Hermann Bahr. Die Literatur in 100 Jahren.


Die Literatur in 100 Jahren.
Von Hermann Bahr.

Man muß kein Prophet sein, um sagen zu können, daß das, was heute Literatur genannt wird, ja, vielleicht alles, was heute Kunst heißt, wofern die Menschheit in ihrer wirtschaftlichen und geistigen Entwicklung das Tempo beibehält, das sie seit der großen Revolution hat, in hundert Jahren unnötig geworden und nur noch als Erinnerung, mit dankbarem Erstaunen gehegt, vorhanden sein wird.

Das Kennzeichen der Literatur in hundert Jahren wird es sein, daß es keine Literaten mehr geben wird, nämlich keinen besonderen Stand, der das Privileg hat, für die anderen das Wort zu besorgen, wie der Bäcker das Brot und der Metzger das Fleisch.

Wie Wagner an eine Zeit geglaubt hat, in der jeder sein eigener Künstler sein wird, so wird jeder dann sein eigener Dichter sein und keinen Dolmetsch seines Herzens mehr brauchen.

Alle Kunst ist ursprünglich zunächst immer nur ein Versuch des Menschen, seine großen inneren Momente bei sich aufzubewahren und irgendwie den schönen Augenblick so zu verewigen, daß er ihn, so oft er will, wieder herbeirufen kann. Kunst ist zunächst nichts als ein Mittel zur eigenen Erinnerung. Lust von ungemeiner Art oder auch ein besonderes Leid, das ja dem Menschen ebenso, wenn es über das gewöhnliche Maß geht, zur unentbehrlichen Erregung werden kann, soll, um ihm immer bei der Hand zu sein, in ein Zeichen eingefangen, in ein Gefäß verschlossen werden. Lust oder Leid, jedes Gefühl überhaupt, setzt sich in einen körperlichen Rhythmus um, der dann in Tönen, Gebärden oder Worten verlautet und erscheint. Dieser körperliche Rhythmus kann nicht festgehalten, nicht der Erinnerung anvertraut und also nicht willkürlich reproduziert werden, aber seine Erscheinungen, seine Laute können erhalten werden und rufen dann, reproduziert, denselben körperlichen Rhythmus wieder hervor. Die Kunst dient zunächst dem einzelnen Menschen wie seinem ganzen Volke dazu, sein ganzes Leben, soweit es bisher abgelaufen ist, jederzeit wieder um sich versammeln und sich so jederzeit mit seinen sämtlichen Zuständen umgeben zu können. Und so dient sie dann dem Menschen auch dazu, den anderen von seiner Eigenheit ein Zeichen zu geben, um sich mit ihnen über sein Wesen zu verständigen.

Als nun aber später alle zur Erhaltung des menschlichen Lebens notwendigen Verrichtungen, die bisher jeder selbst für sich besorgt hatte, den einzelnen abgenommen und der Reihe nach an besondere Gewerbe verteilt wurden, als, bei der Auflösung der primitiven Wirtschaft, die alles im eigenen Hause bestellt hatte, einer für alle das Backen, ein anderer das Schneidern, der dritte das Schlachten übernahm, geschah es, daß auch eine so höchst persönliche Verrichtung, wie die Kunst als die Aufbewahrung des eigenen Lebens in Zeichen, aus denen es jederzeit wieder herbeigeholt werden kann, nun einer besonderen Innung zugewiesen wurde. Ein eigenes Geschäft entstand, das es übernahm, gegen Bezahlung jedem einzelnen nach Wunsch den Ausdruck seines Lebens oder doch der ihm wichtigsten Empfindungen anzufertigen. Die Literatur entstand. Eigentlich ist sie kein geringeres Wunder, als wenn damals, bei der Teilung der Arbeit, etwa auch die Fortpflanzung der Menschheit einer besonderen Zunft zugesprochen worden wäre. Es ist ein Wunder, das der natürliche Menschenverstand, wenn er sich’s recht überlegt, eigentlich gar niemals begreifen kann. Man versuche nur, sich einmal klar zu machen, worauf die jetzige Literatur beruht. Eine Reihe von Menschen lebt davon, daß ihre Gedichte gekauft werden. Ein Gedicht ist der Zustand irgend eines Menschen, in Worte verschlossen.

Es ist nun durchaus nicht einzusehen, warum ein anderer Mensch es sich etwas kosten lassen soll, diesen ihm fremden und gleichgültigen Zustand kennen zu lernen. Der Zauber eines Gedichts besteht eigentlich nur in seiner Macht, ein entschwundenes Stück Leben dem, der es erlebt hat, jederzeit in Erinnerung zu bringen, Entschwundenes zurückzuholen. Welches Interesse es aber für irgend einen Menschen haben könnte, an etwas erinnert zu werden, woran er gar nicht erinnert werden kann, weil ihm doch jede Vorbedingung des Erinnerns fehlt, denn der Inhalt des Gedichts ist ja nur von seinem Dichter, keineswegs aber vom Käufer des Gedichts erlebt worden, dies läßt sich durchaus nicht ersinnen. Und es ist auch nur durch eine gelinde Täuschung irgendwelcher Art möglich; der Käufer kann auf seine Kosten nur kommen, wenn das Gefühl, das der Dichter ins Gedicht gefaßt hat, seinem eigenen zum Verwechseln ähnlich sieht. Die Täuschung, diese Verwechslung, auf der der heutige literarische Betrieb durch Innungