner Stellung gezogen ist, überschreitet, der büßt seinen guten Ruf ein. Denn man kennt nicht allein ihn, sondern auch seinen Vater und Großvater, und man stöbert flugs auf, wo sich schon früher in der Familie ein Hang zum "Ungehörigen" gezeigt hat.
In dieses stille Städtchen zog vor vielen Jahren ein gewisser wohlehrbarer Mann namens Per Olsen. Er kam vom Lande, wo er sich mit Hausieren und Fiedelspielen sein Brot verdient hatte. In der Stadt eröffnete er für seine alten Kunden einen Kramladen, in dem er außer allerhand Waren Brot und Schnaps verkaufte. Man hörte ihn hinten in der "Ladenstube" auf- und abgehen und Springtänze und Brautmärsche spielen; jedesmal, wenn er an der Tür vorbeikam, spähte er durch das Guckloch, und wenn ein Kunde erschien, schloß er sein Spiel mit einem Triller und kam in den Laden. Das Geschäft gedieh flott; er heiratete und bekam einen Sohn, den er nach sich benannte, jedoch nicht "Per", sondern Peter. Der kleine Peter sollte dereinst werden, was Vater Per, wie er sehr wohl fühlte, selber nicht war: nämlich ein Mann von Bildung. Also kam der Junge auf die Lateinschule. Wenn dann die andern, die seine Kameraden sein sollten, ihn von ihren Spielen weg heimprügelten, weil er Per Olsens Sohn war, so prügelte Per Olsen ihn wieder zu ihnen hinaus; denn auf andere Weise konnte ja der Junge nie Bildung erwerben. Infolgedessen fühlte der kleine Peter sich in der Schule sehr verlassen, wurde stumpf und faul und nach und nach so gleichgültig gegen alles, daß alle Hiebe des Vaters ihm weder Tränen noch Lachen mehr entlockten. Nun gab Per das Prügeln auf und steckte ihn hinter den Ladentisch. Wie groß war sein Erstaunen, als er sah, daß der Junge jedem Kunden genau verabreichte, was der forderte, nie auch nur ein Körnchen zu viel gab, nie auch nur eine Pflaume naschte, stets genau abwog, zählte und eintrug, ohne eine Miene zu verziehen, meist ohne ein Wort zu reden, äußerst langsam, aber mit unverbrüchlicher Genauigkeit. Der Vater schöpfte neue Hoffnung und schickte ihn mit einem Heringsboot nach Hamburg, wo er ein Handelsinstitut besuchen und feine Manieren lernen sollte. Acht Monate war er dort; das mußte doch wohl genügen! Als er heimkam, war er mit sechs neuen Anzügen ausgestattet, die er bei der Landung sämtlich übereinander trug; "denn was man auf dem Leib hat, braucht man nicht zu verzollen." Aber abgesehen von diesem Umfang machte er, als er sich am folgenden Tag auf der Straße zeigte, noch ungefähr dieselbe Figur wie früher. Er bewegte sich steif und langsam, mit grad herunterbaumelnden Armen; er grüßte mit einem plötzlichen Ruck, und verbeugte sich, als habe er keine Gelenke, um sofort wieder steif wie vorher zu werden. Er war die verkörperte Höflichkeit; aber er tat alles, ohne ein Wort zu sprechen, hastig, mit einer gewissen Scheu. Er schrieb sich jetzt nicht mehr Olsen, sondern Ohlsen, was den Witzbolden des Städtchens Anlaß zu folgender Scherzfrage gab: "Wie weit ist Peter Olsen in Hamburg gekommen?" Antwort: "Bis zum ersten Buchstaben!" Er trug sich sogar mit dem Gedanken, sich "Pedro" zu nennen. Weil er aber des verdammten "h's" wegen schon mehr als genug Ärger schlucken mußte, ließ er das und schrieb sich einfach: "P. Ohlsen." Er erweiterte das Geschäft des Vaters und heiratete mit knapp zweiundzwanzig eine rothändige Ladenmamsell, damit sie die Wirtschaft führe; denn der Vater war gerade Witwer geworden, und eine Frau war immerhin sicherer als eine Haushälterin. Pünktlich übers Jahr langte ein Sohn an, der acht Tage darauf den Namen Pedro trug. Nachdem der wackere Per Olsen Großvater geworden war, empfand er es als unabweisbare Pflicht, alt zu werden. Er überließ also seinen Handel dem Sohn, saß von Stund an auf der Bank vorm Haus und rauchte. Und als es eines Tags anfing, ihm da draußen langweilig zu werden, wünschte er sich, daß er bald sterben möge. Und wie alle seine Wünsche sänftiglich in Erfüllung gegangen waren, so erfüllte sich auch dieser.
Hatte Peter der Sohn ausschließlich die eine Seite der väterlichen Begabung, die kaufmännische Schlauheit, geerbt, so schien Pedro, der Enkel, ausschließlich die andere, die Lust an der Musik, geerbt zu haben. Er lernte sehr spät lesen, aber sehr früh singen; er blies die Flöte so hübsch, daß es jedem auffallen mußte. Er war fein von Aussehen und weich von Gemüt. Aber dem Vater kam das nur ungelegen; er wollte in dem Knaben seinen eigenen unermüdlichen Geschäftsgeist großziehen. Wenn Pedro etwas vergaß, so wurde er nicht gescholten oder geprügelt, wie seinerzeit der Vater, sondern er wurde gekniffen. Das geschah ganz in aller Stille, mit einer Freundlichkeit, die man fast höflich nennen konnte; aber es geschah bei der geringsten Veranlassung. Jeden Abend, wenn die Mutter ihn auskleidete, zählte sie die blauen und gelben Flecken und küßte sie; aber Widerstand leistete sie nicht; denn sie selber wurde ebenfalls gezwickt. Jeder Riß in seinen Kleidern, die aus des Vaters alten Hamburger Anzügen gemacht waren, jeder Fleck in seinen Schulbüchern wurde ihr angerechnet. Darum hieß es in einem fort: "Laß das, Pedro!—Nimm dich in acht, Pedro!—Vergiß nicht, Pedro!" Den Vater fürchtete er, die Mutter war ihm lästig. Seine Kameraden taten ihm nichts zuleide, weil er gleich zu heulen anfing und flehte, man möge seine Kleider schonen; aber sie nannten ihn bloß den Schmachtlappen und verachteten ihn ganz unverhohlen. Er war wie ein krankes, federloses Entlein, das überall hinterdrein hinkt, und mit jedem kleinen Bissen, den es erwischen kann, weit abseits watschelt. Keiner teilte mit ihm, deshalb teilte auch er mit keinem.
Aber bald machte er die Entdeckung, daß dies bei den ärmeren Kindern der Stadt anders sei; die hatten Nachsicht mit ihm, weil er etwas Feineres war als sie selber. Besonders ein großes, kräftiges Mädchen, das die ganze Schar kommandierte, nahm sich seiner an. Er wurde nicht müde, sie zu betrachten; sie hatte einen Kopf voll rabenschwarzer Locken, die nie anders als mit den Fingern gekämmt wurden, strahlende blaue Augen und eine niedere Stirn; das ganze Gesicht war wie in eins gesammelt und flog förmlich geradaus. Immer war sie in rastloser Bewegung und Tätigkeit; im Sommer barfuß, mit nackten Armen, braungebrannt; im Winter angezogen wie andere im Sommer. Ihr Vater war Lotse und Fischer; sie rannte bei den Leuten herum und verkaufte seine Fische; sie hielt sein Boot gegen Wind und Strömung, und wenn er lotste, trieb sie die Fischerei allein. Wer ihr begegnete, wandte sich um und sah ihr nach; sie war die verkörperte Selbstsicherheit. Sie hieß Gunlaug, aber man nannte sie "das Fischermädel"—ein Titel, den sie als den ihr zukommenden Rang hinnahm. Beim Spielen half sie stets den Schwächeren; sie hatte das Bedürfnis, sich anderer anzunehmen, und so nahm sie sich des zarten Jungen an.
In ihrem Boot durfte er Flöte blasen, was zu Hause untersagt war, weil man fürchtete, seine Gedanken möchten von den Schularbeiten abgelenkt werden. Sie ruderte ihn hinaus auf den Fjord, sie nahm ihn mit auf ihre ausgedehnteren Fischzüge; bald begleitete er sie auch auf ihren nächtlichen Ausflügen. Dann ruderten sie bei Sonnenuntergang hinaus in das lichte Sommerschweigen. Er blies die Flöte oder hörte zu, wie sie ihm von allem erzählte, was sie wußte; vom Meermann, von Gespenstern, von Schiffbrüchen, von fremden Ländern und schwarzen Völkern, von allem, was die Seeleute erzählt hatten. Sie teilte ihr Essen mit ihm, wie sie all ihr Wissen mit ihm teilte, und er nahm alles hin, ohne das Geringste wiederzugeben; denn er brachte von Hause kein Essen und aus der Schule keine Phantasie mit. Sie ruderten, bis die Sonne über den Schneebergen unterging; dann legten sie an einer Insel an und machten Feuer, das heißt, sie sammelte und schichtete Holz und Reisig auf, und er sah zu. Eine von ihres Vaters Schifferjacken und eine Decke hatte sie für ihn mitgebracht; in die wurde er hineingewickelt. Sie paßte aufs Feuer auf, und er schlief ein. Um sich wach zu halten, sang sie Verse aus Liedern und Chorälen; bis er eingeschlafen war, sang sie mit starker, heller Stimme; dann sang sie leiser. Wenn die Sonne auf der andern Seite wieder emporstieg und als Vorboten ein gelb-kaltes Licht über die Berggipfel vor sich herschoß, weckte sie ihn. Der Wald stand noch schwarz, und die Wiese dunkel; bald aber begannen sie sich braunrot zu färben, zu blinken, bis der ganze Gebirgskamm glühte und alle Farben darüber rauschten. Dann zogen sie das Boot wieder ins Wasser, ein Schaumstreifen lief durch die schwarze Morgenbrise, und bald lagen sie am Strand, neben den anderen Fischern.
Als der Winter kam und die Fahrten aufhörten, suchte er sie in ihrem Hause auf; er kam regelmäßig und sah ihr zu, während sie arbeitete; aber weder er noch sie redeten viel; es war, als säßen sie nur beisammen und warteten auf den Sommer. Doch als der Sommer kam, wurde dem Knaben leider auch diese neue Lebensaussicht genommen; Gunlaugs Vater starb, und sie verließ die Stadt, während Pedro auf den Rat seiner Lehrer in den Laden gesteckt wurde. Da stand er nun, neben der Mutter; denn der Vater, der nach und nach die Farbe all der Graupen und Grützen, die er abwog, angenommen hatte, mußte in der Ladenstube das Bett hüten. Aber auch von dort aus wollte er immer noch mit dabei sein, wollte genau wissen, was jedes von den Zweien verkauft hatte, tat, als höre er nicht, bis er sie glücklich so dicht neben sich hatte, daß er sie kneifen konnte. Und endlich als der Docht in dieser kleinen Lampe gänzlich ausgetrocknet war, erlosch er eines Nachts. Die Frau weinte, ohne daß sie recht wußte, warum; aber der Sohn vermochte nicht eine einzige Träne hervorzupressen. Da sie Geld genug hatten, um davon leben zu können, gaben sie das Geschäft auf, rotteten jegliche Erinnerung aus und wandelten den Laden zur Wohnstube um. Darin saß die Mutter am Fenster und strickte Strümpfe; Pedro saß im Zimmer auf der andern Seite des Flurs und blies die Flöte. Aber sobald der Sommer kam, kaufte er sich ein kleines, leichtes Segelboot, fuhr hinüber nach der Insel und suchte die Stelle, wo Gunlaug gelegen hatte.
Und eines Tags, als er dort im Heidekraut lag, sah er ein Boot gerade auf sich zusteuern und neben dem seinen anlegen,—Gunlaug stieg heraus.—Sie war noch ganz dieselbe, nur daß sie jetzt völlig erwachsen war und größer als andere Mädchen. Doch sobald sie seiner ansichtig wurde, wich sie langsam zurück; es war ihr gar nicht der Gedanke gekommen, daß auch er inzwischen ein erwachsener Mensch geworden war.
Dieses blasse, magere Gesicht—das kannte sie nicht; das war nicht mehr kränklich und zart—es war schlaff. Aber in die Augen kam, als er sie sah, ein stilles Leuchten wie von entschwundenen Träumen. Sie trat wieder näher; und mit jedem Schritt, den sie auf ihn zukam, war es, als fiele ein Jahr von ihm ab, und als sie vor ihm stand, da war er aufgesprungen, da lachte er wie ein Kind, da redete er wie ein Kind; das alte Gesicht lag nur über einem heimlich versteckten Kindesantlitz; älter war er geworden—gewachsen war er nicht.
Und doch—gerade dies Kind hatte sie gesucht. Und nun, da sie es wiedergefunden hatte, wußte sie nicht, was weiter… Sie lachte und wurde rot. Unwillkürlich fühlte er in sich etwas wie eine Macht; und zum erstenmal in seinem Leben wurde er plötzlich schön; es währte vielleicht bloß einen Augenblick; aber mit diesem Augenblick wurde sie sein.
Sie war eine von den Naturen, die nur lieben können, was schwach ist, was sie auf Händen getragen haben. Sie hatte zwei Tage bleiben wollen in der kleinen Stadt; sie blieb zwei Monate. In diesen zwei Monaten wuchs er mehr als in seiner ganzen übrigen Jugend; er schwang sich so weit empor aus Traum und Schlaffheit, daß er sogar Pläne entwarf; er wollte fort—er wollte Musiker werden. Aber als er das eines Tages wiederum aussprach, wurde sie blaß und sagte: "Ja—aber dann müssen wir doch erst heiraten!" Er sah sie an, sie sah ihn an, fest und klar, beide wurden sie feuerrot; dann sagte er: "Was würden die Leute dazu sagen?"
Gunlaug war nie der Gedanke gekommen, daß er etwas anderes wollen könne als sie, weil sie selber nie etwas anderes wollen konnte, als was er wollte. Aber jetzt las sie es in seiner Seele—unverhüllt: keinen Augenblick hatte er daran gedacht, etwas anderes mit ihr zu teilen, als was sie gab. In einer Sekunde sah sie es vor sich: ihr ganzes Leben lang war das so gewesen. Zum Anfang ihr Mitleid—zum Schluß ihre Liebe—für das, was sie aus Güte umfaßt hatte. Hätte sie bloß noch einen Moment lang Besonnenheit gehabt! Denn er sah ihren auflodernden Zorn—er erschrak und rief: "Ich will ja!" Sie hörte es; aber der Zorn über ihre eigene Dummheit und seine Erbärmlichkeit, über die eigene Scham und seine Feigheit kochte in so glühender Hast in ihr auf bis zum Sprengen aller Bande, daß wohl nie eine Liebe, begonnen in Kindheit und Abendsonne, gewiegt von Wellen und Mondlicht, begleitet von Flöte und leisem Gesang, ein traurigeres Ende genommen hat! Sie packte ihn mit ihren beiden Händen, hob ihn hoch, verprügelte ihn recht nach Herzenslust, ruderte dann zur Stadt zurück und ging noch in derselbigen Stunde über die Berge—auf und davon.
Er war ausgesegelt als ein verliebter Jüngling, der im Begriff ist, sich sein Mannestum zu erobern; er ruderte heim als ein Greis, der nie ein Mannestum gehabt hat. Nur eine Erinnerung besaß sein Leben; und die hatte er töricht aufs Spiel gesetzt; nur einen Fleck Erde hatte er, wo er sich hinflüchten konnte; und nun durfte er nimmermehr dorthin zurück. Vor lauter Grübelei ob seiner eigenen Jämmerlichkeit und wie das eigentlich alles so gekommen war, versank sein bißchen Unternehmungsgeist wie in einen Sumpf, um nie wieder emporzutauchen. Die Gassenjungen der Stadt, die schon früher auf sein wunderliches Wesen aufmerksam geworden waren, fingen an, ihn zu necken und zu foppen, und weil er überhaupt für die Stadt eine etwas unklare Persönlichkeit war, da niemand so recht wußte, wovon er lebte und was er trieb, so fiel es auch keinem ein, ihn zu verteidigen. Bald traute er sich überhaupt nicht mehr aus dem Hause, wenigstens nicht auf die Straße. Sein ganzes Dasein wurde ein Kampf mit den Straßenjungens; mag sein, daß sie immerhin doch zu etwas gut waren, wie etwa Mücken an einem heißen Sommertag: denn ohne sie wäre er in unaufhaltsamen Stumpfsinn versunken.
Neun Jahre später kam Gunlaug wieder in die Stadt, ebenso unerwartet, wie sie verschwunden war. Sie hatte ein kleines Mädchen von acht Jahren bei sich, ganz ihr Ebenbild aus früherer Zeit, nur daß alles an dem Kind feiner und wie von einem Traum überschleiert war. Es hieß, Gunlaug sei verheiratet gewesen, habe jetzt eine kleine Erbschaft gemacht, und nun kam sie zurück, um eine Matrosenkneipe zu eröffnen. Diese betrieb sie auf eine Art, daß bald Kaufleute und Schiffer zu ihr kamen, um bei ihr ihre Leute zu dingen, und die Matrosen bei ihr einkehrten, um sich zu verheuern. Für diesen Zwischenhandel nahm sie nie einen Pfennig, aber sie machte einen despotischen Gebrauch von der Macht, die er ihr verlieh. Sie war ganz ohne Zweifel der mächtigste Mann in der ganzen Stadt, trotzdem sie ein Weib war und nie einen Fuß aus dem Haus setzte. "Fischer-Gunlaug" nannten die Leute sie, oder "Gunlaug vom Berge"; der Titel "das Fischermädel" ging auf die Tochter über, die die Rädelsführerin der gesamten städtischen Bubenschar war.
Und ihre Geschichte berichtet diese Erzählung; sie hatte etwas von der Elementarkraft der Mutter, und ihr wurde die Gelegenheit, sie zu gebrauchen.
Zweites Kapitel
Die vielen anmutigen Gärten der Stadt dufteten nach dem Regen in ihrer zweiten und dritten Blüte. Die Sonne ging über den ewigen Schneefeldern zur Rüste; der ganze Himmel war Feuer und Flamme, und die Schneefirne warfen den gedämpften Widerschein zurück. Die näher gelegenen Berge standen im Schatten, aber sie leuchteten doch von vielfarbigem Herbstwald; auf den Holmen, die in der Mitte des Fjords in Reih und Glied dem Lande zustrebten, als kämen sie geradenwegs dahergerudert, stand—weil sie dem Lande näher lagen—der dichte Wald in noch stärkerem Farbenspiel als auf den Bergen. Die See war spiegelblank; ein großes Schiff wurde langsam herangewerpt. Die Leute saßen vor ihren Häusern auf der Holztreppe, die zu beiden Seiten halb verdeckt war von Rosengebüsch; von Treppe zu Treppe plauderte man miteinander, stattete sich auch wohl einen kurzen Besuch ab, oder man tauschte einen Gruß mit den Spaziergängern aus, die den langen Alleen draußen vor der Stadt zueilten. Aus einem offenen Fenster tönte hier und dort Klavierspiel; sonst unterbrach kaum ein Laut das Geplauder; der letzte Sonnenschimmer auf dem Wasser erhöhte noch das Gefühl der Stille.
Da plötzlich erhob sich mitten in der Stadt ein Getöse, als werde die ganze Stadt gestürmt. Jungens schrien, Mädchen kreischten, alte Weiber schimpften und kommandierten, der große Hund des Polizeidieners bellte und sämtliche Köter der Stadt stimmten ein. Alles, was drin war, drängte hinaus—hinaus. Der Spektakel wurde so ungeheuerlich, daß sogar der Amtmann sich auf seiner Treppe umdrehte und die Worte fallen ließ: "Da muß was los sein."
"Was ist los?" fielen die von den Alleen Herbeistürzenden über die auf den Treppen Sitzenden her.—"Ja, was ist los?" antworteten die auf den Treppen.—"Herrgott, was ist los?" fragten alle, wenn einer aus der Mitte der Stadt kam. Aber da die Stadt sich so recht gemütlich in Halbmondform um die Bucht schmiegt, so dauerte es recht lange, bis sämtliche Bewohner an beiden Enden die Antwort vernommen hatten: "Bloß das Fischermädel!"
Dies unternehmende Wesen, das von einer höchst gefürchteten Mutter beschirmt und des Schutzes sämtlicher Matrosen sicher war (denn für so was gab's immer einen Freischnaps bei der Mutter!) hatte an der Spitze ihrer Gassenjungenarmee einen großen Apfelbaum in Pedro Ohlsens Obstgarten überfallen. Der Schlachtplan war folgender: ein paar Jungens sollten Pedro nach der Vorderseite des Hauses locken, indem sie seine Rosenbüsche gegen die Fenster klatschten; gleichzeitig sollte ein anderer den Baum schütteln, der mitten im Garten stand, und die übrigen sollten die Äpfel nach allen Himmelsrichtungen über den Zaun werfen; nicht etwa, um sie zu stehlen—Gott bewahre!—einfach zum Spaß! Dieser sinnige Plan war gerade an diesem Abend hinter Pedros Garten ausgeheckt worden. Aber das Unglück wollte, daß Pedro hinter seinem Zaun saß und Wort für Wort mit anhörte. Kurz vor der festgesetzten Stunde holte er sich daher den versoffenen Polizeidiener des Orts samt seinem großen Hund in die Hinterstube, woselbst die beiden reichlich bewirtet wurden. Als der Lockenwirbel des Fischermädels über den Planken auftauchte und gleichzeitig von allen Seiten eine Unmenge kleiner Spitzbubenfratzen hereinguckten, ließ Pedro die jungen Strolche vorn am Haus mit den Rosenbüschen klatschen—aus Leibeskräften; er selber wartete ruhig im Hinterzimmer. Und als die ganze Gesellschaft in tiefster Stille sich um den Baum geschart hatte, und das Fischermädel, barfuß und zerkratzt, im Wipfel saß, um zu schütteln, sprang die Hintertür auf und Pedro und der Polizeidiener, hinter sich den großen Hund, stürzten hervor. Ein Schrei des Entsetzens erhob sich unter den Buben; ein Haufen kleiner Mädchen, die in aller Unschuld draußen vor dem Zaun "Haschen" gespielt hatten, glaubten, da drin werde jemand umgebracht, und fingen ganz fürchterlich zu kreischen an; die Jungens, die entwischt waren, schrien hurrah; die, die noch über dem Zaun hingen, heulten unterm Tanz des Stocks, und um den Tumult vollständig zu machen, tauchten, wie überall, wo Bubengeschrei ist, noch ein paar alte Weiber auf und zeterten mit. Pedro und der Polizeidiener waren selbst ganz erschrocken und sahen sich genötigt, mit den alten Weibern zu unterhandeln; mittlerweile aber nahmen die Buben Reißaus. Der Hund, vor dem sich die Jungens am meisten fürchteten, setzte über den Zaun—ihnen nach—das war so recht was für ihn!—und jetzt jagte es wie Wildentenschwärme durch die ganze Stadt—Buben, Mädchen, Hund und Geschrei!
Mittlerweile saß das Fischermädel mäuschenstill im Apfelbaum und dachte, niemand habe sie bemerkt. Im obersten Wipfel zusammengekauert, verfolgte sie durch das Laub den Verlauf des Kampfes. Als aber der Polizeidiener in heller Wut zu den alten Weibern hinaus gestürzt war, und nur Pedro Ohlsen noch im Garten war, stellte er sich dicht unter den Apfelbaum, guckte hinauf und rief: "Na, 'runter mit Dir, Du infames Frauenzimmer, und zwar auf der Stelle!"—Aus dem Baum kam kein Laut.—"'runter mit Dir, sag' ich! Ich weiß, daß Du dort oben bist!"—Tiefstes Schweigen.—"So hol' ich meine Büchse und schieß Dich 'runter—wahrhaftigen Gott!" Und er machte Miene zu gehen.—"Hu-hu-hu!" tönte es jetzt droben im Baum.—"Ja wohl, heul' Du nur wie ein Schloßhund! Eine volle Ladung Schrot schick' ich Dir hinauf, gib nur acht!"—"Uhu-hu-hu!" tönte es wieder, als ob ein Käuzchen droben säße. "Ich fürcht' mich so!"—"Teufelsfratz, der Du bist! Du bist der ärgste Galgenstrick von der ganzen Bande; aber wart' nur, jetzt hab' ich Dich!"—"Ach liebster, bester, goldigster Herr Ohlsen! Ich will's auch nie und nie und nie wieder tun!" Und im selben Augenblick schleuderte sie ihm einen faulen Apfel mitten auf die Nase und ein helles Jubelgelächter trillerte hinterher. Der Apfel klatschte ihm ins Gesicht wie weicher Teig, und während er sich abwischte, sprang sie herunter; noch eh er sie einholen konnte, hing sie schon überm Zaun und wäre auch glücklich hinübergekommen, wenn sie nicht aus plötzlicher Angst, daß er ihr auf den Fersen war, statt ruhig weiter zu klettern, losgelassen hätte. Aber als er sie nun packte, kreischte sie laut auf—ein so gellendes, wildes, schmetterndes Gekreisch, daß er sie entsetzt fahren ließ. Auf ihr Schreckenssignal lief draußen vor dem Zaun eine Volksmenge zusammen; sie hörte es; sogleich kehrte ihr Mut zurück. "Laß mich los oder ich sag's meiner Mutter!" drohte sie, plötzlich wieder ganz Feuer und Flamme! Da kam ihm dies Gesicht auf einmal bekannt vor: "Deine Mutter?" rief er laut. "Wer ist denn Deine Mutter?"—"Die Gunlaug am Berg—die Fischer-Gunlaug!" wiederholte triumphierend die Range; sie merkte, daß er Angst bekam. Er hatte bei seiner Kurzsichtigkeit das Mädchen bisher noch gar nicht gesehen; er war der einzige in der Stadt, der nicht wußte, wer sie war; er wußte nicht einmal, daß Gunlaug in der Stadt war. Wie besessen schrie er: "Wie heißt Du?"—"Petra!" schrie sie noch lauter. "Petra!" wimmerte Pedro, drehte sich um und rannte ins Haus, als habe er mit dem leibhaftigen Satan geredet. Aber weil der bleichste Schreck und der bleichste Zorn sich ähnlich sehen, so dachte sie, er sei davongelaufen, um sein Gewehr zu holen; die Angst packte sie, sie fühlte bereits das Schrot im Rücken, und da in demselben Augenblick die Gartenpforte von außen aufgebrochen wurde, fuhr sie hinaus wie der Blitz; ihr schwarzes Haar flatterte hinter ihr her wie das Entsetzen selbst, die Augen sprühten Feuer, der Hund, der ihr gerade in den Weg lief, machte Kehrt und setzte bellend hinter ihr drein und so fiel sie ins Haus und über die Mutter, die just mit der Suppenschüssel aus der Küche kam; das Mädchen mitten in die Suppe hinein, die Suppe auf den Boden, und ein "hol' Euch der Teufel!" hinter beiden drein. Aber während sie noch mitten in der Suppe lag, kreischte sie: "Er will mich totschießen, Mutter! Er will mich totschießen!"—"Wer will Dich totschießen, Du Kobold?"—"Der Pedro Ohlsen!"—"Wer?" schrie die Mutter.—"Der Pedro Ohlsen. Wir haben Äpfel bei ihm gestohlen"—sie wagte nie etwas anderes als die Wahrheit zu sagen.—"Von wem sprichst Du, Mädchen?"—"Von Pedro Ohlsen. Er ist hinter mir her mit einem großen Gewehr—er will mich totschießen!"—"Pedro Ohlsen!" tobte die Mutter und dann fing sie zu lachen an. Sie schien plötzlich seltsam gewachsen. Dem Kinde kamen die Tränen, und es wollte davonlaufen. Aber die Mutter sprang auf sie zu, die weißen Raubtierzähne funkelten; sie packte das Mädchen bei den Schultern und zerrte es in die Höhe. "Hast Du ihm gesagt, wer Du bist?"—"Ja, ja, ja, ja!" Und das Kind streckte flehend die Hände in die Luft. Da reckte sich die Mutter zu ihrer vollen Höhe auf: "So! Also weiß er's jetzt! Was hat er gesagt?"—"Ins Haus ist er gelaufen, nach seinem Gewehr; er wollt' mich totschießen."—"Der Dich totschießen!" lachte sie in schneidendem Hohn. Petra hatte sich, erschrocken und über und über mit Suppe bespritzt, in eine Ecke geschlichen, wischte sich ab und weinte, als die Mutter wieder auf sie zukam. "Wenn Du Dich je wieder unterstehst, zu dem hinzugehen," sagte Gunlaug, indem sie das Kind bei den Schultern packte und schüttelte, "oder mit ihm zu reden, oder auf ihn zu hören, dann gnade Gott euch beiden!—Das sag' ihm von mir!" fügte sie mit drohender Stimme hinzu, als das Kind nicht gleich antwortete.—"Ja, ja, ja, ja!"—"Sag' ihm das von mir!" wiederholte sie noch einmal, aber leiser und bei jedem Wort mit dem Kopf nickend, indem sie hinausging.
Das Kind wusch sich, zog seine Sonntagskleider an und setzte sich vors Haus auf die Treppe. Aber bei dem Gedanken an den ausgestandenen Schrecken stieg ihr immer wieder das Schluchzen in die Kehle.—"Warum weinst Du, Kind?" fragte eine Stimme, so freundlich, wie noch nie jemand zu ihr gesprochen hatte. Petra blickte auf. Vor ihr stand ein schlanker Mann mit einem edlen Gesicht und einer Brille. Sie stand sofort auf; denn sie erkannte Hans Ödegaard, einen jungen Menschen aus dem Ort, vor dem alles sich ehrerbietig erhob. "Warum weinst Du, Kind?" Sie sah ihn an und erzählte ihm, sie habe "mit ein paar andern Jungens" in Pedro Ohlsens Garten Äpfel stehlen wollen; aber Pedro und der Polizeidiener seien gekommen und da—, ihr fiel ein, daß die Mutter ihr die Sache mit dem Totschießen doch ein bißchen zweifelhaft gemacht hatte, und so wagte sie davon nichts zu erzählen; statt dessen stieß sie nur einen tiefen Seufzer aus. "Ist es möglich," sagte er, "daß ein Kind in Deinem Alter eine so große Sünde begehen kann!" Petra sah ihn an. Wohl hatte sie gewußt, daß es eine Sünde war; aber bisher war ihr das immer etwa folgenderweise vorgepredigt worden: "Satansrange, Du! Du schwarzhaarige Teufelsbrut!" Jetzt auf einmal schämte sie sich.—"Warum gehst Du nicht in die Schule und lernst Gottes Gebot von dem, was gut und böse ist?" Sie strich sich über den Rock und antwortete, Mutter wolle nicht, daß sie zur Schule gehe.—"Da kannst Du am Ende nicht einmal lesen?" Doch, lesen könne sie. Er zog ein kleines Buch aus der Tasche und gab es ihr. Sie guckte hinein, drehte es um und besah es sich von außen. "Solche feine Schrift kann ich nicht lesen!" sagte sie. Aber sie mußte heran, und nun kam sie sich auf einmal fürchterlich dumm vor. Mund und Augen wurden ihr schlaff, und alle ihre Glieder lösten sich. "G-o-t—Gott—d-e-r H-e-r-r—Herr, Gott der Herr—s-a-g-t-e Gott der Herr sagte zu M-M—"—"Mein Gott, Du kannst also wirklich noch nicht einmal lesen! Ein Kind von zehn oder zwölf Jahren! Möchtest Du nicht gern lesen lernen?" Langsam kam es aus ihr heraus: ja, sie möchte schon gern. "Dann komm mit, wir fangen gleich an!" Jetzt rührte sie sich, aber nur, um ins Haus zu sehen. "Ja, sag' es nur Deiner Mutter!" meinte er. Die Mutter ging eben vorbei, und als sie das Kind mit einem fremden Herrn sprechen sah, trat sie auf die Schwelle. "Er will mich lesen lehren!" sagte das Kind zweifelnd, die Augen auf die Mutter gerichtet. Sie antwortete nicht, stemmte nur beide Hände in die Hüften und sah Ödegaard an. "Ihr Kind ist ja total unwissend!" sagte er. "Sie können es vor Gott und Menschen nicht verantworten, wenn Sie es so heranwachsen lassen!"—"Wer bist denn Du?" fragte Gunlaug scharf.—"Hans Ödegaard, der Sohn des Pastors." Ihr Gesicht klärte sich leicht auf; von dem hatte sie immer nur Gutes gehört. "Wenn ich dann und wann einmal im Lande war", begann er wieder, "ist mir das Kind hier immer aufgefallen. Heute bin ich von neuem an sie erinnert worden. Sie darf sich nicht länger nur mit Dingen abgeben, die böse sind." Auf dem Gesicht der Mutter stand deutlich zu lesen: Was geht das Dich an? Aber ruhig fragte er: "Das Kind soll doch etwas lernen, nicht wahr?"—"Nein!"—Eine leichte Röte flog über sein Gesicht. "Weshalb nicht?"—"Sind die Menschen, die was gelernt haben, etwa besser?"—Sie hatte nur eine einzige Erfahrung gemacht in ihrem Leben; aber an die klammerte sie sich.—"Es wundert mich, daß ein Mensch das fragen kann!"—"Kann sein! Ich weiß, daß sie nicht besser sind!" Und sie kam die Stufen herunter, um dem Gerede ein Ende zu machen. Aber er vertrat ihr den Weg. "Es handelt sich hier um eine Pflicht, der Sie sich einfach nicht entziehen dürfen. Sie sind eine unvernünftige Mutter!" Gunlaug maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen. "Wer sagt Dir denn, was ich bin?" versetzte sie, an ihm vorübergehend.—"Sie selber, und zwar in diesem Augenblick; denn sonst müßten Sie doch gesehen haben, daß das Kind zugrunde geht!" Gunlaug wandte sich um. Auge ruhte in Auge. Sie sah, daß ihm das, was er gesagt hatte, wirklich Ernst war, und ihr wurde bange. Sie hatte immer nur mit Matrosen und Geschäftsleuten verkehrt; eine solche Sprache hatte sie noch nie vernommen. "Was willst Du denn mit meinem Kind?" fragte sie. "Sie lehren, was ihrem Seelenheile dient, und dann abwarten, was aus ihr wird!"—"Mein Kind soll nichts anderes werden, als was ich will!"—"Doch—es soll aus ihr werden, was Gott will!" Gunlaug war wie vor den Kopf geschlagen. "Was soll das heißen?" fragte sie und trat näher. "Das soll heißen, daß sie das lernen muß, wozu Gott ihr die Gaben geschenkt hat; denn deswegen hat er ihr sie gegeben." Jetzt trat Gunlaug ganz nahe an ihn heran: "Und ich, ihre Mutter—soll ich nicht etwa bestimmen dürfen über sie?" fragte sie, als möchte sie sich wirklich belehren lassen. "Doch! Gewiß!" erwiderte er. "Aber Sie müssen auch auf den Rat anderer hören, die das besser verstehen. Sie müssen auf den Willen des Herrn hören!"——Gunlaug war eine Weile still. "Und wenn sie zu viel lernt?" sagte sie. "Armer Leute Kind", setzte sie hinzu und blickte zärtlich auf die Tochter.—"Wenn sie für ihren Stand zu viel lernt, so hat sie eben dadurch einen anderen Stand erreicht."—Sie erfaßte sofort den Sinn seiner Worte, doch, indem sie mit immer schwermütigeren Augen das Kind ansah, sagte sie leise, wie zu sich selber: "Das ist gefährlich!"—"Darum handelt es sich nicht", versetzte er sanft, "sondern um das, was recht ist." In ihre kraftvollen Augen kam ein seltsamer Ausdruck; wieder blickte sie ihn durchdringend an; aber es lag so viel Wahrheit in seiner Stimme, seinen Worten, seinen Mienen, daß Gunlaug sich besiegt fühlte. Sie ging auf Petra zu, nahm ihren Kopf zwischen beide Hände; zu reden vermochte sie nicht mehr.
"Ich werde die Kleine von heut an bis zur Einsegnung unterrichten," sagte er, wie um ihr zu Hilfe zu kommen. "Ich habe immer den Wunsch gehabt, mich dieses Kindes anzunehmen!"—"Und darum willst Du es mir wegnehmen?" Er stutzte und sah sie fragend an. "Freilich, Du verstehst das ja besser als ich," stieß sie mühsam heraus, "aber es ist nur, weil Du den Namen unseres Herrgotts genannt hast,"—sie verstummte. Sie hatte währenddessen das Haar des Kindes glattgestrichen; jetzt nahm sie ihr eigenes Tuch ab und band es ihm um den Hals. Auf andere Weise sprach sie es nicht aus, daß Petra mitgehen dürfe; aber sie lief hastig davon, und verschwand hinter dem Haus, als wolle sie es nicht mit ansehen.
Bei diesem Gebaren der Mutter ergriff ihn eine plötzliche Angst vor der
Aufgabe, die er da in jugendlichem Eifer auf sich genommen hatte. Das
Kind aber empfand Angst vor ihm, der zum erstenmal die Mutter besiegt
hatte; und mit dieser wechselseitigen Angst gingen sie an ihre erste
Unterrichtsstunde.
Von Tag zu Tag indessen fand er, daß sie an Klugheit und Wissen wuchs, und seine Gespräche mit ihr nahmen zuweilen eine ganz eigentümliche Richtung. Oft führte er ihr Persönlichkeiten aus der biblischen Historie und der Weltgeschichte in der Weise vor, daß er auf den Beruf hinwies, den Gott ihnen zuerteilt hatte. Er verweilte bei dem Manne Saul, der in zügellosem Irren umherschweifte, und bei dem Knaben David, der seines Vaters Herde weidete, bis Samuel kam und auf beide die Hand des Herrn legte. Doch am herrlichsten offenbarte sich solches Berufensein, als der Herr selbst auf Erden wandelte und unter den Fischern seine Stimme erhob. Und der arme Fischer stand auf und folgte ihm nach—zu Not und Tod—immer aber voll Freudigkeit; denn das Gefühl des Berufenseins trägt uns über alle Widerwärtigkeiten hinweg.
Dieser Gedanke verfolgte sie, bis sie schließlich nicht mehr an sich halten konnte,—sie mußte ihn fragen, wozu sie berufen sei. Er sah sie an, bis sie über und über rot wurde; dann antwortete er, zu seinem Beruf gelange ein Mensch nur durch Arbeit. Bescheiden und klein könne dieser Beruf sein—da sei er für jeden. Und jetzt kam ein mächtiger Eifer über sie; er trieb ihr Arbeiten an mit der Kraft eines Erwachsenen, er glühte in ihren Kinderspielen und machte sie mager und dünn. Allerlei abenteuerliches Sehnen stieg in ihr auf: sie wollte sich das Haar abschneiden, sich als Knabe verkleiden, in die Welt hinausziehen und kämpfen! Aber als ihr Lehrer eines Tages sagte, ihr Haar sei so hübsch, wenn sie es nur ordentlich flechten wolle—da wurde das Haar ihr lieb, und um ihres langen Haares willen opferte sie den Heldenruhm.
Seitdem war es ihr mehr wert, ein Mädchen zu sein, als früher, und ruhiger schritt ihre Arbeit weiter, umschwebt von wechselnden Träumen.
Drittes Kapitel
Hans Ödegaards Vater war als junger Mensch aus dem Kirchdorf Ödegaard in Stift Bergen ausgewandert; die Menschen hatten sich seiner angenommen, und er war jetzt ein Gelehrter und sehr gestrenger Prediger. Auch ein äußerst herrischer Mann war er, weniger in Worten als in Taten. Er hatte ein "gutes Gedächtnis", wie man zu sagen pflegt. Dieser Mann, der mit seiner Zähigkeit stets durchgesetzt hatte, was er wollte, sollte jedoch an einem Punkte scheitern, wo er es am wenigsten erwartete, und wo es ihn am schmerzlichsten traf.
Er hatte drei Töchter und einen Sohn. Dieser Sohn Hans war die Leuchte der Schule; der Vater selbst leitete seine Studien und hatte seine helle Freude an ihm. Hans hatte einen Freund; er setzte alles dran, ihn zu seinem Nebenmann zu machen, und dieser Freund liebte ihn deshalb, nächst seiner Mutter, über alles in der Welt. Zusammen gingen sie zur Schule; zusammen kamen sie auf die Universität; zusammen machten sie die ersten zwei Examina, und zusammen sollten sie nun dasselbe Amtsstudium beginnen. Eines Tages, als sie nach einem just entworfenen Kollegienplan übermütig die Treppe hinunterstürmten, wollte Hans im Gefühl fröhlichen Jugendübermuts dem Freund auf den Rücken springen; der Freund fiel, und zwar so unglücklich, daß er wenige Tage darauf starb. Der Sterbende bat seine Mutter, die Witwe war und in ihm ihr einziges Kind verlor, ihm zuliebe Hans an Sohnesstatt anzunehmen. Die Mutter starb fast gleichzeitig mit dem Sohn; und kraft ihres Testaments fiel ihr sehr beträchtliches Vermögen Hans Ödegaard zu.
Es dauerte Jahr und Tag, bis Hans sich von diesem Schlag erholte. Eine lange Reise im Ausland tat ihm wenigstens soweit gut, daß er sein theologisches Studium zu Ende zu führen vermochte; aber ein Amt anzunehmen—dazu konnte niemand ihn bewegen.
Seines Vaters sehnlichster Wunsch war gewesen, ihn neben sich als Vikar zu haben; aber Hans war nicht zu bereden, auch nur die Kanzel zu betreten. Immer hatte er dieselbe Erwiderung: er fühle nicht den Beruf in sich. Für den Vater war das eine bittere Enttäuschung, die ihn um Jahre älter machte. Er selber hatte erst spät angefangen zu studieren, war schon ein alter Mann, und hatte sich hart—und immer dieses Ziel vor Augen—durchgearbeitet. Jetzt saß sein Sohn über ihm—im selben Haus—bewohnte eine Reihe eleganter Zimmer; und unten, in der kleinen Studierstube, bei seiner Lampe, die ihm hinüberleuchtete in die Nacht des Alters, saß in nie ermüdender Arbeit der alte Pastor. Er hatte—nach jener Enttäuschung—fremde Hilfe weder annehmen können noch wollen; darum gab es für ihn—Sommer oder Winter—keine Ruhe. Der Sohn aber machte alljährlich eine längere Reise ins Ausland. Wenn er zu Hause war, verkehrte er mit niemand; nur daß er—mehr oder weniger schweigsam—mittags an des Vaters Tisch aß. Wer sich in ein Gespräch mit ihm einließ, stieß auf solch überlegene Klarheit, auf solchen Wahrheitseifer, daß die Unterhaltung meist bald gefährdet wurde. In der Kirche sah man ihn nie; aber er gab mehr als die Hälfte seiner Einnahmen zu wohltätigen Zwecken hin, wobei er stets die genauesten Vorschriften über die Verwendung machte.
Diese Wohltätigkeit war in ihrer Großartigkeit so verschieden von den beschränkten Gewohnheiten der kleinen Stadt, daß sie alle Herzen gewann. Wenn man dazu seine ganze zurückgezogene Lebensführung, seine häufigen langen Reisen und die Scheu nimmt, die irgendwie alle vor ihm hatten, so wird man wohl begreifen, daß er in den Augen der Leute zu einer Art Original wurde, dem man allerhand geheimnisvolle Dinge zutraute, hinter dem man alles mögliche suchte, und dem man fast übernatürliche Eigenschaften beilegte. Als dieser Mann sich herabließ, das Fischermädel in seine tägliche Fürsorge zu nehmen, war sie von Stund an geadelt.
Plötzlich wollte jeder sich ihrer annehmen; besonders die Frauen. Eines Tages erschien sie, in alle Farben des Regenbogens gekleidet; sie hatte einfach alles angezogen, was man ihr geschenkt hatte, im Glauben, so müsse sie ihm gefallen; denn er wollte sie gern immer nett und zierlich haben. Aber kaum hatte er sie erblickt, so schalt er sie schon aus: sie dürfe sich nichts schenken lassen; eitel sei sie und albern; sie stecke in lauter Tand und Narretei! Als sie dann am nächsten Morgen mit verweinten Augen anrückte, nahm er sie auf einen Spaziergang mit—zur Stadt hinaus. Da erzählte er ihr von David, so wie er ihr überhaupt immer eine oder die andere Persönlichkeit darstellte—indem er ihr alles Wohlbekannte in immer neuem Licht vorführte. Erst schilderte er David als Jüngling, wie er schön und kraftvoll in sorglosem Glauben dahinlebte. Darum durfte er, noch ehe er Mann geworden war, am Triumphzug teilnehmen. Als Hirte wurde er zum König berufen; in Höhlen hatte er gewohnt—und erbaute zuletzt Jerusalem! In schönen Gewändern saß er vor dem kranken Saul und spielte die Harfe; aber als er selber König war—und krank—da schlug er die Harfe für sich allein—, in Lumpen der Reue gehüllt. Nachdem er sein Lebenswerk vollendet hatte, ergab er sich der Ruhe—in Sünde. Und der Prophet kam, und die Strafe Gottes; und er wurde wieder zum Kinde. David, er, der das ganze Volk des Herrn zu erheben vermochte zu Lobgesang, lag selber, zerknirscht, zu den Füßen des Herrn. Wann war er schöner? Als er siegesgekrönt—nach eigenen Sängen—einhertanzte vor der Bundeslade—oder wenn er im verschwiegenen Kämmerlein um Gnade flehte vor Gottes strafender Hand?
In der Nacht nach diesem Gespräch hatte sie einen Traum, den sie ihr
ganzes Leben lang nicht vergessen konnte. Sie saß auf einem weißen
Zelter—in einem Siegeszug—und zugleich tanzte sie in Lumpen vor dem
Pferde her.
Eine gute Weile darauf kam eines Abends, als sie am Waldessaum oberhalb der Stadt saß und ihre Aufgaben lernte, Pedro Ohlsen ganz dicht an ihr vorüber und flüsterte mit einem sonderbaren Lächeln: "Guten Abend!" Obgleich Jahre vergangen, war der Mutter Verbot, mit ihm zu reden, noch so mächtig in ihr, daß sie seinen Gruß nicht erwiderte. Aber Tag für Tag kam er jetzt auf dieselbe Weise und stets mit demselben Gruß an ihr vorüber; zuletzt wartete sie auf ihn, wenn er nicht kam. Bald richtete er im Vorbeigehen eine kurze Frage an sie, nach einer kleinen Weile wurden daraus zwei, und schließlich wurden es ganze Gespräche. Eines Tages ließ er nach einer solchen Unterhaltung einen Silbertaler in ihren Schoß gleiten, worauf er seelenvergnügt und eiligst davonlief. Nun war es gegen den Befehl der Mutter, nicht mit ihm zu reden, und gegen das Verbot Ödegaards, Geschenke von irgend jemand anzunehmen. Das erste Verbot hatte sie ganz allmählich übertreten—jetzt, da auch die Übertretung des zweiten Tatsache war, fiel es ihr wieder ein. Um das Geld los zu werden, nahm sie den ersten besten, der ihr begegnete, mit und traktierte ihn; aber beim besten Willen war es ihnen nicht möglich, für mehr als zehn Groschen zu verzehren. Und hinterher bereute sie auch, daß sie den Taler vernascht hatte, statt ihn zurückzugeben. Das letzte Zweigroschenstück brannte ihr in der Tasche, als müsse es ein Loch durchs Kleid sengen. Sie zog es heraus und warf es ins Meer. Aber damit war sie doch den Taler nicht los—auch ihre Gedanken hatte er angesengt. Wenn sie es gestand, so würde es vorübergehen, das fühlte sie; aber der schreckliche Zorn der Mutter damals und Ödegaards festes Zutrauen zu ihr standen, jedes in seiner Art, als Schrecknisse im Wege. Während die Mutter nichts merkte, entdeckte Ödegaard bald, daß sie etwas mit sich herumschleppe, das sie unglücklich mache. Liebevoll fragte er sie eines Tages, was es sei, und als sie statt aller Antwort in Tränen ausbrach, dachte er, zu Hause bei ihr sei vielleicht Not, und gab ihr zehn Speziestaler. Daß sie—trotz ihrer Sünde gegen ihn—noch Geld von ihm bekam, machte einen tiefen Eindruck auf sie; und da sie nun obendrein noch Geld hatte—ehrliches Geld, das sie der Mutter ganz offen geben konnte,—empfand sie das als eine Freisprechung von ihrem Verbrechen und gab sich der ausgelassensten Freude hin. Sie nahm seine Hand zwischen ihre beiden Hände und bedankte sich, sie lachte und tanzte in der Stube herum, sie strahlte vor Entzücken durch ihre Tränen hindurch, während sie ihn ansah mit dem Blick eines Hundes, der seinen Herrn begleiten darf. Er kannte sie gar nicht wieder. Sie, die er sonst ganz in der Gewalt seiner Worte hatte, nahm ihm heute die Herrschaft aus den Händen. Zum erstenmal fühlte er eine starke und wilde Natur sich entladen, zum erstenmal überflutete ihn des Lebens Quelle mit ihrem roten Strom, und er wich purpurheiß zurück. Petra aber stürzte zur Tür hinaus und den Berg hinauf, nach Hause. Dort legte sie das Geld vor die Mutter auf die Herdplatte und fiel ihr selber um den Hals. "Wer hat Dir das Geld gegeben?" fragte die Mutter, in der schon der Zorn aufstieg.—"Ödegaard, Mutter! Er ist der herrlichste Mensch auf Erden!"—"Was soll ich damit?"—"Ich weiß nicht! O Gott, Mutter, wenn Du wüßtest—" sie fiel ihr wieder um den Hals—jetzt konnte und wollte sie ihr alles sagen. Aber die Mutter machte sich ungeduldig los. "Soll ich vielleicht Almosen annehmen? Augenblicklich gibst Du ihm das Geld zurück! Wenn Du ihm vorgeschwatzt hast, ich hätt's nötig, so hast Du gelogen!"—"Aber Mutter!"—"Sofort bringst Du ihm das Geld zurück, sag' ich Dir, oder ich gehe selber hin und werf es ihm ins Gesicht, dem—dem…, der mir mein Kind genommen hat!" Die Lippen der Mutter zitterten bei den letzten Worten; Petra war immer blasser geworden, sie wich zurück, langsam öffnete sie die Tür, langsam ging sie aus dem Hause. Eh sie wußte, was sie tat, war der Zehntalerschein zwischen ihren Finger in Fetzen zerrissen. Die Entdeckung dieser Tatsache löste sich in einem Ausbruch der Empörung gegen die Mutter. Aber Ödegaard durfte nichts davon erfahren—doch, alles sollte er erfahren… Ihm durfte sie nichts vorlügen!—Und einen Augenblick darauf stand sie in seinem Zimmer und erzählte ihm, die Mutter habe das Geld nicht nehmen wollen und vor Ärger, daß sie es ihm zurückbringen mußte, habe sie den Schein zerrissen. Sie wollte noch mehr sagen, aber er hörte sie merkwürdig kalt an, hieß sie nach Hause gehen und gab ihr die Ermahnung mit auf den Weg, der Mutter stets gehorsam zu sein, auch wenn es ihr sauer fiele. Das kam ihr doch recht sonderbar vor; denn so viel wußte sie auch—er selber tat nicht, was sein Vater von ihm wollte. Auf dem Heimweg brach es in ihr los, und gerade da begegnete ihr Pedro Ohlsen. Sie hatte ihn die ganze Zeit über gemieden und wollte das auch jetzt tun; denn er war ja an dem ganzen Unglück schuld. "Wo bist Du gewesen?" fragte er, neben ihr hergehend. "Ist Dir etwas geschehen?" Die Wogen in ihr gingen so hoch, daß sie sich einfach von ihnen schleudern ließ, einerlei wohin. Und überhaupt begriff sie auch gar nicht, weshalb ihr die Mutter verboten hatte, mit ihm umzugehen; es war natürlich nur eine von ihren Launen. "Weißt Du, was ich getan habe?" sagte er fast demütig, als sie stehen blieb. "Ich habe Dir ein Segelboot gekauft;—ich dachte, Du habest vielleicht Lust, ein bißchen zu segeln!" Und er lachte. Seine Güte, die etwas von der Bitte eines Bettlers hatte, rührte sie gerade jetzt; sie nickte, und nun wurde er lebendig, er flüsterte hastig, sie solle durch die Allee rechts draußen vor der Stadt bis an das große gelbe Bootshaus gehen; dort wolle er sie abholen: kein Mensch könne sie dort sehen. Sie ging hin und er kam, strahlend, aber ehrerbietig wie ein altes Kind, und nahm sie zu sich ins Boot. Sie segelten eine Weile in der leichten Brise und legten dann an einer Insel an, machten das Boot fest und stiegen ans Land. Er hatte allerlei Leckereien für sie mitgebracht, die er ihr mit ängstlicher Freude anbot; dann zog er seine Flöte heraus und spielte. Seine Seligkeit ließ sie eine Zeitlang ihren eigenen Kummer vergessen; und weil die Fröhlichkeit schwacher Wesen wehmütig stimmt, gewann sie ihn plötzlich lieb.
Fortan hatte sie ein neues und dauerndes Geheimnis vor der Mutter, und bald war es dahin gekommen, daß sie der Mutter überhaupt nichts mehr sagte. Und Gunlaug fragte nicht; sie vertraute ganz, bis zu dem Augenblick, da sie ganz mißtraute.
Aber auch vor Ödegaard hatte Petra fortan Geheimnisse; denn sie nahm allerhand Geschenke von Pedro Ohlsen an. Auch Ödegaard fragte nicht; der ganze Unterricht führte von Tag zu Tag mehr auf ein unpersönliches Gebiet.
Petra war jetzt also zwischen Dreien geteilt. Bei keinem sprach sie von den andern, und vor jedem hatte sie etwas Besonderes zu verheimlichen.
Doch unterdessen war sie, ohne es selbst zu wissen, ein erwachsenes Mädchen geworden, und eines Tages teilte Ödegaard ihr mit, daß sie eingesegnet werden solle.
Diese Nachricht erfüllte sie mit großer Unruhe; denn sie wußte, mit der Einsegnung hatte der Unterricht ein Ende, und was sollte dann werden? Die Mutter ließ ein Giebelstübchen ans Haus anbauen; Petra sollte nach ihrer Einsegnung ein eigenes Zimmer haben. Das unablässige Hämmern und Klopfen war ihr eine schmerzliche Mahnung. Ödegaard sah, wie sie immer stiller und stiller wurde; zuweilen merkte er sogar, daß sie geweint hatte. Der Religionsunterricht machte in dieser Stimmung einen starken Eindruck auf sie, obgleich Ödegaard mit großer Sorgfalt alles vermied, was sie hätte aufregen können. Aus eben diesem Grunde schloß er auch vierzehn Tage vor der Einsegnung den Unterricht mit der kurzen Mitteilung ab, heute sei die letzte Stunde gewesen. Er meinte damit die letzte Stunde bei ihm; denn er wollte natürlich noch weiter für sie sorgen, wenn auch durch andere. Aber wie festgenagelt blieb sie sitzen; alles Blut wich ihr aus dem Gesicht, die Augen hingen starr an ihm, so daß er, unwillkürlich gerührt, sich beeilte, einen Grund anzugeben: "Nicht alle jungen Mädchen sind ja bei ihrer Einsegnung schon erwachsen;—aber bei Dir ist es so. Das fühlst Du wohl selbst." Hätte sie im Schein eines flammenden Feuers gestanden—sie hätte nicht glühender rot werden können, als sie bei diesen Worten wurde. Ihr Busen wogte, die Augen flackerten unruhig und füllten sich mit Tränen, und wie gehetzt fügte er hinzu: "Oder wollen wir vielleicht doch noch weitermachen?" Erst hinterher wurde ihm klar, was er ihr da vorgeschlagen hatte; es war unrecht von ihm—er wollte es wieder zurücknehmen, aber schon erhob sie ihre Augen zu ihm; sie sagte nicht mit den Lippen "ja"; aber besser hätte sie es nicht sagen können. Um sich vor seinem eigenen Gewissen zu entschuldigen, suchte er nach einem Vorwand und fragte: "Du möchtest jedenfalls jetzt gern irgend etwas Bestimmtes ergreifen … etwas, wozu Du"—er beugte sich zu ihr herüber—"den Beruf in Dir fühlst?" "Nein!" erwiderte sie so rasch, daß er errötete und, abgekühlt, in die eigenen, jahrelangen Grübeleien zurücksank, die ihre unerwartete Antwort wieder wachgerufen hatte.
Daß etwas Eigenartiges sich in ihr regte, daran hatte er nie gezweifelt, seit er sie als Kind singend an der Spitze der Straßenjugend des Städtchens hatte marschieren sehen. Aber je länger er sie unterrichtet hatte, desto weniger vermochte er aus ihrer Begabung klug zu werden. Vorhanden war sie in jeder Bewegung; alles, was sie dachte, was sie wünschte, verkündeten Geist und Körper zu gleicher Zeit, aus einer Fülle von Kraft heraus, umzittert von einen Glanz der Schönheit. Aber in Worte gefaßt oder gar zu Papier gebracht, waren es einfach lauter Kindereien. Sie sah aus wie die verkörperte Phantasie—er freilich empfand es vor allem als Unruhe. Sie war sehr fleißig; aber ihr Fleiß hatte weniger den Zweck, etwas zu lernen, als weiterzukommen; was auf der nächsten Seite stand, beschäftigte sie immer am meisten. Sie hatte Sinn für Religion, doch, wie der Propst sich ausdrückte, "keine Anlage zu einem religiösen Leben"; und Ödegaard machte sich oft schwere Sorgen um sie. Jetzt stand er an einem Wendepunkt; unwillkürlich fühlte er sich im Geist zurückversetzt vor die steinerne Treppe, wo er sie in sein Leben aufgenommen hatte; er hörte die scharfe Stimme der Mutter, die ihm die Verantwortung aufbürdete, weil er den Namen des Herrn genannt hatte.
Nachdem er mehrmals im Zimmer auf und ab gegangen war, raffte er sich zusammen. "Ich mache jetzt eine Reise ins Ausland", sagte er mit einer gewissen Scheu. "Ich habe meine Schwestern gebeten, sich inzwischen Deiner anzunehmen, und wenn ich wiederkomme, wollen wir weiter sehen. Leb' wohl… Wir sehen uns wohl noch, bis ich reise!" Damit ging er ins Nebenzimmer, so rasch, daß sie ihm nicht einmal mehr die Hand geben konnte.
Sie sah ihn wieder, wo sie es am wenigsten erwartet hatte—im Pfarrstuhl neben dem Chor, ihr gerade gegenüber, als sie in der Schar der Mädchen vor dem Altar stand, um eingesegnet zu werden. Das regte sie so auf, daß ihre Gedanken lange von der heiligen Handlung, auf die sie sich in Demut und Gebet vorbereitet hatte, abgelenkt wurden. Ja, sogar Ödegaards alter Vater stutzte und blickte lange auf den Sohn, als er vor den Altar trat, um zu beginnen. Gleich darauf sollte Petra noch einen zweiten Schrecken erleben in der Kirche; denn etwas weiter hinten saß Pedro Ohlsen in einem neuen, steifen Anzug. Er reckte gerade den Hals, um über die Köpfe der Jungens hinweg zu der Mädchenschar, zu ihr herüberzusehen! Er tauchte sogleich wieder unter; aber immer wieder sah sie seinen dünn behaarten Kopf sich emporstrecken, um gleich darauf wieder unterzutauchen. Das zog ihre Gedanken ab; sie wollte nicht hinsehen, und sah doch hin, und da—gerade als alle die andern tief ergriffen waren, manche in Tränen aufgelöst—sah Petra zu ihrem Entsetzen, wie Pedro sich erhob, starr, mit offenem Mund und stieren Augen, versteinert, unfähig, sich wieder zu setzen oder sich zu rühren; denn ihm gegenüber stand Gunlaug, hoch aufgerichtet, in ihrer vollen Größe. Ein Schauder durchrann Petra beim Anblick der Mutter; denn sie war so weiß wie das Altartuch. Ihr schwarzes krauses Haar schien sich zu sträuben, während in ihre Augen plötzlich eine Kraft der Abwehr kam, als wollten sie sagen: "Laß sie in Ruh'! Was hast Du mit ihr zu schaffen?" Wirklich sank er auch unter dem Eindruck dieses Blickes auf der Bank zusammen und eine Weile darauf schlich er zur Kirche hinaus.
Nun legte sich Petras Unruhe, und je weiter die heilige Handlung fortschritt, desto mächtiger fühlte sie sich mitgerissen. Und als sie ihr Gelübde abgelegt hatte und wieder zurücktrat und, durch Tränen, hinüber blickte zu Ödegaard als zu dem Manne, der allen ihren guten Vorsätzen am nächsten stand, da gelobte sie in ihrem Herzen, daß sie seinen Glauben nicht zu schanden machen wolle. Sein treues Auge, das so leuchtend zu ihr herüberschaute, schien dasselbe zu erbitten; aber als sie wieder auf ihrem Platz stand und ihn noch einmal mit dem Blick suchte, war er verschwunden. Bald darauf ging sie heim mit der Mutter, die unterwegs nur sagte: "Jetzt hab' ich das meinige getan;—nun mag unser Herrgott das seine tun!"
Als sie dann, allein, miteinander zu Mittag gegessen hatten, sagte sie wieder, indem sie vom Tisch aufstand: "Dann werden wir jetzt wohl zu ihm hinübergehen müssen—zu dem Pfarrerssohn. Wenn ich auch nicht weiß, wozu das taugen soll, was er treibt,—gut gemeint hat er's jedenfalls. Mach' Dich fertig, Kind!"
Der Weg zur Kirche, den die beiden so oft miteinander gegangen waren, führte oben über der Stadt herum; auf der Straße hatten sie sich bis jetzt noch nie zusammen sehen lassen; die Mutter war seit ihrer Rückkehr überhaupt kaum in der Stadt gewesen. Heute jedoch bog sie nach der Straße zu ab; heute wollte sie die ganze Straße hinuntergehen, die ganze Straße, an der Seite ihrer erwachsenen Tochter!
Am Nachmittag des Einsegnungstages ist so eine kleine Stadt auf der Wanderung, entweder von Haus zu Haus, zum Gratulieren, oder Straßen auf und ab, um zu gucken und sich begucken zu lassen. Auf Schritt und Tritt bleibt man stehen und grüßt, tauscht Händedrücke aus und sagt einander ein paar freundliche Worte. Die Kinder der Armen präsentieren sich in den abgelegten Kleidern der Reichen und werden vorgeführt, um sich zu bedanken. Die Seeleute in fremdländischem Staat, die Mütze schief auf dem Ohr, die Stutzer des Städtchens, die Handlungsgehilfen, zogen, nach allen Seiten grüßend, in Scharen vorüber; die halbwüchsigen Lateinschüler, jeder seinen Busenfreund am Arm, schlenderten voll altkluger Kritik hinterdrein; aber alle fühlten sie sich heute im stillen ausgestochen von dem Löwen der Stadt, dem reichsten Mann der Stadt, dem jungen Kaufherrn Yngve Vold, der soeben aus Spanien heimgekehrt war, fix und fertig, von morgen ab das große Fischgeschäft seiner Mutter zu übernehmen. Mit seinem hellen Hut auf dem hellen Haar, glänzte er in allen Gassen, so daß die jungen Konfirmanden fast in Vergessenheit gerieten; alle hießen ihn willkommen, mit allen unterhielt er sich, allen lachte er zu—an allen Ecken und Enden sah man den hellen Hut auf dem hellen Haar und hörte das helle Lachen. Als Petra und ihre Mutter die Straße herabkamen, war er der erste, auf den sie stießen; und wie wenn sie tatsächlich "auf ihn gestoßen" hätten, so fuhr er zurück, als er Petra sah. Er erkannte sie nicht wieder.
Sie war groß, nicht so groß wie die Mutter, aber doch größer als die meisten andern Mädchen—anmutig, fein und keck, die Mutter und doch auch wieder nicht die Mutter, in ständigem Farbenspiel. Selbst der junge Kaufmann, der ihnen folgte, vermochte die Blicke der Vorübergehenden nicht mehr auf sich zu ziehen; die beiden, Mutter und Tochter zusammen, waren doch noch ein fremdartigerer Anblick. Sie gingen rasch, ohne zu grüßen, da sie selbst kaum von andern als von Seeleuten gegrüßt wurden. Aber noch eiliger kamen sie die Straße wieder zurück; denn sie hatten gehört, Ödegaard habe soeben das Haus verlassen und sei zum Dampfer hinuntergegangen, der in wenigen Minuten abgehen sollte. Besonders Petra drängte mehr und mehr; sie mußte—mußte ihn noch einmal sehen, mußte ihm danken, eh er aufbrach. Unrecht war es von ihm, so von ihr zu gehen! Sie sah niemand von all denen, die sie ansahen—sie sah nichts als den Dampferrauch über den Dächern,—ihr war, als entferne der Rauch sich. Als sie zur Landungsbrücke kamen, stieß der Dampfer gerade vom Lande ab, und—die Kehle zugeschnürt von Tränen—eilte sie weiter, hinaus in die Allee; sie sprang mehr als daß sie ging, und die Mutter stapfte hinter ihr her. Da der Dampfer Zeit gebraucht hatte, um im Hafen zu wenden, kam sie noch eben zurecht, um hinunter zu springen auf den Strand, auf einen Stein zu klettern und mit dem Taschentuch zu winken. Die Mutter blieb oben in der Allee stehen. Petra winkte—immer höher und höher schwenkte sie ihr Tuch; aber—keiner winkte zurück.
Da konnte sie sich nicht mehr halten; vor lauter Tränen mußte sie den oberen Weg nach Hause gehen. Die Mutter folgte stumm.—Ihr Giebelstübchen, das die Mutter ihr geschenkt hatte, in dem sie diese Nacht zum erstenmal geschlafen und heut morgen so voller Freude ihr neues Kleid angezogen hatte, betrat sie jetzt, am Abend, aufgelöst in Tränen, ohne einen Blick um sich zu werfen. Hinunter wollte sie nicht—da saßen Matrosen und andere Gäste; sie zog ihr Konfirmationskleid aus und saß auf ihrem Bett bis tief in die Nacht hinein. Erwachsensein—das schien ihr das Unglückseligste auf der ganzen Welt!
Viertes Kapitel
Eines schönen Tages, bald nach der Konfirmation, ging Petra zu Ödegaards Schwestern hinüber; aber sie merkte gleich, daß das ein Fehlgriff von ihm gewesen war. Der Propst tat, als sei sie Luft, und die Töchter, beide älter als Ödegaard, waren mehr als steif. Sie begnügten sich damit, ihr kurz und knapp mitzuteilen, was der Bruder über sie bestimmt habe. Sie solle den ganzen Vormittag in einem Haus außerhalb der Stadt die Haushaltung erlernen, und nachmittags in die Nähschule gehen; schlafen, frühstücken und Abendbrot essen solle sie zu Hause. Sie tat, wie ihr befohlen war, und schickte sich ganz gut darein, solang ihr die Sache neu war, aber nach und nach, und besonders als es Sommer wurde, fing das Ding sie zu langweilen an. Sonst um diese Zeit hatte sie ganze Tage lang droben im Walde gesessen und in ihren Büchern gelesen, den Büchern, die sie jetzt schmerzlich vermißte, wie sie Ödegaard selbst und den Verkehr mit ihm vermißte. Die Folge war, daß sie sich ihren Verkehr suchte, wo sie ihn eben fand. Um diese Zeit nämlich trat in die Nähschule ein junges Mädchen ein, das Lise Let hieß; das heißt Lise hieß sie—aber nicht Let; Let hieß ein junger Seekadett, der in den Weihnachtsferien zu Hause gewesen war und sich beim Schlittschuhlaufen mit ihr verlobt hatte, als sie noch ein Schulmädel war. Lise wollte Gift drauf nehmen, daß das nicht wahr sei, und fing zu weinen an, sobald man überhaupt darauf anspielte; aber trotzdem blieb der Name an ihr hängen: Lise Let. Die kleine zierliche Lise Let weinte oft und lachte oft; doch ob sie weinte oder lachte—immer ging ihr Liebe im Kopf herum. Ein Bienenschwarm von Gedanken, neuen, seltsamen Gedanken, füllte bald die Nähschule. Streckte eine Hand sich nach der Zwirnrolle aus—gleich war es ein Heiratsantrag und die Rolle sagte entweder ja oder gab einen Korb; die Nadel verlobte sich mit dem Faden, und der Faden opferte sich, Stich um Stich, für die Grausame; wer sich stach, vergoß sein Herzblut; wer die Nadel wechselte, war treulos. Flüsterten zwei Mädchen miteinander, so hatten sie sich immer etwas ganz Besonderes zu sagen; bald flüsterten noch zwei und noch zwei; jede hatte ihre Vertraute,—tausend Heimlichkeiten schwebten in der Luft; es war nicht auszuhalten.
Eines Nachmittags in der Dämmerung, in einem ganz feinen Regen,—Rieselregen nennt man ihn—war Petra mit einem großen Umschlagtuch überm Kopf vor der Tür ihres Hauses und lugte in den Flur hinein, wo ein junger Matrose stand und einen Walzer pfiff. "Du—Gunnar—wollen wir einen Spaziergang machen?"—"Es regnet doch!"—"Bah, das bißchen Regen!"—Sie gingen bis zu einem kleinen Haus oben am Berge. "Kauf' mir ein paar Kuchen—von denen mit Schlagsahne drauf—ja?"—"Immer willst Du auch Kuchen!"—"Mit Schlagsahne drauf!"—Er ging und holte ihr ein paar. Sie streckte die eine Hand unter dem Tuch hervor, nahm die Kuchen und ging schmausend weiter. Als sie hoch oben über der Stadt standen, bot sie ihm ein Stück Kuchen an und sagte: "Du, Gunnar, wir zwei haben uns doch immer so gern leiden mögen; immer hab' ich Dich am liebsten mögen von all den Jungens. Glaubst es nicht? Doch, ganz sicher, Gunnar! Und jetzt bist Du zweiter Steuermann und führst vielleicht schon bald ein eigenes Schiff. Ich finde, Du müßtest Dich jetzt verloben… Nanu? Magst Du keinen Kuchen?"—"Danke! Ich kaue lieber Tabak."—"Also—was sagst Du dazu?"—"Oh, das hat keine Eile!"—"Keine Eile? Übermorgen gehst Du doch wieder fort!"—"Na ja … ich komm' doch wieder!"—"Aber ob ich dann Zeit hab', ist ziemlich zweifelhaft; wer weiß, wo ich dann bin!"—"Also mit Dir soll ich mich verloben?"—"Aber natürlich, Gunnar. Mit wem denn sonst? Du bist wirklich zu dumm, darum bist Du auch nichts als ein Matrose!"—"Tut mir gar nicht leid! Matrose sein, das ist famos!"—"Freilich—Deine Mutter hat ja ein Schiff. Na, was sagst Du also? Schrecklich, wie schwerfällig Du bist!"—"Was soll ich denn sagen?"—"Was Du sagen sollst? Hahaha!… Willst mich am Ende gar nicht? Was?"—"Ach, Petra! das weißt Du ja nur zu gut! Aber ich glaube—man kann sich nicht auf Dich verlassen!"—"Doch, doch, Gunnar! Ich bin Dir ganz, ganz gewiß treu!"—Er blieb einen Augenblick stehen: "Laß Dich mal ansehen, Petra!"—"Warum?"—"Ich will sehen, ob Du es auch wirklich meinst."—"Denkst Du etwa, ich mache Unsinn?" Sie schlug erzürnt ihr Tuch zurück.—"Ja, Petra—wenn es also ganz im vollen Ernst gelten soll, dann gib mir einen Kuß drauf. Da weiß man doch, was man hat."—"Bist Du verrückt?" sie schlug das Tuch wieder zusammen und ging weiter.—"So warte doch, Petra! Das verstehst Du nur nicht. Wenn wir wirklich Liebesleute sind—"—"Ach, Blödsinn!"—"Na, hör' mal, da muß ich doch wohl wissen, was der Brauch ist, scheint mir; denn was Lebenserfahrung anbelangt—da bin ich Dir zwanzigmal über. Wenn Du bloß bedenkst, was ich alles gesehen habe—"—"Bah, Du hast gesehen wie ein Schafskopf sieht, und schwatzt, wie Du gesehen hast!"—"So? Und was verstehst denn Du unter Liebesleuten, wenn man fragen darf? Was? Bergauf und bergab hintereinander herrennen, darin besteht's doch wahrhaftig nicht!"—"Nein, das stimmt!" lachte sie und blieb stehen. "Also hör' mal zu, Du! Während wir uns ein bißchen verschnaufen—puh!—will ich Dir sagen, wie Liebesleute sich benehmen. Solang Du hier bist in der Stadt, mußt Du jeden Abend vor der Nähschule auf mich warten und mich heimbegleiten bis zur Haustür, und wenn ich sonst irgendwo bin, mußt Du auf der Straße warten, bis ich komme. Wenn Du wieder fort bist, mußt Du mir schreiben und mir hübsche Sachen kaufen und schicken. Und—ja, richtig: ein paar Ringe, der eine mit meinem und der andere mit Deinem Namen und mit Jahreszahl und Datum müssen wir uns schenken; aber ich habe kein Geld, also mußt Du sie alle beide kaufen."—"Das will ich schon, aber—"—"Was gibt's denn nun wieder für ein Aber?"—"Herrgott, ich meine ja nur—dazu muß ich doch das Maß von Deinen Fingern haben."—"Schön! Das sollst Du gleich haben." Sie riß einen Grashalm ab, maß und biß ab. "Da! wirf ihn aber nicht weg!"—Er legte den Halm in ein Stückchen Papier und das Papier in sein Notizbuch; sie sah zu, bis das Buch wieder sicher eingesteckt war.—"So, jetzt wollen wir gehen; das Herumgestehe hier hab' ich satt!"—"Hör' mal, Petra, ich finde wirklich, die Geschichte ist ein bißchen—dürftig!"—"Gut, wenn Du nicht willst, mein Junge, mir soll's egal sein!"—"Natürlich will ich! So hab' ich's nicht gemeint;—aber darf ich denn nicht einmal wenigstens Deine Hand nehmen?"—"Wozu denn?"—"Damit es gewiß ist, daß wir nun wirklich verlobt sind."—"Solch ein Blödsinn! Ist es denn darum gewisser, wenn man einander bei der Hand faßt?—Übrigens—Du kannst meine Hand schon haben! Da ist sie! Nein, mein Junge—nicht drücken—das bitt' ich mir aus!"—Sie versteckte ihre Hand wieder unter dem Tuch; aber dann hob sie plötzlich das Tuch mit beiden Händen, so daß das Gesicht ganz zum Vorschein kam: "Wenn Du's einer Menschenseele erzählst, Gunnar, so sag' ich, es ist nicht wahr! Daß Du's nur weißt!" Und sie lachte und lief den Berg hinunter. Nach einer Weile blieb sie stehen und sagte: "Morgen ist die Nähstunde erst um neun Uhr aus. Dann kannst Du mich hinterm Garten erwarten, hörst Du?"—"Schön."—"So, und jetzt mußt Du gehen."—"Willst Du mir nicht einmal zum Abschied die Hand geben?"—"Ich weiß gar nicht, was Du nur immer mit der dummen Hand willst! Nein, jetzt kriegst Du sie erst recht nicht.—Adieu!" und sie lief davon.
Am nächsten Abend wußte sie es so einzurichten, daß sie als die letzte die Schule verließ. Es war fast zehn Uhr, als sie ging; wie sie jedoch vor den Garten kam,——kein Gunnar! Auf alles mögliche Pech hatte sie sich gefaßt gemacht; nur nicht darauf. Sie war so beleidigt, daß sie jetzt selber wartete, bloß damit sie's ihm ordentlich "geben" konnte, wenn er endlich kam. Übrigens hatte sie Unterhaltung genug, während sie hinter dem Garten auf und ab spazierte. Der kaufmännische Gesangverein hatte nämlich soeben in einem benachbarten Haus bei offenen Fenstern seine Probe begonnen. Die Klänge eines spanischen Liedes lockten in der milden Abendluft ihre Gedanken so lange, bis sie selbst in Spanien war und von offenem Altan herab ihr Lob singen hörte. Spanien war ihre ganze Sehnsucht; Sommer für Sommer lagen im Hafen die dunklen spanischen Schiffe, klangen auf den Gassen spanische Lieder, und in Ödegaards Zimmer hingen an der Wand viele schöne Bilder von Spanien. Wer weiß—vielleicht war er jetzt gerade dort, und sie war bei ihm! Aber sie wurde sehr plötzlich wieder heimgerufen; denn dort hinter dem Apfelbaum kam endlich Gunnar hervorgestürzt; sie eilte auf ihn zu—und da war es gar nicht Gunnar, sondern der von Spanien zurückgekehrte helle Hut auf dem hellen Haar. "Hahaha!" lachte das helle Lachen. "Sie haben mich wohl für jemand anders gehalten?" Sie leugnete hastig, voll Eifer, und rannte wütend davon. Aber er lief ihr nach, wobei er während des Laufens unausgesetzt auf sie einredete, und zwar ungemein schnell und mit der halb verwischten Aussprache, wie sie Leuten, die gewöhnt sind, mehrere Sprachen zu sprechen, eigen ist. "Oh, ich komme schon mit! Ich bin ein ausgezeichneter Läufer! Es hilft Ihnen gar nichts,—ich muß mit Ihnen reden. Heut ist's der achte Abend, daß ich hier auf Sie warte!"—"Der achte Abend!"—"Ja, der achte Abend… Hahaha!… Und ich würde mit Freuden noch acht Abende hier warten: denn wir beide sind wie für einander geschaffen, nicht wahr? Es hilft Ihnen nichts. Ich lasse Sie nicht fort, denn jetzt sind Sie müde, das sehe ich!"—"Nein, ich bin nicht müde!"—"O doch!"—"Nein!"—"Doch!"— … "So sagen Sie doch was, wenn Sie nicht müde sind!"—"Hahaha!"—"Hahaha! Das nenn' ich nicht: etwas sagen!"—Und dann blieben sie stehen. Ein paar rasche Worte flogen hin und her—halb im Scherz, halb im Ernst; darauf stimmte er ein Loblied auf Spanien an, ein Bild jagte das andere. Zuletzt schimpfte er auf das elende Nest hier. Dem ersten folgte Petra mit leuchtenden Augen, das zweite sauste an ihren Ohren vorüber, während ihre Blicke an einer goldenen Kette auf- und abglitten, die er doppelt um den Hals geschlungen trug. "Ja, die," sagte er rasch und zog das Ende der Kette, an dem ein Kreuz befestigt war, hervor. "Sehen Sie, die hab' ich heut Abend umgetan, um sie im Gesangverein zu zeigen; die ist aus Spanien. Ich muß Ihnen ihre Geschichte erzählen." Und er erzählte: "Als ich in Südspanien war, besuchte ich einmal ein Schützenfest und gewann die Kette als Preis. Überreicht wurde sie mir mit folgenden Worten: Nehmen Sie diese Kette mit nach Norwegen und übergeben Sie sie als ehrerbietige Huldigung spanischer Kavaliere der schönsten Frau ihrer Heimat! Beifallsrufe und Fanfaren, Fahnen schwenken—, die Kavaliere klatschen und ich empfange den Preis!"—"Gott, wie entzückend!" rief Petra. Vor ihren Augen erstrahlte sofort das spanische Fest mit seinen spanischen Farben und Liedern; braun standen die Spanier in der Abendsonne unter den Weinlauben und sandten ihre Gedanken aus zur schönsten Frau der Schneelande. Trotz seiner Einbildung und wunderlichen Wichtigtuerei war er ein gutmütiger junger Kerl; er blieb neben ihr stehen und fuhr fort, zu erzählen. Jedes neue Bild steigerte ihre Sehnsucht; ganz entrückt in jenes Land der Wunder, begann sie, das spanische Lied zu summen, das sie vorhin gehört hatte, und ganz allmählich die Füße im Takt dazu zu bewegen. "Wie! Sie können spanische Tänze tanzen?" rief er aus. "Ja!" summte sie im Rhythmus des Tanzes und knipste mit den Fingern, um die Kastagnetten nachzuahmen; so hatte sie die spanischen Matrosen tanzen sehen. "Ihnen gebührt der Preis der spanischen Kavaliere!" rief er, wie von einem lichten Gedanken entflammt. "Sie sind das schönste Weib, das ich je gesehen habe!" Und eh sie noch begriff, was er meinte, hatte er die goldene Kette vom Hals genommen und sie leichthändig mehrere Male um den ihren gewunden. Als sie dann zur Besinnung kam, war ihr Gesicht von tiefer Schamröte übergossen und die Tränen wollten hervorstürzen, so daß jetzt ihn, der von einem Staunen ins andere gefallen war, die größte Beschämung ergriff über das, was er getan hatte. Er wußte nicht, was er eigentlich wollte, er fühlte nur, daß er gehen mußte, und er ging.
Noch um Mitternacht stand sie am offenen Fenster ihres Dachstübchens, die Kette in der Hand. Weich lag die Spätsommernacht über Stadt und Fjord und den fernen Bergen. Von der Straße herauf tönte wieder das spanische Lied; der Verein hatte Yngve Vold nach Hause begleitet. Wort für Wort war zu hören; es handelte von einem schönen Kranz. Nur zwei Stimmen sangen die Worte, die andern summten mit dem Mund die Guitarrebegleitung dazu:
Nimm hin den Kranz, er ist für dich,
Nimm hin den Kranz und denk an mich!
Hier ist das innigste
Grün für die Minnigste,
Knospe, die zärteste,
Für die Begehrteste,
Blüte, die prächtigste,
Hier für die Mächtigste,
Seltene Stengelein
Hier für das Engelein.
Nimm hin den Kranz, er ist für dich,
Nimm hin den Kranz und denk an mich!
Als sie am andern Morgen die Augen aufschlug, kam sie aus einem über und über von Sonne durchleuchteten Wald, alle Bäume waren ein Goldregen, und überall hingen die langen, lichten Dolden herab, und berührten sie fast, wenn sie vorüberstrich. Sofort fiel ihr die Kette ein; sie nahm die Kette und hing sie sich übers Hemd. Dann legte sie ein schwarzes Tuch über das Hemd und die Kette darüber; denn von Schwarz hob sie sich besser ab. Aufrecht im Bett sitzend, spiegelte sie sich in einem kleinen Handspiegel: ob sie wirklich so schön war? Sie stand auf, um ihr Haar zu flechten und dann wieder in den Spiegel zu sehen, aber da fiel ihr die Mutter ein, die von allem noch nichts wußte, und sie beeilte sich, fertig zu werden; sie mußte doch schnell hinunter und erzählen. Doch als sie fertig war und sich eben die Kette um den Hals hängen wollte, fuhr ihr der Gedanke durch den Kopf, was wohl die Mutter sagen würde, was überhaupt die Leute sagen würden, und was sie antworten solle, wenn man sie frage, woher sie die kostbare Kette habe. Die Frage war das natürlichste Ding von der Welt, und sie fiel ihr darum schwer und immer schwerer aufs Herz, schließlich holte sie eine kleine Schachtel hervor, legte die Kette hinein, steckte die Schachtel in die Tasche—und fühlte sich zum erstenmal in ihrem Leben arm.
An diesem Vormittag ging sie nicht in die Nähstunde. Oberhalb der Stadt, an der Stelle, wo sie die Kette bekommen hatte, setzte sie sich hin, die Kette in der Hand und mit einem Gefühl, als habe sie die Kette gestohlen.
Am Abend wartete sie hinterm Garten noch länger auf Yngve Vold, als sie am Abend vorher auf Gunnar gewartet hatte; sie wollte ihm die Kette zurückgeben. Aber wie das Schiff, mit dem Gunnar fuhr, am Tage vorher unerwartet die Anker gelichtet hatte, weil ihm in der Nachbarstadt eine besonders gute Fracht angeboten war, so hatte auch Yngve Vold, dem das Schiff gehörte, in derselben Angelegenheit heute verreisen müssen. Da er gleichzeitig noch ein paar andere Geschäfte abzuwickeln hatte, blieb er drei Wochen fort.
Während dieser drei Wochen war die Kette nach und nach aus der Tasche in die Kommodenschieblade, von dort in einen Briefumschlag und der Briefumschlag in ein geheimes Fach gewandert. Und Petra selbst war von einer demütigenden Entdeckung zur andern gelangt. Zum ersten Male war sie sich in vollem Umfang des Abstandes bewußt, der sie von den vornehmen Damen der Stadt trennte. Die hätten die Kette tragen können, ohne daß irgendeiner sie nach dem Warum und Woher gefragt hätte. Aber einer solchen Dame hätte Yngve Vold die Kette gar nicht anzubieten gewagt, ohne ihr zugleich seine Hand anzubieten; so etwas wagte er eben nur dem Fischermädel gegenüber. Wenn er ihr etwas schenken wollte, warum da nicht etwas, das sie gebrauchen konnte? Aber er hatte sie nur um so bitterer verhöhnen wollen, indem er ihr etwas gab, das sie überhaupt nicht tragen konnte. Die Geschichte mit der "Schönsten" war natürlich erdichtet; denn hätte er ihr die Kette aus diesem Grunde zuerkannt, so wäre er nicht heimlich, bei Nacht und Nebel, gekommen.—Zorn und Scham bohrten sich um so tiefer in ihr fest, als sie es sich längst abgewöhnt hatte, sich einem Menschen anzuvertrauen. Kein Wunder daher, daß sie beim erstenmal, als sie den Menschen wieder traf, diesen Menschen, um den diese empörten und beschämenden Gedanken kreisten, so heftig errötete, daß er es mißdeuten mußte, und dann—eben weil sie das fühlte—noch tiefer errötete. Sie lief eiligst wieder nach Hause, riß die Kette aus dem Versteck und setzte sich, obgleich es noch helllichter Tag war, oben über der Stadt hin, um ihn zu erwarten. Jawohl, jetzt sollte er sie wiederhaben!
Sie war ganz sicher, daß er kommen werde; denn auch er war, als er sie sah, rot geworden, und dabei war er die ganze Zeit über fort gewesen. Aber bald begannen gerade diese Gedanken zu seinen Gunsten zu reden. Wenn sie ihm gleichgültig gewesen wäre, wäre er nicht so rot geworden. Wenn er früher nach Hause gekommen wäre, so wäre er auch schon eher dagewesen.
Es begann sachte zu dämmern; in diesen letzten drei Wochen waren die Tage schnell kürzer geworden. Mit der Dunkelheit aber wandeln sich oft unsere Gedanken. Sie saß dicht überm Weg, zwischen den Bäumen; sie konnte sehen, ohne daß man sie sah. Als das eine Weile so fortgegangen war, und er immer noch nicht kam, wollten widerstreitende Empfindungen in ihr auflodern; bald zornig, bald angstvoll lauschte sie. Sie hörte jeden, der vorüberging, hörte ihn lang, eh sie ihn sah. Er war es nie. Jeder Vogel, der im Halbschlummer zwischen den Blättern hin- und herschlüpfte, erschreckte sie—so voll Spannung lauschte sie. Jeder Laut von der Stadt her, jeder Ruf lockte sie. Ein großes Schiff lichtete, beim Klang eines Matrosenliedes, die Anker; noch zur Nacht sollte es hinausbugsiert werden, um die erste Morgenbrise zu benützen. Oh, wenn sie hätte mit hinaus können, aufs weite Meer, wohin ihr Sehnen stand! Das Matrosenlied wurde ihr eigenes Lied—die klingenden Rucke am Spill hoben sie empor—wozu? wohin?—Da stand der helle Hut mitten im Weg, gerade vor ihr! Sie sprang auf und lief ohne weiteres davon, und während sie lief, fiel ihr ein, sie hätte nicht davonlaufen sollen. Fehler auf Fehler! Sie blieb stehen. Als er zwischen den Bäumen, wo sie stand, auf sie zukam, atmete sie heftig, so daß er jeden Atemzug hören konnte, und durch dieselbe Macht, die sie das erstemal in ihrer Ausgelassenheit über ihn gehabt hatte, beherrschte sie ihn jetzt in ihrer Furcht. Er sah sehr verlegen, ja verwirrt aus und flüsterte: "Haben Sie keine Angst!"
Aber er sah, wie sie zitterte. Da wollte er sie zutraulich machen, indem er sie fest bei der Hand ergriff; aber bei der ersten Berührung seiner Hand sprang sie auf wie von einer Flamme verbrannt,—und wieder war sie fort, während er stehen blieb.
Weit lief sie nicht; die Luft ging ihr aus. In ihren Schläfen hämmerte und brannte es, die Brust wollte ihr zerspringen—sie preßte die Hände dagegen und lauschte. Sie hörte Tritte im Gras, ein Rascheln im Laub,—er kam, kam gerade auf sie zu—er sah sie—nein, er sah sie nicht!—Doch, er sah sie!… Nein, er ging vorüber! Sie hatte keine Angst,—das war es nicht; aber alles an ihr war in Aufruhr, und als sie sich in Sicherheit fühlte, verlor sie mit der Spannung auch ihre Kraft und sank erschöpft und todesmatt um.
Erst nach geraumer Zeit erhob sie sich wieder und schritt langsam den Berg hinab, bald stehenbleibend, bald weiter gehend, als habe sie kein Ziel. Als sie den Weg wieder erreicht hatte, saß er da und wartete geduldig. Jetzt stand er auf, sie hatte ihn nicht gesehen; sie ging wie im Nebel, nicht ein Wort entschlüpfte ihr, sie regte sich auch nicht; sie tat bloß die Hände vor die Augen und weinte. Das überwältigte Yngve Vold derart, daß seine sonst so rührige Zunge stillstand. Und dann sagte er mit eigentümlicher Bestimmtheit: "Heut noch spreche ich mit meiner Mutter; morgen muß alles in Ordnung sein. In ein paar Tagen gehst Du ins Ausland, und nachher wirst Du meine Frau." Er wartete auf eine Antwort, er wartete wenigstens, sie werde aufblicken; aber sie blickte nicht auf. Er deutete das auf seine Weise: "Du antwortest nicht? Kannst nicht? Gut! Verlaß Dich auf mich; denn fortan bist Du mein! Gute Nacht!" Und er ging.
Sie blieb zurück, wie in einem Nebel; eine leise Angst wollte sich dazwischen drängen und den Nebel zerteilen; aber wieder schloß er sich.
So stark Yngve Vold diese drei Wochen hindurch ihre Gedanken beschäftigt hatte, so bereit war sie jetzt, in plötzlicher Wandlung dieses neue Wunder in eine neue Phantasiekette einzureihen. Er war der reichste Mann der Stadt, aus der ältesten Familie, und er wollte sie über alle Rücksichten hinweg zu sich emporheben! Das war etwas, so überraschend verschieden von dem, was sie sich in einer langen Zeit des Leidens und der Empörung gedacht hatte, daß schon allein das sie glückselig machen mußte! Aber immer strahlender wurde ihr Glück, je mehr sie sich die neuen, in jeder Beziehung fabelhaften Verhältnisse klar machte. Sie sah sich allen andern gleichgestellt und am Ziel ihres unklaren Sehnens. Und als Höchstes sah sie Yngve Volds größtes Schiff an ihrem Hochzeitstage als Flaggschiff im Hafen liegen; sie sah, wie es unter Ehrensalven und Feuerwerk das junge Paar an Bord nahm und es nach Spanien trug, wo die Hochzeitssonne glühte.
* * * * *
Als sie am andern Morgen erwachte, kam das Mädchen herein und sagte, es sei halb Zwölf. Petra empfand einen gewaltigen Hunger; sie aß, aß immer noch mehr, der Kopf tat ihr weh, sie war todmüde und schlief wieder ein. Als sie gegen drei Uhr nachmittags aufs neue erwachte, fühlte sie sich wohler. Die Mutter kam herauf und meinte, sie habe sich wahrscheinlich eine Krankheit weggeschlafen; so sei auch sie selbst immer gewesen. Aber jetzt müsse sie aufstehen, es sei Zeit für die Nähstunde. Petra setzte sich im Bett auf und stützte den Kopf auf den Arm; ohne aufzublicken, antwortete sie, sie gehe nicht mehr in die Nähstunde. Sie wird noch ein bißchen fiebrig sein! dachte die Mutter und ging hinunter, um ein Paket und einen Brief heraufzuholen, die ein Schiffsjunge soeben gebracht hatte. Also schon Geschenke! Petra, die sich wieder hingelegt hatte, fuhr hastig in die Höhe und öffnete, sobald sie allein war, mit einer gewissen Feierlichkeit zuerst das Paket. Es enthielt—ein Paar Pariser Damenstiefelchen! Ein bißchen enttäuscht wollte sie die Dinger gerade wegstellen, als sie merkte, daß sie sich vorn an den Zehen schwer anfühlten. Sie fuhr mit der Hand hinein und zog aus dem einen ein kleines, in Seidenpapier gewickeltes Päckchen:—ein goldenes Armband!—aus dem andern ebenfalls ein sorgfältig umhülltes Päckchen—ein Paar Pariser Handschuhe! Und aus dem rechten Handschuh zog sie wiederum ein Papierknäuel, das zwei glatte goldene Ringe barg. "Schon!" dachte Petra. Ihr Herz klopfte; sie sah nach der Inschrift der Ringe und las auch wirklich in dem einen: "Petra", samt Jahreszahl und Datum, und in dem andern—"Gunnar". Sie erbleichte, warf die Ringe und das ganze Paket zu Boden, als habe sie sich daran verbrannt, und riß den Brief auf. Er war aus Calais datiert und lautete:
"Liebe Petra!
Nachdem wir hier angekommen sind, vom 51. bis zum 54. Breitegrad mit günstigem Wind, und später die ganze Fahrt über bis hierher in den Hafen mit heftigem Beißwind, was ungewöhnlich ist sogar für bessere Schiffe als das unsere, das ein stolzer Segler ist. Aber jetzt sollst Du hören, daß ich den ganzen Weg über an Dich gedacht habe und an das, was zwischen uns beiden vorgefallen ist, und ist recht ärgerlich, daß ich nicht ordentlich Abschied nehmen konnte von Dir, weshalb ich vor Ärger an Bord ging, habe Dich aber seitdem nie vergessen, außer ab und zu einmal; denn ein Seemann hat es schwer. Aber jetzt sind wir hier und ich habe meine ganze Heuer für Geschenke für Dich ausgegeben, wie Du mir gesagt hast, und auch das Geld, das Mutter mir gegeben hat; jetzt habe ich also nichts mehr. Aber wenn ich Urlaub bekomme, bin ich ebenso schnell bei Dir wie die Geschenke; denn so lang es heimlich ist, ist man nie sicher vor anderen, besonders vor den jungen Burschen, von denen sich viele rumtreiben. Aber ich will meiner Sache sicher sein, daß keiner eine Entschuldigung hat, sondern weiß, daß er sich vor mir in acht nehmen muß. Du könntest freilich was Besseres kriegen als mich; denn Du kannst jeden kriegen, den Du willst; aber einen treueren kriegst Du nie; und das bin ich. Jetzt will ich schließen, denn ich habe schon zwei Bogen voll geschrieben, und meine Buchstaben werden so groß; Briefschreiben ist mir das Schrecklichste, was ich weiß, aber ich schreibe trotzdem, wenn Du es willst. Und nun will ich Dir zum Schluß nur sagen, daß es mir Ernst war; denn wenn es nicht Ernst ist, so war es eine große Sünde, und kann viele Menschen ins Unglück stürzen.
Gunnar Ask,
Untersteuermann auf der Brigg
'Die norwegische Verfassung.'"
Eine heftige Angst packte sie; im Handumdrehen war sie aus dem Bett und angezogen. Es trieb sie ins Freie, als ließe sich draußen irgendwo Rat finden; alles war plötzlich unklar, ungewiß, gefahrdrohend geworden. Je mehr sie grübelte, desto mehr verwirrten sich ihre Gedanken; irgend jemand mußte sie entwirren, sonst wurde sie nicht damit fertig. Aber wem sollte sie sich anvertrauen? Da gab es nur einen Menschen—die Mutter. Als sie nach langem inneren Kampf vor ihr in der Küche stand, angstvoll, dem Weinen nah, aber fest in ihrem Entschluß, volles Vertrauen zu zeigen, um volle Hilfe zu empfangen, sagte die Mutter, ohne sich umzudrehen und daher auch ohne Petras Gesichtsausdruck zu bemerken: "Eben ist er hier gewesen;—er ist wieder da."—"Wer?"—flüsterte Petra und griff nach einer Stütze; war Gunnar wirklich schon wieder da, so war es mit aller Hoffnung vorbei. Sie kannte Gunnar; er war schwerfällig und gutmütig; wenn er aber einmal in Wut geriet, war er wie rasend. "Du sollst gleich hinkommen, hat er gesagt."—"Hinkommen?" wiederholte Petra zitternd; sie dachte sich sofort, daß er seiner Mutter alles gesagt habe; und was sollte nun werden?—"Ja, ins Pfarrhaus!" sagte die Mutter.—"Ins Pfarrhaus? Ödegaard ist wieder da?"—Jetzt drehte sich die Mutter um. "Freilich—wer denn sonst?"—"Ödegaard!" jubelte Petra, und ein Sturm der Freude blies in einem Nu die Luft rein. "Ödegaard ist wieder da, Ödegaard! O Gott im Himmel, er ist wieder da!" Und schon war sie zur Tür hinaus und über alle Berge. Sie stürmte davon, sie lachte, sie schrie. Er war es, er allein, der ihr not tat! Wäre er daheim gewesen, das ganze Unheil wäre nicht geschehen! Bei ihm war sie geborgen. Beim bloßen Gedanken an seine edlen, klaren Züge, seine milde Stimme, oder auch nur an die stillen, bilderreichen Zimmer, Räume, die er bewohnte, kam sie in friedlicheren Takt und fühlte sich wieder sicher. Sie ließ sich Zeit und sammelte sich. Stadt und Land erstrahlten im sinkenden Herbstabend; zumal der Fjord lag in wunderbarem Glanz; draußen im Sund wirbelte der letzte ferne Rauch des Dampfers, der Ödegaard gebracht hatte. Ach, nur die Gewißheit, daß er wieder da sei, machte sie gut, gesund, stark! Sie betete zu Gott, ihr zu helfen, daß Ödegaard sie nie mehr verlassen möge! Und gerade als sie sich in dieser Hoffnung gehoben fühlte, sieht sie ihn lächelnd auf sich zukommen. Er hatte gewußt, welchen Weg sie kommen würde, und war ihr entgegengegangen! Das rührte sie; sie sprang auf ihn zu, faßte seine beiden Hände und küßte sie. Er wurde verlegen. Als er weiter hinten jemand schreiten sah, zog er sie vom Weg hinauf unter die Bäume. Er hielt ihre Hände zwischen den seinen, und sie sagte nur immerzu: "Wie herrlich, daß Sie wieder da sind! Ich kann's gar nicht glauben, daß Sie's wirklich sind! Oh, Sie dürfen nie, nie wieder fort! Verlassen Sie mich nicht wieder, ach bitte, verlassen Sie mich nicht!" Dabei stürzten ihr die Tränen aus den Augen. Er zog sanft ihren Kopf an sich, wie um ihre Tränen zu verdecken und sie zu beruhigen; ihm selber war es eine Notwendigkeit, daß sie ruhiger wurde. Sie aber schmiegte sich an ihn wie der Vogel unter den Flügel, der sich über ihn breitet, und wollte gar nicht wieder heraus. Überwältigt von diesem Vertrauen, legte er den Arm um sie, wie um ihr den Schutz, den sie suchte, zu gewähren; kaum jedoch fühlte sie das, so hob sie ihr verweintes Gesicht zu ihm empor, ihre Augen begegneten den seinen, und was in einem Blick wechseln kann, wenn Reue begegnet der Liebe, Dankbarkeit begegnet der Freude des Gebers und das Ja dem Ja,—das blitzte in rascher Reihenfolge auf. Er nahm ihren Kopf zwischen seine beiden Hände und drückte seine Lippen auf die ihren. Er hatte früh seine Mutter verloren; er küßte zum erstenmal in seinem Leben, und auch bei ihr war es so. Keins vermochte sich vom andern zu lösen, und als es dennoch geschah, war es nur, um wieder einander entgegenzusinken. Er bebte, sie aber strahlte und glühte, sie warf die Arme um seinen Hals und hing sich an ihn wie ein Kind. Und als sie sich setzten, und sie seine Hände, sein Haar, seine Brustnadel, sein Halstuch, alles was sie sonst nur ehrfurchtsvoll aus der Ferne betrachtet hatte, anrühren durfte, und als er sie bat, "Du" zu sagen und nicht "Sie", und sie das nicht konnte, und als er ihr erzählen wollte, wie reich sie sein armes Leben vom ersten Augenblick an gemacht habe, wie lange er dagegen angekämpft habe, um sie nicht zu hemmen, um sich nicht auf diese Weise bezahlt zu machen, und als er entdeckte, daß sie nicht imstande sei, auch nur ein Wort von dem, was er sagte, zu fassen oder zu begreifen, und er selbst auch keinen Sinn und Verstand mehr darin fand; als sie dann auf der Stelle mit ihm gehen wollte, und er sie lachend bitten mußte, noch ein paar Tage zu warten, dann wollten sie zusammen weit fort ziehen, weg von allem hier—da fühlten sie, wie sie so zwischen den Bäumen saßen, vor sich Fjord und Berg im Abendsonnenglanz, während fern ein Waldhorn sang und klang—da fühlten sie, da sprachen sie es aus: das ist das Glück.
Der ersten Begegnung Süßigkeit,
Sie ist wie ein Sang auf den Fluten,
Sie ist wie ein Sang auf grüner Heid',
Wie der Sonne letztes Gluten,—
Sie sind wie ein Waldhorn auf öder Flur,
Die tönenden Augenblicke,
In denen ein Wunder die Natur
Verschmelzt mit unserm Geschicke.
Fünftes Kapitel
Am nächsten Morgen saß Petra halb angekleidet in ihrem Stübchen; weiter kam sie den ganzen Tag über nicht. So oft sie auch den Versuch machte, immer wieder sanken ihr die Arme in den Schoß. Wie vollreife Ähren, wie schwere Glockenblumen auf dem Feld beugten sich ihre Gedanken. Stille, Sicherheit und wogende Luftgebilde schwebten über den lichten Schlössern, in denen sie hauste. Wieder durchlebte sie die gestrige Begegnung, jedes Wort, jeden Blick, jeden Händedruck, jeden Kuß. Sie wollte sich den ganzen Verlauf, von der ersten Begegnung bis zum Abschied, wieder vergegenwärtigen, aber sie kam nie damit zu Ende. Denn jede einzelne Erinnerung verdämmerte in blauen Traum, und alle Träume kamen mit neuer Verheißung zurück. Und so süß diese Verheißung auch war, Petra mußte sie zurückdrängen, um den Faden der Erinnerung da wieder aufzunehmen, wo er ihr entglitten war; aber kaum hatte sie ihn, verlor sie sich wieder ins Wunderbare.
Da sie nicht herunterkam, dachte die Mutter, sie habe, nun Ödegaard zurückgekehrt war, ihre Studien wieder aufgenommen. Sie schickte ihr das Essen hinauf, damit sie den ganzen Tag in Ruhe oben bleiben konnte. Erst gegen Abend stand Petra auf, um sich fertig zu machen. Jetzt ging es ihrer Liebe entgegen! Sie schmückte sich mit dem Besten, was sie hatte, ihrem ganzen Konfirmationsstaat. Glänzend war er nicht; aber das empfand sie erst heute; das eine Stück machte das andere häßlich, bis sie die passenden Stücke zusammengefunden hatte; und dann war das Ganze trotzdem nicht hübsch! Was hätte sie heute nicht darum gegeben, die schönste zu sein. Mit diesem Wort stieg eine Erinnerung in ihr auf, die sie mit einer Handbewegung von sich wies; nichts, nichts durfte ihr heute nahen, was sie beunruhigen konnte! Sie selbst bewegte sich ganz still; leise ordnete sie dies und jenes in ihrem Stübchen; denn noch war die Stunde nicht da. Sie öffnete das Fenster und sah hinaus; rote, warme Wolken lagerten auf den Bergen, aber ein kühlender Luftstrom zog herein und brachte Botschaft vom nahen Wald. "Ich komme, ich komme!" Noch einmal trat sie vor den Spiegel, um ihr bräutliches Glück zu grüßen.
Da hörte sie drunten bei der Mutter Ödegaards Stimme, hörte, wie man ihn nach ihrem Zimmer wies. Er kam, sie zu holen! Eine schamhafte Freude umglühte sie; sie sah sich um, ob auch alles in Ordnung sei, für ihn! Dann ging sie auf die Tür zu.
"Herein!" antwortete sie leise auf das leise Klopfen und trat ein paar
Schritte zurück.
Am selben Morgen hatte man Ödegaard, als er um den Kaffee klingelte, gemeldet, der Kaufmann Yngve Vold habe heute früh schon zweimal nach ihm gefragt. Daß seine Gedanken sich gerade jetzt mit den Ansprüchen eines Fremden befassen sollten, verstimmte ihn; aber ein Mensch, der ihn so früh aufsuchte, mußte wohl ein wichtiges Anliegen haben. Er war auch wirklich kaum angekleidet, als Yngve Vold eintrat. "Sie werden sich wohl wundern, was? Tu' ich selber. Guten Morgen!" Die beiden begrüßten sich, und er legte seinen hellen Hut hin. "Schlafen Sie aber lang! Zweimal bin ich schon hier gewesen. Ich habe etwas Wichtiges auf dem Herzen; ich muß mit Ihnen reden."—"Bitte, nehmen Sie Platz!" Und Ödegaard setzte sich selbst in einen Lehnstuhl. "Danke, danke! Ich gehe lieber auf und ab. Ich kann nicht sitzen—bin zu aufgeregt. Seit vorgestern bin ich rein wie von Sinnen—rein verrückt, nicht mehr und nicht weniger! Und daran sind Sie schuld!"—"Ich?"—"Ja, Sie! Sie haben das Mädchen ausgegraben. Kein Mensch hätte an das Mädel gedacht, kein Mensch hätte es beachtet, wenn Sie nicht gewesen wären. Aber so—in meinem ganzen Leben hab? ich so was—so was Unvergleichliches nicht gesehen,—nie, so wahr ich hier stehe—so was—Sie wissen schon! So was verflixt Kraushaariges, Wunderbares—was? Keine Ruhe hat's mir gelassen! Ich war rein verhext! Wo ich ging und stand—immer war sie da. Ich bin auf Reisen gegangen und bin wiedergekommen—es war mir unmöglich—was? Wußte erst überhaupt nicht, wer sie war—'das Fischermädel', hieß sie. Spanierin, Zigeunerin,—Hexe wäre richtiger gewesen—! Einfach Feuer—Augen, Busen, Haar—was? Funkelt, sprüht, tanzt, lacht, trällert, errötet—Teufelsweib!… Renne ihr nach, verstehen Sie, oben im Wald zwischen den Bäumen—stiller Abend—sie steht da, ich steh' da—dann ein paar Worte, Gesang, Tanz—und da, na ja, da gab ich ihr meine Kette. Hatte, so wahr ich lebe, eine Minute vorher noch mit keinem Gedanken daran gedacht! Das nächste Mal wieder an derselben Stelle, wieder dasselbe Gerenne; sie hatte Angst, und ich,—ja, wollen Sie's glauben?… ich brachte kein Sterbenswörtchen heraus, traute mich nicht, sie anzurühren! Aber als sie dann wiederkam—können Sie sich denken, Mensch?—da macht' ich ihr einen Heiratsantrag! Und eine Sekunde vorher hatt' ich mit keinem Gedanken daran gedacht! Gestern hab' ich mich dann selbst geprüft,—wollte von ihr wegbleiben—aber auf Ehr' und Seligkeit, ich bin verrückt! Ich kann einfach nicht, ich muß bei ihr sein! Wenn ich das Mädel nicht krieg', so schieß' ich mir ohne weiteres eine Kugel vor den Kopf! Sehen Sie, so steht's mit mir. Um meine Mutter scher' ich mich den Teufel, um die Stadt auch—ein Lumpennest, ein elendes Krähwinkel! Sie muß heraus, sehen Sie, heraus, hoch über dies Nest hinaus! Comme il faut soll sie werden, ins Ausland soll sie—Frankreich—Paris—! Ich bezahl's und Sie arrangieren die Sache. Ich könnte ja auch selber mit fort, mich irgendwo draußen festsetzen, weg aus diesem Loch. Aber—der Fisch! Ich möchte was machen aus der Stadt,—das liegt ja und schläft, denkt nicht, spekuliert nicht; aber—der Fisch! Man versteht den Fisch nicht zu behandeln; Spanien, das ganze Ausland beklagt sich; die Sache muß anders angefaßt werden—andere Trocknung, andere Verpackung, alles anders,—das Nest soll in die Höhe—Zug muß ins Geschäft kommen—Millionen soll der Fisch schaffen!—Wo bin ich stehen geblieben? Richtig—Fisch—Fischermädel—das paßt zusammen: Fisch—Fischermädel—hahaha! Also ich zahle,—Sie arrangieren's! Sie wird meine Frau, und dann——"
Weiter kam er nicht. Er hatte während seiner langen Rede gar nicht auf Ödegaard geachtet, der jetzt totenblaß aufsprang und sich mit einem biegsamen spanischen Rohr in der Hand über ihn warf. Das Erstaunen des andern war nicht zu beschreiben; den ersten Schlägen wich er aus. "Nehmen Sie sich in acht! Sie könnten mich treffen!" sagte er.—"Jawohl! Ich treffe! Sehen Sie: spanisch, spanisches Rohr—das paßt auch zusammen!" und die Hiebe regneten auf Schultern, Arme, Hände, das Gesicht herab, wo sie gerade hintrafen. Der andere schoß umher: "Sind Sie verrückt? Mensch, sind Sie toll?" rief er. "Ich will sie ja heiraten! Hören Sie? heiraten!"—"Hinaus!" schrie Ödegaard, als sei er mit seiner Kraft am Rande. Und der Blondkopf stürzte zur Tür hinaus, die Treppe hinunter, fort von diesem Wahnsinnigen;—gleich darauf stand er unten auf der Straße und brüllte hinauf nach seinem hellen Hut. Der wurde ihm durchs Fenster nachgeworfen. Dann war alles still.
"Herein!" antwortete Petra am Abend auf das leise Klopfen und trat ein paar Schritte zurück, um den Geliebten besser sehen zu können, während er eintrat. Wie wenn ein eisiger Wasserstrahl sich über sie ergösse, wie wenn die Erde unter ihren Füßen wiche, so wirkte auf sie das Gesicht, das da in der Tür erschien. Sie taumelte zurück und tastete nach dem Bettpfosten; aber ihr Denken, von Abgrund zu Abgrund gestürzt, versagte; in weniger als einer Sekunde war sie von der Höhe der glückseligsten Braut zur Tiefe der größten Sünderin auf Erden herabgestürzt. Sie hörte es donnern aus diesem Antlitz: in alle Ewigkeit konnte er ihr nicht vergeben!—
"Ich seh' es—Du bist schuldig!" flüsterte er kaum hörbar. Er lehnte sich gegen die Tür und hielt sich an der Klinke fest, als müsse er sonst umsinken. Seine Stimme bebte, und die Tränen rannen ihm übers Gesicht, obwohl sein Antlitz ganz ruhig war.
"Weißt Du auch, was Du getan hast?" Und seine Augen schmetterten sie zu Boden. Sie antwortete nicht—nicht einmal mit Tränen, Ohnmacht—völlige, hoffnungslose Ohnmacht lähmte sie. "Einmal in meinem Leben habe ich meine Seele hingegeben, und er, dem ich sie gab, starb durch meine Schuld. Aus diesem Schmerz konnte nichts mich wieder aufrichten als ein Menschenkind, das mir ganz gehörte und mir eine ganze Seele zurückgab. Das hast Du getan,—und hast es zum Schein getan!" Er hielt inne. Ein paarmal versuchte er vergebens wieder anzusetzen; dann fuhr er mit plötzlichem Ausdruck des Schmerzes fort: "Und Du konntest es übers Herz bringen, alles, was ich in diesen langen Jahren, Gedanken für Gedanken, aufgebaut habe, niederzureißen, als sei es ein Bild von Ton! Kind, Kind! konntest Du nicht verstehen, daß ich in Dir mich selbst wieder aufrichtete? Jetzt ist es vorbei!" Er versuchte seinen Schmerz zu beherrschen.
"Nein, Du bist zu jung, um es zu fassen," begann er wieder. "Du weißt nicht, was Du getan hast.—Aber daß Du mich betrogen hast, das mußt Du doch verstehen.—Sag' mir, was hab' ich Dir getan, daß Du etwas so Grausames fertig bringen konntest? Kind, Kind! Hättest Du es mir wenigstens gestern gesagt! Warum—warum hast Du mich so fürchterlich belogen?"
Sie hörte alles, und alles, was er sagte, war Wahrheit.—Er war nach einem Stuhl am Fenster geschwankt, um seinen Kopf auf den Tisch daneben stützen zu können. Dann stand er wieder auf; es schluchzte in ihm vor Schmerz, und wieder setzte er sich nieder, ganz still. "Und ich, der nicht einmal dazu gut ist, seinem alten Vater zu helfen!" flüsterte er vor sich hin. "Ich kann nicht, ich fühle in mir nicht den Beruf dazu! Darum soll auch mir niemand helfen. Alles soll mir unter den Händen zerbrechen, alles."—Er konnte nicht mehr; sein Haupt sank in seine rechte Hand; die linke hing schlaff herab; er sah aus, als könne er sich überhaupt nicht mehr rühren. Und so blieb er sitzen, ohne ein Wort zu sagen. Da fühlte er etwas Warmes auf seiner herabhängenden Hand. Erschrocken fuhr er zusammen; es war Petras Atem. Sie lag mit gesenktem Kopf neben ihm auf den Knien; jetzt faltete sie die Hände und sah mit einer unbeschreiblichen Gebärde, die um Barmherzigkeit flehte, zu ihm empor. Er blickte zu ihr nieder; keins wandte den Blick ab. Da hob er wie abwehrend die Hand gegen sie, als fühle er bei diesem Blick in seinem Innern eine Stimme der Überzeugung, der er nicht Gehör schenken wollte, und jäh, heftig bückte er sich nach seinem Hut, der zu Boden gefallen war, und eilte zur Tür. Aber noch schneller vertrat sie ihm den Weg, warf sich nieder, umklammerte seine Knie und bohrte ihre Augen in seine—alles ohne einen Laut; aber er sah und fühlte, sie kämpfe um ihr Leben. Da wurde die alte Liebe zu mächtig in ihm; noch einmal sah er sie an mit einem vollen, schmerzlichen Blick, noch einmal umfaßte er mit beiden Händen ihr Haupt. Aber in seiner Brust schluchzte und sang es wie in der Orgel nach dem letzten Zug der Register, wenn nur noch Luft, aber kein Ton mehr in ihr ist. Dann zog er seine Hände zurück und zwar in einer Weise, daß sie fühlen mußte, was er dabei dachte: es war für immer. "Nein, nein!—Du kannst Dich hingeben; aber Du kannst nicht lieben!" Es überwältigte ihn. "Unglückliches Kind, Deine Zukunft kann ich nicht schützen! Gott verzeih Dir, daß Du meine vernichtet hast!" Er ging an ihr vorbei, sie rührte sich nicht. Er öffnete die Tür und schloß sie; sie blieb stumm,—sie hörte ihn die Treppe hinuntergehen, sie hörte seine letzten Schritte auf der Haustreppe, auf dem Wege—da brach der Bann. Sie stieß einen Schrei aus, einen einzigen;—aber darauf eilte die Mutter herbei.
Als Petra wieder zu sich kam, fand sie sich in ihrem Bett, entkleidet und wohl verwahrt; und vor ihr saß die Mutter, die Arme auf die Knie gestemmt, den Kopf in beide Hände gestützt und die Glutaugen fest auf die Tochter gerichtet. "Hast Du jetzt genug bei ihm studiert?" fragte sie. "Hast Du jetzt was gelernt… Was soll denn nun aus Dir werden, he?"—Petras Antwort war ein Strom von Tränen. Lange, sehr lange saß die Mutter da und hörte das Weinen mit an; dann sagte sie—seltsam feierlich: "Gott der Herr verdamme ihn!"—Petra fuhr auf. "Mutter, Mutter! Nicht ihn, nicht ihn! Mich, mich—nicht ihn!"—"Oh, ich kenn' das Pack! Ich weiß schon, wer's verdient!"—"Nein, Mutter! er ist betrogen—betrogen durch mich—ich, ich hab' ihn betrogen!" Und hastig und schluchzend erzählte sie alles. Keinen Augenblick durfte ein Verdacht auf ihm ruhen! Sie erzählte von Gunnar, was sie von ihm verlangt hatte, ohne es zu verstehen, von Yngve Volds Unglückskette, in der sie sich verfangen hatte, zuletzt von Ödegaard, und wie sie bei seinem Anblick alles andere vergessen hatte. Sie begriff auch jetzt noch nicht, wie es zugegangen war; aber daß sie eine ungeheure Sünde begangen habe an allen dreien, und vor allem an ihm, der sie zu sich emporgezogen und ihr alles gegeben hatte, was ein Mensch dem andern geben kann, das begriff sie. Nachdem die Mutter lange schweigend dagesessen hatte, sagte sie: "Und an mir hast Du Dich nicht versündigt? Wo bin denn ich die ganze Zeit gewesen, daß Du mir kein Sterbenswort von alledem gesagt hast?"—"Oh, Mutter, hilf mir! Sei nicht hart gegen mich jetzt! Ich fühle ja, daß ich mein ganzes Leben lang dafür büßen muß; aber ich will Gott auch bitten, daß er mich bald sterben läßt!—Lieber, lieber Gott!" fing sie sofort an und hob die gefalteten Hände zum Himmel, "lieber, lieber Gott, erhöre mich! Ich hab' mein Leben zerstört; es hat für mich keinen Reiz mehr,—ich bin nicht fürs Leben geschaffen—ich versteh' das Leben nicht. Lieber Gott, darum laß mich sterben!" Es lag eine so ergreifende Innigkeit in diesem Gebet, daß Gunlaug die harten Worte, die ihr schon auf der Zunge lagen, hinunterschluckte. Sie legte ihre Hand auf den zum Gebet erhobenen Arm des Mädchens und drückte ihn hernieder. "Mäßige Dich, Kind! Man soll Gott nicht versuchen. Wir müssen leben, vielleicht gerade weil's uns hart ankommt!"—Dann stand sie auf, und von Stund an setzte sie ihren Fuß nicht mehr in die Giebelstube.
Ödegaard war schwer erkrankt, und die Krankheit drohte eine gefährliche Wendung zu nehmen. Während dieser Zeit zog der alte Vater zu seinem Sohn hinauf und richtete sich sein Studierzimmer unmittelbar neben dem Krankenzimmer ein. Wer ihn bat, sich zu schonen, erhielt immer dieselbe Antwort; er könne nicht; seine Pflicht sei, über seinen Sohn zu wachen, so oft dieser Sohn einen verloren habe, den er mehr geliebt habe als den Vater.
So standen die Dinge, als Gunnar zurückkehrte.
Seiner Mutter jagte er einen Todschrecken ein, als sie ihn plötzlich vor sich sah, lange eh das Schiff, auf dem er fuhr, angekommen war; sie glaubte, es sei sein Geist. Und nicht viel anders erging es seinen Bekannten. Auf alle verwunderten Fragen gab er nur kurzen Bescheid. Bald jedoch wußte man mehr als genug. Denn noch am selben Tag, an dem er zurückgekehrt war, wurde er bei Gunlaug zum Haus hinausgeworfen, und zwar von ihr eigenhändig. Von der Treppe aus schrie sie ihm nach, daß es durch den ganzen Hohlweg dröhnte: "Daß Du Dich hier nicht wieder blicken läßt! Von der Sorte haben wir genug!" Er war noch nicht weit gegangen, als ein Mädchen mit einem Paket hinter ihm drein gerannt kam. Das Mädchen hatte noch ein zweites Paket mit und gab ihm das falsche; und so kam es, daß Gunnar im Paket eine dicke goldene Kette fand. Er blieb stehen, wog die Kette in der Hand und betrachtete sie. War ihm Gunlaugs Wut schon vorhin rätselhaft erschienen—daß sie ihm jetzt eine goldene Kette nachschickte, das war ihm noch unbegreiflicher. Er rief das Mädchen zurück; sie müsse sich geirrt haben. Jetzt gab sie ihm das andere Paket und fragte, ob das vielleicht das richtige sei. Und wirklich—das Paket enthielt seine Geschenke für Petra.——Ja, das sei das richtige. Aber wem sie denn das andere, das mit der goldenen Kette, bringen solle? "Dem jungen Herrn Vold!" erwiderte das Mädchen und ging. Gunnar blieb zurück und dachte nach. "Der junge Vold? Macht der ihr Geschenke? Also der hat sie mir gestohlen,—Yngve Vold,—na, dem will ich—!" Seine Spannung, seine Erbitterung mußte sich Luft machen,—irgend etwas mußte er zerschlagen.—Also—Yngve Vold.
Und zum zweitenmal wurde der unglückselige Fischhändler höchst unerwartet attakiert, und zwar auf seiner eigenen Haustreppe. Er flüchtete vor dem Wahnwitzigen ins Kontor, aber Gunnar setzte ihm nach. Sämtliche Kontoristen fielen über den Ruhestörer her; der schlug und wehrte sich nach allen Seiten. Stühle, Tische, Pulte wurden über den Haufen geworfen; Briefe, Rechnungen, Zeitungen stoben nur so durch die Luft. Schließlich rückten—von Yngve Volds Warenschuppen her—Hilfstruppen an, und Gunnar wurde, nach heißem Kampf, auf die Straße befördert. Aber da ging es erst recht los. Im Hafen lagen gerade zwei Schiffe—ein ausländisches und ein einheimisches. Es war gerade Mittagspause, und die Matrosen nahmen diesen Jux nur zu gern mit. Sofort war die Rauferei in schönstem Gange, Mannschaft gegen Mannschaft, Ausländer gegen Einheimische. Neue Truppen wurden herbeibeordert und zogen in Sturmschritt heran; Arbeiter schlenderten herbei, alte Weiber, Gassenjugend; schließlich wußte kein Mensch mehr, weshalb oder mit wem man raufte. Vergebens fluchten die Schiffer, vergebens befahlen ehrsame Bürger, den einzigen Polizeidiener des Städtchens herbeizuholen; der lag just in aller Gemütsruhe draußen auf dem Fjord und fischte. Man lief zum Stadtschultheiß; aber der war zugleich Postmeister, hatte sich gerade mit der neuesten Briefpost in seinem Bureau eingeschlossen und rief zum Fenster heraus, er könne nicht fort, sein Gehilfe sei bei einem Begräbnis; sie müßten warten. Da man aber mit dem gegenseitigen Totschlagen unmöglich warten konnte, bis die Post sortiert war, so schrien einige, vor allem ein paar geängstigte Weiber, man solle den Grobschmied Arne holen. Dem stimmten die ehrsamen Bürger zu, und seine eigene Frau lief, ihn zu holen, "weil die Polizei nicht daheim sei." Er kam—zum Jubel der Schuljugend—, fuhr ein paarmal in den Knäuel hinein, langte sich einen gelenkigen Spanier heraus und hämmerte mit dem nach rechts und links auf die andern los.
Als alles vorbei war, kam der Stadtschultheiß mit seinem Spazierstock. Er fand noch ein paar alte Weiber und Kinder auf der Walstatt. Diesen gebot er mit gestrenger Miene, nach Hause zu gehen zum Mittagessen—was er selbst ebenfalls tat.
Am Tag darauf begann er ein Verhör anzustellen; das dauerte eine geraume Zeit, obwohl kein Mensch auch nur eine Ahnung davon hatte, wer eigentlich gerauft hatte. Bloß darin stimmten alle Aussagen überein—Arne, der Grobschmied, war dabei gewesen; alle hatten sie ihn mit dem Spanier auf die andern loshauen sehen. Also wurde über diesen Arne eine Strafe von einem Speziestaler verhängt, wofür seine Frau, die ihn in den Handel verwickelt hatte, die Prügel einheimste. Am elften Sonntag nach Trinitatis. Sie hatte Ursache, an den Tag zu denken! Das war die einzige gerichtliche Folge, die die Rauferei hatte.
Aber sie hatte andere. Die kleine Stadt war keine stille Stadt mehr; das Fischermädel hatte sie in Aufruhr versetzt. Die seltsamsten Gerüchte liefen um. Zunächst war es eifersüchtiger Groll, daß sie den klügsten Kopf der Stadt und die beiden besten Partien an sich gelockt und außerdem noch "mehrere" in petto hatte; denn aus Gunnar wurden im Handumdrehen "mehrere junge Männer". Bald aber erhob sich ein allgemeiner Sturm sittlicher Entrüstung. Die ganze Schande, an einer großen Straßenrauferei schuld zu sein und über drei der besten Familien der Stadt Kummer gebracht zu haben, lastete auf dem jungen Mädchen, das vor kaum einem halben Jahr eingesegnet worden war. Drei Verlobungen auf einmal,—und die eine obendrein mit ihrem Lehrer, ihrem Wohltäter, dem sie alles verdankte—nein! Das brachte die Empörung zum Überlaufen! War sie nicht von kindauf ein Ärgernis gewesen für die Stadt? Hatte man nicht trotzdem,—als Ödegaard sich ihrer angenommen hatte, die schönsten Erwartungen auf sie gesetzt? Und hatte sie nicht alle Leute zum Besten gehabt, ihn zugrunde gerichtet und sich, ihrer zügellosen Natur folgend, rückhaltlos einem Leben in die Arme geworfen, das sie zu einem Abschaum der Menschheit machen und am Ende ins Zuchthaus bringen mußte? Die Mutter war selbstverständlich mitschuldig—in ihrer Matrosenkneipe hatte das Kind den Leichtsinn gelernt! Aber man werde das Joch, das Gunlaug der Stadt aufbürdete, nicht länger tragen, man werde sie nicht länger unter sich dulden, weder Mutter, noch Tochter. Und so kam man überein—sie aus der Stadt zu jagen.
Eines schönen Abends versammelten sich Matrosen, die Gunlaug Geld schuldig waren, versoffene Arbeiter, denen sie keinen Dienst verschaffen wollte, junge Bursche, denen sie nichts borgen mochte, oben vor ihrem Hause—angeführt von Bürgern der "besseren" Stände. Sie pfiffen, sie heulten, sie brüllten nach dem "Fischermädel", nach der "Fischer-Gunlaug". Bald flog ein Stein gegen die Haustür; dann ein zweiter oben durchs Giebelfenster. Erst nach Mitternacht verlief sich die Rotte. Hinter den Fenstern war alles dunkel und still.
Am nächsten Tag ließ sich bei Gunlaug kein Mensch blicken. Nicht einmal ein Kind ging mehr am Berghang vorbei. Doch abends derselbe Auflauf; nur daß heute alle mittaten, ohne Unterschied. Sie trampelten alles nieder, sie zertrümmerten die Fenster, sie rissen den Gartenzaun um und knickten die jungen Obstbäume ab, und dabei sangen sie:
Mutter, ich hab' einen Seemann gefischt!
"So, hast du das?"
Mutter, ich hab' einen Kaufmann erwischt!
"Ja, hast du das?"
Mutter, ein Geistlicher sitzt an der Schnur.
"Lang' ihn dir nur!"—
O kling und klang,
Die Nase wird lang!
Die großen Fische beißen fruchtlos an,
Wenn in das Boot man sie nicht ziehen kann.
Mutter, der Seemann, der hat sich gedrückt!
"Ja, hat er das?"
Mutter, der Kaufmann ist ausgerückt!
"So, ist er das?"
Mutter, nun will auch der Geistliche fliehn!
"Lange dir ihn!"
O kling und klang,
Die Nase wird lang!
Die großen Fische beißen fruchtlos an,
Wenn in das Boot man sie nicht ziehen kann.
Besonders laut schrien sie nach Gunlaug. Gar zu sehr hätte man sich gefreut, sie toben zu hören in ihrer ohnmächtigen Wut.
Gunlaug saß drinnen und hörte jedes Wort; aber sie blieb stumm. Man muß schon etwas dulden können für sein Kind.
Sechstes Kapitel
Den ersten Abend, als das Schreien, Pfeifen und Johlen anfing, war Petra auf ihrem Zimmer. Sie flog auf, als stände das Haus in Flammen, oder als wolle alles über ihr zusammenbrechen. Wie von glühenden Ruten gepeitscht, lief sie in ihrem Zimmer umher. In ihrer Seele schmerzte und brannte es, ihre Gedanken jagten nach einem Ausweg. Aber zur Mutter hinunter traute sie sich nicht, und draußen, vor ihrem Fenster, standen sie! Ein Stein kam durchs Fenster gesaust und fiel auf ihr Bett. Sie stieß einen Schrei aus, lief in den Winkel hinter die Gardine und verkroch sich zwischen ihren alten Kleidern. Da hockte sie, zusammengekauert, flammend vor Scham, zitternd vor Furcht. Bilder voll unerhörten Entsetzens jagten an ihr vorüber, die Luft war voll wimmelnder Gesichter—gaffender, grinsender Gesichter! Ganz nah kamen sie;—Feuer regnete es rings um sie—Hu! es war gar kein Feuer, Augen waren es—überall regnete es Augen, große glühende, kleine sprühende Augen, die reglos glotzten, Augen, die unablässig rollten,—Herr Jesus, Herr Jesus, erbarme Dich!—
Oh, welch ein Aufatmen, als die letzten Schreie in der Nacht erstarben und alles ganz still wurde und ganz dunkel. Sie wagte sich hervor; sie warf sich auf ihr Bett und vergrub den Kopf in die Kissen; doch die Gedanken wollten nicht weichen. Sie sah die Mutter drohend, ungeheuerlich, wie ein Sturmgewölk, das sich über den Bergen zusammenballt;—denn, was mußte die Mutter nicht erdulden—um ihretwillen! Kein Schlaf kam in ihre Augen, kein Friede in ihre Seele. Der Tag dämmerte herauf. Linderung brachte er ihr nicht. Auf und ab wanderte sie, auf und ab, und dachte bloß daran, wie sie fliehen könne. Aber sie traute sich der Mutter nicht unter die Augen; hinaus traute sie sich auch nicht, solang es Tag war, und mit dem Abend kamen sie jedenfalls wieder! Trotzdem mußte sie warten; denn vor Mitternacht zu fliehen, war noch gefährlicher. Und überhaupt—wohin? Sie hatte kein Geld, sie wußte keinen Weg.—Aber irgendwo mußte es doch barmherzige Menschen geben, wie es einen barmherzigen Gott gab! Er wußte—was sie auch verbrochen hatte—Schlechtigkeit war es nicht gewesen. Er kannte ihre Reue, er kannte auch ihre Hilflosigkeit! Sie horchte auf den Schritt der Mutter drunten; aber sie hörte nichts; sie zitterte, daß sie die Treppe heraufkommen könne; aber sie kam nicht. Das Dienstmädchen mußte wohl davongelaufen sein; denn niemand brachte ihr das Essen herauf. Sie selbst wagte sich nicht hinunter, nicht einmal ans Fenster; draußen konnte ja einer stehen und ihr auflauern. Durch das zertrümmerte Fenster zog es kalt herein, besonders als es wieder Abend wurde. Sie hatte sich ein kleines Bündel mit Kleidungsstücken zusammengeschnürt und sich warm angezogen, um bereit zu sein. Aber erst mußte sie den wütenden Haufen abwarten und über sich ergehen lassen, was kommen mochte.
Richtig, da waren sie wieder! Pfeifen, Gejohle, Steinewerfen—schlimmer, viel schlimmer als am Abend vorher! Sie verkroch sich in ihren Winkel, faltete die Hände und betete, betete! Wenn bloß die Mutter nicht zu ihnen hinausginge! Wenn sie bloß nicht das Haus stürmten! Jetzt fingen sie zu singen an; es war ein Schmählied; und obwohl jedes Wort ihr wie ein Messer ins Herz schnitt, mußte sie doch zuhören, lauschen! Aber als sie hörte, daß sie die schamlose Ungerechtigkeit hatten, auch die Mutter mit zu beschimpfen, da sprang sie auf, da stürzte sie hervor; sie wollte zu dem feigen Gesindel reden, wollte sich auf sie herabstürzen; aber da kam ein Stein und noch einer und dann ein ganzer Hagel von Steinen durchs Fenster geflogen; die Glassplitter stoben, die Steine sausten im Zimmer herum, und sie kroch wieder in ihren Winkel. Der Schweiß brach ihr aus, als säße sie in der glühendsten Sonne; aber sie weinte nicht, sie fürchtete sich auch nicht mehr.
Allmählich legte sich der Lärm. Sie wagte sich hervor, und als sie nichts mehr hörte, wollte sie ans Fenster und nachsehen. Aber sie trat überall auf Glasscherben, und ging deshalb wieder zurück. Dabei trat sie wieder auf Steine; so blieb sie stehen, um nicht gehört zu werden; denn nun galt es, sich fortzuschleichen. Nachdem sie noch eine gute halbe Stunde gewartet hatte, zog sie ihre Schuhe aus, ergriff ihr Bündel und öffnete leise die Tür. Wieder wartete sie etwa fünf Minuten und schlich dann still die Treppe hinunter. Es tat ihr weh, die Mutter, der sie solchen Kummer bereitet hatte, nun auch noch ohne Abschied verlassen zu müssen; aber das Entsetzen peitschte sie vorwärts. "Leb' wohl, Mutter! Leb' wohl, Mutter!" flüsterte sie bei jedem Schritt, den sie auf der Treppe machte, vor sich hin. "Leb' wohl, Mutter!" Jetzt war sie unten. Sie holte ein paarmal schwer Atem und nun—zur Haustür! Da packte jemand sie von hinten am Arm. Sie stieß einen leichten Schrei aus und drehte sich um. Es war die Mutter. Gunlaug hatte oben die Tür gehen hören; augenblicklich begriff sie, was Petra vorhatte, und erwartete sie nun hier unten. Petra fühlte, sie werde ohne Kampf nicht an ihr vorüberkommen. Erklärungen nützten hier nichts; was für Worte sie auch finden werde, die Mutter würde ihr doch nicht glauben. Nun, so hieß es eben kämpfen! Schlimmer als das Schlimmste konnte ja in der Welt nichts sein, und das Schlimmste hatte sie hinter sich. "Wo willst Du hin?" fragte leise die Mutter. "Fort!" antwortete sie ebenso leise, mit klopfendem Herzen.—"Und wohin?"—"Ich weiß nicht—nur fort von hier!" Und sie drückte ihr Bündel fest an sich und tat einen Schritt vorwärts. "Komm mit!" versetzte die Mutter, die ihren Arm nicht losgelassen hatte; "ich habe schon für alles gesorgt."—Augenblicklich gab Petra nach, wie ein Mensch, der eine allzu schwere Last fallen läßt, und überließ sich der Mutter. Diese ging voran in ein kleines, fensterloses Kämmerchen hinter der Küche, wo Licht brannte; hier hatte sie versteckt gesessen, während die draußen lärmten. Der Verschlag war so eng, daß sie sich kaum darin umdrehen konnten. Die Mutter zog ein Bündel hervor, etwas kleiner als Petras, öffnete es und zog einen Matrosenanzug heraus. "Zieh das an!" flüsterte sie. Petra wußte sofort, weshalb sie das sollte; aber daß die Mutter es nicht in Worten aussprach, das rührte sie. Sie zog sich aus und legte den Matrosenanzug an, die Mutter half ihr, und als sie dabei dem Lichtkreis nahe genug kam, um ihr Gesicht deutlich sehen zu können, da sah Petra, daß Gunlaug alt war. War sie's in diesen letzten Tagen geworden, oder hatte Petra es nur vorher nicht gesehen? Die Tränen des Kindes flossen auf die Mutter hernieder, aber die Mutter blickte nicht auf, so daß sie kein Wort herausbrachte. Als letztes reichte die Mutter ihr einen Südwester, und als Petra ihn aufgesetzt hatte, nahm ihr die Mutter ihr Bündel ab, blies das Licht aus und flüsterte: "Jetzt komm!"
Wieder gingen sie durch den Flur, aber nicht zur Haustür; Gunlaug riegelte die Hoftür auf und schloß sie nachher wieder ab. Sie gingen durch den zerstampften Garten, über die ausgerissenen Bäume, den zertrümmerten Zaun. "Sieh Dich noch einmal um!" sagte die Mutter, "Du wirst schwerlich jemals wieder hierherkommen!"—Petra zuckte zusammen; sie sah sich nicht um. Sie gingen den oberen Weg, am Walde hin, da, wo sich ihr halbes Leben abgespielt, wo sie jenen Abend mit Gunnar, die Abende mit Yngve Vold und jenen letzten Abend mit Ödegaard verlebt hatte. Sie gingen durch fahles Laub, das der Herbst von den Bäumen gefegt hatte; die Nacht war kalt, und Petra fror in ihrer ungewohnten Kleidung. Jetzt bog die Mutter ab, auf einen Garten zu; Petra erkannte ihn augenblicklich, obwohl sie hier an seiner oberen Seite nicht wieder gewesen war seit jenem Tage, da sie ihn als Kind gestürmt hatte; es war Pedro Ohlsens Garten. Die Mutter hatte den Schlüssel dazu und schloß auf.
Es war Gunlaug nicht leicht gefallen, Ohlsen am Vormittag aufzusuchen; es fiel ihr auch jetzt nicht leicht, mit der unglücklichen Tochter zu ihm zu kommen, der sie selbst keine Heimat mehr zu bieten vermochte. Aber es mußte sein, und was sein mußte, das konnte Gunlaug. Sie klopfte an die Verandatür, und fast im selben Augenblick hörten sie Tritte und sahen Licht. Gleich darauf wurde geöffnet, und Pedro, blaß und angstvoll, stand im Reiseanzug und hohen Stiefeln vor ihnen. Er hielt ein Talglicht in der Hand; und als er Petras vom Weinen geschwollenes Gesicht erblickte, seufzte er. Sie sah zu ihm auf; aber da er sie nicht zu kennen wagte, so wagte auch sie nicht ihn zu kennen. "Der Mann da hat versprochen, Dir von hier fortzuhelfen", sagte die Mutter, wobei sie weder Petra noch Ohlsen ansah, sondern den beiden voran durch den Flur und in Pedros Zimmer auf der andern Seite des Hauses ging. Das Zimmer war klein und niedrig; eine eigentümlich dumpfe Luft schlug ihnen entgegen, die Petra ganz übel machte—seit mehr als vierundzwanzig Stunden hatte sie weder geschlafen noch gegessen. Von der Mitte der Decke hing ein Bauer mit einem Kanarienvogel. Man mußte im Bogen drum herumgehen, wollte man nicht daran stoßen. Die alten schweren Stühle, ein mächtiger Tisch, ein paar große Bauernschränke, die bis an die Decke reichten, drückten so auf das Zimmer, daß es noch niedriger erschien. Auf dem Tisch lagen Noten und eine Flöte. Pedro Ohlsen schlurfte in seinen großen Stiefeln geschäftig hin und her. Aus dem Hinterzimmer erklang eine schwache Stimme: "Wer ist da? Wer ist in der Stube?" worauf er noch eiliger umhertrappte und dabei murmelte: "Oh, es ist—hm, hm—es ist nur … hm, hm…" Darauf verschwand er in der Stube, aus der die Stimme gekommen war.
Gunlaug saß am Fenster, die Ellbogen auf die Knie gestemmt, den Kopf in die Hände gestützt, und starrte vor sich hin auf den Sand, mit dem der Fußboden bestreut war. Sie sprach kein Wort; aber von Zeit zu Zeit entrang sich ihrer Brust ein schwerer Seufzer. Petra lehnte an der Tür, die Beine dicht zusammengepreßt, beide Hände auf die Brust gedrückt; sie fühlte sich ganz krank. Eine alte Wanduhr hackte die Zeit in Stücke; das Talglicht auf dem Tisch tropfte mit langer Schnuppe. Die Mutter fühlte, sie müsse einen Grund für ihre Anwesenheit in diesem Haus angeben, und sagte: "Ich hab' diesen Mann mal früher gekannt."
Kein Wort weiter. Es kam auch keine Antwort. Pedro blieb noch immer fort. Das Talglicht tropfte, und die Uhr hackte. Die Übelkeit übermannte Petra mehr und mehr—und dazwischendurch summten unablässig die Worte der Mutter: "Ich hab' diesen Mann früher mal gekannt." Die Uhr griff es auf und fing an zu ticken: "Ich hab'—diesen Mann—mal früher—gekannt." So oft ihr später in ihrem Leben einmal eingeschlossene Luft entgegenschlug, stand ihr die Stube und ihre eigene Übelkeit und die Uhr mit ihrem: "Ich hab'—diesen Mann—mal früher—gekannt—" vor Augen. So oft ihr an Bord eines Dampfers der Ölgeruch, der Gestank des fauligen Meerwassers unter der Kajüte, der Dunst des Essens entgegendrang,—augenblicklich wurde sie seekrank, und durch die Seekrankheit hindurch hörte sie bei Tag und bei Nacht ticken: "Ich hab'—diesen Mann—mal früher—gekannt."
Als Pedro wieder eintrat, hatte er eine wollene Mütze auf und einen altmodischen steifen Mantel um, der ihm bis über die Ohren reichte. "Ja, also ich wär' fertig," sagte er und streifte sich Fäustlinge über, als solle er in den dicksten Winter hinaus. "Jetzt dürfen wir nicht vergessen, den Mantel für—für—" er wandte sich um—"den Mantel für—" Er blickte zu Petra hinüber und von ihr zu Gunlaug, die jetzt nach einem blauen Umhang griff, der über einem Stuhl hing, und ihn Petra umlegte. Petra jedoch—als sie ihn von nahem roch, empfand den eigentümlichen Dunst der Stube so heftig, daß sie bat, man möge sie an die frische Luft lassen. Die Mutter sah, daß ihr schlecht wurde, machte schnell die Tür auf und führte sie in den Garten hinaus. Hier sog sie in der kühlen Nacht die klare Herbstluft in langen, vollen Zügen ein.—"Wo soll ich hin?" fragte sie, als sie sich wieder etwas erholt hatte. "Nach Bergen!" erwiderte die Mutter und half ihr den Mantel zuknöpfen. "Das ist eine große Stadt, wo keiner Dich kennt." Als sie fertig war, stellte sie sich vor die Haustür. "Du kriegst hundert Taler mit," fuhr die Mutter fort; "so hast Du, wenn es irgendwie schief geht, einen Notpfennig. Der—der hier—borgt Dir das Geld," "—schenkt—schenkt—" flüsterte Pedro, der eben an ihnen vorbei auf die Straße heraustrat. "Borgt Dir das Geld," wiederholte die Mutter, als habe er nichts gesagt; "ich werd' es ihm zurückzahlen." Sie nahm ihr Halstuch ab, band es Petra um und sagte: "Sobald es Dir gut geht, schreibst Du. Eher nicht."—"Mutter!"—"Und jetzt bringt er Dich an Bord; das Schiff liegt draußen vor Anker."—"O Gott, Mutter!"—"So, das wäre wohl alles. Weiter gehe ich nicht mit."—"Mutter! Mutter!"—"Gott behüte Dich! Leb' wohl!"—"Mutter! Verzeih mir, Mutter!"—"Und erkälte Dich nicht auf dem Wasser!" Damit hatte sie Petra behutsam zur Gartenpforte hinausgeschoben und schloß jetzt hinter ihr zu.
Petra stand draußen und blickte auf die verschlossene Pforte. Sie fühlte sich so elend, so ausgestoßen, wie nur je ein Menschenkind sich fühlen kann. Und doch—gerade aus diesem Gefühl des Verstoßenseins, aus all dem Unrecht, den Tränen stieg eine Ahnung auf, ein Glaube; wie ein Flammenschein war es—, der aufglüht und wieder erlischt, hochaufsprühend in alle Lüfte und wieder in Asche gesunken; und doch—einen Augenblick lang alles sieghaft überstrahlend—. Sie hob die Augen. Und stand wieder im tiefen Dunkel.
Still—langsam—durch die öden Gassen der kleinen Stadt, vorbei an den ungastlichen, entblätterten Gärten, vorbei an den verschlossenen, erloschenen Häusern glitt sie dahin, hinter dem Mann, der in seinen großen Stiefeln und dem Mantel, vornübergeneigt, gewissermaßen ohne Kopf, voranstapfte. Sie kamen in die Allee, wieder schritten sie durch raschelndes Laub und sahen gespenstisch emporgereckte und verlangende Äste, die nach ihnen haschten. Sie krochen den Berg hinunter, zum gelben Schuppen, wo das Boot lag; er machte sich sofort daran, es auszuschöpfen; dann ruderte er sie hinaus, am Land entlang, das jetzt dalag zu einem schwarzen Klumpen geballt, auf den sich schwer der Himmel niedergesenkt hatte. Feld und Wald, Häuser und Hügel, alles war ausgelöscht. Nichts mehr erblickte sie von alledem, was sie von Kindheit an bis gestern Tag für Tag vor Augen gehabt hatte; alles hatte sich verschlossen—wie die Stadt; wie die Menschen sich vor ihr verschlossen, in der Nacht, da sie hinausgestoßen wurde; und kein Lebwohl begleitete sie.
Auf dem Schiff, das dicht am Strand vor Anker lag und auf die Morgenbrise wartete, ging ein Mann auf und ab. Sobald er die zwei unter den Dillen sah, ließ er die Schiffstreppe hinab, half ihnen an Bord und benachrichtigte den Kapitän, der sofort auf Deck kam. Petra kannte beide, und beide kannten sie; aber ohne eine Frage, ohne Mitleid, nur wie eine ganz alltägliche Sache wurde ihr gesagt, was gesagt werden mußte—wo ihre Koje sei, und was sie zu tun habe, wenn sie irgendetwas wünsche oder seekrank würde. Letzteres wurde sie auch fast augenblicklich, als sie in ihre Kabine trat, und sie ging darum, sobald sie sich umgekleidet hatte, wieder auf Deck. Da oben roch es—jawohl—nach Schokolade! Sie verspürte einen entsetzlichen Hunger; es bohrte, es zerrte geradezu in ihrem Magen, und da kam auch schon der Mann, der ihr an Bord geholfen hatte, mit einer großen Kanne aus der Schiffsküche; und dazu Kuchen! Ihre Mutter schicke ihr das, sagte er. Während sie aß und trank, berichtete er, die Mutter habe auch eine Kiste mit ihren besten Kleidern und mit leinenem und wollenem Unterzeug an Bord geschickt, auch Eßwaren und allerhand Leckereien. Und in diesem Augenblick stieg plötzlich die Erinnerung an die Mutter gewaltig in ihr auf—ein Bild, großzügig, wie sie es bisher noch nie empfunden hatte, das ihr aber von Stund an ihr Leben lang blieb. Und vor dem Bild, sicher und doch wehmutsvoll, eine Verheißung, ein Gebet, daß sie dereinst der Mutter all das Leid, das sie über sie gebracht hatte, mit ein klein bißchen Freude vergelten dürfe.
Pedro Ohlsen saß neben ihr, wo sie saß, und ging neben ihr, wo sie ging—stets eifrig darauf bedacht, ihr nie und nirgends im Weg zu sein, und darum fortwährend und überall im Weg auf dem mit Frachtstücken überfüllten Deck. Sie sah nichts von seinem Gesicht als die große Nase und die Augen, und nicht einmal diese deutlich; doch immer merkte man ihm an, daß er bedrückt wurde von etwas, das er gern sagen wollte, und doch nicht sagen konnte. Er seufzte, er setzte sich, stand auf, ging um sie herum und setzte sich wieder; aber kein Wort kam aus seinem Munde, und auch sie blieb stumm. Zuletzt konnte er es nicht länger aushaken; linkisch zog er ein Ungeheuer von einer ledernen Brieftasche hervor und flüsterte ihr zu: da seien die hundert Taler—und noch ein bißchen drüber. Sie streckte die Hand aus und bedankte sich; und dabei kam sie seinem Gesicht so nahe, daß sie bemerkte, wie seine Augen in feuchtem Glanz an den ihren hingen. Denn mit ihr schwand ja der letzte Rest von Leben, der seinem dahinsiechenden Dasein noch geblieben war. Er hätte ihr so gern noch etwas gesagt, das ihm eine freundliche Erinnerung gesichert hätte, wenn er nun bald nicht mehr da sei; aber das war ihm verboten; und obwohl er es trotzdem gern getan hätte, wagte er es doch nicht; sie kam ihm so gar nicht zu Hilfe! Petra war müde, so müde. Und der Gedanke, er sei der Anlaß gewesen, daß sie damals die erste Sünde an ihrer Mutter begangen habe, wollte gerade jetzt nicht von ihr weichen. Sie konnte ihn nicht mehr gern haben; und je länger er da saß, desto schlimmer wurde es; denn wenn man müde ist, wird man leicht ungeduldig. Der Ärmste fühlte das; es blieb ihm also nichts anderes übrig, als sich zu verabschieden; und während er seine dürre Hand aus dem Fausthandschuh zog, brachte er schließlich ein geflüstertes Lebewohl heraus. Sie legte ihre warme Hand in die seine, und beide standen auf. "Vielen Dank,—und grüß' Mutter!" sagte sie. Er stieß einen Seufzer aus oder eine Art Glucksen—einmal und noch ein paarmal; dann ließ er ihre Hand los, wandte sich ab und kletterte rücklings, still, die Schiffstreppe hinunter. Sie trat an die Reling; er sah noch immer herauf, grüßte, setzte sich und ruderte langsam davon. Sie blieb stehen, bis er im Dunkel verschwunden war. Dann aber ging auch sie gleich nach unten; sie war so müde, daß sie sich kaum mehr auf den Füßen halten konnte; und obwohl sie sofort seekrank wurde, so hatte sie doch kaum den Kopf aufs Kissen gelegt und die zwei oder drei ersten Bitten des Vaterunsers gebetet, als sie auch schon schlief.
* * * * *
Droben neben dem gelben Bootschuppen saß zu derselben Stunde die Mutter. Sie war ihnen langsam den ganzen Weg gefolgt, und hatte sich, gerade als die beiden vom Lande stießen, hinter den Schuppen gesetzt. Von derselben Stelle aus war Pedro Ohlsen in alten Zeiten oft mit ihr hinausgerudert; es war lange, lange her; aber als er jetzt mit ihrem Kinde davonruderte, mußte sie daran denken.
Sobald sie ihn allein zurückkehren sah, stand sie auf und ging; sie wußte jetzt, daß die Tochter wohlbehalten an Bord war. Sie ging nicht nach Hause, sondern ins Land hinaus. Dort fand sie im Dunkeln den Pfad, der in die Berge führte; den schlug sie ein. Über einen Monat blieb ihr Haus in der Stadt leer und halb zertrümmert stehen; sie wollte nicht eher wieder heim, als bis sie gute Nachricht von der Tochter hatte.
Aber inzwischen hatte sich auch die feindliche Stimmung geklärt. Alle niedrigen Naturen finden eine aufreizende Freude darin, sich zur Verfolgung eines Stärkeren zusammenzutun; aber nur, solange dieser Widerstand leistet. Sobald sie sehen, daß er sich ruhig mißhandeln läßt, beschleicht sie ein Gefühl der Scham, und ihre ganze Wut wendet sich nun gegen den, der es wagt, noch einen Stein zu werfen. Man hatte sich darauf gefreut, Gunlaugs mächtige Stimme durch den Hohlweg dröhnen zu hören; man hatte gedacht, sie werde ihre Matrosen zu Hilfe rufen und zum Straßenkampf aufbieten. Als der dritte Abend kam, und sie sich noch immer nicht sehen ließ, war der Haufen kaum zu bändigen; man wollte hinein, wollte die beiden Weibsbilder herauszerren, sie auf die Straße werfen, sie zur Stadt hinausjagen! Die Scheiben waren seit dem vorigen Abend noch nicht wieder eingesetzt; unter dem Halloh der Menge krochen zwei Männer durchs Fenster, um die Tür zu öffnen, und hinein stürmte die ganze Bande! Sie durchsuchten alle Räume, oben und unten; sie sprengten Türen, sie zerschlugen alles, was im Wege stand; sie durchstöberten jeden Winkel, bis hinab zum Keller, nach Mutter und Tochter; keine Menschenseele war zu finden! Die Verfolger wurden plötzlich ganz mäuschenstill, als ihnen diese Entdeckung zum Bewußtsein kam. Einer nach dem andern kamen sie alle, die drinnen waren, wieder heraus und versteckten sich hinter den übrigen. Nicht lange, und der Platz vor dem Hause war leer.
Bald wurden in der Stadt Stimmen laut, die erklärten, ein derartiges
Vorgehen zwei wehrlosen Frauen gegenüber sei einfach unwürdig gewesen.
Man besprach das Ereignis, den Vorfall so lange, bis man zu dem Schluß kam—was auch das Fischermädel verbrochen hatte—Gunlaug hatte keine Schuld, und ihr war also schweres Unrecht geschehen. Die Stadt vermißte sie schmerzlich. Schlägereien und Straßenhändel zwischen Betrunkenen waren bald an der Tagesordnung: die Stadt hatte ihre Polizei verloren. Auch ihre mächtige Gestalt unter der Tür vermißte man, wenn man am Hause vorüberging. Besonders aber vermißten die Matrosen sie. Nirgends sei es so wie bei ihr, behaupteten sie. Bei ihr war jeder nach Verdienst behandelt worden, jeder hatte seine bestimmte Rangordnung in ihrem Vertrauen inne gehabt und bei ihr Hilfe gefunden in allen Lebenslagen. Weder Matrosen noch Schiffer, weder Arbeitsherren noch Hausmütter hatten gewußt, was sie allen war, bis sie auf einmal nicht mehr da war.
Darum lief es wie eine einzige Freudenbotschaft durch die ganze Stadt, als jemand sie wieder in ihrem Hause sitzen und kochen und braten gesehen wie zuvor. Jeder einzelne mußte hinauf und sich selbst davon überzeugen, daß die Tür wieder ganz war und neue Scheiben hatte, und der Rauch aus dem Schornstein stieg. Ja, wirklich, es war so! Da war sie wieder! Man kletterte an der andern Seite des Hohlwegs hinauf, um besser sehen zu können. Da saß sie—vor dem Backofen; sie blickte weder auf noch hinaus—die Augen folgten der Hand, und die Hand arbeitete. Denn sie war zurückgekehrt, um wieder zu verdienen, was sie verloren hatte, vor allem die hundert Taler, die sie Pedro Ohlsen schuldete. Anfangs begnügte man sich damit, zu ihr hineinzugucken; man getraute sich nicht ins Haus—des bösen Gewissens wegen! Aber so nach und nach kamen sie doch wieder; zuerst die Hausmütter, die lieben, guten! Aber sie fanden keinerlei Gelegenheit, von anderem zu reden als von Geschäften; Gunlaug hörte einfach auf nichts anderes. Dann kamen die Fischer, dann die Kaufleute und Schiffer, die Leute dingen und sich bei ihr Auskunft holen wollten, und endlich, am nächsten Sonntag, auch die Matrosen. Die mußten sich verabredet haben; denn gegen Abend war das Haus mit einem Male so überfüllt, daß nicht nur die beiden Stuben besetzt waren, sondern daß man auch noch die Tische und Stühle, die im Sommer im Garten standen, hervorholen und im Flur, in der Küche, im Hinterzimmer aufstellen mußte. Niemand, der diese Versammlung gesehen, hätte ahnen können, mit welchen Gefühlen diese Leute hier saßen; denn mit dem Augenblick, da sie Gunlaugs Schwelle wieder überschritten, hatte diese Frau stillschweigend wieder das Kommando übernommen, und die breite Sicherheit, mit der sie jedem das seine verabfolgte, unterdrückte jeden Willkommgruß, jede Frage. Sie war ganz wie sonst, nur daß ihr Haar nicht mehr schwarz und ihr Wesen ein bißchen stiller war. Aber als die Matrosen anfingen, lustig zu werden, konnten sie sich nicht länger halten; so oft Gunlaug und das Mädchen draußen waren, schrien sie dem Bootsmann Knud zu, der immer ihr Liebling gewesen war: er möge doch ein Hoch auf sie ausbringen, wenn sie wieder hereinkomme. Doch selbst er fand nicht eher den Mut dazu, als bis ihm die Hitze ein bißchen zu Kopf gestiegen war. Da endlich, als sie hereinkam, um leere Gläser und Flaschen abzuräumen, stand er auf und sagte: "Es sei man schön, daß sie wieder da sei. Denn—wahrhaft'gen Gott—es—es sei man schön, daß sie wieder da sei!" und alle fanden das gut gesprochen und erhoben sich und riefen: "Ja, das is man schön! Das is man schön!" Und die im Flur und in der Küche und in den andern Stuben standen ebenfalls auf, und drängten herein und stimmten mit ein, und der Bootsmann gab Gunlaug ein Glas in die Hand und schrie Hurra! Und nun ließen sie alle ein paar Hurras los, als ob das Dach auffliegen und in die Wolken fahren sollte. Bald hörte man einen laut verkünden: sie hätten ihr schmählich unrecht getan, dann schwur ein anderer dasselbe, und schließlich schwur und fluchte die ganze Gesellschaft: ihr sei das schmählichste Unrecht widerfahren. Als endlich Stille eintrat, weil es alle nach einem Wort Gunlaugs verlangte, dankte sie ihnen: "aber", fügte sie hinzu und sammelte ihre Gläser und Flaschen ruhig weiter ein, "solange ich nicht davon rede, braucht Ihr's auch nicht. Verstanden?" Dann, nachdem sie so viele Gläser und Flaschen beisammen hatte, als sie tragen konnte, ging sie hinaus, um gleich darauf die übrigen zu holen. Von diesem Augenblick an war ihre Macht unerschütterlich.
Siebentes Kapitel
Es war Abend und dunkel, als das Schiff im Hafen von Bergen Anker warf. Noch halb taumelnd von der Seekrankheit wurde Petra im Kapitänsboot durch das Gewimmel von großen und kleinen Schiffen und dann weiter durch das Lärmen und Toben der Bootsleute auf den Brücken und der Bauern und Straßenjungen in den engen Winkelgassen geführt, durch die der Weg ging. Vor einem kleinen hübschen Haus machten sie Halt, und dort nahm auf die Bitte des Kapitäns eine ältere Dame sich Petras liebevoll an. Sie fühlte Hunger und Müdigkeit, und beide Bedürfnisse konnte sie hier befriedigen. Gegen Mittag des folgenden Tages wachte sie frisch und munter auf, zu neuen Lauten, neuem Sprachklang und—als sie die Gardine aufzog, zu einer neuen Natur, zu einer neuen Stadt mit neuen Menschen. Ja, sie selbst war wie neugeboren, fand sie, als sie vor den Spiegel trat. Dies Gesicht war nicht das alte mehr; worin die Veränderung bestand, darüber konnte sie sich freilich selbst nicht Rechenschaft geben; sie wußte nicht, daß in ihrem Alter Leid und Gemütsbewegung die Züge verfeinern und vergeistigen; aber sie mußte doch, als sie sich im Spiegel sah, wieder an die letzten Nächte denken, und sie bebte noch bei diesem Nachhall. Darum beeilte sie sich, fertig zu werden, damit sie hinunter konnte zu all dem Neuen, das ihrer wartete. Unten traf sie ihre Wirtin und einige Damen, die sie zunächst einmal gründlich von allen Seiten betrachteten und ihr dann versprachen, sich ihrer anzunehmen. Als erstes wollten sie ihr die Stadt zeigen. Da sie allerlei einzukaufen hatte, lief sie hinauf zu ihrer Brieftasche. Weil sie sich jedoch schämte, das plumpe dicke Ding mit hinunterzunehmen, öffnete sie es, um Geld herauszunehmen. Sie fand nicht hundert, sondern dreihundert Taler darin! Also wieder Pedro Ohlsen, der gegen der Mutter Wissen und Willen Geld schenken wollte! So wenig verstand sie vom Wert des Geldes, daß sie sich über die Größe der Summe nicht einmal wunderte; es kam ihr darum auch gar nicht in den Sinn, über den Grund dieser großen Freigebigkeit weiter nachzudenken. Statt eines freudestrahlenden Dankbriefes voll ahnungsvoller Fragen überbrachte Gunlaug Pedro Ohlsen ein Schreiben von Petra an sie selbst, worin die Tochter mit schlecht verhehltem Ärger ihren Wohltäter verriet und fragte, was sie mit dem eingeschmuggelten Geschenk anfangen solle.
Der erste Eindruck, den Petra von der Stadt empfing, war ein starker Natureindruck. Sie konnte das Gefühl nicht los werden, als umdrängten die Berge sie so dicht, daß sie sich vor ihnen in acht nehmen müsse. So oft sie das Auge erhob, fühlte sie sich bedrückt, und dann wieder trieb es sie, die Hand auszustrecken und an den Stein zu pochen. Bisweilen war ihr, als gebe es hier keinen Ausgang mehr. Sonnenverlassen und finster standen die Berge, die Wolken hingen schwer darauf nieder oder jagten darüber weg; Wind und Regen in unaufhörlichem Wechsel; von den Bergen kam es, die Berge sandten es hernieder auf die Stadt. Aber die Menge Menschen rings um sie her hatte gar nichts Bedrücktes. Sie wurde bald froh unter ihnen; denn in ihrer Geschäftigkeit lag eine Freiheit, eine Leichtigkeit, eine Heiterkeit, wie sie sie gar nicht kannte, und die ihr nach allem, was sie erlebt hatte, wie ein Lächeln, ein Willkommgruß erschien.
Als sie am nächsten Tag beim Mittagessen äußerte, sie möchte am liebsten irgendwohin, wo recht viele Leute seien, schlug man ihr vor, ins Theater zu gehen; da könne sie Hunderte von Menschen in einem einzigen Haus beieinander sehen.—Jawohl, da wollte sie hin! Man besorgte ihr ein Billet, das Theater lag ganz in der Nähe, und zur bestimmten Zeit begleitete man sie hin und wies ihr einen Platz in der ersten Reihe des Balkons an. Da saß sie, in strahlender Beleuchtung, unter Hunderten fröhlicher Menschen, ringsum leuchtende Farben und Geplauder, das von allen Seiten über sie hereinbrauste wie das Rauschen des offenen Meeres.
Was es hier eigentlich zu sehen gab, davon hatte Petra keine Ahnung. Ihr Wissen beschränkte sich auf das, was Ödegaard ihr gesagt, und was ihr zufälliger Verkehr sie gelehrt hatte. Aber das Theater hatte Ödegaard mit keinem Worte je erwähnt.
Die Matrosen hatten von einem Theater gesprochen, wo es wilde Tiere gab und Kunstreiter; und die jungen Burschen der Stadt kamen gar nicht auf den Gedanken, vom Schauspiel zu reden, wenn sie auch von der Schule her ein bißchen davon wußten; denn das Städtchen selbst hatte kein Theater, nicht einmal ein Gebäude, das den Namen führte. Reisende Tierbändiger, Seiltänzer und Clowns trieben ihre Künste entweder in einer Strandbude oder auf freiem Feld. Ihre Unwissenheit war so groß, daß sie nicht einmal imstande war, zu fragen; sie saß da und erwartete naiv irgend etwas Merkwürdiges, etwa Kamele oder Affen. Allmählich beherrschte diese Vorstellung sie so, daß sie anfing, in jedem Gesicht um sich her ein Tier zu sehen—Pferde, Hunde, Füchse, Katzen, Mäuse; das machte ihr Spaß. Und so kam es, daß sich das Orchester versammelte, ohne daß sie es merkte. Erschrocken schnellte sie auf; denn mit einem kurzen, scharfen Gedröhne von Pauken, Trommeln, Posaunen und Hörnern setzte die Ouvertüre ein. Sie hatte ihrer Lebtag noch niemals mehr als ein paar Geigen und vielleicht eine Flöte zusammen gehört. Vor dieser brausenden Herrlichkeit erbleichte sie; die hatte etwas von einer kalten, schwarzen Sturzwelle; sie zitterte vor der nächsten; vielleicht würde die noch schlimmer werden—und doch, sie wünschte sich, daß es nicht aufhören möge. Bald strömten sanftere Harmonien Licht aus, bald öffneten sich Ausblicke, wie sie sie nie geträumt hatte. Melodien wiegten sie hinaus, empor, Spiel und Leben schwirrten rings durch die Luft, mit langem Flügelschlag schwang sich der ganze Zug aufwärts, senkte sich leise, sammelte sich wuchtig, teilte sich voll Übermut, in sprühendem Gewimmel, bis ein großes Dunkel sich niedersenkte und alles deckte; es war, als ob alles hinwegwirbele im Braus eines tosenden Sturzbachs. Dann wieder ein vereinzelter Ton, wie ein Vogel auf nassem Zweig über der Tiefe: wehmutvoll, furchtsam stimmte er an, aber während seines Sangs klärte sich über ihm die Luft, ein Sonnenschimmer brach hervor, und wieder lagen die weiten, blauenden Fernen voll jenes seltsamen Wogens und Flatterns hinter den Sonnenstrahlen. Eine Weile währte das fort—dann—o Wunder! verklang es in mildem Frieden. Die jubelnden Scharen zogen ferner und immer ferner, nichts mehr war da als die Strahlen, die durch die Luft sickerten und schmolzen; über der ganzen unendlichen Fläche nichts als Sonne, still, lichtdurchwoben alles—und in dieser Seligkeit träumte das Ganze aus. Sie erhob sich unwillkürlich, als es zu Ende war; denn sie selbst war auch am Ende. O Wunder—da ging die schöne gemalte Wand gerade vor ihr in die Höhe, bis an die Decke. Sie war in einer Kirche, einer Kirche mit Bogen und Pfeilern, einer Kirche voll Orgelbraus und Festesglanz, und Menschen in Gewändern, wie sie sie nie gesehen hatte, schritten herein, auf sie zu und redeten,—ja, wirklich, sie redeten in der Kirche! Und in einer Sprache, die sie nicht verstand. Wie? Hinter ihr redeten sie auch? "Setzen!" sagte jemand. Aber da war doch gar nichts zum Hinsitzen; und die beiden in der Kirche blieben auch ganz ruhig stehen; und je länger sie hinsah, desto klarer wurde es ihr, daß diese Trachten dieselben waren, die sie auf einem Bild von Olaf dem Heiligen gesehen hatte. Und da,—da nannten sie ja auch den Namen des heiligen Olaf!—"Setzen!" tönte es wieder hinter ihr. "Setzen!" riefen jetzt mehrere Stimmen. Vielleicht ist dahinten auch irgend etwas, dachte Petra und drehte sich hastig um. Ein Haufen zorniger Gesichter, manche darunter geradezu drohend, starrte ihr entgegen. Alles das geht nicht mit rechten Dingen zu! dachte sie und wollte gehen. Da zupfte eine alte Dame, die neben ihr saß, sie sachte am Rock. "So setzen Sie sich doch, Kindchen!" flüsterte sie. "Die hinter Ihnen können ja nichts sehen." Im Nu war sie wieder auf ihrem Platz. Natürlich—das da vorn ist das Theater, und wir sind die Zuschauer,—natürlich, das Theater! Und sie wiederholte das Wort, wie um es sich selbst ins Gedächtnis zurückzurufen. Und wieder blickte sie in die Kirche. Aber so viel Mühe sie sich auch gab, sie konnte den Menschen, der da redete, nicht verstehen. Erst als sie so nach und nach dahinter kam, daß es ein Mann war, jung und hübsch, fing sie ab und zu ein Wort auf. Und als sie begriff, daß er von Liebe redete, daß er verliebt war, da verstand sie so ziemlich alles. Jetzt kam ein Dritter hinzu, der sofort ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich lenkte; denn von Abbildungen her wußte sie, daß das ein Mönch sein mußte; und einen Mönch zu sehen, das war schon immer ihr sehnlichster Wunsch gewesen. Der Mönch ging auf so leisen Sohlen, bewegte sich so still, zeigte ein so frommes Gebaren; er redete so treuherzig, sprach so langsam, daß sie jedem seiner Worte folgen konnte. Da auf einmal drehte er sich um und sagte just das Gegenteil von dem, was er vorher gesagt hatte.—Herrgott! Das ist ja ein Bösewicht! Hört Ihr nicht? Ein Bösewicht ist er! Man sieht es ihm ja auch an! Daß der junge hübsche Mann das nicht merkt! Aber hören könnt' er's doch wenigstens! "Er hintergeht Sie!" flüsterte sie halblaut. "Psst!" sagte die alte Dame. Aber nein, der junge Mann hört nichts. Er geht fort, ganz vertrauensvoll; alle gehen sie fort. Ein alter Mann kommt jetzt herein. Ja, was ist denn das? Wenn der Alte spricht, so ist es, als spräche der Jüngling. Und dabei ist es doch ein alter Mann. Und plötzlich,—o Gott, o Gott! Ein leuchtender Zug von weißgekleideten Jungfrauen, die zwei und zwei langsam durch die Kirche ziehen. Noch lange, nachdem sie verschwunden waren, blickte sie ihnen nach, und in ihrer Erinnerung stieg eine ähnliche Erscheinung aus ihrer Kindheit auf. An einem Wintertag war sie mit ihrer Mutter übers Gebirge gegangen; und wie sie durch den frischgefallenen Schnee gewatet waren, hatten sie unversehens einen Schwarm junger Schneehühner aufgescheucht, die mit einem Schlag die Luft vor ihnen gefüllt hatten; weiß waren sie gewesen, und weiß der Schnee, weiß der Wald,—noch lange nachher streiften alle Gedanken weiß an ihr vorüber… Und in diesem Augenblick hatte sie dasselbe Gefühl.
Aber eine der weißgekleideten Jungfrauen tritt allein vor, mit einem Kranz in der Hand, und kniet nieder. Der Alte ist ebenfalls auf die Knie gesunken; und sie redet mit ihm; er hat Botschaft für sie und einen Brief,—aus fremden Landen. Er zieht den Brief heraus,—ha, man sieht es ihr an, der Brief ist von einem, den sie lieb hat. Wie himmlisch! Alle lieben sie einander hier! Sie macht den Brief auf,—aber es ist gar kein Brief—es ist alles lauter Musik,—und sieh doch, sieh! Der Brief ist ja er selber! Der Greis ist der Jüngling, der Jüngling, den sie liebt! Sie sinken einander in die Arme,—Himmel! Sie küssen sich! Petra fühlte, wie sie feuerrot wurde; sie barg ihr Gesicht in den Händen, während sie weiter zuhörte. Horch',—da erzählt er ihr, daß sie auf der Stelle Hochzeit halten wollen, und sie zupft ihn lächelnd am Bart und sagt, er sei ein Barbar geworden; und er sagt, sie sei ganz wunderschön geworden, und gibt ihr einen Ring und verspricht ihr Scharlach und Sammet, goldene Schuhe und einen goldenen Gürtel. Dann nimmt er fröhlich Abschied und geht zum König, um die Hochzeit auszurichten. Die Braut sieht ihm nach, leuchtend, strahlend; doch wie sie sich wieder umwendet, da ist es leer—leer.
Jetzt gleitet ganz schnell die Wand wieder herab. Wie? Schon zu Ende? Nachdem es eben erst angefangen hat? Glühend wendet sie sich der alten Dame zu: "Ist es aus?"—"Nein, nein, Kindchen! Das war ja nur der erste Akt. Fünf sind es.—Fünf Akte", wiederholte sie seufzend, "fünf Akte!"—"Immer das Gleiche?" fragte Petra.—"Wie denn?"—"Ich meine, kommen immer die gleichen Leute wieder, und geht es immer weiter?"—"Sie sind wohl noch nie im Theater gewesen, was?"—"Nein."—"Freilich; ein Theater gibt's nicht überall; es ist ja auch so teuer."—"Aber was ist denn das eigentlich alles?" fragte Petra erregt, atemlos, als könne sie die Antwort kaum erwarten. "Was sind denn das für Menschen?"—"Das ist die Truppe des Direktor Naso, eine ganz ausgezeichnete Truppe; er ist wirklich ein tüchtiger Kerl."—"Hat er denn das alles erfunden? Ja? Ach Gott! So sagen Sie mir's doch!"—"Aber Kindchen, wissen Sie denn gar nicht, was ein Schauspiel ist? Wo kommen Sie denn her?"—-Doch als Petra an ihre Vaterstadt dachte, fiel ihr auch gleich ihre ganze Schande, ihre Flucht wieder ein; sie schwieg und getraute sich nicht, weiter zu fragen.
Der zweite Akt kam, und mit ihm der König. Wirklich, der König! Jetzt sah sie endlich einmal den König! Sie hörte nicht, was er sagte, sie sah nicht, mit wem er sprach, sie sah nur des Königs Kleider, des Königs Gebaren, des Königs Mienen. Sie wachte erst wieder auf, als der Jüngling auftrat. Und jetzt zogen sie alle davon, um die Braut einzuholen.—Also hieß es wieder warten.
In der Pause beugte die alte Dame sich zu ihr hinüber. "Sie spielen doch wundervoll, nicht?" sagte sie. Petra blickte sie voll Erstaunen an. "Spielen? Wie denn?" Sie merkte gar nicht, daß alle, die in ihrer Nähe saßen, sie beobachteten; daß die alte Dame sie nur ausfragen wollte. Sie merkte nicht, daß man sich über sie lustig machte.—"Aber sie reden ja ganz anders wie wir?" fragte sie, als sie keine Antwort erhielt.—"Es sind doch Dänen!" antwortete die Dame und fing zu lachen an. Jetzt begriff sie, daß die Gute über ihr vieles Fragen lachte, und fortan schwieg sie; sie sah nur unverwandt nach dem Vorhang hin.
Als der wieder aufging, wurde ihr die große Freude zuteil, einen Erzbischof zu sehen. Wieder erging es ihr wie vorhin: sie verlor sich so gänzlich in seinen Anblick, daß sie von dem, was er sagte, überhaupt kein Wort hörte. Aber jetzt erklang Musik—leise, leise—aus weiter Ferne. Sie kam näher—Gesang von Frauenstimmen—ein Spiel von Flöten und Geigen und einem Instrument, das nicht Guitarre war und doch wie viele Guitarren, bloß weicher, voller, mit schwingenden Tönen—die ganze Harmonie flutete zu langen, schwebenden Wellen zusammen. Und als alles zu wogenden Farben geworden war, da kam der Zug,—Soldaten mit Hellebarden, Chorknaben mit Weihrauchfässern, Mönche mit brennenden Kerzen, der König mit der Krone auf dem Haupt und an seiner Seite der Bräutigam, im weißen Gewand—hinter ihnen wieder die weißen Jungfrauen; singend streuten sie Rosen vor der Braut, die in weißer Seide, mit einem roten Rosenkranz im Haar, einherschritt. An ihrer Seite ging eine hohe Frauengestalt in golddurchwirktem, langschleppendem Purpurgewand, auf dem Haupt eine schmale, funkelnde Krone; das mußte die Königin sein. Die ganze Kirche war voll Musik und Farben, und alles, was nun geschah, vom Augenblick an, da der Bräutigam die Braut zum Brautschemel führte, auf dem sie niederkniete, während das ganze Brautgefolge im Kreis um sie kniete, bis der Erzbischof an der Spitze der Klosterbrüder erschien,—das alles waren bloß Verschlingungen in der bunten Harmonienkette.
Aber als nun die Trauung vor sich gehen sollte, da erhob der Erzbischof plötzlich seinen Stab und gebot Einhalt. Ihre Vermählung sei wider die heiligen Vorschriften, nie und nimmer dürften sie einander angehören. O himmlischer Vater, erbarme dich! Die Braut sank in Ohnmacht; und Petra fiel mit einem durchdringenden Schrei auf ihren Platz zurück; denn sie hatte zuletzt wieder gestanden.
"Wasser! Wasser!" rief es um sie her. "Nicht nötig!" erwiderte die alte Dame. "Sie ist ja gar nicht bewußtlos." "Still!" rief es vom Parkett herauf. "Ruhe da oben!" "Ruhe da unten!" tönte es vom Balkon zurück.—"Sie müssen sich's nicht so zu Herzen nehmen", flüsterte die alte Dame. "Es ist doch alles bloß erdichtet und erfunden! Aber Frau Naso spielt wirklich brillant!"
"Still!" rief nun auch Petra. Sie war schon wieder ganz in der Handlung. Der diabolische Mönch war wieder da, mit einem Schwert in der Hand. Die beiden Liebenden mußten ein Tuch zwischen sich halten, und er schnitt es in der Mitte durch, wie die Kirche schneidet, wie der Schmerz schneidet, wie das Schwert über der Pforte des Paradieses schnitt an jenem ersten Tag. Weinende Frauen nahmen der Braut den roten Kranz vom Haar und setzten ihr einen weißen auf; damit war sie fürs Leben dem Kloster geweiht. Und er, dem sie angehörte für Zeit und Ewigkeit, er sollte sie am Leben wissen und sie dennoch nimmermehr sein eigen nennen, sollte sie hinter Klostermauern wissen und sie nimmer wiedersehen. Wie herzzerreißend war dies letzte Lebewohl! Keine größere Not gab es auf Erden als ihre!—
"Du lieber Gott!" flüsterte die alte Dame, als der Vorhang fiel, "so seien Sie doch nicht so närrisch! Es ist doch bloß Frau Naso, dem Direktor seine Frau!" Petra riß die Augen auf und starrte die brave Frau an. Die muß verrückt sein! dachte sie. Und da die alte Dame von Petra schon längst dasselbe gedacht hatte, redeten sie nun überhaupt nicht mehr miteinander, sondern warfen sich nur von Zeit zu Zeit scheue Blicke zu.
Als der Vorhang wieder aufging, kam Petra nicht mehr so recht mit. Sie sah nur noch die Braut hinter den Klostermauern und den Bräutigam, der Tag und Nacht voller Verzweiflung draußen umherirrte; sie litt ihre Qualen mit, sie betete mit ihnen ihre Gebete; das, was sich vor ihren Augen abspielte, glitt farblos an ihr vorüber. Da plötzlich wurde sie durch eine mahnende Stille in die Gegenwart zurückgerufen. Der leere Kirchenraum wird weit und groß, die zwölf Schläge der Mitternachtsstunde hallen durch den Raum. Das Gewölbe erdröhnt, die Mauern erbeben; der heilige Olaf, im Totengewand, erhebt sich aus seinem Sarge, hoch und dräuend; den Speer in der Hand, kommt er geschritten; die Wache flieht,—ein Donnerschlag—und der Mönch sinkt, vom Speer durchbohrt, nieder. Dann wird alles dunkel, die Erscheinung ist verschwunden. Nur der Mönch liegt noch da wie ein Haufen Asche auf der Stelle, wo der Blitz niederfuhr.
Petra hatte sich unwillkürlich an die alte Dame angeklammert, der es unter diesem krampfhaften Griff höchst unbehaglich zumute war, und die nun, als sie das Mädchen immer blasser werden sah, rasch sagte: "Du meine Güte, Kind, es ist doch nur Knutsen; es ist die einzige Rolle, die er spielen kann, mit seiner heiseren Stimme!"—"Nein, nein, nein, nein! Ich hab' Flammen rings um ihn gesehen!" sagte Petra, "und die Kirche hat gezittert unter seinen Tritten!"—"Ruhe!" ertönte es von verschiedenen Seiten. "Wer nicht still sitzen kann,—'raus!"—"Heda! Ruhe da oben!" klang es vom Parkett. "Ruhe!" klang es vom Balkon zurück. Petra war ganz in sich zusammengekrochen, als wolle sie sich verstecken; aber gleich darauf hatte sie alles um sich her vergessen. Denn plötzlich waren die beiden Liebenden wieder da,—der Blitz hat ihnen den Weg gebahnt,—sie wollen fliehen. Sie haben sich wieder,—sie sinken sich in die Arme,—o Gott im Himmel, beschütze sie!
Da erhebt sich ein Lärm—Geschrei und Hörnerklang—der Bräutigam wird von ihrer Seite gerissen,—es gilt den Kampf—den Kampf fürs Vaterland. Er wird verwundet, und sterbend sendet er der Geliebten seinen letzten Gruß!——Petra faßt erst, was geschehen ist, als die Braut still hereintritt und—seine Leiche erblickt. Und da ist es, als sammelten alle Wolken des Schmerzes sich über einem einzigen Punkt; aber ein Blick zerteilt sie: die Braut blickt auf von des Toten Brust und fleht zum Himmel, daß er auch sie sterben lasse. Und der Himmel öffnet sich diesem Blick, ein Leuchten senkt sich nieder, droben wartet der Hochzeitssaal—lasset die Braut ein! Schon sieht sie den Himmel offen; von ihren Augen strahlt ein Friede gleich dem Frieden hoher Gipfel. Ihre Augenlider schließen sich, dem Kampf erblüht eine erhaben-edlere Lösung, ihrer Treue eine herrlichere Krone; sie sind vereint.
Lange saß Petra regungslos da; ihr Herz war im Glauben erhoben, die Macht des Großen erfüllte sie. Sie schwang sich empor über alles Kleine; sie schwang sich empor über Furcht und Schmerz; sie schwang sich empor, mit einem Lächeln für alle: denn alle waren Brüder und Schwestern. Das Böse, das da trennt, war nicht mehr,—es war zerschmettert vom Donner. Die Leute lachten sie an,—das war ja das Mädel, das sich während der Vorstellung so verrückt benommen hatte. Sie aber sah in ihrem Lächeln nichts anderes als den Wiederschein des Sieges Jubels, der in ihr selber war. Und in dem Glauben, daß die anderen mit ihr lächelten, lächelte sie so strahlend zur Antwort, daß die anderen alle lächeln mußten mit ihrem Lächeln. Sie schritt die breite Treppe hinab zwischen zwei auseinanderweichenden Reihen von Menschen, die ihr Freude von ihrer Freude, Schönheit von der Schönheit zurückgaben, die über ihr leuchtete. Der Glanz unseres Innern kann oft so mächtig werden, daß wir alles um uns her in Klarheit tauchen, ob wir es selbst auch nicht sehen. Das ist der größte Triumphzug der Welt, angekündigt, getragen und geleitet zu werden von unseren eigenen leuchtenden Gedanken.
Als sie, ohne zu wissen wie, zu Hause angelangt war, fragte sie, was das alles denn eigentlich gewesen sei. Einige der Anwesenden verstanden sie auch und gaben ihr hilfreich Auskunft. Und als sie nun genau Bescheid wußte, was ein Schauspiel ist, und was große Schauspieler vermögen, da stand sie auf und sagte: "Das ist das Größte auf Erden; das will ich werden."
Zur Verwunderung aller zog sie ihren Mantel wieder an und ging noch einmal aus; sie mußte allein sein und im Freien. Sie ließ die Stadt hinter sich und wanderte im heftigen Wind hinaus auf die nächste Landzunge. Unter ihr brauste das Meer; die Stadt aber lag zu beiden Seiten der Bucht, in einem Lichtnebel, hinter dem die zahllosen einzelnen Flammen mit vereinigten Kräften arbeiteten, ohne doch mehr zu erreichen, als den Flor zu durchleuchten, den sie nicht heben konnten. Das wurde ihr zum Bild ihrer eigenen Seele. Das große Dunkel zu ihren Füßen gab mit seinem dumpfen Tosen Kunde von einer undurchdringlichen Tiefe; es galt, entweder hinabzusinken oder sich emporzuheben und zu versuchen, mitzuleuchten. Sie fragte sich, warum ihr früher nie solche Gedanken gekommen waren, und sie antwortete sich selbst: weil immer nur der Augenblick über sie Macht gehabt hatte. Jetzt aber fühlte sie: auch sie hatte Macht über den Augenblick. Jetzt sah sie es: so viele Lichter dort drüben funkelten, so viele Augenblicke würden ihr gegeben werden, und sie bat Gott um die Kraft, sie alle voll auszunützen, damit er keinen vergebens entzündet hätte. Sie stand auf; denn es wehte ein eisiger Wind. Sie war nicht lange draußen gewesen; aber als sie wieder nach Hause ging, da wußte sie, wohin sie ging.
* * * * *
Am nächsten Tage stand sie vor der Tür des Direktors. Heftiges Schelten tönte ihr von drinnen entgegen. Die eine Stimme schien ihr Ähnlichkeit mit der Stimme der Liebhaberin von gestern Abend zu haben. Freilich ging sie jetzt aus einer andern Tonart, aber Petra erbebte doch bei ihrem Klang. Sie wartete lange; als es immer noch kein Ende nehmen wollte, klopfte sie an. "Herein!" schrie eine wütende Männerstimme. "Oh!" kreischte eine Frauenstimme, und als Petra öffnete, sah sie das fliehende Entsetzen eines Nachtgewandes und aufgelösten Haares durch eine Seitentür verschwinden. Der Direktor, ein langer Mensch mit unfreundlichen Augen, die er eiligst hinter einer goldenen Brille versteckte, lief aufgeregt im Zimmer hin und her. Seine lange Nase beherrschte das Gesicht so gänzlich, daß alles übrige nur ihretwegen da zu sein schien; die Augen guckten wie zwei Gewehrläufe hinter diesem Wall hervor, der Mund war der Graben und die Stirn eine leichte Brücke vom Wall hinüber zu dem Wald oder dem "Verhau".—"Was wünschen Sie?" Er blieb mit einem Ruck stehen. "Sind Sie die Dame, die gern Choristin werden möchte?" setzte er eilfertig hinzu.—"Choristin? Was ist das?"—"Nanu—das wissen Sie gar nicht? So, so! Na, was wollen Sie denn sonst?"—"Ich will Schauspielerin werden."—"So, Schauspielerin wollen Sie werden—und wissen nicht, was eine Choristin ist. Hm, hm. Aber Sie reden ja Dialekt!"—"Dialekt? Was ist das?"—"So, also das wissen Sie auch nicht. Und dabei wollen Sie Schauspielerin werden. Hm, hm. Ja, das ist wieder mal echt Norwegisch. Dialekt—das will sagen, daß Sie nicht so sprechen wie wir."—"Ja, aber ich hab' mich den ganzen Morgen darin geübt."—"So, wirklich? Schau', schau'! Also schießen Sie mal los!"—Und Petra stellte sich auf und deklamierte wie die Liebhaberin gestern Abend: "Un so wist Deine Valborg Du verlaten!"[2] "Na, aber,—Himmelkreuzdonnerwetter! Sind Sie etwa hergekommen, um sich über meine Frau lustig zu machen?" Aus dem Nebenzimmer ertönte schallendes Gelächter. Der Direktor öffnete die Tür und rief, augenscheinlich ohne die leiseste Erinnerung daran, daß sie sich den Augenblick vorher noch auf Leben und Tod gezankt hatten: "Da ist eine kleine Norwegerin, die Dich karikieren will! Komm doch mal und sieh sie Dir an!" Ein Damenkopf mit ungekämmtem, trotzig schwarzem Haar, dunkeln Augen und einem großen Mund schaute herein und lachte. Petra aber eilte augenblicklich auf sie zu; das mußte die Heldin sein von gestern Abend—oder nein, ihre Mutter, dachte sie, als die Dame näher kam. Petra sah sie an und sagte: "Ich weiß nicht—sind Sie's … oder sind Sie ihre Mutter?" Jetzt lachte auch der Direktor. Der Frauenkopf hatte sich wieder zurückgezogen, aber aus dem Nebenzimmer tönte noch immer das Lachen. Petras Verlegenheit malte sich so lebhaft in Stellung, Gesicht, Mienenspiel, daß der Direktor aufmerksam wurde. Er betrachtete sie eine Weile; dann griff er nach einem Buch und sagte so ganz beiläufig: "Kommen Sie mal her, Kind, und lesen Sie. Aber lesen Sie einfach so, wie Sie für gewöhnlich sprechen." Petra las.—"Nein, nein—das ist ja Unsinn! Hören Sie zu!" Und er las ihr vor, und sie las ihm nach, genau so, wie er gelesen hatte. "Nein doch, nein! So lesen Sie doch norwegisch—den Teufel noch mal—norwegisch!" Und Petra las wieder wie vorhin. "Nein doch, sag' ich! Das ist ja der helle Blödsinn! Begreifen Sie denn nicht, was ich meine? Sind Sie dumm!"—Er versuchte es wieder und wieder; dann gab er ihr ein anderes Buch. "Da,—hier haben Sie was anderes: etwas Komisches. Also los!" Und Petra las. Aber wieder war es dieselbe Geschichte, bis er endlich gelangweilt ausrief: "Ach was, nein doch, nein! So hören Sie endlich einmal auf! Was, Teufel, wollen Sie denn eigentlich beim Theater? Was wollen Sie denn spielen zum Kuckuck?"—"Das, was ich gestern gesehen hab', will ich spielen."—"Aha! Na ja, selbstverständlich! natürlich! Na—und…?"—"Ja," sagte sie ein bißchen verlegen, "es war ja auch wirklich so wunderschön gestern; aber ich hab' mir heut doch gedacht,—noch viel schöner wäre es, wenn es gut ausginge. Das möcht' ich gern machen."—"So, also das möchten Sie.—Hm, na ja, genieren Sie sich nur nicht! Der Dichter ist tot. Der steht natürlich heutzutage nicht mehr auf der Höhe; und darum wollen Sie, die weder lesen noch schreiben kann, ihn umdichten;—echt Norwegisch!"—Petra begriff kein Wort; nur das begriff sie—ihre Sache stand schlecht. Und ihr wurde ängstlich zumute. "Also ich darf nicht?" fragte sie leise. "I, aber natürlich! Durchaus nichts im Wege! Bitte! Hören Sie!" sagte er in ganz verändertem Ton, während er dicht an sie herantrat, "vom Komödienspielen verstehen Sie so wenig wie eine Katze. Und Talent haben Sie keins, weder fürs Komische, noch fürs Tragische; ich hab' Sie jetzt in beidem geprüft. Weil Sie ein hübsches Frätzchen haben und eine hübsche Figur, haben die Leute Ihnen in den Kopf gesetzt, Sie seien die geborene Schauspielerin, natürlich eine viel bessere als meine Frau! Und dazu suchen Sie sich auch gleich die größte Rolle im ganzen Repertoir aus und dichten sie noch obendrein um. Jawohl! Echt Norwegisch! Die können ja alles!"—Petras Atem ging schneller und schneller; sie schluckte und schluckte und endlich wagte sie zu flüstern: "Also ich darf wirklich nicht?"—Der Direktor stand am Fenster und sah hinaus. Er hatte gedacht, sie sei schon längst fort. Erstaunt wandte er sich um. Aber als er ihre Erregung sah und die wunderbare Kraft, die sich dadurch ihrem ganzen Wesen aufprägte, stand er einen Augenblick still, griff dann plötzlich aufs neue nach dem Buch und sagte mit einer Stimme und einem Gesichtsausdruck, in denen alles Vorhergegangene wie weggeblasen war: "Da, lesen Sie mal das da, ganz langsam,—damit ich einmal Ihr Organ höre. Na, los!" Aber sie konnte nicht lesen. Die Buchstaben tanzten ihr vor den Augen. "Na, nur nicht so verzagt!" Endlich fing sie an, aber kalt, farblos. Er ließ sie die Stelle wiederholen—"mit mehr Gefühl". Es wurde nur noch schlechter. Da nahm er ihr das Buch ruhig aus der Hand und sagte: "Ich habe Sie jetzt nach jeder Richtung hin geprüft; mehr kann ich nicht tun. Ich versichere Ihnen, mein bestes Fräulein, ob ich meinen Stiefel auf die Bühne schicke oder Sie—es würde genau denselben Eindruck machen, nämlich einen höchst sonderbaren. Und damit wollen wir's genug sein lassen!" Mit letzter Aufbietung ihrer Kräfte stotterte Petra flehend: "Ich glaube, ich versteh' es doch, wenn ich bloß—" "Natürlich! Selbstredend! Jedes lumpige Fischernest versteht ja mehr davon als wir. Das norwegische Publikum ist das gebildetste der ganzen Welt. Na, wenn Sie nicht gehen wollen, so geh' ich!" Sie wandte sich zur Tür und brach in Tränen aus. "Sagen Sie mal—" rief er; denn bei ihrer heftigen Erregung ging ihm plötzlich ein Licht auf. "Sie sind doch nicht etwa die Person, die gestern abend solchen Skandal im Theater gemacht hat?"—Sie wandte sich feuerrot um und sah ihn an. "Natürlich sind Sie's! Jetzt weiß ich, wer Sie sind! Das 'Fischermädel'! Ich war nach dem Theater mit einem Herrn aus Ihrem Heimatort zusammen; mit einem, der Sie 'gut kannte!' So, also darum möchten Sie so gern zum Theater! Sie möchten Ihre Künste dort probieren—aha! Wissen Sie was: mein Theater ist ein anständiges Institut, und ich verbitte mir jeglichen Versuch, es zu reformieren. Machen Sie, daß Sie fortkommen! Aber etwas plötzlich, wenn ich bitten darf!"—Und laut aufschluchzend rannte Petra zur Tür hinaus, die Treppe hinunter und auf die Straße. Schluchzend, weinend lief sie so, mitten unter allen Menschen. Eine Dame, die am hellichten Tag weinend durch die Straßen läuft, mußte, wie man sich denken kann, großes Aufsehen erregen. Leute blieben stehen, Gassenjungen rannten hinter ihr drein, erst einige, dann mehrere. Und in diesem Lärm hinter sich her hörte Petra wieder das Toben und Branden jener Nächte in ihrem Giebelstübchen—sah wieder all die Gesichter in der Luft—und rannte, rannte! Aber wie hinter ihr der Lärm, so wuchs mit jedem Schritt auch die Erinnerung, und als sie das Haus erreicht, die Haustür hinter sich zugeschlagen, sich auf ihr Zimmer geflüchtet und den Schlüssel umgedreht hatte, da mußte sie sich niederwerfen in einen Winkel und die Gesichter abwehren; mit den Händen schlug sie danach—stieß Drohungen aus.—Schließlich sank sie erschöpft zusammen,—ihre Tränen flossen ruhiger,—sie war gerettet.
[2] Aus Adam Oehlenschlägers Schauspiel "Axel und Valborg."
* * * * *
Noch am Abend desselben Tages verließ sie Bergen und fuhr landeinwärts. Sie wußte selbst nicht wohin. Sie wollte nur irgendwohin, wo man sie nicht kannte. Sie saß im Karriol, ihr Koffer war hinten aufgeschnallt, und obendrauf saß der Postbub. Es regnete in Strömen; sie saß zusammengekauert unter einem großen Regendach und blickte voll Bangen bald an der Bergwand empor, bald in den Abgrund auf der andern Seite hinab. Der Wald vor ihr war eine einzige brütende Nebelmasse, voll Gespenster. Im nächsten Augenblick mußte sie mitten drin sein. Aber immer wieder wich der Nebel zurück, mit jedem Schritt, den sie in den Wald hineintat. Ein mächtiges Dröhnen, das immer gewaltiger wurde, verstärkte in ihr das Gefühl, als bewege sie sich in einem geheimnisvollen Kreis, in dem alles seine eigene Bedeutung, seinen dunkeln Zusammenhang hatte und in dem der Mensch nichts war als ein furchtsamer Wandersmann, der eben sehen mußte, wie er weiter kam. Das Dröhnen rührte von den Sturzbächen her, die durch die Regengüsse zu Riesen angeschwollen waren und nun unter Brüllen und Tosen stoßweise von Fels zu Fels in die Tiefe sprangen. Wo der Weg ging, führten schmale Brücken hinüber; sie sah es unter sich brodeln in den hohlen Kesseln. Bald ging es in Krümmungen und Windungen abwärts; da und dort ein vereinzeltes Stück Ackerland, ein paar torfbedeckte Hütten auf einem Klumpen. Dann wieder aufwärts, dem Wald und dem Rauschen entgegen. Sie war durchnäßt, sie fror. Aber sie wollte weiter, solang es Tag war, weiter auch am nächsten Tag,—immer tiefer ins Land hinein, bis sie eine Stätte fand, wo sie geborgen war. Und dazu würde er ihr helfen, er, der Allmächtige, der sie jetzt leitete durch Dunkel und Sturm.
Achtes Kapitel
Ein mildes Spätjähr kann manchmal gerade in den fruchtbaren und geschützten Gebirgstälern des Stiftes Bergen noch tief im Herbst die reinsten Sommertage bringen. Da läßt man über Mittag das Vieh wieder auf die Weide, auch wenn es schon zur Winterfütterung eingebracht ist. Und die Tiere sind wohlgenährt und übermütig um diese Zeit und bringen, wenn sie am Abend heimgetrieben werden, Leben genug auf den Hof.
So kamen sie gerade den Viehsteig herunter, auf ein großes Gehöft zu—Kühe, Schafe und Ziegen, brüllend, blökend und tanzend … als Petra vorüberfuhr. Der Tag war hell; das lange weiße Gutshaus leuchtete mit seinen Fenstern in der Sonne, und über dem Haus stieg das Gebirge auf, so vollgepackt von Föhren, Birken, Faulbäumen und Ebereschen, von Heckenrosen und allen Ausläufern, daß die Gebäude darunter wie eingebettet lagen. Vor dem Hauptgebäude, am Weg, war ein Garten; darin standen üppige Äpfel-, Kirsch- und Morellenbäume; und an den Wegen und am Zaun wuchsen Stachelbeer-, Johannisbeer- und Himbeerbüsche. Über alles hin ragten ein paar große alte Eschen mit breiten Kronen. Das Haus sah wie ein verstecktes Nest zwischen den Ästen hervor, ein Nest, in das niemand drang, als die Sonne. Aber gerade dieses Versteckte erregte Petras Sehnsucht. Und weil die Sonne aus den Scheiben funkelte, und die Herdenglocken so fröhlich lockten, und sie hörte, daß das ein Pfarrhof sei, griff sie hurtig in die Zügel: "Halt! Hier muß ich hinein!" Und bog seitwärts ab, am Garten entlang.
Ein paar Wolfshunde stürzten ihr wütend entgegen, als sie in den Hof fuhr. Der Hof war ein großes, eingebautes Viereck. Dem Wohnhaus gegenüber der Kuhstall, rechts ein Flügel des Wohnhauses, links Waschhaus und Gesindewohnung. Der ganze Hof war gerade voll von Vieh. Mitten unter den Tieren stand eine Dame, ziemlich groß und sehr schlank. Sie trug ein eng anschließendes Kleid und über dem Kopf ein kleines seidenes Tuch. Rings um sie herum und an ihr hinauf sprangen Ziegen, weiße, braune, scheckige, schwarze, alle mit kleinen Glocken, die im Dreiklang abgestimmt waren. Und für jede Ziege hatte sie einen Kosenamen und einen Leckerbissen in einer Schüssel, die die Milchmagd immer wieder füllte. Auf der niedrigen Treppe, die vom Wohnhaus auf den Hof führte, stand der Propst mit einer Schüssel Salz, und vor der Staffel standen die Kühe und leckten ihm das Salz aus der Hand und von den Steinfließen, auf die er es streute, Der Propst war kein großer, aber gedrungener Mann, mit kurzem Hals und niederer Stirn. Die buschigen Brauen beschatteten ein Paar Augen, die nicht gern geradeaus, sondern nur ab und zu seltsam funkelnd von der Seite blickten. Das kurzgeschnittene dichte Haar war grau und sträubte sich nach allen Seiten; es wuchs den Nacken hinab fast ebenso stark wie auf dem Kopf; er trug keine Krawatte, das Hemd war mit mit einem Knopf zusammengehalten und stand vorn offen, so daß die behaarte Brust sichtbar war; auch die Hemdärmel waren nicht zugeknöpft und hingen lose über den kleinen kräftigen, augenblicklich klebrigen Händen, mit denen er das Salz austeilte. Hände und Arme waren dicht behaart. Er warf von der Seite her einen scharfen Blick auf die fremde Dame, die da ausgestiegen war und sich durch die Ziegen den Weg zu seiner Tochter gebahnt hatte. Was die beiden miteinander redeten, konnte er vor dem Lärm, den Kühe, Hunde und Schellen machten, nicht hören; aber jetzt blickten die beiden zu ihm herüber und kamen, umringt von den Ziegen, auf die Treppe zu. Ein Hirtenjunge trieb auf einen Wink des Propstes die Kühe fort. Und Signe, die Tochter, rief jetzt… Petra empfand voll Behagen den Wohllaut der Stimme: "Vater, da ist eine fremde Dame, die gern einen Tag bei uns ausruhen möchte!"—"Sie ist mir herzlich willkommen!" rief der Propst zurück; dann gab er das Salzfaß einer Magd und ging in sein Studierzimmer rechts vom Hausflur, um sich zu waschen und zurechtzumachen. Petra folgte dem Fräulein in den Hausflur, der eigentlich ein Vorzimmer war, so hell und so geräumig war er. Der Postjunge wurde abgelohnt, ihr Gepäck wurde ins Haus geschafft, in einem der Studierstube gegenüberliegenden Nebenzimmer machte sie sich ein bißchen zurecht und trat dann wieder hinaus in den Flur, um sich von dort ins Wohnzimmer führen zu lassen.
Was für ein helles großes Zimmer! Fast die ganze Wand nach dem Garten zu bestand aus Fenstern; das mittlere war zugleich eine Gartentür. Die Fenster waren breit und hoch und reichten beinah bis auf den Fußboden; aber sie standen ganz voll Blumen. Blumen auf Ständern bis tief ins Zimmer herein, Blumen auf den Fensterbrettern, und statt der Gardinen schlangen sich Efeuranken aus zwei kleinen Blumenhecken hoch oben am Fensterrahmen bis auf die Erde. Und da auch draußen Sträucher und Blumen standen, unter dem Fenster, an beiden Seiten, um die Scheiben herumgerankt und auf dem Rasenplatz davor, so glaubte man in ein Treibhaus zu treten, das mitten in einem Garten lag. Und doch,—kaum war man einige Augenblicke im Zimmer, so sah man die Blumen gar nicht mehr; man sah nur noch die Kirche, die frei auf einer Anhöhe zur Rechten lag, und das blauschimmernde Wasser, das ihr Bild aufnahm und flimmernd dahinströmte, bis tief in die Berge hinein, so tief, daß man nicht wußte, war es ein Binnensee oder ein Meeresarm, der sich hereinschlängelte. Und dann die Berge selbst! Kein einzelner Berg, nein, ganze Ketten von Bergen, ein Bergrücken immer gewaltiger hinter dem andern emporragend, als sei hier die Grenze der bewohnten Welt!
Als Petras Blicke sich endlich von diesem Bilde lösten, war alles im Zimmer wie geweiht durch den Anblick da draußen; rein und anmutig schlang es sich als ein Blumenrahmen um das großzügige Gemälde. Ihr war, als umgebe sie ein Unsichtbares, das auf ihr Tun, auf ihr Denken Acht hatte; ohne sich dessen bewußt zu sein, ging sie prüfend im Zimmer umher und berührte die einzelnen Gegenstände. Da sah sie über dem Sofa an der langen Wand dem Licht gegenüber das lebensgroße Bild einer Frau, die auf sie herablächelte. Sie saß mit leicht geneigtem Haupt und gefalteten Händen da; der rechte Arm ruhte auf einem Buch, dessen Rücken in deutlichen Lettern die Inschrift: "Sonntagsbuch", trug. Blond von Haar und licht von Farbe, strahlte sie hernieder und verlieh Sonntagsruhe allem, was sie bestrahlte. Ihr Lächeln war Ernst, aber der Ernst war Hingebung; es war, als ziehe sie alles und alle in Liebe an sich; denn es war, als verstehe sie alles, weil sie in allem nur das Gute sah. Ihr Antlitz trug das Gepräge krankhafter Zartheit; aber diese Schwäche mußte ihre Stärke sein; denn den Menschen, der dieser Schwäche hatte wehtun können, den gab es sicherlich nicht. Um den Rahmen hing ein Immortellenkranz; sie war also tot.
"Das war meine Mutter!"—hörte Petra hinter sich eine sanfte Stimme sagen; sie wandte sich um und sah die Tochter des Hauses vor sich stehen, die vorhin hinausgegangen und jetzt wieder eingetreten war. Aber das ganze Zimmer war fortan ausgefüllt von dem Bilde; alles leitete zu ihm hinan, alles erhielt von ihm sein Licht, alles war nur des Bildes wegen da, und die Tochter war sein stiller Abglanz. Ein bißchen schweigsamer erschien die Tochter, ein bißchen zurückhaltender. Die Mutter zog den Blick auf sich und gab ihn voll zurück; die Tochter hielt den ihren gesenkt. Aber dabei dieselbe Klarheit, dieselbe Milde. Auch die Gestalt der Mutter hatte sie; doch ohne eine Spur von Kränklichkeit. Die lebhaften Farben ihres festanliegenden Kleides, ihrer Schürze, der kleinen Krawatte, die von einer römischen Nadel zusammengehalten war, gaben im Gegenteil ihrem Gesicht etwas Frisches und ließen eine Anmut und einen Sinn für Anmut ahnen, die sie zur Tochter des Bildes dort oben und zum guten Genius des Hauses stempelten. Und wie sie das Mädchen so zwischen den Blumen der Mutter umhergehen sah, stieg eine große Sehnsucht nach ihr in Petra auf. Im Umgang mit dieser Frau, in diesem Hause mußte alles Gute gedeihen. Wenn sie nur Einlaß fände! Sie empfand ihre Verlassenheit doppelt. Unverwandt folgten ihre Blicke Signe, wo diese ging und stand; Signe fühlte es und suchte auszuweichen; vergebens. Zuletzt wurde sie ganz verlegen und beugte sich über ihre Blumen. Endlich wurde Petra sich ihrer Aufdringlichkeit bewußt; sie schämte sich und hätte gern um Verzeihung gebeten. Aber etwas an diesem sorgfältig geordneten Haar, der feinen Stirn, dem eng anliegenden Kleid mahnte sie zur Vorsicht. Sie blickte auf zur Mutter; oh, die hätte sie auf der Stelle umarmen können! War es nicht, als ob sie sie willkommen hieße? Durfte sie wirklich hoffen? So hatte noch kein Mensch sie angesehen! In diesem Blick stand geschrieben: alles weiß ich; ich kenne dich, du Verirrte,—und ich verzeihe dir! Und sie brauchte diese Nachsicht,—sie konnte den Blick nicht abwenden von diesen gütigen Augen. Sie neigte das Haupt, wie die Frau auf dem Bilde, sie faltete die Hände,—und fast ohne es selber zu wissen, wandte sie sich um: "Lassen Sie mich hier bleiben!" Signe richtete sich auf und sah sie an; sie war so erstaunt, daß sie gar nicht antworten konnte. "Lassen Sie mich hier bleiben!" bat Petra wieder und ging auf sie zu. "Hier ist es schön!" Und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
"Ich will meinen Vater holen!" sagte das junge Mädchen. Petra folgte ihr mit den Augen, bis sie hinter der Tür des Studierzimmers verschwunden war. Aber sobald sie wieder allein war, überfiel sie eine Angst vor dem, was sie getan hatte; und als sie in der Tür das erstaunte Gesicht des Propstes sah, zitterte sie. Er trat ein, etwas sorgfältiger gekleidet als vorhin, im Munde die Pfeife, die er mit festem Griff umklammert hielt. So oft er den Rauch einsog, ließ er sie aus den Lippen gleiten, und stieß dann den Rauch in drei Absätzen wieder heraus, wobei er jedesmal leise paffte. Das wiederholte er einige Male, während er mitten im Zimmer gerade vor Petra stehen blieb, ohne sie anzusehen, aber als erwarte er, daß sie etwas sagen solle. Sie getraute sich nicht, diesem Mann gegenüber ihre Bitte zu wiederholen; er sah so streng aus. "Sie möchten hier bleiben?" fragte er und streifte sie mit einem langen, leuchtenden Seitenblick. Die Angst verlieh ihrer Stimme etwas Bebendes. "Ich weiß nicht, wo ich sonst hin soll." "Wo sind Sie her?" Petra nannte leise ihren Geburtsort und ihren Namen. "Wie kommen Sie denn hierher?"
"Ich weiß nicht—ich möchte—ich will gern bezahlen—ich—ich weiß nicht—" Sie wandte sich ab; eine Weile konnte sie überhaupt nicht mehr sprechen, dann faßte sie wieder Mut und sagte: "Ich will ja alles tun, was Sie von mir verlangen,—wenn ich bloß hier bleiben darf und nicht weiter muß,—und nicht noch einmal ein zweites Mal bitten—" Die Tochter war mit dem Vater wieder hereingekommen, war aber beim Kamin stehen geblieben und fingerte dort, ohne aufzublicken, in den gedörrten Rosenblättern herum. Der Propst erwiderte nichts. Man hörte nur sein Pfeifenpaffen, während er abwechselnd bald Petra, bald die Tochter, bald das Bild ansah. Nun kann ein und derselbe Gegenstand einen ganz verschiedenen Eindruck hervorrufen. Während Petra innerlich flehte, das Bild möge ihn günstig stimmen, schien es dem Propst, als flüstere es ihm zu: "Schütze unser Kind! Nimm niemand Fremdes zu ihr ins Haus!" Mit einem scharfen Seitenblick wandte er sich zu Petra und sagte: "Nein! Sie können nicht bleiben."
Petra erblaßte, seufzte tief auf, blickte sich unsicher um und stürzte ins Nebenzimmer, dessen Tür halb offen stand. Dort warf sie sich kopfüber auf einen Tisch und überließ sich haltlos ihrem Schmerz und ihrer Enttäuschung!—Vater und Tochter sahen einander an.
Solch ein Mangel an Lebensart—ohne weiteres in ein fremdes Zimmer zu stürmen und sich einfach gehen zu lassen—das hatte wirklich nur seinesgleichen in der Art, wie sie von der Landstraße hereingeschneit war, gebeten hatte, hier bleiben zu dürfen, und dann, als man ihr das abschlug, laut zu heulen anfing. Der Propst ging ihr nach, nicht um mit ihr zu reden, sondern um die Tür hinter ihr zuzumachen. Mit feuerrotem Gesicht kam er zurück und sagte leise zur Tochter, die noch am Ofen stand: "Hast Du jemals so was von Frauenzimmer gesehen? Wer ist sie denn? Was will sie?" Die Tochter antwortete nicht gleich; aber als sie endlich antwortete, sprach sie noch leiser als der Vater: "Sie führt sich ja freilich verdreht auf. Aber etwas Besonderes hat sie doch an sich." Der Propst ging im Zimmer auf und ab und blickte immer wieder zur Tür. Zuletzt blieb er stehen und flüsterte: "Sie muß nicht ganz richtig im Kopf sein!" Und als Signe nichts erwiderte, trat er näher auf sie zu und wiederholte bestimmter: "Sie ist verrückt, Signe. Einfach verrückt. Das ist das Besondere an ihr!" Wieder fing er an, auf und ab zu gehen; schließlich kam er auf andere Gedanken; und fast hatte er schon vergessen, was er eben gesagt hatte, als die Tochter flüsternd antwortete: "Das glaub' ich nicht. Aber sehr unglücklich muß sie sein!" Und sie beugte sich über die welken Rosenblätter, mit denen ihre Finger noch immer spielten. Der Klang der Stimme sowie dies Spielen hätte für einen Fremden nichts Auffallendes gehabt; aber der Vater wurde sofort aufmerksam. Er ging, das Bild an der Wand betrachtend, ein paarmal durchs Zimmer und sagte endlich sehr leise: "Meinst Du, weil sie unglücklich aussieht—würde—Mutter ihr erlaubt haben, zu bleiben?"—"Mutter hätte mit ihrer Antwort überhaupt ein paar Tage gewartet!" flüsterte die Tochter und beugte sich noch tiefer über die Rosen. Die leiseste Erinnerung an sie da droben konnte, wenn die Tochter sie ihm zu Gemüte führte, den buschigen Löwenkopf zahm machen wie ein Lamm. Er fühlte sogleich die Wahrheit ihrer Worte und stand da wie ein Schuljunge, der beim Lügen ertappt wird; er vergaß seine Pfeife, er dachte nicht mehr ans Gehen, und erst nach einer langen Weile flüsterte er: "Soll ich sie bitten, ein paar Tage bei uns zu bleiben?" "Du hast ihr ja schon geantwortet."
"Nun ja,—aber sie ganz bei uns aufnehmen oder sie ein paar Tage behalten,—das ist zweierlei." Auch Signe schien zu überlegen. Endlich sagte sie: "Tu, was Du für das Beste hältst!"
Der Propst schien sich diesen Vorschlag doch noch näher zu überlegen. Er ging wieder verschiedene Male im Zimmer auf und ab und stieß dicke Rauchwolken aus. Endlich blieb er stehen. "Willst Du zu ihr hinein—oder soll ich—?" "Es wird schon das beste sein, Du gehst zu ihr!" sagte die Tochter mit einem weichen Blick.
Der Propst hatte schon die Hand an der Türklinke, als von drinnen ein schallendes Gelächter ertönte. Dann wieder Stille—und aufs neue eine wahre Lachsalve. Der Propst war zurückgeprallt; jetzt ging er wieder auf die Tür los; die Tochter hinter ihm her. Das Mädchen da drin mußte krank geworden sein.
Als die Tür aufging, sahen sie Petra noch an derselben Stelle sitzen, wo sie sich vorhin hingeworfen hatte. Vor ihr lag ein aufgeschlagenes Buch, über das sie sich, ohne zu wissen, was sie tat, hergemacht hatte. Ihre Tränen waren auf die Blätter des Buchs gefallen und sie hatte sie abwischen wollen. Da war ihr Blick auf einen der saftigen Ausdrücke gefallen, deren sie sich aus den Tagen ihres Straßenjungenlebens her noch so gut erinnerte, und die sie nie im Leben für druckfähig gehalten hatte. Vor lauter Entsetzen vergaß sie zu weinen; saß nur und starrte in das Buch! Um Gotteswillen … was war denn das? Sie las weiter, mit offenem Mund. Es wurde immer ärger, furchtbar derb, aber so unwiderstehlich komisch, daß sie gar nicht anders konnte: sie mußte immer weiter lesen. Und sie las, bis sie überhaupt nichts mehr wußte, las über Kummer und Tränen, über Zeit und Raum hinweg—mit dem alten Vater Holberg. Denn kein anderer war es als er! Sie lachte, sie schüttelte sich vor Lachen. Und noch als der Propst und seine Tochter schon vor ihr standen, merkte sie gar nicht, wie ernst sie waren, dachte gar nicht mehr an ihr eigenes Anliegen, sondern lachte nur und lachte und fragte: "Was ist denn das? Was in aller Welt ist denn das?" Und dabei schlug sie das Titelblatt auf…
Plötzlich wurde sie blaß; sie sah zu den beiden auf, sah wieder in das Buch, auf die wohlbekannten Schriftzüge. Es gibt Dinge, die einen ins Herz treffen, wie eine Kugel, Dinge, von denen man sich hunderte von Meilen entflohen wähnt, und die man auf einmal dicht vor sich sieht. Da—auf dem ersten Blatt—stand geschrieben: "Hans Ödegaard." Flammendrot rief sie: "Gehört ihm das Buch?—Kommt er hierher?" Und sie stand auf. "Ja, versprochen hat er's", erwiderte Signe. Und Petra entsann sich, daß er im Ausland mit einer Pastorenfamilie aus dem Stift Bergen zusammengewesen war. Sie selbst war nur im Ring herumgefahren, sie war geradenwegs auf ihn zugereist. "Kommt er bald? Ist er etwa gar hier?" Sie schickte sich auf der Stelle an, davonzulaufen.—"Nein, er ist ja doch krank", sagte Signe.—"Ach, richtig, er ist ja krank!" wiederholte Petra schmerzlich und sank zusammen.
"Sagen Sie mal," rief Signe, "Sie sind doch nicht etwa—?" "Das
Fischermädel?" vollendete der Propst. Petra sah flehend zu ihnen auf.
"Ja, ich bin das Fischermädel", sagte sie.
Die war ihnen gar wohl bekannt; Ödegaard hatte ja von nichts anderem gesprochen. "Das ändert freilich die Sache!" sagte der Propst; er fühlte, hier war etwas Zerbrochenes—hier tat die Hilfe von Freunden not. "Bleiben Sie einstweilen hier!" sagte er.
Petra sah auf; sie bemerkte den Blick, mit dem Signe ihm dankte, und das tat ihr so wohl, daß sie zu Signe hinging, ihre beiden Hände faßte—mehr getraute sie sich nicht—und, allerdings in Verlegenheit, sagte: "Ich will Ihnen alles erzählen, sobald wir allein sind."
Eine Stunde später kannte Signe Petras ganze Geschichte, die sie sofort ihrem Vater mitteilte. Auf seinen Rat schrieb sie noch am selben Tag an Ödegaard, und damit fuhr sie fort, solange Petra bei ihnen im Hause war.
Petra aber, als sie sich an diesem Abend in den mächtigen Daunenkissen zur Ruhe legte, in einem gemütlichen Zimmer, wo im Ofen die Birkenscheiter knisterten und wo auf dem weißen Nachttisch zwischen den zwei Kerzen das Neue Testament lag, griff nach dem Buch und dankte ihrem Gott für alles, Gutes und auch Böses…
* * * * *
Der Propst hatte als junger Mann von feuriger Seele und großer Rednergabe den Wunsch gehabt, Geistlicher zu werden. Seine wohlhabenden Eltern waren dagegen gewesen; sie hätten es lieber gesehen, wenn er das gewählt hätte, was sie eine "unabhängige Lebensstellung" nannten. Aber ihr Widerstand spornte seinen Eifer noch mehr an, und als er fertig war, ging er ins Ausland, um dort weiter zu studieren. Auf der Durchreise lernte er in Dänemark eine Dame kennen; sie gehörte einer Glaubensrichtung an, die ihm nicht streng genug und darum verwerflich erschien. Er suchte ununterbrochen auf sie einzuwirken; aber die Art, wie sie ihn dabei ansah und ihn zum Schweigen brachte, konnte er später während seines ganzen Aufenthaltes im Ausland nicht vergessen. Als er zurückkam, suchte er sie sogleich auf. Sie verkehrten viel zusammen und gewannen einander immer mehr lieb, bis sie sich schließlich verlobten und gleich darauf heirateten. Nun aber stellte es sich heraus, daß jedes von ihnen dabei einen Nebengedanken gehabt hatte. Er hatte sich vorgenommen, sie mit all ihrer Lieblichkeit zu sich hinüberzuziehen in seine düstere Lehre, und sie hatte sich wie ein Kind in der Sicherheit gewiegt, seine Kraft und Beredsamkeit für den Dienst ihrer Glaubensgemeinschaft gewinnen zu können. Sein erster, ganz leiser Versuch stieß auf ihren ersten, ganz leisen. Enttäuscht, mißtrauisch zog er sich zurück. Sie war klug genug, das sofort zu merken, und von diesem Tag an lauerte er nun immer auf einen weiteren Versuch ihrerseits und sie auf einen zweiten Versuch seinerseits. Aber keins von ihnen machte einen zweiten; denn beiden war angst geworden. Er hatte Angst vor seiner eigenen leidenschaftlichen Natur, und sie hatte Furcht, sie würde sich durch einen verfehlten Versuch jede Aussicht verscherzen, ihn zu sich herüberzuziehen. Denn diese Hoffnung gab sie nie auf; die war ihr zur Lebensaufgabe geworden. Nie aber kam es zum Kampf; denn wo sie war, da gab es keinen Kampf. Irgendwie jedoch mußte er seinem arbeitenden Willen, seiner zurückgedrängten Leidenschaft Luft machen; und das geschah jedesmal, wenn er auf der Kanzel stand und sie unter sich sitzen sah. Wie in einem Wirbel riß er dann die Gemeinde mit sich fort; bald erhitzte er seine Zuhörer, bald erhitzten sie ihn. Sie sah es mit an und ließ ihr geängstigtes Herz ausruhen in Wohltätigkeit, und später, als sie Mutter wurde, bei ihrem Kinde, das sie in körperlichem und geistigem innigsten Umfangen an ihren stillen Stunden teilnehmen ließ. Da gab sie, da empfing sie, da wiegte sie ihr eigenes großes Kind in der Unschuld des Kindes, da feierte sie ein Fest der Liebe, von dem sie zu ihm, dem Strengen, zurückkehrte mit aller vereinten Milde des Weibes und des Christentums; und ihm war es dann natürlich nicht möglich,—etwas zu sagen, was nicht liebreich gewesen wäre. Er mußte sie ja lieben, über alles auf der Welt, aber um so schmerzlicher war es ihm, um so heftiger blutete ihm das Herz, daß er ihr nicht helfen konnte bei ihrer Seele Seligkeit. Mit dem stillschweigenden Recht der Mutter entzog sie auch das Kind seiner religiösen Unterweisung. Die Liedchen des Kindes, die Fragen des Kindes wurden ihm bald eine neue und tiefe Quelle des Schmerzes. Und hatte ihn dann auf der Kanzel seine leidenschaftliche Gemütsbewegung bis zur Härte aufgestachelt, so begegnete ihm, wenn sie miteinander heimgingen, sein Weib nur mit um so größerer Milde; die Augen redeten; der Mund redete nie ein Wort. Und die Tochter nahm seine Hand und sah zu ihm auf mit Augen, die die Augen der Mutter waren.
Über alles wurde gesprochen in diesem Hause, nur über das eine nicht, das die Wurzel ihres ganzen Denkens war. Aber eine so aufreibende Spannung war auf die Dauer nicht zu ertragen. Wohl lächelte die Frau noch; aber nur, weil sie nicht wagte, zu weinen. Als die Zeit herannahte, wo die Tochter zur Einsegnung vorbereitet werden sollte, und er sie also kraft seines Amtes jetzt ebenso stillschweigend in seine Richtung hätte hinüberziehen können, wie die Mutter sie seither in der ihren gehalten hatte, da stieg die Spannung bis aufs äußerste. Und nach dem Sonntag, an dem die Namen der Konfirmanden von der Kanzel verlesen waren, wurde die Mutter krank; etwa so, wie man sonst müde wird. Lächelnd sagte sie, sie könne nicht mehr gehen; und ein paar Tage darauf—noch immer lächelnd—sie könne nicht mehr sitzen. Die Tochter wollte sie immer um sich haben, obgleich sie nicht mehr mit ihr reden konnte; sehen konnte sie ihr Kind doch wenigstens. Und die Tochter wußte, was die Mutter am liebsten mochte. Sie las ihr vor aus dem Buch des Lebens, sie sang ihr die Choräle ihrer Kinderzeit, die neuen, lebenswarmen ihrer eigenen Glaubensgemeinschaft vor. Der Propst konnte lange nicht fassen, was sich hier vorbereitete; aber als er es endlich begriff, da verlor er jede Richtschnur; nur ein Wunsch beherrschte ihn noch: sie noch einmal zu sich reden, sie nur ein paar Worte noch sagen zu hören. Aber sie hatte nicht mehr die Kraft; sprechen konnte sie nicht mehr. Er stand am Fußende des Bettes und sah sie an und flehte. Und sie lächelte ihm zu, bis er auf die Knie fiel und die Hand der Tochter nahm und sie in die Hand der Mutter legte, als wollte er sagen: "Da, behalte sie! Bei Dir soll sie bleiben in alle Ewigkeit!" Und da lächelte sie, wie sie noch nie gelächelt hatte; und in diesem Lächeln verschied sie.
Lange Zeit schloß sich der Propst von allem Umgang ab. Ein anderer übernahm die Sorge für die Gemeinde; er selber wanderte von Zimmer zu Zimmer, von Ort zu Ort, als suche er etwas. Er trat leise auf; wenn er sprach, sprach er mit gedämpfter Stimme; und nur dadurch, daß sie ganz auf diese stille Art einging, vermochte die Tochter allmählich wieder einen Verkehr mit ihm herzustellen. Jetzt half sie ihm suchen. Jedes Wort der Mutter wurde wieder hervorgeholt; alles, was sie gewollt hatte, wurde zur Richtschnur, nach der sie fortan lebten. Das Zusammenleben der Mutter mit der Tochter, bei dem der Vater bisher außen gestanden hatte, wurde jetzt erst so recht durchlebt. Vom ersten Augenblick an, dessen sie sich als Kind entsinnen konnte, wurde alles wieder vorgenommen; ihre Lieder wurden gesungen, ihre Gebete gebetet; die Predigten, die sie am liebsten gehört hatte, wurden eine nach der anderen vorgelesen, und alle ihre Worte und Auflegungen treulich ins Gedächtnis zurückgerufen. Also in Wirksamkeit gesetzt, empfand er bald das Verlangen, das Land wiederzusehen, wo er sie gefunden hatte, um auch dort auf dieselbe Weise ihren Spuren nachzugehen. Sie gingen auf Reisen. Und dadurch, daß er so ihr ganzes Leben ungeteilt in sich aufnahm, gesundete er wieder. Ihm, der selbst wieder Anfänger wurde, ging der Sinn auf für alles um ihn her, was da in seinen Anfängen lag,—für die großen nationalen, für die kleineren politischen Ideen: und das gab ihm ein Stück seiner eigenen Jugend wieder. Seine Kräfte kamen zurückgeströmt, und mit ihnen all die heißen Hoffnungen von ehedem. Jetzt wollte er das Wort Gottes verkünden, und zwar so, daß es zum Leben vorbereitete und nicht nur zum Tode!
Doch bis er sich wieder mit dieser seiner neuen geliebten Tätigkeit in seiner Bergheimat einschloß, wünschte er noch einen weiteren, tieferen Blick in das zu tun, was draußen sich regte. So waren sie also noch weiter in der Welt herumgefahren, und lebten jetzt ihren großen Erinnerungen.
Unter diesen Menschen lebte Petra.
Neuntes Kapitel
Drei Jahre später, an einem Freitag kurz vor Weihnachten, saßen die beiden jungen Mädchen in der Dämmerstunde beisammen. Eben war der Propst mit seiner Pfeife eingetreten. Der Tag war verflossen, wie so ziemlich jeder Tag dieser letzten zwei Jahre—morgens ein Spaziergang, nach dem Frühstück eine Stunde Musizieren, Klavierspiel und Gesang, darauf Sprach- und anderer Unterricht und zuletzt ein bißchen Haushaltungsarbeit. Nachmittags beschäftigte jeder sich auf seinem Zimmer; Signe heute gerade wieder mit einem Brief an Ödegaard, nach dem Petra übrigens niemals fragte, wie sie überhaupt niemals von der Vergangenheit hören mochte. In der Dämmerung waren sie Schlitten gefahren, und jetzt saß man zusammen, um zu plaudern oder zu singen oder später vorzulesen. Dazu fand sich der Propst stets ein. Er las ausgezeichnet, und ebenso Signe. Petra lauschte beiden ihre Art und Weise und besonders ihre Aussprache ab. Signes Aussprache und Tonfall hatten für ihr Ohr einen solchen Wohllaut, daß es noch, wenn sie allein war, in ihr nachklang. Überhaupt schwärmte Petra so für Signe, daß ein Mann schon den vierten Teil für die glühendste Liebe gehalten hätte; Signe wurde auch oft ganz rot dabei. Bei diesen abendlichen Vorlesungen—Petra selbst war nie zum Lesen zu bewegen—hatte man die Hauptdichter der norwegischen Literatur durchgenommen und war nach und nach weiter in die große Weltliteratur geraten. Am liebsten lasen sie dramatische Werke. Eben als man die Lampen anzünden und anfangen wollte, kam die Köchin herein und sagte, draußen sei jemand, der Petra einen Gruß ausrichten wolle. Es stellte sich heraus, daß es ein Matrose aus ihrer Vaterstadt war, den ihre Mutter beauftragt hatte, Petra aufzusuchen, da er zufällig in die Gegend kam. Er war über eine Meile zu Fuß gewandert und mußte schleunigst wieder umkehren, weil sein Schiff gleich darauf unter Segel ging. Petra begleitete ihn ein Stück, um ein bißchen länger mit ihm zu plaudern; er war ein ehrlicher Mensch, den sie von früher her kannte. Der Abend war ziemlich finster; auch auf dem Pfarrhof waren alle Fenster dunkel, außer im Waschhaus, wo große Wäsche war. Auf der Landstraße war kein einziges Licht zu sehen, kaum daß man den Weg selbst sah; denn der Mond hatte sich noch nicht über die Berge emporgeschlängelt. Trotzdem ging Petra tapfer mit, sogar bis in den Wald hinein, obwohl es zwischen den Bäumen unheimlich düster war. Besonders eine Nachricht hatte sie interessiert. Der Matrose hatte ihr nämlich erzählt, Pedro Ohlsens Mutter sei gestorben, und er habe sein Haus verkauft und sei hinaufgezogen zu Gunlaug, wo er in Petras Giebelstube hause. Das war nun schon fast zwei Jahre her, und dabei hatte die Mutter dies mit keinem Wort erwähnt. Jetzt endlich ging Petra ein Licht auf, wer die Briefe für die Mutter schrieb; vergebens hatte sie sie immer wieder danach gefragt; denn in jedem Brief stand am Schluß: "Auch einen Gruß von dem, der den Brief geschrieben hat." Der Matrose war von der Mutter beauftragt, zu fragen, wie lange Petra noch im Pfarrhause bleiben wolle und was für Absichten sie für später habe. Auf die erste Frage antwortete Petra, das wisse sie nicht, und als Erwiderung auf die zweite Frage ließ sie der Mutter sagen, es gäbe in der Welt nur eins, was sie gern möchte, und wenn sie das nicht werden könne, so sei sie unglücklich fürs ganze Leben; sie könne aber vorläufig noch nicht sagen, was es sei.
Während Petra mit dem Matrosen schwatzte, saßen der Propst und Signe im Wohnzimmer und sprachen von Petra, an der sie beide ihre Herzensfreude hatten. Da kam der Großknecht herein, und nachdem er den Tagesbericht erstattet hatte, fragte er, ob die Herrschaft eigentlich wisse, daß die fremde Jungfer nachts an einer Strickleiter aus ihrem Fenster und wieder hinauf klettere. Er mußte es dreimal wiederholen, bis einer von den beiden begriff, was er da sagte; er hatte ebensogut erzählen können, sie klettere an den Mondstrahlen auf und ab. Es war dunkel im Zimmer, und jetzt wurde es ganz still; nicht einmal des Propstes Pfeife war zu hören. Endlich fragte der Propst mit einem gewissen dumpfen Klang in der Stimme: "Wer hat das gesehen?"—"Ich hab's gesehen. Ich war gerade auf und fütterte die Pferde; es mag wohl so um eins 'rum gewesen sein."—"An einer Strickleiter ist sie hinuntergeklettert?"—"Und wieder hinauf."—Abermals lange Pause. Petras Zimmer lag im Oberstock,—das Eckzimmer, das auf die Einfahrt hinausging. Sie war die einzige, die oben schlief; niemand außer ihr wohnte nach dieser Seite zu. Ein Mißverständnis konnte also nicht obwalten. "Sie wird's im Schlaf getan haben", sagte der Knecht und wollte sich davonmachen.—"Aber die Strickleiter—die kann sie doch nicht im Schlaf gemacht haben", sagte der Propst. "Das dacht' ich mir eben auch; und darum sagt' ich mir: es wird schon das beste sein, ich sag's dem Hausvater; sonst hab' ich keinem davon gesagt."—"Hat es außer Dir noch jemand gesehen?"—"Nein; aber wenn der Hausvater mir nicht glaubt, so muß die Strickleiter mein Zeuge sein; wenn sie die nicht oben liegen hat, dann werd' ich ja wohl falsch gesehen haben."—Der Propst stand sogleich auf. "Vater!" bat Signe. "Mach' Licht!" antwortete der Propst in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ. Signe zündete selbst das Licht an. "Vater!" bat sie noch einmal, als sie es ihm reichte. "Solange sie in meinem Hause ist, bin ich auch ihr Vater. Es ist meine Pflicht, die Sache zu untersuchen." Der Propst ging mit dem Licht voran. Signe und der Großknecht hinterdrein. In dem kleinen Zimmer war alles in Ordnung; nur auf dem Nachttisch lag ein ganzer Stapel von Büchern, das eine aufgeschlagen über dem andern. "Liest sie des Nachts?"—"Ich weiß nicht; aber vor eins macht sie nie das Licht aus." Der Propst und Signe sahen einander an. Um zehn, halb elf abends ging man im Pfarrhaus auseinander, und um sechs, sieben Uhr versammelte man sich morgens. "Weißt Du davon?" Signe antwortete nicht. Aber der Großknecht, der in einer Ecke kniete und kramte, sagte: "Sie ist doch nicht allein."—"Was sagst Du da?" "Freilich, es ist immer einer bei ihr, mit dem sie redet; manchmal machen sie einen Heidenlärm; ich hab' oft gehört, wie sie gebettelt und gedroht hat. Wahrscheinlich hat irgendein Kerl sie in seiner Gewalt, das arme Wurm!" Signe wandte sich ab; der Propst war totenblaß geworden.
"Und da ist auch die Leiter", fuhr der Großknecht fort. Er zog sie hervor und stand auf. Zwei Wäscheleinen, zusammengehalten durch eine dritte, die an die eine geknotet war, dann quer zur anderen hinüberlief, dort ebenfalls festgeknotet war und so, in der Breite von etwa einer halben Elle, stufenweise fort, bis die Leiter fertig war. Alle betrachteten sie aufmerksam. "War sie lange fort?" fragte der Propst. Der Großknecht sah ihn an. "Wie denn fort?"—"Ich meine, ob sie lange fortblieb, nachdem sie die Leiter hinuntergeklettert war?" Signe zitterte vor Angst und Kälte. "Sie ist doch gar nicht weggegangen; sie ist gleich wieder hinaufgeklettert."—"Wieder hinauf? Wer ist denn weggegangen?"—Signe machte eine Bewegung und brach in Tränen aus. "Den Abend war keiner da; das ist gestern gewesen."—"Also war sonst keiner auf der Strickleiter? Bloß sie?"—"Ja, sonst keiner."—"Und sie ist hinuntergeklettert und gleich wieder hinauf?"—"Ja."—
"Sie hat sie also nur probieren wollen", sagte der Propst und es war, als atme er ein bißchen erleichtert auf. "Jawohl, bis sie jemand anders dran 'raufklettern läßt", fügte der Knecht hinzu. Der Propst sah ihn an. "Du meinst, dies wäre nicht die erste, die sie gemacht hat?"—"Nein. Wie sollte denn sonst jemand zu ihr herauf kommen?"—"Hast Du schon lange gewußt, daß jemand zu ihr kommt?"—"Erst seit diesem Winter, als sie immer so spät in die Nacht hinein Licht hatte; vorher ist mir's nie eingefallen, nachzusehen." Der Propst fragte streng: "Also den ganzen Winter hast Du es schon gewußt? Weshalb hast Du mir's nicht schon eher gesagt?"—"Ich hab' geglaubt, es wär' jemand vom Haus, der bei ihr sei. Aber wie ich sie gestern Nacht auf der Leiter sah, da kam ich erst drauf, daß es jemand anders sein müsse."—"Ja, es ist leider kein Zweifel—sie hat uns alle getäuscht." Signe blickte flehend auf. "Sie müßte vielleicht nicht so weit weg von den andern schlafen", meinte der Großknecht, während er die Strickleiter zusammenwickelte. "Sie sollte eigentlich überhaupt nicht mehr in diesem Hause schlafen!" sagte der Propst und ging. Die anderen folgten ihm. Aber als sie wieder unten waren, und er das Licht hingestellt hatte, warf Signe sich an seine Brust. "Ja, mein Kind, das ist eine arge Enttäuschung!"
Eine Weile darauf saß Signe in der Sofaecke, ihr Taschentuch vor die Augen gepreßt; der Propst hatte seine Pfeife angesteckt und ging unruhig auf und ab. Da hörten sie aus der Küche ein Geschrei, ein hastiges Laufen auf der Treppe und Getrappel oben im Flur. Sie eilten beide hinaus. In Petras Zimmer brannte es. Von der Kerze war ein Funken in die Ecke gefallen—denn dort war das Feuer entstanden—hatte sich im Nu die Tapete entlang gefressen, das Holzwerk am Fenster erreicht, und dort hatte ein Vorübergehender es bemerkt und war sofort ins Waschhaus gerannt, wo die Mägde bei der Wäsche waren. Das Feuer war bald gelöscht. Aber auf dem Lande, wo alles jahraus, jahrein seinen gleichmäßigen Gang geht, bringt die geringste Störung die Gemüter in Aufruhr. Das Feuer ist ihr schlimmster und gefährlichster Feind, an den sie beständig denken, und wenn er wirklich eines Nachts kommt, sein Haupt aus dem Abgrund emporreckt und mit gierigen Zungen zischend nach Beute leckt, da erbebt alles und findet wochenlang keine Ruhe mehr, ja, manche ihr ganzes Leben lang nicht mehr.
Als der Propst und seine Tochter wieder im Wohnzimmer waren, wo jetzt die Lampen brannten, da war es beiden ganz unheimlich zumute, daß Petras Zimmer so rasch geräumt und jede Erinnerung an sie verbrannt war. Im selben Augenblick hörten sie Petras klare Stimme fragen und rufen; sie sprang die Treppe hinauf und wieder herunter, lief vom Boden in den Hausflur, vom Flur in die Küche und kam dann, noch in Hut und Mantel, in die Wohnstube gestürmt. "Gott, es hat ja in meinem Zimmer gebrannt!" Niemand antwortete; aber sie fuhr in einem Atem fort: "Wer ist oben gewesen? Wann ist es denn geschehen? Wie ist das Feuer ausgekommen?" Er selbst sei oben gewesen, antwortete jetzt der Propst, er habe etwas gesucht; dabei sah er sie scharf an. Aber Petra verriet nicht durch das mindeste Zeichen, daß sie dabei etwas Auffallendes finde, zeigte auch keinerlei Besorgnis, daß man irgend etwas gefunden haben könne. Sie schöpfte nicht einmal Verdacht, als Signe gar nicht von ihrer Sofaecke aufblicken wollte. Sie glaubte, es sei noch der Schreck vom Brande her, und fragte in einem fort, wie es entdeckt und gelöscht worden sei, wer es zuerst gesehen habe, und als ihr nicht rasch genug Bescheid wurde, stürzte sie wieder hinaus, wie sie hereingekommen war. Bald kam sie wieder dahergestürmt, diesmal ohne Hut und Mantel, und erzählte dem Propst und Signe, wie alles zugegangen und daß sie selber den Feuerschein gesehen und furchtbar schnell gelaufen sei; aber jetzt sei sie nur froh, daß es nicht schlimmer sei. Währenddem legte sie vollends ab, trug die Sachen hinaus, kam wieder herein und setzte sich auf ihren Platz am Tisch, ununterbrochen berichtend, was der gesagt und jener getan hatte; das ganze Haus stand ja auf dem Kopf, und das machte ihr den größten Spaß. Als die andern immer noch stumm blieben, klagte sie, daß ihnen nun der ganze Abend verdorben sei; sie hätte sich doch so schrecklich auf "Romeo und Julia" gefreut, was sie eben lasen; gerade heut abend habe sie Signe bitten wollen, die Szene, die ihr am besten gefiele vom ganzen Stück, nämlich Romeos Abschied von Julia auf dem Balkon, noch einmal zu lesen. Mitten in ihrem Redestrom erschien ein Mädchen aus der Waschküche, um zu sagen, es fehlten Wäscheleinen; ein ganzes Bund sei fortgekommen. Petra wurde puterrot und sprang auf: "Ich weiß, wo sie sind; ich hole sie." Sie machte ein paar Schritte auf die Tür zu; da fiel ihr der Brand ein; sie blieb stehen und errötete noch tiefer: "Ach Gott, die sind gewiß verbrannt! Sie lagen in meinem Zimmer!" Signe hatte sich nach ihr umgewandt; der Propst blickte sie von der Seite durchdringend an. "Wozu brauchst Du denn Wäscheleinen?" Sein Atem flog; er konnte kaum sprechen. Petra sah ihn an; sein furchtbarer Ernst machte ihr beinahe Angst; im nächsten Augenblick jedoch reizte er sie zum Lachen. Ein paar Sekunden kämpfte sie dagegen an, aber als sie ihn dann noch einmal ansah, brach sie in ein so herzhaftes Gelächter aus, daß sie überhaupt nicht mehr aufhören konnte; von bösem Gewissen war darin so wenig wie in einem rieselnden Bach. Signe hörte das am Klang und schnellte vom Sofa auf: "Was ist denn? Was ist denn?" Petra wandte sich ab, lachte, hüpfte, duckte sich und wollte zur Tür hinaus. Aber Signe vertrat ihr den Weg: "Was ist es, Petra? So rede doch!" Petra versteckte sich hinter ihr, als wolle sie sich ganz verkriechen, lachte aber immer weiter, ganz maßlos. Nein, so benimmt sich die Schuld nicht, das wurde doch auch jetzt dem Propst klar. Und er, der noch eben auf dem Sprung gewesen war, sich in ein Toben der Wut hineinzusteigern, stürzte sich statt dessen kopfüber ins Lachen; und Signe mit ihm. Nichts in der Welt ist so ansteckend, wie Lachen, und vor allem ein Lachen, das so ganz unfaßlich ist. Die vergeblichen Versuche, die bald der Propst, bald Signe machten, zu ergründen, worüber sie eigentlich lachten, steigerte die Heiterkeit bis ins Ausgelassene. Die Magd, die noch immer wartete, fing zuletzt ebenfalls an, mitzuwiehern; sie hatte das sonderbare Grubenlachen, das immer wie ein Aus-der-Tiefe-Emporwinden und -Keuchen klingt; und da sie selber fühlte, daß es nicht recht unter so feine Möbel und Menschen paßte, machte sie, daß sie zur Tür hinauskam, um in der Küche erst recht loszuplatzen. Natürlich steckte sie die draußen auch an; bald wälzte sich eine wahre Sturmflut von Gelächter auch zur Küche heraus, in der man noch weniger wußte, worüber man eigentlich lachte, und das entfachte wiederum das Gelächter im Zimmer aufs neue.
Schließlich, als alle schon ganz krank vor Lachen waren, machte Signe einen letzten Versuch, endlich hinter die Ursache dieser Heiterkeit zu kommen. "Jetzt aber mußt Du's mir sagen!" rief sie und hielt Petra bei den Händen fest. "Nicht um alles in der Welt!"—"Ach Du, ich weiß schon, was es ist!" rief Signe wieder. Petra sah sie an und schrie auf; aber Signe rief: "Und Vater weiß es auch!" Diesmal schrie Petra nicht mehr; sie brüllte und riß sich los, kam auch glücklich bis zur Tür; aber da erwischte Signe sie wieder. Petra drehte sich um, um mit ihr zu ringen; sie wollte fort, um jeden Preis. Sie lachte, während sie miteinander kämpften; aber an ihren Wimpern hingen Tränen. Da ließ Signe sie los. Petra stürzte hinaus, Signe hinter ihr drein, und beide verschwanden in Signes Zimmer. Dort fiel Signe Petra um den Hals, und die umschlang sie mit beiden Armen. "O Gott, so wißt Ihr es?" flüsterte sie. Und Signe flüsterte zurück: "Ja, wir waren oben mit dem Großknecht; er hat Dich gesehen. Und wir haben die Strickleiter gefunden!" Abermaliges Aufschreien und abermalige Flucht; aber diesmal bloß in die Sofaecke, wo sie sich versteckte; gleich war Signe bei ihr, und sich halb über sie neigend, berichtete sie Petra flüsternd von der ganzen Entdeckungsreise samt ihren brenzlichen Folgen. Was sie vor kurzem noch Tränen der Angst gekostet hatte, erschien ihr jetzt so komisch, daß sie es voller Humor erzählte. Petra hörte, hielt sich die Ohren zu, blickte auf und versteckte sich wieder. Als Signe fertig war und beide wieder im Dunkeln nebeneinandersaßen, flüsterte Petra: "Weißt Du, was ich gemacht hab'?… Ich kann unmöglich schon um zehn Uhr, wenn wir auf unser Zimmer gehen, schlafen; dazu hat das, was wir gelesen haben, noch viel zu viel Macht über mich. Und so lern' ich es auswendig; alles, was mir am besten gefällt. Ganze Szenen kann ich auswendig; und die sag' ich ganz für mich laut her. Als wir 'Romeo und Julia' lasen, da hatte ich das Gefühl, als gäb' es überhaupt auf der ganzen Welt nichts Schöneres; rein toll und verrückt war ich … ich mußte die Sache mit der Strickleiter probieren; nie ist mir vorher der Gedanke gekommen, daß man an einer Strickleiter auf- und abklettern kann. Ich erwischte ein paar Wäscheleinen… Und dabei steht der Spitzbub unten und guckt mir zu!… Ja, es ist gar nicht zum Lachen, Du! Schrecklich unweiblich ist es. Ich bleib' überhaupt mein Lebtag ein Junge! Und natürlich bin ich morgen das Gespött der ganzen Nachbarschaft!" Aber Signe, die aufs neue in einen Lachkrampf geraten war, fiel mit Küssen und Streicheln über sie her und stürzte dann davon: "Das muß ich Vater erzählen!"—"Bist Du verrückt, Signe?" Und so kamen sie, eine nach der andern, wieder ins Zimmer gestürmt, wie sie hinausgestürzt waren. Fast rannten sie den Propst über den Haufen, der gerade hinaus wollte, um zu sehen, was aus den beiden geworden war. Signe fing zu erzählen an, Petra schrie auf und stürzte wieder hinaus, wobei ihr dann einfiel, daß sie gerade hätte bleiben müssen, um Signe am Erzählen zu verhindern. Also wollte sie wieder hinein; aber der Propst hielt die Tür zu. Keine Möglichkeit, sie zu öffnen. Sie trommelte mit beiden Fäusten dagegen, sie sang, sie trampelte mit den Füßen, um Signe zu übertäuben, die nur umso lauter sprach; und als der Propst endlich alles gehört und ebenso herzlich und lustig wie Signe über diese neue Methode, Klassiker zu lesen, gelacht hatte, machte er die Tür auf; aber nun rannte Petra davon.
Nach dem Abendessen, zu dem Petra sich wieder eingestellt hatte, und bei dem sie vom Propst reichlich geneckt worden war, sollte sie zur Strafe alles aufsagen, was sie auswendig konnte. Und da zeigte es sich, daß sie wirklich alle die berühmtesten Szenen kannte; nicht bloß eine Rolle darin, sondern alle. Sie sagte sie her, als ob sie sie abläse; manchmal war es, als wolle sie Feuer fangen; aber sofort dämpfte sie es wieder. Kaum merkte das der Propst, als er auch schon mehr Ausdruck verlangte; aber sie wurde nur immer scheuer. Stundenlang ging das so weiter; sie konnte alle komischen Szenen und alle tragischen, neckische und ernsthafte. Ihr Gedächtnis war zum Bewundern und zum Lachen; sie selber lachte mit und verlangte, man solle sie nur weiter examinieren.
"Man könnte wirklich wünschen, die armen Schauspieler hätten bloß den zehnten Teil Deines Gedächtnisses!" sagte Signe.—"Gott verhüte, daß sie je Schauspielerin wird!" versetzte der Propst und wurde plötzlich ernst. "Aber, Vater! Wie kannst Du glauben, daß Petra an so was denkt!" erwiderte Signe lachend. "Ich kam bloß zufällig darauf, weil ich immer wieder gefunden habe, daß ein Mensch, der von Jugend auf sozusagen aufwächst mit der Poesie seiner Sprache, nie das Verlangen hat, zur Bühne zu gehen. Während einer, der nie viel gewußt hat von Poesie, bis er erwachsen ist, dafür schwärmt. Die so ganz plötzlich erwachte Sehnsucht ist es, die ihn verführt."—"Gewiß ist das wahr", versetzte der Propst. "Ein wirklich gebildeter Mensch geht wohl selten zur Bühne."—"Und noch seltener ein poetisch Gebildeter."—"Freilich. Und wenn es geschieht, so spielt irgendein Mangel an Charakter mit, der Eitelkeit und Leichtsinn die Oberhand gewinnen läßt. Ich habe viele Schauspieler gekannt, in meiner Studienzeit und auf Reisen; aber einen Schauspieler, der ein echt christliches Leben geführt hätte, den hat wohl noch kein Mensch gesehen. Zur Religion hingezogen können sie sich fühlen; das hab' ich selbst erlebt. Aber es ist in ihrem Beruf zu viel Unruhiges, Aufreibendes; sie können sich nicht konzentrieren, auch wenn sie schon längst die Bühne verlassen haben. So oft ich auch mit einem darüber gesprochen habe—jeder hat es zugegeben und es beklagt; aber gleich darauf hieß es: Wir müssen uns eben damit trösten, daß wir auch nicht schlimmer sind als wer weiß wie viele andere! Bloß, daß man das einen schlechten Trost nennen muß. Ein Leben, das sich nach keiner Richtung hin auf den Christen in uns aufbaut, das ist ein sündiges Leben.—Der Herr helfe ihnen und bewahre jedes reine Herz vor ihnen!"
* * * * *
Am Tag darauf, es war Sonnabend, war der Propst wie gewöhnlich schon vor sieben Uhr auf, machte seine Morgenrunde zu seinen Arbeitern und noch ein bißchen weiter hinaus und kam heim, als es eben hell werden wollte. Da sah er, gerade als er am Hause vorbei in den Hof einbiegen wollte, an der Erde etwas wie ein aufgeschlagenes Schreibheft, das man wahrscheinlich gestern aus Petras Fenster geworfen und nicht wieder gefunden hatte, weil es dieselbe Farbe hatte wie der Schnee. Er hob das Heft auf und ging damit in sein Studierzimmer. Als er es auseinanderklappte, um es zu trocknen, sah er, daß es ein verabschiedetes französisches Aufsatzheft war, in das jetzt Verse geschrieben waren. Es fiel ihm gar nicht ein, die Verse zu lesen; da fiel sein Blick auf das Wort "Schauspielerin", das an allen Ecken und Enden, kreuz und quer geschrieben stand,—auch in den Versen stand es da. Er setzte sich ordentlich hin, um sich die Sache genauer anzusehen. Nach allerhand Ansätzen und durchstrichenen Zeilen fand er folgende Reimerei, die trotz vieler Verbesserungen zu entziffern war:
Eines, du Trauter, bekenn' ich dir still,
Und das ist, was ich werden will.
Schauspielerin, das möcht' ich werden,
Zeigen der Welt in Wort und Gebärden
Möcht' ich die Frau, wie sie lacht vor Spott,
Leidet und liebt und betet zu Gott,
Wie sie ist, wenn sie reizend blickt,
Wie sie ist, wenn in Sünde verstrickt.
Vater im Himmel, ach, hilf mir zu werden,
Was mein einziger Wunsch auf Erden!
Und ein bißchen weiter unten:
Darf ich denn, o Gott, nicht sein dein eigen?
Willst du nicht Erhörung mir bezeigen?
Dann, wahrscheinlich als Randglosse zu einer Dichtung, die sie vor ein paar Monaten gelesen hatten:
O, zu gehn nach Elfenweise,
Elfenweise,
Mondenschein und Nebelkreise,
Nebelkreise,
Vorwärts huschen, rückwärts rauschen,
Rückwärts rauschen,
Töten den, der sucht zu lauschen,
Sucht zu lauschen—
Nein, 's war' sündhaft, lirum, larum, la!
Und nach unzähligen Änderungen, Streichungen, Kritzeleien und Noten:
Hopsasa,—hopsasa,
Tanzen mit allen, doch niemals gefangen!
Tralala,—tralala,
Stets Nummer eins, doch an niemandem hangen.
Dann, deutlich und sauber, folgender Brief:
Mein Herzens-Heinrich!
Deucht Dich nicht, daß Du und ich die Weisesten sind in der ganzen Comoedia? Wohl tuet man uns großen Verdruß an, hat aber nichts zu sagen. Ich engrassiere Dich, mich morgen abend auf die mascarade zu führen; denn ich war noch niemals auf solcher, und mich verlangt nach einer rechten Narretei; hier im Hause ist es gar still und trübselig!
Du bist ein rechter Schelm, Heinrich—wo schwärmst Du wieder umher?
Ach, hier sitzt einsam
Deine Pernille.
Endlich stand da, mit großen Buchstaben, deutlich und mehrmals wiederholt, folgende Strophe, die sie irgendwo aufgestöbert haben mußte und hatte auswendig lernen wollen:
Ach, dem Großen gilt mein Drängen;
Schier die Brust will mir's zersprengen.
Höchstes Denken kühn zu wagen,
Kraft, um's kraftvoll vorzutragen,
Die verborgnen Quellen finden,
Balder lösen, Loke binden—
Dies in deiner Gnade gib
Du, der mir verlieh den Trieb!
Noch vieles andere stand da; aber der Propst las nicht weiter.
Also um Schauspielerin zu werden, war sie in sein Haus gekommen und hatte sich von seiner Tochter unterrichten lassen. Um dieses heimlichen Zieles willen hatte sie Abend für Abend so begierig gelauscht und nachher selber auswendig gelernt. Zum besten gehabt hatte Petra sie die ganze Zeit. Noch gestern, da sie ihnen alles zu offenbaren schien, hatte sie etwas verheimlicht; während sie am herzlichsten lachte, hatte sie gelogen.
Und dieses heimliche Ziel! Was der Propst so oft in ihrer Gegenwart verdammt hatte, schmückte sie zu einem göttlichen Beruf aus und wagte, Gott um seinen Segen dazu zu bitten! Ein Leben voller Äußerlichkeit und Eitelkeit, voll Eifersucht und Leidenschaft, voll Trägheit und Sinnlichkeit, voll Lüge und zunehmender Charakterlosigkeit, das alle Geier umkreisten wie ein Aas,—einem solchen Leben sich zu weihen, das war ihr Sehnen, das ihr Gebet zu Gott! Und dazu sollten er und sein Kind ihr verholfen haben, hier, in ihrem stillen Pfarrhause, unter der strengen Obhut einer erweckten Gemeinde.
Als Signe eintrat, klar, leicht wie der Wintermorgen, um dem Vater guten Tag zu sagen, fand sie das Studierzimmer ganz voll Rauch. War dies schon immer ein Zeichen von Gemütsverstimmung, so war es das doppelt so früh am Morgen. Er sagte auch kein Wort, sondern gab ihr nur das Heft. Sie sah sogleich, daß es Petra gehörte. Die Erinnerung an den Verdacht und den Kummer von gestern abend durchzuckte sie; sie mochte gar nicht hineinsehen; ihr Herz klopfte so heftig, daß sie sich setzen mußte. Doch dasselbe Wort, das der Propst zuerst wahrgenommen hatte, fiel auch ihr auf, sprang auch ihr in die Augen; sie mußte näher hinsehen; und dann las sie. Ihr erstes Gefühl war Scham, nicht für Petra, sondern weil der Vater das auch gelesen hatte.
Bald aber empfand sie die tiefe Demütigung, die darin liegt, sich von jemand, den man lieb hat, getäuscht zu sehen. Einen Augenblick will uns der Mensch, der das fertig gebracht hat, größer, klüger, erfinderischer als wir erscheinen, ja, er streift geradezu ans Geheimnisvolle. Bald aber sammelt sich die Seele wieder in Empörung; die Ehrlichkeit gewinnt Macht durch Kräfte, die, wenn auch unsichtbar, doch nicht geheimnisvoll sind; man fühlt in sich die Stärke, mit einem Schlag hundert kleinliche Ausflüchte zu zermalmen; man verachtet das, wodurch man sich eben, noch gedemütigt fühlte. Drin im Wohnzimmer hatte Petra sich ans Klavier gesetzt, und eben hörte man sie singen:
Auf ist der Tag und die Freude entbrannt,
Und des Mißmuts Wolkenburg stürmisch berannt,
Über den glühenden Bergen im Klaren
Lagern in Zelten des Lichtkönigs Scharen.
"Auf nun! Auf nun!" Vogel im Hag,
"Auf!" was singen und jubeln mag,
Auf zum Licht, meine Hoffnung!
Dann jagte es wie ein Sturm übers Klavier, und mitten heraus brauste ein zweites Lied:
Gut ist dein Rat!
Doch auf lockendem Pfad
Treib' ich mein Boot hinaus
In der Brandung Gebraus.
Und führt auch die Fahrt durch des Todes Tor—
Laßt mich kosten, was nie ich gekostet zuvor.
Nicht bloß zum Spiel
Such' ich mein Ziel,—
Will mit Sturmwogen ringen—
Will das Weltmeer bezwingen—
Will sehn, wie der Kiel sich zur Seite legt—
Muß versuchen, wie weit und wie lang er mich trägt!
Nein! Jetzt wurde es dem Propst zu bunt! Er riß im Vorbeigehen Signe das Heft aus der Hand; er stürmte nach der Tür; und diesmal hielt sie ihn nicht zurück. Er fuhr wie ein Pfeil auf Petra los, schleuderte das Heft vor sie hin aufs Klavier, machte Kehrt und rannte durchs ganze Zimmer auf und ab. Als er wieder umdrehte, war sie aufgestanden. Sie hielt das Heft an die Brust gepreßt und sah sich mit verstörten Blicken nach allen Seiten um. Er blieb vor ihr stehen, um ihr klaren Wein einzuschenken; aber sein Zorn, die Erbitterung, daß er über zwei Jahre lang sich von diesem verschlagenen jungen Ding hatte mißbrauchen lassen, und vor allem darüber, daß sie sein eigenes, warmherziges, hingebendes Kind zum besten gehabt hatte, empörte ihn so, daß er nicht gleich Worte fand. Und als er sie endlich fand, da fühlte er selber, daß sie zu hart waren. Als er noch einmal durchs Zimmer gestürmt war und ihr wieder gegenüber stand, mit blutrotem Gesicht, da wandte er ihr einfach den Rücken und ging ohne eine Silbe zu sagen in sein Studierzimmer zurück. Als er hinkam, war Signe fort.
Den ganzen Tag blieb jedes auf seinem Zimmer. Der Propst aß allein zu Mittag; keins der Mädchen erschien. Petra hielt sich im Zimmer der Wirtschafterin auf, das man ihr nach dem Brand vorläufig angewiesen hatte. Vergebens hatte sie Signe überall gesucht, um ihr alles zu erklären; Signe schien überhaupt gar nicht im Hause zu sein.
Petra fühlte—sie stand vor einer Entscheidung. Ihres Lebens heimlichster Gedanke war ihr entrissen, und man wollte sich einen Einfluß erzwingen, den sie nicht dulden konnte. Sie fühlte selbst am besten—wenn sie dies ihr Lebensziel aufgab, so war sie allen Winden des Zufalls preisgegeben. Sie konnte froh sein mit den Fröhlichen, vertrauensvoll mit den Vertrauenden; immer und überall sicher,—aber alles nur kraft jenes geheimen Ziels: einmal all das zu erreichen, dem ihre Fähigkeiten in heißem Sehnen entgegenwuchsen. Sich noch einmal jemand anvertrauen, nach jenem ersten, mißglückten Versuch in Bergen—nein, das konnte sie nicht, nicht einmal Ödegaard; sie mußte es allein in sich tragen, bis es so stark geworden war, daß es jedem Zweifel standzuhalten vermochte.
Aber jetzt war alles anders geworden. Unablässig stand das feuerrote Gesicht des Propstes vor ihrem aufgeschreckten Gewissen. Jetzt galt es, sich zu retten! Sie suchte Signe, immer hastiger, immer aufgeregter; aber schon war es Nachmittag, und immer noch war Signe nicht da. Je weiter ein Mensch, den wir suchen, sich uns entzieht, desto mehr vergrößern wir uns selbst die Ursache der Trennung; und so kam es, daß ihr endlich klar wurde: es war ein Verrat gewesen an Signe, ihre Freundschaft heimlich zu etwas zu mißbrauchen, was Signe für eine große Sünde hielt. Gott, der Allwissende, war ihr Zeuge, daß eine solche Auffassung der Dinge ihr bisher überhaupt nicht in den Sinn gekommen war. Wie eine große Sünderin kam sie sich vor.
Genau wie damals zu Hause fühlte sie sich wie zerschmettert und hatte doch noch kurz vorher überhaupt keine Ahnung davon gehabt! Daß dies Entsetzliche sich wiederholen konnte, daß sie noch keinen Schritt weitergekommen war, das steigerte ihre unsichere Angst bis zum Grausen. Aber in dem Maß, wie ihre eigene Schuld wuchs, wuchs das Bild Signes an Seelenreinheit und großherziger Hingebung. Ja, Signe hatte in Wahrheit glühende Kohlen auf ihr Haupt gesammelt. Am liebsten hätte sie sich ihr zu Füßen geworfen, sie angerufen, sie angebettelt, hätte nicht abgelassen mit Flehen, bis Signe ihr wieder einen einzigen guten Blick geschenkt!
Es war dunkel geworden. Jetzt mußte Signe doch endlich wieder da sein, wo sie auch sonst gewesen war! Petra lief hinunter, durch den Gang im Flügel, wo Signes Zimmer lag; die Tür war verriegelt. Also mußte sie drin sein! Ihr Herz klopfte, während sie nochmals die Klinke niederdrückte und bettelte: "Signe! Ich muß mit Dir reden! Ich halt' es nicht aus, Signe!"—Im Zimmer kein Laut. Petra bückte sich, horchte, klopfte. "Signe, Signe! Wenn Du wüßtest, wie unglücklich ich bin!"—Keine Antwort. Langes Horchen. Nichts. Wenn man lang gar keine Antwort erhält, so fängt man zuletzt zu zweifeln an, ob überhaupt jemand da ist, selbst wenn man es weiß; und wenn es dazu noch dunkel ist, so wird man noch ängstlich dabei. "Signe! Signe! Bist Du da? So hab' doch Erbarmen! Antworte doch!—Signe!" Es war und blieb still. Sie begann zu zittern und zu frösteln. Da ging die Küchentür auf mit einem breiten Lichtstreifen; leichte lustige Schritte liefen über den Hof. Das gab ihr einen Plan ein. Sie wollte ebenfalls auf den Hof, wollte auf den Vorsprung an der Steinmauer klettern, wo der Seitenflügel lag, und dann auf diesem Sims entlang um das ganze Gebäude gehen bis auf die andere Seite, wo es sehr hoch war. Und dann wollte sie in Signes Zimmer hineingucken!
Es war ein klarer Sternenabend; Berge und Häuser standen in scharfen Umrissen; sonst war nichts zu sehen; nur diese Umrisse. Der Schnee schimmerte; die dunkeln Pfade zwischendurch hoben seine Helle nur noch schärfer hervor. Von der Landstraße klang Schlittengeläut; das eilige Sausen, der Glanz wirkten ermunternd; Petra sprang auf den Sims. Sie wollte sich an den vorstehenden Balken der Holzverkleidung festhalten; aber sie verlor das Gleichgewicht und fiel wieder herunter. Jetzt holte sie eine leere Tonne und rollte sie an die Mauer, stieg hinauf und von der Tonne auf den Sims. Dort kroch sie auf Händen und Füßen ruckweise weiter, jedesmal etwa ein Viertelmeter. Es gehörten die starken Finger einer starken Hand dazu, um sich festzuhalten; denn die Balken sprangen kaum einen Zoll vor. Auch hatte sie Angst, man könne sie entdecken; denn natürlich würde man das gleich wieder mit der Strickleiter in Verbindung bringen. Wenn sie bloß erst von der Seite, die auf den Hof hinausging, weg und auf der Querwand war! Aber als sie endlich dort anlangte, drohte neue Gefahr: die Fenster waren nicht verhangen, und sie mußte sich ducken, während sie, in steter Angst zu fallen, vor den Fenstern vorüberkroch. An der Längswand wurde es immer höher; darunter, die ganze Mauer entlang, stand eine Stachelbeerhecke, die sie jedenfalls aufnehmen würde, wenn sie fiel. Aber sie hatte keine Angst mehr. Ihre Finger brannten, ihre Sehnen zitterten, der ganze Körper bebte; aber sie kletterte weiter. Jetzt nur noch ein paar Schritte und das Fenster war erreicht. Bei Signe brannte kein Licht, und der Vorhang war nicht herabgelassen. Der Mond schien voll ins Zimmer—sie mußte bis in den äußersten Winkel sehen können! Auch das gab ihr neuen Mut. Sie erreichte den Fenstersims, konnte sich endlich mit der Hand fest anklammern und ausruhen; denn nun, da sie am Ziel war, fing ihr Herz so heftig zu klopfen an, daß es ihr fast den Atem benahm. Aber je länger sie zauderte, desto schlimmer wurde es; also hieß es kurzen Prozeß machen… Und so beugte sie sich rasch entschlossen in voller Höhe gegen das Fenster. Ein gellender Schrei aus dem Zimmer war die Antwort. Signe hatte in der Sofaecke gesessen; jetzt stand sie mit einem Satz mitten im Zimmer, wehrte die grauenhafte Erscheinung in wildem Entsetzen ab und flüchtete. Diese Gestalt vor dem Fenster im Schein des Monds, diese rücksichtslose, widerwärtige Derbheit, das Gesicht, scharf vom Mond umrissen, erhitzt, funkelnd,—Petra begriff selbst mit Blitzesschnelle, daß ihr unglückseliger Einfall Signe nichts als Abscheu hatte einjagen können, ja, daß fortan ihr Bild vielleicht immer ein Schreckgespenst bleiben würde für Signe. Sie verlor das Bewußtsein und fiel mit einem durchdringenden Schrei hinunter. Die Leute im Hause waren auf Signes Ruf herbeigestürzt, hatten jedoch niemand gefunden. Da hörten sie wieder einen solchen Schrei; der ganze Hof lief zusammen, man suchte, man rief, ohne etwas zu finden; es war ein bloßer Zufall, daß der Propst aus Signes Fenster hinausblickte und im Mondschein Petra in den Büschen liegen sah. Eine große Angst überkam alle. Es kostete Mühe, sie von den Dornen loszumachen und hinaufzutragen. Man brachte sie in Signes Zimmer, weil die Stube der Wirtschafterin nicht geheizt war; man zog sie aus und brachte sie zu Bett, man wusch ihr Hals und Hände, die tüchtig zerkratzt waren, während wieder andere es recht warm und hell und behaglich im Zimmer machten. Als sie wieder zu sich gekommen war und sich umsah, bat sie, man möge sie allein lassen. Die ruhige Behaglichkeit des Zimmers, das feine Weiß, womit Fenster, Toilettentisch, Bett und Stühle behängt waren, mahnten unendlich wehtuend an Signe. Petra dachte an ihre reine Lieblichkeit, ihre stille Stimme, die einen so milchweißen Klang hatte, ihr feines Gefühl für die Denkart anderer, ihre weiche Güte. Und all das hatte sie selbst jetzt verscherzt. Bald mußte sie wieder aus diesem Zimmer, wie wohl überhaupt aus dem Hause. Und dann—wohin? Zum drittenmal wird man mich nicht von der Landstraße auflesen, und selbst wenn es geschähe—sie selber wollte nicht mehr. Es würde ja doch nur wieder dasselbe Ende nehmen. Kein Mensch konnte Zutrauen zu ihr fassen; was auch der Grund sein mochte … sie fühlte, es war so. Sie war ja auch noch keinen Schritt weiter gekommen; nie würde sie überhaupt einen Schritt weiter kommen. Denn ohne das Vertrauen der Menschen ging es nicht. Oh, wie sie betete, wie sie weinte! Sie wälzte und wand sich in ihrer Seelenqual, bis sie ganz erschöpft war und einschlief.
Und im Schlaf wurde sofort alles schneeweiß und allmählich auch seltsam hoch. Nie in ihrem Leben hatte sie eine solche Höhe und ein so lichtes Funkeln von Millionen Sternen gesehen.
Zehntes Kapitel
Noch als sie aufwachte, war sie dort oben; die Gedanken des Tages, die sofort auf sie einstürmten, wollten nach, wurden aber eingefangen und fortgetragen von etwas, das die ganze Luft erfüllte—von dem Glockengeläut des Sonntagmorgens. Sie sprang auf und zog sich an, holte sich aus der Speisekammer etwas Frühstück, packte sich warm ein und machte sich eilig auf den Weg,—so gedürstet nach Gottes Wort hatte sie noch nie! Als sie hinkam, hatte der Gottesdienst gerade angefangen, und die Tür war verschlossen; es war ein kalter Tag, und die Finger erstarrten ihr, als sie den Schlüssel anfaßte und umdrehte. Der Pfarrer stand gerade am Altar, sie blieb an der Tür stehen, bis er fertig war und der Küster ihm das Meßgewand abgenommen hatte; dann ging sie hinüber nach dem sogenannten Bischofsstuhl, der im Chor stand und mit Vorhängen versehen war. Der eigentliche Pfarrstuhl lag auf der Empore; wollte man aber aus irgendeinem Grunde lieber versteckt und allein sitzen, so nahm man seine Zuflucht zu dem Bischofsstuhl. Als sie gerade hineinschlüpfen wollte, sah sie Signe schon darin sitzen, in der äußersten Ecke. Sie trat einen Schritt zurück, aber gerade da drehte der Propst sich um, um vom Altar an ihr vorbei in die Sakristei zu gehen; sie ging eilig wieder in den Stuhl hinein und setzte sich ganz hinten in eine Ecke; Signe hatte ihren Schleier heruntergelassen. Das tat Petra weh. Sie schaute über die Gemeinde hin: in hohem Holzgestühl saßen rechts die Männer, links die Frauen eng nebeneinander; ihr Atem lag wie zitternder Nebel über ihnen, an den Fenstern war das Eis zolldick; die plump geschnitzten Holzstatuen, der schleppende, eintönige Gesang, die vermummten Menschen—das alles harmonierte miteinander; es war hart und unnahbar; ihr fiel der Eindruck ein, den die Natur an jenem Nachmittage, als sie Bergen verließ, auf sie gemacht hatte; sie war auch hier nur ein furchtsamer Wanderer.
Der Propst bestieg die Kanzel; auch er machte ein strenges Gesicht. Er betete: Führe uns nicht in Versuchung! Wir wissen, daß alle Gaben, die Gott uns verliehen hat, eine Versuchung bergen; er möge gnädig sein und uns nicht über unsere Kraft versuchen; wir sollen nie vergessen, ihn darum zu bitten; denn nur, wenn wir unsere Fähigkeiten ihm unterordnen, gereichen sie uns zum Heil. Die Predigt behandelte dieses Thema weiter, indem sie von unserer doppelten Lebensaufgabe ausging, daß erstens ein jeder seinen Lebensberuf da ausfüllen müsse, wohin ihn seine Fähigkeiten und seine Verhältnisse gestellt hätten,—und zweitens, daß man Christentum heranbilden müsse in sich selbst und in denen, die unserer Obhut anvertraut seien. Man müsse vorsichtig sein in der Wahl seines Lebensberufs, denn es gebe leider Berufe, die in sich selbst sündig seien, es gebe auch welche, die uns zur Sünde werden könnten, weil sie entweder nicht für uns paßten, oder doch unseren bösen Gelüsten allzusehr entgegenkämen. Weiter: so gewiß ein jeder versuchen müsse, nach seinen Fähigkeiten zu wählen, so gewiß könne eine solche Wahl, auch wenn sie richtig und gut sei, uns doch zur Versuchung werden, wenn wir, weil der Beruf uns zusage, unsere ganze Zeit und unsere ganzen Gedanken in seinen Dienst stellten. Das Christentum in uns dürfe nicht vernachlässigt werden, so wenig wie unsere Elternpflichten gegen unsere Kinder. Wir müßten uns in uns selbst konzentrieren können, damit der Heilige Geist ständig in uns wirke. Wir müßten die gute Saat des Christentums in unsere Kinder pflanzen und sie pflegen können. Es gebe keine Pflicht, keinen Vorwand, der uns hiervon zu befreien vermöchte, auch wenn die Gelegenheit abgewartet werden müsse.
Und dann ging er weiter,—ging auf die Berufe derer ein, die da saßen, ging in ihre Häuser, behandelte ihre Verhältnisse, ihre Ansichten. Dann führte er Beispiele aus anderen Lebensbedingungen an, aus höheren Wirkungskreisen, die ihre Streiflichter hierherwarfen. Der Propst war allen, die ihn im täglichen Leben kannten, ganz fremd von dem Augenblick an, da er auf der Kanzel auftauchte. Auch in seinem Äußern war er anders; sein verschlossenes, energisches Gesicht hatte sich geöffnet und ließ die Flut der Gedanken durchscheinen; sein Auge war lebhaft, es schaute fest und zielbewußt und brachte erhabene Kunde; all das Zottige, das wie zusammengerollt in seiner Natur lag, trat jetzt hervor gleich der Mähne eines Löwen; seine Stimme rollte wie ein langgezogener Donner dahin oder in kurzen, heftigen Wendungen, sank zuweilen auch einmal zu sanften Tönen herab, aber nur, um gleich wieder die Höhe zu erklimmen. Er konnte im Grunde nur in einem großen Räume reden, und wenn er für seine Gedanken die Unendlichkeit hatte; denn seine Stimme hatte keinen Wohllaut, bis sie laut sprach, sein Gesicht keine Klarheit, seine Gedanken keine treffende Deutlichkeit, bis sie in Feuer gerieten. Nicht als ob er das Thema dann erst gefunden hätte; nein, so gewiß wie der Schmerz große Schätze in diese Seele zusammengetragen hatte, so gewiß hatten das auch die Gedanken getan; er war ein strenger, verschlossener Arbeiter. Aber er war nicht immer gerüstet, er konnte im Gespräch keine Gedanken prägen; er mußte allein das Wort haben, mußte wenigstens auf und ab laufen können. Ein Wortgefecht mit ihm anzufangen, kam fast einem Überfall auf einen Wehrlosen gleich, war aber doch gefährlich; denn seine Überzeugung stand sofort und mit solcher Heftigkeit fest, daß er keine Zeit hatte, sie zu begründen; zwang man ihn doch dazu, so konnte zweierlei geschehen: entweder er übersprühte seinen Gegner so, daß dem Gegner ganz bange werden konnte, oder er schwieg eigensinnig, weil er sich selbst nicht traute. Keiner war leichter zum Schweigen zu bringen als dieser energische, beredte Mann.
Petra war erzittert, als der Propst sein Gebet begonnen, denn sie fühlte, woher er es genommen hatte. Je weiter er im Text kam, desto näher rückte er ihr; sie kroch in sich zusammen, und sie sah, wie Signe dasselbe tat. Aber unbarmherzig legte der Gewaltige los; der Löwe war auf Beute aus; sie kam sich wie von allen Seiten verfolgt, wie umzingelt und eingefangen vor,—aber was in Strenge angepackt wurde, hielt die Hand des Erbarmens milde fest. Es war, als werde sie—ohne ein Wort der Verdammung—von der allgütigen Liebe in den Arm genommen. Und da betete sie und weinte, und sie hörte Signe dasselbe tun und hatte sie lieb deswegen!
Als der Propst von seinem Thron der Wahrheit herunterkam, um sich in die Sakristei zu begeben, lag noch der Glanz der Begegnung mit dem Höchsten auf seinem Gesicht. Seine Augen fielen forschend gerade auf Petra, aber als sie ihn groß ansah, da glitt ein Strahl von Milde zu ihr hin; im Weitergehen blickte er rasch nach der Ecke, wo seine Tochter saß.
Signe erhob sich gleich darauf; den Schleier hatte sie vorm Gesicht, so daß Petra nicht zu folgen wagte. Deshalb ging sie später. Aber heute saßen sie wieder alle drei bei Tisch; der Propst sprach ab und zu, Signe aber war scheu. Sobald der Propst, der augenscheinlich die Rede auf das Vorgefallene bringen wollte, die leiseste Andeutung machte, wich Signe so schüchtern und zart aus, daß der Propst an ihre Mutter erinnert wurde,—er verstummte und wurde allmählich schwermütig. Dazu gehörte sehr wenig.
Nun gibt es nichts Peinlicheres als einen mißglückten Versöhnungsversuch. Man stand auf, ohne sich in die Augen blicken und sich gesegnete Mahlzeit wünschen zu können. Im Wohnzimmer wurde die Stimmung schließlich so gedrückt, daß sie alle drei gern hinausgegangen wären,—aber niemand mochte zuerst gehen;—Petra für ihr Teil hatte das Gefühl: wenn sie jetzt gehe, so gehe sie für immer. Sie konnte Signe nicht wiedersehen, wenn sie sie nicht liebhaben durfte; sie konnte es nicht ertragen, den Propst traurig zu sehen um ihretwillen. Aber mußte sie fort, dann ohne Abschied; denn wie hätte sie von diesen Menschen Abschied nehmen können? Schon der Gedanke peitschte sie in eine Erregung hinein, die sie nur mit äußerster Anstrengung zurückzuhalten vermochte.
Jede Minute, die eine solche drückende Stille verlängert, in der wir aufeinander warten, macht sie unerträglicher. Man kann sich nicht rühren, weil man fühlt, es wird bemerkt; jeder Seufzer ist zu hören; man hört sogar, wenn einer ganz ruhig ist; denn das hört sich an wie Härte. Man kommt in Spannung, weil nichts gesagt wird, und man zittert davor, daß etwas gesagt werden wird.
Jeder fühlte, dieser Augenblick komme nie wieder. Die Mauern, die man zwischen sich aufbaut, wachsen, unsere eigene Schuld wächst, die der andern wächst auch, wächst mit jedem Atemzuge; bald sind wir verzweifelt, bald empört; denn wer sich so gegen uns benimmt, ist unbarmherzig, ist schlecht; wir ertragen es nicht, wir können es ihm nicht verzeihen,—Petra hielt es nicht länger aus, entweder mußte sie aufschreien oder davonlaufen!
Da klang Schlittengeläut auf der Straße; bald sah man einen Mann im Wolfspelz auf einem Rennschlitten, auf dem hinten der Postillon saß, am Garten vorbei und in den Hof hineinsausen.—Alle atmeten erleichtert auf und lauschten der Erlösung entgegen! Sie hörten den Ankömmling auf dem Flur, wo er die Reisestiefel und den Pelz ablegte und mit dem Mädchen sprach, das ihm behilflich war; der Propst stand auf, um ihm entgegenzugehen,—kehrte aber wieder um, weil er die beiden Mädchen nicht allein lassen wollte;—wieder sprach der Fremde auf dem Flur, jetzt schon mehr in der Nähe, so daß beim Klang dieser Stimme alle drei aufsahen, Petra aber sich erhob und die Augen auf die Tür heftete.—Es klopfte;—"herein!" sagte der Propst aufgeregt,—ein Mann mit einem lichten Gesicht und einer Brille stand in der Tür, Petra stieß einen Schrei aus und sank wieder auf ihren Stuhl:—das war ja Ödegaard.
Er kam dem Propst und Signe nicht unerwartet; man hatte auf sein Kommen zu Weihnachten gerechnet, obwohl niemand Petra etwas davon gesagt hatte; aber daß er gerade jetzt kam, war eine Fügung des Schicksals,—das empfanden sie alle.
Petra sah und hörte nichts, bis er vor ihr stand und ihre Hand gefaßt hatte. Er hielt sie lange in seiner, sagte aber kein Wort, auch sie nicht; sie konnte nicht einmal aufstehen. Aber während sie ihn anschaute, liefen ihr zwei Tränen die Backen herunter. Er war sehr blaß, sonst aber ganz ruhig und gütig; er zog seine Hand wieder zurück und ging dann durch das Zimmer auf Signe zu, die sich zwischen den Blumen ihrer Mutter in der äußersten Fensterecke verkrochen hatte.
Petra sehnte sich, allein zu sein; deshalb zog sie sich zurück. Signe hatte im Hause zu tun, so daß sich der Propst mit Ödegaard in sein Arbeitszimmer zu einem Glase Wein setzen konnte, das dem Reisenden not tat. Hier erfuhr er in Kürze, was die letzten Tage gebracht hatten; er wurde sehr nachdenklich, äußerte sich aber nicht darüber. Sie wurden übrigens auf seltsame Weise unterbrochen.
* * * * *
Am Fenster kamen zwei Frauen und drei Männer vorbei, je einer hinter dem andern, und kaum sah der Propst sie, als er aufsprang: "Da sind sie wieder!—Jetzt heißt's Geduld haben."—Herein kamen zuerst die Frauen, dann die Männer, langsam und schweigend. Sie stellten sich an der Wand unter dem Bücherregal auf, gerade gegenüber dem Sofa, auf dem Ödegaard saß. Der Propst setzte ihnen Stühle hin und holte noch ein paar aus dem andern Zimmer; sie setzten sich auch alle mit Ausnahme eines städtisch gekleideten jungen Menschen, der dankte und sich mit einem etwas trotzigen Gesicht, beide Hände in den Hosentaschen, an die Tür lehnte. Nach einer langen Pause, während der Propst seine Pfeife stopfte und Ödegaard, der nicht rauchte, die Leute sich näher betrachtete, begann schließlich eine blasse, blonde Frau von vielleicht vierzig Jahren das Gespräch. Ihre Stirn war sehr schmal, ihre Augen groß, aber scheu; sie wußten nicht recht, wo sie hinsehen sollten. Sie sagte: "Der Herr Pfarrer hat heute solch schöne Predigt gehalten; sie paßte so gut zu unsern Gedanken;—denn wir auf dem Hof haben letzthin viel von der Versuchung geredet."—Sie seufzte; ein Mann mit einem etwas kurz geratenen Untergesicht und einem großen, breiten Oberkopf seufzte auch: "Herr, bewache unsere Wege! Wende meine Augen ab, daß sie nicht auf eitle Dinge schauen!"—Und Else, dieselbe, die zuerst gesprochen hatte, seufzte wieder und sagte: "Herr, wie soll ein junges Menschenkind seinen Pfad rein halten, daß es wandelt nach Deinem Worte?"—Das klang in ihrem Munde etwas seltsam, denn sie war nicht mehr jung. Ein Mann in mittleren Jahren aber, der den Kopf schief hielt und sich in einem fort hin und her wiegte, wobei er seine Augenlider nie ganz aufschlug, sagte wie im Halbschlaf:
"Jedwedem, dem der Name Christ
Durch Jesu Tod gegeben,
Dem folget Satans Trug und List
Wohl durch sein ganzes Leben."
Der Propst kannte sie zu gut, um nicht zu wissen, daß dies bloß die Einleitung war; deshalb wartete er, als sei nichts gesagt worden, obwohl wieder eine lange Pause eintrat, die nur von Seufzern unterbrochen wurde.
Eine kleine Frau, die noch kleiner dadurch wurde, daß sie gebückt dasaß, und die in so unglaublich viele Tücher eingemummt war, daß sie wie ein Bündel aussah—ihr Gesicht war völlig verdeckt—fing jetzt an, auf ihrem Stuhl hin und herzurutschen, und gab schließlich ein paar "Hm, hm!" von sich. Sofort schrak die blonde Frau auf und sagte: "Auf dem Öyhof ist jetzt Schluß mit allem Spiel und Tanz;—aber——" sie hielt wieder inne, Lars dagegen, der Mann mit dem großen Oberkopf und der kurzen unteren Gesichtshälfte, fuhr fort: "—aber einer, der Spielmann Hans, der will nicht Schluß machen."—Als auch Lars über das weitere nachgrübelte, kam der junge Mensch ihm zu Hilfe: "Denn er weiß, daß auch der Herr Propst ein Instrument hat, nach dem hier im Pfarrhaus getanzt und gesungen wird."—"Das kann für ihn wohl keine größere Sünde sein als für den Herrn Propst", sagte Lars.—"Es liegt so, daß das Spielen beim Herrn Propst die andern in Versuchung führt", sagte Else behutsam, wie um ihnen vorwärts zu helfen. Der junge Mensch aber fügte kräftiger hinzu: "Es ärgert die Unmündigen, wie geschrieben steht: Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehängt, und er ersäufet würde im Meer, da es am tiefsten ist." Und Lars löste ihn ab: "Unser Anliegen an Dich ist also, daß Du Dein Instrument forttust oder es verbrennst, damit es nicht zum Ärgernis wird—"—"Für Deine Pfarrkinder", fügte der junge Mensch hinzu.
Der Propst dampfte und paffte und sagte schließlich in dem sichtbaren Bemühen, seine Ruhe zu bewahren: "Mir ist dies Spiel keine Versuchung, mir ist es eine Erquickung und eine Befreiung.—Nun wißt Ihr aber, daß alles, was unsern Geist frei machen kann, uns empfänglicher und verständnisvoller macht; deshalb glaube ich ganz gewiß, daß diese Musik mir eine Hilfe ist."—"Und ich weiß, es gibt Pfarrer, die nach Pauli Wort trotzdem darauf verzichten würden, wenn ihre Pfarrkinder sie darum bäten", sagte der junge Mensch.—"Vielleicht habe ich früher seine Worte auch in diesem Sinne aufgefaßt," antwortete der Propst, "aber jetzt nicht mehr. Man kann wohl auf eine Gewohnheit oder auf einen Genuß verzichten; aber man soll sich hüten, einseitig und beschränkt zu werden mit den Einseitigen und Beschränkten. Ich handle dadurch nicht allein unrecht an mir selbst, sondern auch an den Menschen, denen ich ein Beispiel geben soll; denn ich gebe ihnen ja ein falsches Beispiel, ein Beispiel gegen meine Überzeugung." Der Propst brachte selten außerhalb seiner Kanzel eine so lange Auseinandersetzung zustande. Er fügte hinzu: "Ich werde mein Instrument nicht weggeben und nicht verbrennen; ich will es noch oft hören, weil ich oft das Bedürfnis danach habe, und ich möchte wünschen, daß auch Ihr bisweilen in aller Unschuld Euren Geist freimachtet durch Gesang, durch Spiel und Tanz; denn ich halte das für gut und richtig."
Der junge Mensch beugte den Kopf zur Seite, "Pfui!" er spuckte aus.
Der Propst wurde blutrot im Gesicht, und es entstand eine Pause. Da setzte der Hin- und Herwiegende mit lauter Stimme ein:
"O Herr, wie schwach ist dieser Leib,
Denn nur mit Angst und Zagen
Kann arm und reich, kann Mann und Weib
Sein Kreuz geduldig tragen.
Denn Fleisch und Blut gebrechlich sind,
Das müssen wir alle sagen."—
Und dann Lars mit sanfter Stimme: "Also Du sagst, Spiel und Tanz sei richtig,—na!——Also es ist richtig, den Satan durch die Sinne aufzuwecken, na!—Also das sagt unser Herr Pfarrer,—na, dann wissen wir es ja!——Na, also er sagt, alles, was in Müßiggang und Sinnlichkeit geschieht, ist zur Erlösung und zur Hilfe da,——alles, was einen in Versuchung führt, ist richtig!"—Jetzt mischte sich aber Ödegaard ein, denn er sah dem Propst an, daß die Sache schief gehen würde: "Sag' mal, guter Mann, was führt uns denn nicht in Versuchung?"
Alle sahen dahin, woher diese sicheren, schneidigen Worte kamen. Die Frage an sich war so unerwartet, daß Lars im Handumdrehen nicht wußte, was er antworten sollte, auch die andern nicht. Da klang es wie aus einem Brunnen oder aus einem Keller heraus: "Das ist die Arbeit."—Die Stimme kam von den vielen Tüchern her; es war Randi, die zum erstenmal auch ein Wort sagte. Ein triumphierendes Schmunzeln zog über Lars' kurzes Untergesicht, die blonde Frau blickte zuversichtlich zu ihr hin, selbst der junge Mensch an der Tür verlor für einen Augenblick die spöttische Wölbung der Lippen. Ödegaard war es klar, daß dies das Haupt sein mußte, trotzdem es nicht zu sehen war. Er wandte sich deshalb an sie: "Wie muß denn die Arbeit beschaffen sein, damit sie uns nicht in Versuchung führt?" Sie wollte hierauf nicht antworten; der junge Mensch aber entgegnete: "Der Fluch lautet: im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen; sie soll aber Schweiß und Mühe bringen."—"Und außer Schweiß und Mühe nichts? Zum Beispiel keinen Vorteil?"—Hierauf wollte auch er nicht antworten; aber nun fühlte sich das kurze Untergesicht berufen: "Doch, soviel Vorteil wie möglich."—"Aber dann muß doch auch in der Arbeit eine Versuchung liegen, nämlich die Lockspeise eines zu großen Vorteils." Bei dieser Umzingelung kam Entsatz aus der Tiefe: "So ist es der Vorteil, der uns versucht, und nicht die Arbeit."—-"Ja, aber was will das sagen, wenn die Arbeit um des Vorteils willen übertrieben wird?" Sie verkroch sich wieder; Lars aber wagte sich heraus: "Was heißt die Arbeit übertreiben?"—"Na, wenn sie Dich zu einem Tier macht, wenn sie Dich in Sklaverei bringt."—"Sklaverei muß sein", sagte der, der den Schweiß des Angesichts haben wollte.—"Aber kann Sklaverei zu Gott führen?"—"Arbeit ist Gottesdienst!" rief Lars.—"Kannst Du das von Deiner ganzen Arbeit sagen?" Lars schwieg.—"Nein, sei vernünftig und gib mir zu, daß um des Vorteils willen die Arbeit so übertrieben werden kann, als ob wir nur dafür lebten. Also liegt auch in der Arbeit eine Versuchung."—"Ja, eine Versuchung liegt in allem, Kinder,—eine Versuchung liegt in allem!" entschied jetzt der Propst, indem er aufstand und, als wolle er der Sache ein Ende machen, seine Pfeife ausklopfte. In den vielen Umschlagtüchern seufzte es, aber eine Antwort kam nicht.
"Seht," begann Ödegaard wieder,—und der Propst stopfte sich eine neue Pfeife,—"wenn nun die Arbeit einen Vorteil, das heißt Frucht bringt, so haben wir doch wohl das Recht, diese Frucht zu genießen? Wenn sie uns Reichtum bringt, haben wir doch wohl das Recht, diesen Reichtum zu genießen?"—Das erregte großes Bedenken; einer blickte den andern an. "Ich will antworten, während Ihr darüber nachdenkt", sagte er. "Gott hat uns die Möglichkeit gelassen, seinen Fluch in Segen zu verwandeln; denn er selbst leitete die Patriarchen und sein ganzes Volk zum Genuß des Reichtums an."—"Die Apostel durften nichts besitzen", warf der junge Mensch siegessicher ein.—"Ja, das stimmt; denn die wollte er über alle menschlichen Lebensbedingungen stellen, damit sie nur Gott schauen sollten;—sie waren berufen!"—"Wir sind alle berufen!"—"Aber nicht im gleichen Sinne; bist Du zum Apostel berufen?"—Der junge Mensch wurde leichenblaß, seine Augen unter der Stirnmauer verdüsterten sich; er mußte seinen Grund haben, sich das zu Herzen zu nehmen.
"Aber der Reiche soll auch arbeiten", meinte Lars; "denn Arbeit ist ein Gebot."—"Gewiß soll er das, wenn er auch andere Mittel und andere Aufgaben hat; jeder hat seine. Aber sag', soll der Mensch unaufhörlich arbeiten?"—"Er soll auch beten", fiel die blonde Frau ein und faltete die Hände, als komme ihr jetzt zum Bewußtsein, daß sie es zu lange versäumt habe.—"Also: immer wenn ein Mensch nicht arbeitet, soll er beten?—Kann ein Mensch das?—Was wäre das für ein Beten, und was wäre das für ein Arbeiten?—Soll er nicht auch ausruhen?"—"Wir sollen erst ausruhen, wenn wir nicht mehr können; dann werden wir nicht von bösen Gedanken versucht,—ja, dann werden wir nicht in Versuchung geführt!" sagte Eise wieder, und der Psalmist fiel ein:
"So gehet ein, ihr Müden,
In Jesu süßen Frieden,
Die Arbeit war so groß.
Die Zeit ist nicht mehr weit,
Da man für euch bereit't
Ein Bettlein in der Erde Schoß!"——
"Still, Erik, und hör' zu," sagte der Propst. Ödegaard aber zog jetzt die Schlinge zusammen: "Seht Ihr, die Arbeit trägt ihre Frucht und braucht ihre Rast. Nun aber ist meine Ansicht von Geselligkeit, von Sang und Spiel und dergleichen, daß sie nicht nur eine süße Frucht der Arbeit sind, sondern daß sie zugleich auch dem Geist eine erquickende Muße bieten."
Hier entstand eine Bewegung im Lager; alle sahen zu Randi hin, denn jetzt mußten die Haupttruppen heranrücken; sie wackelte und wackelte und schließlich kam es langsam und still heraus: "Weltlicher Sang und Spiel und Tanz sind keine Muße, denn das entfacht das Fleisch zu sündiger Begierde. Eine Frucht der Arbeit kann auch wohl so etwas nicht sein, das die Arbeit vergeudet und das verweichlicht."—"Ja, in so etwas liegt eine große Versuchung!" sagte die blonde Frau seufzend. Dabei fiel Erik der Vers ein:
"Mit Schmerz erkennen wir,
Daß ständig wachsen hier
Die Laster und Begierden,
Geschmückt gleich Tugendzierden,
Die leise uns umringen
Und sich zum Himmel schwingen—"
"Sei still, Erik!" sagte der Propst; "Du verwirrst uns nur."—"Ach ja, das mag wohl sein", sagte Erik und fing wieder an:
"Wenn euch mit heuchlerischem Sinn
Ein anderer will führen hin
Zum breiten, glatten Sündenpfad,
Den wählt euch nicht als Kamerad——"
"Nun hör' aber auf, Erik!—Das Lied ist ja recht schön, aber alles zu seiner Zeit und am rechten Ort."—"Ja, ja, Herr Pfarrer, das stimmt,—alles zu seiner Zeit und am rechten Ort:
"Schenk' jede Stunde heute
Dem Höchsten früh und spät
Ein jeder Herzschlag läute
Wie Glocken zum Gebet—"
"Nein, nein, Erik, dann würde ja auch das Gebet zur Versuchung; Du müßtest Katholik werden und ins Kloster gehen!"—"Gott behüte!" sagte Erik und riß die Augen weit auf, machte sie dann wieder zu und fing an:
"Wie Staub und Schlacken zu echtem Gold
Ist kathol'sch—"
"Hör' mal, Erik, wenn Du nicht ruhig sein kannst, so geh gefälligst mit dem Rest hinaus.—Wo waren wir denn stehen geblieben?" Ödegaard aber hatte mit großem Behagen Erik angehört und wußte es nicht mehr. Da kam es friedlich aus den vielen Tüchern heraus: "Ich sagte, es könne doch keine Muße und keine Frucht der Arbeit in etwas sein, das—"—"Jetzt erinnere ich mich: das eine Versuchung in sich trägt,—und dann kam Erik und bewies uns, daß auch im Gebet eine Versuchung liegen kann.—Wir wollen also überlegen, was jene Dinge sonst für Folgen haben können. Ist Euch aufgefallen, daß fröhliche Menschen besser arbeiten als schwermütige? Woher kommt das?"
Lars merkte, worauf das hinausging, und sagte deshalb: "Fröhlich macht der Glaube."—"Ja, wenn es ein heller Glaube ist; aber weißt Du nicht, daß der Glaube so finster machen kann, daß die Welt um uns her zu einem Zuchthause wird?"
Die blonde Frau seufzte unaufhörlich, so daß die vielen Tücher dadurch in Bewegung kamen; Lars blickte sie auch scharf an, und da schwieg sie.—Ödegaard fuhr fort: "Ein ewiges Einerlei, sei es Arbeit, Gebet oder Vergnügen, macht dumm und finster. Du kannst den Acker umgraben, daß Du zu einem Tier wirst, beten, bis Du ein Gewohnheitsmönch bist, spielen, bis Du eine schlappe Spielpuppe bist. Aber mische es einmal! Der Wechsel stärkt Sinn und Gedanken; dabei gedeiht Deine Arbeit, und Dein Glaube wird licht."—"Wir wollen uns also jetzt aufs Fröhlichsein verlegen!" sagte der junge Mensch und lachte.—"Ja, dann würdest Du für Dein Teil eine Gemeinschaft mit andern Menschen finden; denn erst in der Freude sieht man das Gute bei andern und liebt es. Man kann aber Gott nur lieben, wenn man seinen Nächsten liebt."
Da nicht sogleich ein Widerspruch erfolgte, versuchte Ödegaard zum zweitenmal die Schlinge zusammenzuziehen und sagte: "Die Dinge, die freimachen, also daß der Heilige Geist in uns wirken kann,—denn in den Gefesselten kann er nicht wirken,—die Dinge, die uns helfen, müssen einen Segen in sich tragen,—und das tun diese Dinge." Der Propst stand auf, er hatte seine Pfeife schon wieder auszuklopfen.
In der Pause, die jetzt folgte, und in der kein Seufzer zu hören war, merkte man, wie die vielen Tücher sich abmühten, und schließlich hörte man ein zaghaftes: "Es steht geschrieben: Was Du aber tust, das tu zu Gottes Ehre;—sind aber weltlicher Gesang, Spiel und Tanz zu Gottes Ehre?"
"Ohne weiteres nicht;—aber können wir dieselbe Frage nicht beim Essen, beim Schlafen, beim Anziehen stellen? Und doch müssen wir das alles tun. Es kann also nur gemeint sein, daß man nichts tun soll, was Sünde ist."—"Ja, ist das denn aber keine Sünde?"
Zum erstenmal wurde Ödegaard ein bißchen ungeduldig. Er beschränkte sich deshalb darauf, zu sagen: "Wir lesen in der Bibel, daß Gesang, Spiel und Tanz Brauch waren."—"Ja, zu Gottes Ehre."—"Nun ja, zu Gottes Ehre. Aber daß die Juden immer und in allem den Namen Gottes im Munde führten, geschah aus dem Grunde, weil sie wie Kinder die Dinge noch nicht eingeteilt hatten. Den Kindern ist jeder fremde Mensch, der Mann",—auf die Frage des Kindes: "Woher kommt dies, woher kommt das?' antworten wir immer dasselbe: 'von Gott'; aber als Erwachsene Erwachsenen gegenüber nennen wir zugleich das Zwischenglied, wir nennen nicht bloß den Geber, Gott. So kann zum Beispiel ein schönes Lied von Gott handeln oder zu Gott führen, auch wenn Gottes Name nicht genannt ist; denn gar vieles führt zu ihm hin, wenn auch nicht auf dem direkten Wege. Unser Tanz, wenn in Wahrheit gesunde, unschuldige Menschen ihre Freude an ihm haben, preist—wenn auch nicht direkt—ihn, der uns die Gesundheit schenkte, und der das Kind in uns liebt."
"Merkt Euch das, merkt Euch das!" sagte der Propst; er war sich klar, daß er lange Zeit diese Dinge mißverstanden und sie andern falsch ausgelegt hatte.
Lars aber hatte lange nachdenklich dagesessen. Jetzt war er fertig. Das Samenkorn hatte sich von der hohen Stirn zu dem kurzen, knorrigen Untergesicht herabgesenkt; hier war es ausgedroschen und gemahlen worden und kam jetzt heraus: "All die Märchen und Erzählungen und Geschichten, all die Gedichte und das erfundene Zeug, wie es heutzutage die Bücher füllt,—ist das auch erlaubt? Steht nicht geschrieben: Jedes Wort, das aus Deinem Munde gehet, sei Wahrheit?"
"Es freut mich, daß Du darauf kommst.—Siehst Du, mit den Gedanken ist es genau wie mit dem Hause, in dem Du wohnst. Wäre es so eng, daß Du kaum mit dem Kopf hineinkönntest und nur eben die Beine ausstrecken, so müßtest Du es auch wohl ausbauen. Und die Dichtung erhebt die Gedanken und baut sie aus. Wäre das Maß der Gedanken, das über das Allernotwendigste hinausgeht, Lüge, so würden bald auch die allernotwendigsten Gedanken Lüge werden. Sie würden Dich so einklemmen in Dein Erdenhaus, daß Du nie die Ewigkeit erreichtest, und doch geht Dein Weg dahin, und die Gedanken sollten Dich im Glauben dahin führen."—"Aber etwas Erdichtetes ist doch etwas, was nicht gewesen ist, und dann ist es doch Lüge?" sagte Randi nachdenklich.—"Nein, es zeigt uns oft eine größere Wahrheit, als die Dinge, die wir sehen", antwortete Ödegaard. Jetzt blickten ihn alle zweifelnd an, und der junge Mensch warf ein: "Ich habe bis jetzt nicht gewußt, daß in den Sagen von Askelad mehr Wahrheit ist, als in dem, was ich mit meinen Augen sehe!"—Alle lachten leise.—"So sage mir, ob Du immer den Zusammenhang dessen begreifst, was Du vor Augen siehst?"—"Ich bin wohl nicht gelehrt genug?"—"Oh, ein Gelehrter begreift ihn gewiß noch viel weniger! Ich meine nämlich solche Dinge des täglichen Lebens, die uns Kummer und Herzeleid machen, und über die wir grübeln, bis wir schwarz werden, wie man so sagt. Kommt so etwas nicht vor?"—Er antwortete nicht; aus den vielen Tüchern heraus aber ertönte es in tiefem Ernst: "Doch, sehr oft."—"Wenn Du nun aber eine erfundene Geschichte hörtest, die Deiner eigenen so gliche, daß Du Deine Geschichte verständest, wenn Du die andere hörtest? Würdest Du von der Geschichte, die Dir Deine eigene klar macht, die Dir den Trost und die Festigung gibt, die im Verständnis liegen,—nicht sagen, die Geschichte habe für Dich größere Wahrheit als Deine eigene?" Die blonde Frau sagte: "Ich habe einmal eine Geschichte gelesen, die mir über einen großen Kummer so hinweggeholfen hat, daß das, was mich bisher so bedrückt hatte, mir fast eine Freude wurde." Aus den Tüchern heraus erscholl ein Räuspern;—"ja, es ist doch wahr", fügte sie ängstlich hinzu.
Der junge Mensch aber wollte es nicht zugeben: "Können die Sagen von Askelad einem Menschen zum Trost gereichen?"—"Nun, je nachdem. Der Humor hat große Macht, und jene Sagen zeigen lustig, daß einer, von dem die Welt am wenigsten hält, oft am weitesten kommt,—daß alles dem beisteht, der selbst guten Muts ist, und daß der Mann vorwärts kommt, der es von ganzem Herzen will. Meinst Du nicht, es ist für viele Kinder gut, wenn sie daran erinnert werden, und für viele Erwachsene auch?"—"Aber es ist doch Aberglauben, wenn man an den Teufel und an Hexerei glaubt."—"Wer hat gesagt, daß Du daran glauben sollst? Das ist Bilderschrift."—"Aber es ist uns verboten, Bilder und Zeichen zu gebrauchen, weil jeglicher Schein dem Teufel zugehört."—"So; wo steht das?"—"In der Bibel."—Hier fiel der Propst ein: "Nein, das ist ein Mißverständnis; denn die Bibel gebraucht selbst Bilder."—Alle blickten zu ihm auf. "Sie gebraucht auf jeder Seite Bilder, wie das überhaupt den morgenländischen Völkern eigen ist. Wir haben selbst auch Bilder in unserer Kirche, wir haben Bilder in unserer Sprache, in Holz, auf Leinwand, in Stein, und wir können uns die Gottheit nur durch Bilder vorstellen. Nicht genug damit: Jesus wendet Bilder an; hat Gott der Herr selbst nicht mancherlei Gestalt angenommen, wenn er sich den Propheten offenbarte? Kam er nicht in Gestalt eines Wanderers zu Abraham nach Mamre und aß mit ihm an seinem Tisch? Kann aber die Gottheit mancherlei Gestalten annehmen und Bilder gebrauchen, so können die Menschen es auch."—Man mußte ihm beipflichten. Ödegaard aber stand auf und schlug den Propst leicht auf die Schulter: "Schönen Dank, da haben Sie eben ganz prächtig aus der Bibel bewiesen, daß das Schauspiel zulässig ist!"—Der Propst blieb erschrocken stehen: der Rauch, den er im Munde hatte, quoll ganz von selbst langsam heraus.
Ödegaard ging dann durch die Stube auf die Frau mit den vielen Umschlagtüchern zu und bückte sich, um eine Spur ihres Gesichts zu entdecken, allein vergeblich. "Möchtest Du noch mehr wissen?" fragte er; "denn Du scheinst über dies und jenes nachgedacht zu haben."—"O Gott sei mir gnädig, ich denke wohl nicht immer das richtige."—"Ja,—in der ersten Zeit nach der Gnade der Bekehrung ist man so erfüllt von diesem Wunder, daß einem alles andere zwecklos und unrichtig erscheint. Man ist wie ein Liebhaber, der nur nach seiner Geliebten Sehnsucht hat."—"Ja, aber sieh die ersten Christen an, die sollen uns doch ein Beispiel sein."—"Nein, ihre strengen Lebensbedingungen mitten unter den Heiden sind nicht mehr die unseren; wir haben andere Aufgaben, wir müssen das Christentum in unserem heutigen Leben unterbringen."—"Aber im Alten Testament stehen so viele Worte, die dem, was Du sagst, widersprechen", sagte der junge Mensch zum erstenmal ohne Bitterkeit.—"Ja, denn jene Worte sind jetzt tot, sie sind abgeschafft', wie der Apostel Paulus sagt: Welcher auch uns tüchtig gemacht hat, das Amt zu führen des Neuen Testaments; nicht des Buchstabens, sondern des Geistes,—und weiter: Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Und: Ich habe es alles Macht, sagt Paulus weiter, doch er fügt hinzu: Es frommt aber nicht alles.—Nun sind wir so glücklich, das Leben eines Mannes vor Augen zu haben, das uns zeigt, was Paulus gemeint hat. Luthers Leben. Von Luther glaubt Ihr doch, daß er ein guter, aufgeklärter Christ war?" Ja, das glauben sie.—"Luthers Glaube war ein lichter Glaube, es war der Glaube des Neuen Testamentes! Er hatte von dem finsteren Glauben die Ansicht, dahinter liege der Teufel am liebsten auf der Lauer. Er hatte von der Furcht vor der Versuchung die Ansicht, daß der am wenigsten versucht wird, der sich am wenigsten fürchtet. Er nutzte alle Gaben, die Gott ihm gegeben hatte, auch die Fähigkeit, sich zu freuen, er nahm das Leben als Ganzes. Wollt Ihr Beispiele? Der fromme Melanchthon schrieb einmal so eifrig an einer Verteidigung der reinen Lehre, daß er sich die Zeit zu den Mahlzeiten nicht gönnte. Da nahm Luther ihm die Feder aus der Hand. 'Man dient Gott nicht allein durch Arbeit,' sagte er, 'sondern auch durch Ruhe und Erholung; deshalb hat Gott das dritte Gebot gegeben und den Sabbat eingesetzt,' Und weiter: Luther wandte in seiner Rede viele Bilder an, scherzhafte und ernste durcheinander, und er steckte voll von guten, oft sehr lustigen Einfallen. Er übersetzte auch alte, schöne Volkssagen in seine Muttersprache und sagt in der Vorrede, daß er nächst der Bibel kaum bessere Ermahnungen kenne als diese. Er spielte, wie Ihr vielleicht wißt, die Laute, und sang mit seinen Kindern und seinen Freunden,—nicht bloß Choräle, nein, auch alte, fröhliche Lieder; er liebte Gesellschaftsspiele, spielte Schach und ließ die Jugend in seinem Hause tanzen; er verlangte nur, daß alles in Zucht und Ehren geschehe. Dies hat ein alter, treuherziger Schüler Luthers, nämlich der Pfarrer Johann Mathesius, aufgezeichnet und seinen Pfarrkindern von der Kanzel herab erzählt. Er betete, er möge ihnen die Wege weisen,—und wir wollen nun das gleiche beten!"
Der Propst stand auf: "Liebe Freunde, jetzt wollen wir es für heute genug sein lassen!" Alle erhoben sich. "Hier ist manches Wort zur Aufklärung gesprochen worden; möge Gott seinen Segen zu dieser Aussaat geben!—Liebe Freunde, Ihr wohnt an abgelegenen Stätten; Ihr wohnt hoch oben auf den Höhen, wo der Frost das Korn häufiger mäht als die Sichel. Solche Einöden sollte man wieder den Sagen und dem weidenden Vieh überlassen. Das geistige Leben gedeiht spärlich da oben und wird kümmerlich wie die Kräuter. Das Vorurteil drückt auf das Leben wie die Berge, unter denen es heranwächst; sie werfen ihre Schatten darauf und treten trennend dazwischen. Der Herr sammle, der Herr erleuchte Euch!—Ich danke Euch für heute, meine Freunde! Auch mir hat dieser Tag zu größerer Klarheit verhelfen." Er gab jedem von ihnen die Hand, und selbst der junge Mensch streckte ihm seine Hand freundlich hin, ohne jedoch aufzublicken.
"Ihr müßt über die Berge;—wann kommt Ihr denn nach Hause?" fragte der Propst, als sie gehen wollten.—"Ach, in der Nacht wohl," antwortete Lars; "es hat sich jetzt viel Schnee angesammelt, und wo der fortgeweht ist, liegt Höckereis."—"Ja, liebe Freunde, es ist aller Ehren wert, unter solchen Umständen zur Kirche zu kommen. Möget Ihr jetzt auf dem Wege nicht zu Schaden kommen!"—Erik antwortete leise:
"Ist Gott für mich, so trete
Gleich alles wider mich,
So oft ich ruf und bete,
Weicht alles hinter sich!"
"Das stimmt, Erik,—diesmal hast Du's getroffen!" "Ja, wartet mal", sagte Ödegaard, als sie sich zum Gehen wandten; "es ist nicht zu verwundern, daß Ihr mich nicht kennt; aber ich dürfte auf den Ödhöfen doch wohl Verwandte haben." Alle wandten sich nach ihm um, selbst der Propst, der es wohl gewußt, aber völlig vergessen hatte. "Ich heiße Hans Ödegaard, der Sohn von Knut Hansen Ödegaard, dem Propst, der damals mit dem Ränzel auf dem Rücken von Euch fortzog."—Da klang es aus den vielen Tüchern heraus: "Herr Gott,—das ist ja mein Bruder."—Sie waren alle stehen geblieben, aber keiner wußte, was er sagen sollte. Schließlich fragte Ödegaard: "Also bin ich damals, wo ich als kleiner Bursch Vater hinaufbegleitete, bei Dir gewesen?"—"Ja, bei mir."—"Und eine Zeitlang auch bei mir", sagte Lars; "Dein Vater ist mein Schwesterkind."—Randi aber sagte wehmütig: "Also Du bist der kleine Hans;—ja, ja, die Zeit vergeht."—"Wie geht es Eise?" fragte Ödegaard.—"Dies ist Eise", sagte Randi und zeigte auf die blonde Frau.—"Du bist Eise!" rief er. "Du hattest damals einen Liebeskummer; Du wolltest den Dorfspielmann haben; hast Du ihn gekriegt?" Niemand antwortete. Obwohl es schon dämmerig war, sah er, wie Eise sehr rot wurde, und wie die Männer zur Seite oder zu Boden blickten,—ausgenommen der junge Mensch, der Eise fest ansah. Ödegaard merkte, daß er etwas Törichtes gefragt hatte; der Propst kam ihm zu Hilfe: "Nein, der Spielmann Hans ist unverheiratet geblieben; Eise hat Lars' Sohn bekommen; aber jetzt ist sie wieder frei, sie ist Witwe."—Wieder wurde sie glühend rot, der junge Mensch sah es und lächelte spöttisch.
Randi aber sagte: "Ja, Du hast wohl weite Reisen gemacht? Du hast viel gelernt, wie ich gehört habe."—"Ja, bis jetzt habe ich studiert oder bin gereist, aber nun will ich im Lande bleiben und mich nützlich machen."—"Ach ja, so geht's—manche reisen weit und kommen zum Licht und zur Gelehrsamkeit; andere kleben an der Scholle." Und Lars fügte hinzu: "Die heimische Erde ist oft schwer zu brechen. Bringt sie aber einen Mann hervor, der Hilfe leisten kann, so zieht er von dannen."—"Der Beruf ist verschieden; jeder muß dem seinen folgen", sagte der Propst.—"Mit unsers Herrgotts Hilfe wird schon Arbeit mehrend zu Arbeit kommen", sagte Ödegaard; "meines Vaters Wirksamkeit wird Euch vielleicht auch noch einmal zugute kommen, so Gott will."—"Ach ja, das mag wohl sein", sagte Randi sanft; "aber das Warten fällt oft schwer; denn es dauert so lange."
Sie schieden; der Propst stellte sich an das eine, Ödegaard an das andere Fenster, um ihnen nachzuschauen; denn jetzt mußten sie über die Berge; der junge Mensch ging hinterher. Ödegaard erfuhr, er stamme aus der Stadt, wo er alles mögliche getrieben habe, doch immer mit den Leuten in Streit geraten sei. Er glaubte sich zu etwas Großem berufen, vielleicht zum Apostel, war aber seltsamerweise auf den Ödhöfen hängen geblieben,—manche meinten aus Liebe zu Eise. Er war ein Feuerkopf, der viele Enttäuschungen erlebt hatte und dessen noch mehr harrten.
Sie kamen jetzt auf dem Berge zum Vorschein; das Dach des Kuhstalls verdeckte sie nicht mehr. Sie arbeiteten sich mühselig empor, verschwanden hinter Bäumen und kamen wieder heraus, immer höher und höher. Es führte kein Weg durch den tiefen Schnee, die Bäume waren die Wegweiser in der Wüste, und zur Seite zeigten die Firnen ihnen die Richtung nach ihrer Wohnstätte.
Drinnen aus der Stube aber kamen ein paar trillernde Akkorde und dann:
Mein Lied ist dem Frühling ergeben,
Bevor er erwachte zum Leben.
Mein Lied ist dem Frühling ergeben,
Wie Sehnsucht ihn sehnet herbei,
Da schließen ein Bündnis die zwei,
Zu locken die Sonne zum Siege,
Damit ihr der Winter erliege,
Das Murmeln der Bäche zu wecken,
Damit sie im Chor ihn erschrecken
Zu bannen ihn flugs aus den Lüften
Mit stetigen Blumen duften.—
Mein Lied ist dem Frühling ergeben!
Elftes Kapitel
Seit diesem Tage war der Propst sehr wenig mit den andern zusammen; teils nahm ihn das Weihnachtsfest in Anspruch, teils konnte er nicht zur Klarheit kommen, ob das Schauspiel den Christen erlaubt sei oder nicht; sowie sich Petra nur sehen ließ, wurde er unruhig.
Während der Propst so in seinem Arbeitszimmer saß, seine Predigten oder eine christliche Ethik vor sich, saß Ödegaard bei den jungen Mädchen, zwischen denen er ständig Vergleiche ziehen mußte. Petra sprühte und war, sich nie gleich; wer ihr folgen wollte, wurde wie bei einem Buch in steter Spannung gehalten. Signe dagegen war so wohltuend in ihrer gleichmäßigen Innigkeit; ihre Bewegungen waren nie überraschend; denn sie spiegelten ihr Wesen wieder. Petras Stimme konnte jede Färbung annehmen, grelle und weiche, und jeden Stärkegrad. Signes Stimme hatte einen eigenen Wohllaut, war aber nicht wechselnd,—außer für den Vater, der meisterlich die Nuancen unterscheiden konnte. Petra blieb bei einer Sache; war sie bei mehr Dingen, so geschah's, um zu beobachten, nicht um zu helfen. Signe hatte auf alles und auf alle ein Auge und verteilte sich, ohne daß man es merkte. Sprach Ödegaard mit Petra über Signe, so hörte er eine hoffnungslos Liebende klagen, sprach er aber mit Signe über Petra, so wurde sie ziemlich einsilbig. Miteinander plauderten die Mädchen häufig und ungezwungen; aber immer nur über Gleichgültiges.
Er hatte gegen Signe große Verpflichtungen; denn ihr verdankte er das, was er "seinen neuen Menschen" nannte. Der erste Brief, den er in seinem großen Schmerz von Signe bekam, hatte ihm wie eine weiche Hand über die Stirn gestrichen. So schonend erzählte sie, Petra sei zu ihnen gekommen, mißverstanden und mißhandelt. So fein war ihre Auslegung, daß dies zufällige Kommen wie eine Fügung Gottes erschien, "weil nichts zerbrechen soll", ihm klang es wie fernes Locken aus einem Walde, wenn man noch steht und über den Weg nachsinnt, den man gehen soll.
Signes Briefe folgten ihm überall, wohin er reiste; sie waren der Faden, der ihn hielt. Jede ihrer Zeilen hatte den Zweck, Petra direkt in seine Arme zu führen, und doch erreichte sie gerade das Gegenteil; denn Petras Künstlernatur trat ihm durch diese Briefe klar vor Augen; den Mittelpunkt ihrer Begabung, den er selbst vergebens gesucht, hatte Signe unbewußt stets vor Augen, und sowie er das einsah, sah er auch ihren und seinen Irrtum ein und wurde gewissermaßen ein neuer Mensch dadurch.
Er hütete sich wohl, Signe von dem zu schreiben, was ihre Briefe ihn gelehrt hatten. Das erste Wort durfte nicht von Petras Umgebung kommen, sondern von ihr selbst, damit nichts überstürzt werde. Aber von dem Augenblick an, da ihm dies klar geworden war, hatte er auch Petra in einem neuen Licht gesehen. Natürlich: diese ewig sich jagenden Impulse, von denen jeder einzelne voll empfunden war, alle aber in einem großen Widerspruch zueinander standen, das mußte ja der Anfang eines Künstlertums sein. Es hieß also, dies alles zu einer starken Wesenseinheit zu sammeln; sonst würde alles Stückwerk und ihr Leben selbst nur Kunst. Also: nicht zu früh hinein in die Bahn! Solange wie möglich schweigen, ja Widerstand.
Von all dem ganz erfüllt, merkte er selbst nicht, daß Petra wieder unausgesetzt seine Seele beschäftigte,—diesmal jedoch mit einem fremden Ziel. Er nahm die Kunst um sich herum aufs Korn, besonders aber die Künstler und unter ihnen vor allem die Schauspieler. Er sah vieles, was einen Christenmenschen abschrecken mußte. Er sah die ungeheuren Mißstände. Aber sah er dasselbe nicht überall, sah er es nicht auch in der Kirche? Weil da hohle Pfaffen standen, nannte man ganz dasselbe groß und ewig. Wenn das Streben nach Wahrheit, das überall sich regte, im Leben und in der Dichtung Macht bekam,—konnte es dann nicht auch bis zum Theater vordringen?
Er war allmählich seiner Sache sicher geworden. Mit großer Freude sah er aus Signes Briefen, daß Petra sich sehr heranbildete und daß Signe die rechte war, ihr dabei zu helfen. Jetzt war er gekommen, um diesen Schutzgeist, der selbst nicht wußte, was er ihm gewesen war, zu sehen und ihm zu danken.
Aber er war auch gekommen, um Petra wiederzusehen. Wie weit war sie vorgeschritten? Das Wort war ausgesprochen, er konnte also offen mit ihr darüber reden; das war ihnen auch beiden willkommen; dann brauchten sie ja doch nicht von der Vergangenheit zu sprechen.
Indessen, sie wurden bald durch Gäste aus der Stadt gestört, gebetene und ungebetene! Die Dinge standen da aber schon so, daß ein einziger, wohlgenutzter Zufall Klarheit bringen konnte,—und dazu verhalfen die Gäste. Es wurde nämlich eine große Gesellschaft veranstaltet, und auf dieser Gesellschaft, gleich nach Tisch, als die Herren im Arbeitszimmer saßen, kam das Gespräch auf die Schauspielkunst; denn ein Stiftskaplan hatte auf dem Schreibtisch eine christliche Ethik aufgeschlagen gesehen und war auf das entsetzliche Wort "Schauspiel" gestoßen. Es entspann sich ein heftiges Wortgefecht, und mitten hinein kam der Propst, der nicht mit bei Tisch hatte sein können, weil er zu einem Kranken gerufen worden; er war sehr ernst gestimmt, er aß nicht, er nahm auch nicht an dem Gespräch teil, aber er stopfte seine Pfeife und hörte zu. Sowie Ödegaard merkte, daß der Propst still da saß und dem Gespräch folgte, mischte er sich hinein, versuchte aber lange vergeblich, Zusammenhang in die Sache zu bringen; denn der Stiftskaplan hatte die Angewohnheit, so oft ein Glied in der Beweiskette geknüpft werden sollte, zu rufen: "Ich leugne!" (er wollte nicht sagen: verleugne), und dann mußte das, was beweisen sollte, erst selbst bewiesen werden; es ging infolgedessen rückwärts; man war vom Schauspiel schon auf die Schiffahrt gekommen und wollte, um in der Schiffahrt einen Beweis führen zu können, eben zum Ackerbau übergehen.
Nun, da ernannte Ödegaard den Propst zum Wortführer. Außer ihm waren noch einige Pfarrer anwesend, sowie der Kapitän, ein kleiner schwarzhaariger Mann mit einem riesigen Bauch und ein paar kleinen Beinen darunter, die wie Trommelschlägel wirbelten. Ödegaard erteilte dem Stiftskaplan das Wort, damit er alles vorbringen könne, was er gegen das Schauspiel einzuwenden habe. Der Stiftskaplan nahm das Wort:
"Schon rechtschaffene Heiden waren gegen das Schauspiel wie Plato und Aristoteles, weil es die Sitten verderbe. Sokrates sah sich freilich ab und zu ein Schauspiel an, will aber jemand daraus den Schluß ziehen, daß er es billigte, so leugne ich das, denn man muß vieles sehen, was einem nicht gefällt. Die ersten Christen wurden eindringlich vor dem Schauspiel gewarnt, siehe Tertullian! Seitdem das Schauspiel in neuerer Zeit wieder aufgelebt ist, haben ernste Christen dagegen gesprochen und geschrieben. Ich nenne Namen wie Spener und Francke; ich nenne einen christlichen Ethiker wie Schwarz, ich nenne Schleiermacher. ('Hört, hört!' rief der Kapitän, denn diesen Namen kannte er.) Die letzten beiden räumen die Zulässigkeit dramatischer Dichtung ein, Schleiermacher ist sogar der Ansicht, in Privatgesellschaften dürfe von Dilettanten eine gute Dichtung aufgeführt werden; er verurteilt aber den Schauspielerberuf. Der Stand der Schauspieler hat für einen Christen so mannigfaltige Versuchungen, daß er ihn meiden soll.—-Aber ist es nicht auch für die Zuschauer eine Versuchung? Von erdichtetem Leiden gerührt, von erdichtetem Tugendheldentum erhoben zu werden, dessen man sich beim Lesen leichter erwehren kann, verlockt zu dem Glauben, man selbst sei das, was man sieht; das schwächt den Willen, die Arbeit an sich selbst, das zieht uns herab zu Hörlust, Schaulust und Phantasterei. Habe ich nicht recht? Wer ist hauptsächlich in der Komödie zu finden? Müßiggänger, die sich unterhalten wollen, Wollüstige, die aufgereizt, Eitle, die selbst gesehen werden wollen, Phantasten, die aus dem wirklichen Leben, mit dem sie's nicht aufzunehmen wagen, hierherflüchten. Sünde hinter dem Vorhang, Sünde vor dem Vorhang! Ich habe nie einen ernsthaften Christen anders reden hören!"
Der Kapitän: "Da kann einem ja angst und bange vor einem selbst werden. Bin ich immer, wenn ich in der Komödie war, in so einer Wolfshöhle gewesen, dann soll der Teufel—"—"Pfui, Herr Kapitän", sagte ein kleines Mädchen, das mit ins Zimmer geschlüpft war; "Du darfst nicht fluchen, denn sonst kommst Du in die Hölle!"—"Ja, mein Kind, natürlich, natürlich."—Ödegaard aber nahm das Wort:
"Plato hatte gegen die Dichtung dieselben Einwendungen wie gegen das Schauspiel, und die Ansicht des Aristoteles steht nicht fest. Ich lasse diese beiden also aus dem Spiel. Die ersten Christen aber taten gut daran, sich den heidnischen Schauspielen fernzuhalten,—sie übergeh' ich ebenfalls. Daß ernsthafte Christen in neuerer Zeit ihre Bedenken auch gegen die Schauspiele gehabt haben, die christliche Stoffe behandeln, kann ich verstehen; ich habe selbst Bedenken gehabt. Aber wenn man zugibt, daß dem Dichter erlaubt sein soll, ein Drama zu schreiben, dann muß dem Schauspieler auch erlaubt sein, es zu spielen. Denn was tut der Dichter beim Schreiben anders, als daß er es spielt,—in seinen Gedanken, feurig, mit Lust, und 'wer ein Weib ansieht ihrer zu begehren' usw.—Ihr kennt Christi eigene Worte. Wenn Schleiermacher sagt, das Drama dürfe nur privatim und von Ungeübten gespielt werden, dann sagt er, daß die Gaben, die wir von Gott bekommen haben, vernachlässigt werden sollen, während es doch Gottes Wille ist, daß sie zur größtmöglichen Vollkommenheit gebracht werden; denn dazu haben wir sie erhalten. Wir alle schauspielern tagtäglich, indem wir andere nachmachen oder im Scherz oder Ernst eine fremde Meinung annehmen. Die Sache überwiegt bei einzelnen Menschen alle andern, und da möchte ich doch sehen, wenn man es unterließe, dies Talent zu pflegen, ob sich nicht bald von selbst herausstellen würde, daß gerade in der Unterlassung die Sünde liegt. Denn wer seinem Beruf nicht nachgeht, wird untauglich zu andern Dingen, wird unredlich, wankelmütig,—kurz, fällt allen Versuchungen viel leichter zur Beute, als wenn er seinem Berufe folgt. Wo die Arbeit und die Freude daran zusammenfallen, wird manche Versuchung ausgeschaltet.—Aber, mag man sagen, der Beruf ist an sich voller Versuchungen. Ja, darüber läßt sich streiten. Für mich liegt in dem Beruf die größte Versuchung, der einem den Glauben vorspiegelt, man sei selbst gerecht, weil man Kunde bringt von dem Allgerechten,—den Glauben, man selbst sei gläubig, weil man zu dem Glauben anderer redet, oder deutlicher: für mich liegt in dem Priesterberuf die größte Versuchung." (Großer Lärm: Ich leugne! Richtig! Ich leugne! Stimmt! Ruhe!) Der Kapitän: "Das habe ich noch nie gehört, daß die Pfarrer schlimmer sind als die Schauspieler!" Gelächter und Rufe von allen Seiten: "Nein, das hat er nicht gesagt." Der Kapitän: "Doch, zum Teufel—"—"Aber, Herr Kapitän, jetzt kommt der Teufel gleich!"—"Gut, mein Kind, schon gut!" Ödegaard nahm den Faden wieder auf: "All die Versuchung, sich vom Augenblick hinreißen zu lassen, in Hörlust und Phantasterei herabzusinken, ohne Arbeit an sich das Leben von Tugendhelden zu seinem eigenen zu machen, all das ist wahrhaftig auch in der Kirche zu finden!" (Derselbe fürchterliche Lärm.)
Die Damen aber konnten diesen wiederholten Lärm nicht hören, ohne dabei sein zu wollen. Jetzt wurde die Tür geöffnet. Ödegaard sah Petra zwischen den andern stehen und sagte mit lauterer Stimme: "Freilich gibt es Schauspieler, die sich auf der Bühne rühren lassen und von dort in die Kirche rennen und sich da auch rühren lassen,—und doch schlecht bleiben. Freilich gibt es Schauspieler, die hohle Sprachrohre sind, die sonst im Leben zu nichts zu gebrauchen gewesen wären, in diesem Beruf sich aber doch wenigstens als Sprachrohr nützlich machen. Aber meist ist es so, daß die Schauspieler gleich den Seeleuten oft in den bittersten Nöten stecken,—denn die Augenblicke vor dem Auftreten können entsetzlich sein!—und daß sie oft zu einem Werkzeug Gottes berufen sind, so oft dem Unerwarteten, dem Großen gegenüberstehen, daß sie in ihrem Herzen eine Furcht und eine Sehnsucht tragen, ein großes Gefühl des eigenen Unwertes, und wir wissen, daß Christus zu den Zöllnern und zu den reuigen Sünderinnen am liebsten kam. Ich gebe ihnen keinen Freibrief; wirklich, je größer die Aufgabe ist, die sie meines Erachtens im Lande haben,—was auch daraus erhellt, daß in einem Volke nicht viele große Schauspieler auf einmal leben!—desto größere Schuld laden sie auf sich, wenn ihr Wirken sie zur Gehässigkeit hinreißt oder sie in einen schlappen Leichtsinn hineinschleudert. Aber gleichwie es keinen Schauspieler gibt, der nicht aus einer Reihe von Enttäuschungen gelernt hat, wie nichtssagend Beifall und Schmeichelei sind, obwohl die meisten sich den Anschein geben, als glaubten sie daran,—so sehen wir wohl ihre Fehltritte und ihre Schwächen, aber wir kennen nicht ihr Verhältnis zu ihnen, und darauf kommt es doch an."
Viele meldeten sich zum Wort, sie fingen auch alle zugleich zu reden an, aber:
"Ich mag wohl vierzehn Jahre gewesen sein—" klang es vom Klavier her, und alles strömte ins andere Zimmer; denn Signe sang, und Signes schwedische Volkslieder waren das entzückendste, was man sich denken konnte. Ein Lied folgte dem andern, und als nun diese schönsten Volkslieder der Welt, die treulich Kunde bringen von der Seele eines großen Volkes, alle in erwartungsvolle Weihestimmung versetzt hatten, da stand Ödegaard auf und bat Petra, ein Gedicht vorzutragen. Sie mußte darauf vorbereitet sein, denn sie wurde feuerrot. Aber sie trat sogleich vor, obwohl sie so zitterte, daß sie sich an einer Stuhllehne festhalten mußte, dann wurde sie leichenblaß und fing an:
Ihm ward nicht verstattet, zu fahren hinaus;
Sein Vater war alt, seine Mutter war schwach,
Und die Wirtschaft ward größer allgemach:—
"Was brauchen ihn Wikingerfahrten zu scheren?
Hier hat er, was immer sein Herz kann begehren."
Doch der Bursch sah sehnend die Wolken fliehn,
Sah reisige Recken zur Walstatt ziehn;
Und sehnend gewahrt' er im Sonnenstrahl
Den König in seinem prangenden Saal.
Er stand, er vergaß der täglichen Pflichten,
Er stand und gedachte der alten Geschichten.
Ein Morgen kam, wo die Flucht er ergriff
Zur äußersten Klippe, zum offenen Meer,
Zu schaun auf das Spiel um Strand und Riff,
Zu lauschen dem Dröhnen der Brandung umher.
Es war ein Tag in des Lenzes Beginn,
Wo der Sturmwind ruft übers Land dahin:
Du sollst nicht mehr schlafend im Eise stocken!—
Da mußt' ihn ein Bild zum Wagnis verlocken.
Da lag ein Langschiff in stahlgrauer Bucht,
Ausruhend von feindlicher Stürme Wucht.
Die Segel gerefft vor Anker lag's,
Schien aber sich wenig zu freuen des Tags;
Denn die Segel zuckten, der Mast war gebogen,
Und den schaukelnden Bug umschäumten die Wogen.
Man gönnte sich kurze Rast an Bord;
Wer grade nicht schmauste, der schlummerte dort.
Da hörten sie rufen herab von den Klippen—
Fast klang's wie ein Wort von des Wahnsinns Lippen—:
"Ist keinem auf haushohen Wogen geheuer,
Mich drängt es danach;—drum gebt mir das Steuer!"
Empor zu dem Berghang blickten ein paar;
Sonst wandte sich keiner herum von der Schar,
Und keiner ließ sich die Eßlust rauben.
Da fiel ein Stein; zwei mußten dran glauben.
Auf sprang man von Deck; die Schüsseln waren
Im Nu verschwunden, die Waffen erhoben;
Es schwirrten die Pfeile;—jedoch der droben
Stand ruhig und sagte mit festem Gebaren:
"Hauptmann, magst willig dein Schiff du mir geben
Oder drum kämpfen auf Tod und Leben?"
Für Scherz nur nahm es der wilde Hauf,
Ein Pfeilschuß war die Antwort darauf.
Der traf ihn nicht. Er sagte gelassen:
"Noch will mich des Todes Haus nicht fassen.
Du, der die sämtlichen Meere durchpflügte,
Kannst dorthin gehn oder heim dich trollen.
Was immer sich deiner Herrschaft fügte,
Muß mein sein; denn jetzt begann mein Wollen.
Du sammeltest mir zu Nutz und Frommen!
Man wartet auf mich; meine Zeit ist gekommen."
Stolz lachte der andre in klirrenden Waffen:
"Ernennt dich dein Sehnsuchtstraum zum Sieger,
Sollst Frieden du haben. Komm, sei mein Krieger!"—
"Ich kann nicht; ich bin zum Hauptmann geschaffen.
Mich weist mein Weg, als Herrscher zu schalten;
Das Neue kann nimmer gehorchen dem Alten."
Vergeblich nach Antwort sein Ohr sich spannte.
Da sprang er hinunter die Felsenkante:
"Ihr Helden, am Hauptmann ist es, zu zeigen,
Wem Walvater siegverleihend erschienen.
Dem Sieger sollen die Mannen sich neigen.
Schmach denen, die nicht dem Größten dienen!"
Der Hauptmann erglühte vor Zorn; vom Schiff
Ins Wasser sprang er und schwamm zum Lande:
Der andere lief hinab zum Strande
Und zog ihn herauf mit markigem Griff.
Der Hauptmann sah ihm ins Aug', und klar
Erkannt' er, wie hohen Sinnes er war.
"Werft schnell ihm herüber die fehlenden Waffen,"
So rief er zum Schiff. "Wirst Sieg du erraffen,
Dir reichte das Schwert, kannst du dann sagen,
Er selber, den du damit erschlagen."
Und am Bergfuß strafften im Kampf sich die Glieder;
Auf jeglichen Streich folgt' ächzendes Dröhnen.
Vom Meer scholl zornig des Drachen Stöhnen;
Bald sank sein Hauptmann getroffen darnieder.
Ein Schrei zum eisgrauen Felsen klang,
Von Steven zu Steven hinab in die Fluten
Stürmten die Mannen in Rachegluten
Und standen bald oben am Klippenhang.
Da hob der Gefallene, schon am Rand
Des Todes, gebietend noch einmal die Hand:
"Ein Mann muß fallen vorm Lebensreste!
Denn groß soll enden ein Heldengesang.
Nehmt ihn zum Hauptmann; er ist der Beste!"
Da ward ihm für immer Schweigen geboten;
Die Recken umringten einen Toten.
An Odins Tisch war bereitet sein Platz;
Vorm Scheiden wies er den rechten Ersatz.
Der neue Hauptmann säumte mit nichten.
Er trat auf den Stein und sprach mit Bedacht:
"Erst sollt ihr dem Helden ein Grabmal errichten,
Des Großen gedenkend, das er vollbracht.
Doch gilt's noch vor Abend die Ruder zu stemmen:
Der Tod darf die Reise des Lebens nicht hemmen."
Und das Mal ward gebaut und die Segel gezogen,
Bald schwankte der Drache auf zackigen Wogen.
Zu ihm auf der Toteninsel zieht
Zurück übers Meer ein Weihelied,
Ein Willkommgruß für den jungen Streiter;
Kühn steuernd führt er das Fahrzeug weiter.
Doch als er die Heimatküste berührt,
Wo alle sich hastig am Strande scharen,
Um staunenden Blicks den Mann zu gewahren,
Der Oegers seestarkes Schiff nun führt,—
Fällt rötlich der Abendsonne Strahl
Auf Segel und Schiff und den Helden zumal.
Er steuert so mutig, daß rings im Rund
Sie angstvoll rufen: "Er geht zu Grund!"
Er lenkt das Schiff in den wildesten Braus,
Hinlächelnd zu ihnen: "Darf jetzt ich hinaus?"
Das Gedicht wurde mit bebender Stimme, feierlich und ohne eine Spur von Ziererei vorgetragen. Alle standen da, als sei zwischen ihnen ein hoher, hoher Lichtstrahl aus der Erde hervorgebrochen im Regenbogenglanz. Keiner sprach, keiner rührte sich;—der Kapitän aber konnte es nicht lange aushaken, er sprang auf, schnaufte, reckte sich und sagte: "Ja, ich weiß nicht, wie es Euch andern ergeht; aber wenn ich auf die Art angefaßt werde, dann muß ich, der Teufel hol's—"—"Herr Kapitän, nun hast Du wieder geflucht", sagte das kleine Mädchen und drohte ihm mit dem Finger; "nun kommt der Teufel gleich und holt Dich!"—"Ja, das ist mir ganz egal, Kind, laß ihn nur kommen, denn jetzt muß ich, hol's der Teufel, ein patriotisch Lied hören!" Ohne weiteres setzte sich Signe ans Klavier, und die frohe Gesellschaft sang:
Ich will schützen mein Land,
Ich will bauen mein Land,
Will es lieben in meinem Gebet, meinem Kind,
Will ihm mehren die Macht,
Will es wissen bewacht
Bis hinaus zu dem Fischer in Wellen und Wind.
Hier ist Sonne genug,
Hier ist Saatgrund genug,
Wenn nur uns es, nur uns es an Liebe nicht fehlt.
Hier ist schöpfrischer Drang,
Der des Werkeltags Gang,
Wenn wir einig ihm folgen, beschwingt und beseelt.
Wir befuhren das Meer
Und die Ströme umher,
In den Landen rings ragt manch normannischer Turm.
Doch noch weiter fliegt heut
Unser Banner und beut
Seine purpurne Brust immer stärkerem Sturm.
Und noch vor uns liegt viel;
Denn wir haben ein Ziel,
Und dies Ziel ist der Tag, der drei Stämme verschweißt.
Was du tust, sei ein Zoll
An ein heiliges Soll,
Sei ein Quell in den Strom, der die Dämme zerreißt.
Diese Scholle ist mein
Und wird teuer mir sein,
Wie sie's ist, wie sie's war, so in Drangsal wie Glück.
Und wie sie uns geliebt,
Diese Heimat, so gibt
Unser dankbares Herz ihr nun Liebe zurück.
Signe stand vom Klavier auf, trat auf Petra zu, legte den Arm um sie und zog sie in das Arbeitszimmer, wo weiter niemand war.—"Petra, wir wollen wieder Freunde sein!"——"O Signe, endlich verzeihst Du mir!"—"Jetzt kann ich alles tun, was ich soll! Petra, liebst Du Ödegaard nicht?"——"O Gott, Signe!"—"Petra, das habe ich vom ersten Tage an geglaubt,—und ich habe gedacht, er sei jetzt endlich gekommen, um———bei allem, was ich seit zweieinhalb Jahren für Euch gedacht und getan habe, habe ich dies vor Augen gehabt, und Vater hat es auch geglaubt; er hat jetzt sicher auch mit Ödegaard darüber gesprochen."—"Aber, Signe—!"—"Schscht!" sie legte die Hand auf den Mund und lief aus dem Zimmer; man hatte sie gerufen; man wollte zu Tisch gehen.
Bei der Abendtafel gab es Wein, weil der Propst beim Mittagessen nicht zugegen gewesen war. Aber der Propst, der die ganze Zeit über sehr ernst und sehr still gewesen war, saß auch jetzt da, als sei außer ihm kein Mensch im Zimmer, bis man von Tisch aufstehen wollte. Da schlug er an sein Glas und sagte: "Ich habe eine Verlobung zu verkünden!"—Alle blickten zu den jungen Mädchen hin, die nebeneinander saßen, und die beiden wären vor Schreck fast vom Stuhl gefallen.
"Ich habe eine Verlobung zu verkünden", fing der Propst wieder an, als werde es ihm schwer, in Fluß zu kommen. "Ich will zugeben, daß sie mir im Anfang nicht nach dem Herzen gewesen ist";—alle Gäste blickten Ödegaard in großer Verblüffung an; diese Verblüffung wuchs ins Grenzenlose, als er ganz ruhig dasaß und den Propst ansah. "Ich dachte, offen gestanden, er sei ihrer nicht würdig."—Jetzt wurden die Gäste so verlegen, daß niemand mehr aufzusehen wagte, und da die jungen Mädchen das schon lange nicht mehr gewagt hatten, so konnte der Propst nur noch zu einem einzigen Gesicht sprechen, zu Ödegaards, der freilich mit der größten Seelenruhe zuhörte. "Aber jetzt," fuhr der Propst fort, "jetzt, da ich ihn näher kennen gelernt habe, ist es so gekommen, daß ich nicht weiß, ob sie seiner würdig ist, so groß erscheint er mir jetzt; denn es ist der Künstlerberuf, die erhabene Schauspielkunst, und die Braut ist meine Pflegetochter Petra, mein geliebtes Kind; möge es Euch gut ergehen miteinander! Ich zittere um Euch, aber was Gott zusammengefügt, das soll der Mensch nicht scheiden. Gott sei mit Dir, meine Tochter!" Sie war im Nu bei ihm und lag an seiner Brust.
Da keiner sich wieder hinsetzte, so verließ die ganze Gesellschaft natürlich die Tafel. Petra aber ging auf Ödegaard zu, der gleich mit ihr in die äußerste Fensternische trat; er hatte ihr etwas zu sagen, aber sie kam ihm zuvor: "Ihnen verdanke ich alles!"—"Nein, Petra; ich bin Dir ein treuer Bruder gewesen; es war eine große Sünde von mir, daß ich Dir mehr sein wollte; denn wäre es geschehen, dann wäre Deine ganze Laufbahn vernichtet worden."—"Ödegaard!"—Sie hatten sich die Hände gereicht, sahen sich aber nicht an; nach einer Weile ließ er sie los und ging. Sie aber sank auf einen Stuhl und weinte.
Am Tage darauf reiste Ödegaard ab.
* * * * *
Gegen den Frühling erhielt Petra einen großen Brief mit einem mächtigen Amtssiegel; sie bekam ordentlich Furcht und brachte ihn dem Propst, der ihn öffnete und las. Er war von dem Amtsvorsteher ihrer Heimatstadt und lautete:
"Pedro Ohlsen, der gestern mit Tode abgegangen ist, hat ein Testament folgenden Wortlauts hinterlassen:
'Alles, was sich nach meinem Tode vorfindet und genau aufgezeichnet ist in dem Kontobuch, das in der blauen Truhe liegt, die in meinem Zimmer im Hause von Gunlaug, der Tochter Aamunds am Berge, steht, und zu der eben diese Gunlaug den Schlüssel hat, wie sie allein auch über alles Bescheid weiß,—hinterlasse ich hiermit, sofern Gunlaug, Tochter Aamunds, ihre Zustimmung dazu gibt, die sie nicht geben kann, wenn sie nicht zuläßt, daß eine Bedingung, die ich daran geknüpft habe und welche sie allein, die die einzige ist, die sie kennt, erfüllen kann, erfüllt wird—der Jungfrau Petra, der Tochter der erwähnten Gunlaug, der Tochter Aamunds, das heißt, wenn Jungfer Petra es nicht für unter ihrer Würde hält, sich eines alten, kranken Mannes zu erinnern, dem sie viel Gutes erwiesen hat, obwohl sie nichts davon wußte, was sie ja auch nicht konnte, und dessen einzige Freude in seinen letzten Lebensjahren sie gewesen ist, wofür er ihr auch einmal eine kleine Freude hat machen wollen, die sie nicht verschmähen möge. Gott sei mir armen Sünder gnädig!
Pedro Ohlsen'
und ich erlaube mir die Anfrage, ob Sie selbst sich deswegen an Ihre Mutter wenden wollen, oder ob ich es tun soll."
Die nächste Post brachte einen Brief von der Mutter, den Propst Ödegaard geschrieben hatte, der einzige, dem sie sich anzuvertrauen gewagt hatte; darin stand, daß sie ihre Zustimmung gebe und die Bedingung erfülle, Petra mitzuteilen, wer Pedro war.
Die Nachricht und das Geld versetzten sie in eine eigene Stimmung; es schien, als komme jetzt alles ins Gleichgewicht; es war eine Mahnung mehr, abzureisen.
Also für ihr Künstlertum hatte der alte Per Ohlsen sich auf Hochzeiten und bei Tanzereien sein erstes Geld zusammengefiedelt, dafür hatten er, sein Sohn und sein Enkel sich auf alle Art gemüht und geplagt. Die Summe war nicht groß, aber sie reichte aus, Petra ein Stück weiter in die Welt hineinzutragen und damit auch schneller vorwärts.
Hell wie die Sonne aber stieg der Gedanke in ihr auf, jetzt könne ihre Mutter zu ihr kommen, jetzt könne sie tagtäglich ihrer Mutter Freude bereiten,—sie könne ihr alles vergelten! Sie schrieb an jedem Posttag einen langen Brief an sie und konnte kaum die Antwort erwarten. Als sie kam, brachte sie eine große Enttäuschung; denn Gunlaug dankte ihr, meinte aber, "jeder bleibe am besten für sich". Da versprach der Propst zu schreiben, und als Gunlaug dessen Brief bekam, da konnte sie es nicht länger bei sich behalten, sie mußte ihren Matrosen und ihren andern Bekannten erzählen, aus ihrer Tochter werde etwas Großes, und sie wolle sie zu sich nehmen. Dadurch wurde die Angelegenheit zu einer ziemlich brennenden Frage; sie wurde am Hafen und auf den Schiffen und in allen Küchen erörtert. Gunlaug, die bis dahin ihre Tochter nie erwähnt hatte, sprach jetzt von nichts anderem als von "meiner Tochter Petra", wie auch die andern fortan über nichts anderes mehr mit ihr sprachen.
Aber als Petras Abreise schon bevorstand, hatte Gunlaug noch immer keine Nachricht gegeben, worüber ihre Tochter sehr betrübt war. Dagegen versprachen ihr der Propst und Signe feierlich, beide hinzukommen, wenn sie zum erstenmal auftreten würde.
* * * * *
Der Schnee auf den Bergen begann zu schmelzen, auf den Feldern schimmerte es grün. Das Leben, das zu Beginn des Frühlings in den Bergtälern erwacht, ist mächtig, wie die Sehnsucht mächtig war; die Menschen werden flinker, die Arbeit geht leichter von der Hand, die Wanderlust schaut über die Berge hinweg. Aber obwohl Petra sich hinaussehnte, hatte sie doch nie diese Stätte und alle Dinge so lieb gehabt wie jetzt, da sie von ihnen Abschied nehmen mußte; ja, es war ihr, als habe sie alles bis dahin gering geschätzt, weil sie es erst jetzt verstand. Nur noch wenige Tage blieben ihr; sie ging mit Signe überall herum und sagte allen und allem Lebewohl,—zumal den Stätten, die ihnen zusammen lieb geworden waren. Da erzählte ihnen ein Bauer, Ödegaard sei oben auf den Öyhöfen und beabsichtige, sie aufzusuchen. Die Mädchen wurden beide ganz verlegen und stellten ihre Ausgänge ein.
Doch als Ödegaard kam, war er so sonnig und fröhlich, wie man ihn nie zuvor gesehen hatte. Er war mit dem Vorhaben ins Dorf gekommen, eine Volkshochschule zu gründen und sie in der ersten Zeit, bis er einen passenden Lehrer gefunden habe, selbst zu leiten; später wollte er noch mancherlei anderes ins Werk setzen. Auf die Weise, sagte er, bezahle er etwas von der Schuld seines Vaters an das Dorf ab, und sein Vater habe versprochen, zu ihm zu ziehen, sobald das Haus fertig sei. Der Propst wie Signe freuten sich ungeheuer über diese Nachbarschaft; Petra auch, aber es befremdete sie doch, daß er sich gerade jetzt hier ansiedelte, wo sie fortging.
Der Propst wünschte, daß sie am Tage vor Petras Abreise zusammen das heilige Abendmahl nähmen. Dadurch breitete sich eine stille Feierlichkeit über die letzten Tage, und wenn sie zusammen sprachen, taten sie es halblaut. Im Schein dieser Stimmung redete alles, was Petra zum letztenmal ansah, eine gar ernste Sprache zu ihr. Alles Erlebte mußte noch einmal durchdacht werden; sie hielt große Abrechnung, denn bis jetzt hatte sie nie zurück, nur immer vorwärts geschaut. Jetzt rückte alles zusammen, von der Kindheit an bis heute; wieder ertönten die ersten lockenden spanischen Lieder, all die Verirrungen einer verworrenen Sehnsucht, die ihre Kindheit und ihre Jugend in ihr aufgespeichert hatten, nahm sie sich vor, Stück für Stück, wie man alte Kostüme anprobiert. Vergaß sie eins, so erinnerte irgend etwas in ihrer Umgebung sie gleich daran; denn beim Anblick dieses oder jenes Gegenstandes hatte sie einmal an irgend etwas gedacht, und fortan waren Gegenstand und Gedanke eins geworden. Besonders das Klavier brachte überwältigend viele Erinnerungen. Sie blieb daran sitzen, ohne doch den Mut zu haben, die Tasten anzurühren, und spielte Signe, so konnte sie es kaum im Zimmer aushalten. Sie war auch am liebsten allein; Ödegaard und Signe verstanden das und hielten sich zurück; alle Leute sahen sie mit wehmütiger Freundlichkeit an, und der Propst ging in diesen Tagen nie an ihr vorbei, ohne ihr übers Haar zu streichen.
Endlich kam der Tag. Es war ein halbklarer, gedämpfter Tag; es taute auf den Bergen und grünte auf den Äckern. Die vier blieben jeder auf seinem Zimmer, bis die Stunde kam, da sie zusammen zur Kirche gehen sollten. Außer ihnen waren nur der Küster und ein fremder Pfarrer zugegen; der Propst wollte selbst das heilige Abendmahl nehmen; zugleich aber wollte er die Predigt halten, denn er hatte der Scheidenden besonders ein paar Worte zu sagen. Er sprach so, wie wenn sie an einem Heiligen Abend oder einem Geburtstag daheim bei Tisch säßen. Es werde sich bald herausstellen, meinte er, ob die Zeit, die sie heute mit einem Gebet um Gnade abschließe, einen Grundstein gelegt habe. Kein Mensch sei ganz er selbst, bis er zu seinem richtigen Wirken gekommen sei. Es sei ein Beruf der Verkündigung, der ihr geworden sei, und wer die Wahrheit bringe und sich selber dessen wert erhalte, der ernte die reichsten und dauerndsten Früchte. Gott bediene sich ganz gewiß oft auch der Unwürdigen, so gewiß wie wir im höheren Sinne alle unwürdig seien; er bediene sich unserer Sehnsucht. Aber es gebe eine Verkündigung, die kein Mensch aus seiner Sehnsucht allein schöpfen könne, und die wolle sie doch wohl zu erreichen trachten; alle müßten danach streben, das Höchste zu erreichen. Er bat sie, zu ihnen zurückzukehren, denn das sei der Sinn einer Gemeinde, daß Gemeinschaft im Glauben helfe und stärke. Wenn sie fehlgreife, werde sie hier Barmherzigkeit finden, und wenn sie selbst nicht wisse, daß sie vom Wege abgekommen sei, so würden sie ihr das in aller Güte sagen dürfen.
Sie gingen nach der heiligen Handlung zusammen heimwärts, so wie sie gekommen waren; den Rest des Tages aber verbrachte jeder für sich. Nur Petra und Signe waren abends lange auf Petras Zimmer zusammen.
Für den nächsten Morgen war die Abreise angesetzt. Bei der letzten Mahlzeit nahm der Propst sehr zärtlich von ihr Abschied. Er sei mit ihrem Freunde einig darin, sagte er, daß sie so beginnen müsse, wie sie nun einmal sei, und allein beginnen. In dem Kampf, der ihr bevorstehe, werde sie erfahren, wie gut es tue zu wissen, daß da irgendwo ein paar Menschen beieinander säßen, auf die sie sich verlassen könnte. Schon mit Bestimmtheit zu wissen, daß sie beständig für sie beteten,—das allein würde schon helfen, werde sie sehen!—Nach den Abschiedsworten an Petra bot er Ödegaard einen Willkommengruß. "In Liebe zu einem Menschen vereint zu sein, sei die schönste Einleitung, einander zu lieben." Der Propst dachte bei diesem Trinkspruch ganz gewiß nicht an das, was bei diesen Worten erst Signe und dann Petra erröten ließ; ob auch Ödegaard errötete, wußten sie nicht, denn keine wagte ihn anzusehen.
Aber als die Pferde vor der Tür standen und die drei Freunde das junge
Mädchen und alle Mägde und Knechte den Wagen umringten, da flüsterte
Petra, als sie Signe zum letztenmal umarmte: "Ich weiß, ich werde bald
eine große Neuigkeit von Euch hören; Gott segne Euch!"
Eine Stunde später zeigten ihr nur noch die weißen Gipfel, wo die Stätte war.
Zwölftes Kapitel
Eines Abends, kurz vor Weihnachten, war das Theater der Hauptstadt ausverkauft; eine neue Schauspielerin sollte auftreten, von der alles mögliche erzählt wurde. Aus dem Volke stammend—ihre Mutter sei eine arme Fischerfrau—sei sie mit Unterstützung anderer, denen ihre Fähigkeiten aufgefallen seien, jetzt soweit gediehen und solle zu den größten Hoffnungen berechtigen. Das Publikum tuschelte sich, bis der Vorhang aufging, mancherlei in die Ohren. Sie solle eine schreckliche Range und, seit sie erwachsen war, mit sechs Leuten auf einmal verlobt gewesen sein, und das ein halbes Jahr lang durchgeführt haben. Sie habe unter polizeilichem Schutz aus ihrem Heimatsort geleitet werden müssen, weil um ihretwillen die Stadt in hellen Aufruhr geraten sei; es sei merkwürdig, daß die Direktion eine solche Person auftreten lasse. Andere behaupteten, es sei kein Körnchen Wahrheit daran; sie sei von ihrem zehnten Jahre an bei einer stillen Pfarrerfamilie im Stifte Bergen erzogen worden; sie sei ein gebildetes, liebenswürdiges Mädchen, sie kennten sie genau, sie müsse ein unvergleichliches Talent haben; sie sei doch so hübsch.
Es gab aber Leute, die mehr wußten. Zunächst der über das ganze Land bekannte Fischgrossist—Yngve Vold. Er war ganz zufällig auf einer Geschäftsreise hier; man sagte freilich, die glutvolle Spanierin, mit der er verheiratet war, mache ihm zu Hause die Hölle so heiß, daß er nur reise, um sich abzukühlen. Heut hatte er sich die größte Loge des Theaters genommen und seine zufälligen Tischgenossen aus dem Hotel eingeladen, sich mal "was ganz Höllisches" anzusehen. Er war in glänzender Stimmung, bis er—war er das denn wirklich?—in einer Loge des zweiten Ranges, inmitten einer ganzen Schiffsmannschaft,—nein! doch!—ja natürlich, das war Gunnar Ask! Gunnar Ask, der mit dem Gelde seiner Mutter Eigentümer und Kapitän der "Norwegischen Verfassung" geworden war, hatte bei der Ausfahrt aus dem Fjord neben einem Schiff hergesegelt, das den Namen "Dänische Verfassung" führte; da kam es Gunnar vor, als wolle dies Schiff ihn überholen, und das konnte doch nicht gut angehen; er hißte alle Segel, die er hatte, es krachte in der alten Verfassung, und die Folge war, daß er, um so lange wie möglich den Wind auszunützen, das Fahrzeug an einer ganz ungeeigneten Stelle auf Grund rannte. Jetzt lag er unfreiwillig in der Stadt, während "Die norwegische Verfassung" geflickt wurde. Er hatte in der Stadt eines Tages Petra getroffen, die hinter ihm herkam und diesmal und später auch so lieb und nett zu ihm war, daß er nicht nur seinen Groll vergaß, sondern sich selbst das größte Hornvieh nannte, das aus ihrer gemeinsamen Vaterstadt je hervorgegangen sei, weil er sich habe einbilden können, er habe ein Mädchen wie die Petra verdient. Er hatte heute für seine ganze Schiffsmannschaft Billets zu erhöhten Preisen gekauft und saß nun da mit dem stillen Vorsatz, sie zwischen jedem Akt zu traktieren, und die Matrosen, die alle aus Petras Heimatstadt und in der Wirtschaft ihrer Mutter, diesem Paradies auf Erden, wohlgelitten waren, empfanden Petras Ehre als ihre eigene und nahmen sich gegenseitig das Versprechen ab, so zu klatschen, wie kein Mensch es je gehört habe.
Unten im Parkett aber sah man das harte, dichte Haar des Propstes. Er saß in aller Gemütsruhe da; er hatte ihre Sache einem Höheren anvertraut. Neben ihm saß Signe, jetzt Signe Ödegaard. Ihr Mann, sie und Petra waren gerade von einer dreimonatlichen Auslandsreise zurückgekommen; sie sah sehr glücklich aus und saß und lächelte zu Ödegaard hinüber; denn zwischen ihnen saß eine alte Frau mit schlohweißem Haar, das wie eine Krone über dem braunen Gesicht lag. Sie überragte alle Umsitzenden, sie konnte vom ganzen Hause gesehen werden, und bald waren auch alle Gläser auf sie gerichtet; denn man sagte, dies sei die Mutter der jungen Schauspielerin. Sie, die einen männlichen Namen führte, machte auch jetzt einen so gewaltigen Eindruck, daß sie ein Licht des Friedens auf die Tochter warf. Junge Menschen sind voller Erwartung; sie haben den Glauben an die Urkräfte ihrer Natur, und der Anblick dieser Mutter weckte den Glauben.
Sie selbst sah nichts und niemand; was das alles für Geschichten waren, kümmerte sie wenig; sie wollte bloß gern mit dabei sein, um zu wissen, ob die Leute gut gegen ihre Tochter seien oder nicht.
Jetzt mußte es gleich beginnen; das Geplauder erstarb in einer Spannung, die nach und nach alle erfaßte und sie gütig stimmte.
Mit einem starken Paukenschlag, mit Trommeln und Hörnern zugleich setzte die Ouvertüre ein. Adam Oehlenschlägers "Axel und Valborg" wurde gegeben, und Petra hatte selbst um diese Ouvertüre gebeten. Sie saß hinter einer Kulisse und hörte zu. Vor dem Vorhang aber saß der kleine Teil ihrer Landsleute, den das Haus fassen konnte, voll Sorge um sie, wie immer vor einem Anfang, der uns erwartungsvoll macht, weil er einen köstlichen Besitz offenbaren soll. Es war, als müsse jeder von ihnen selbst vor die Rampe; in solchen Augenblicken steigen viele Gebete empor, auch aus Herzen, die sonst selten beten.
Die Ouvertüre ebbte ab; Friede breitete sich über die Harmonien, allmählich verschmolzen sie wie im Sonnenschein. Die Ouvertüre war zu Ende, eine bange Stille trat ein.
Und der Vorhang ging auf.
*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GESAMMELTE WERKE IN FÜNF BÄNDEN — 1. BAND ***
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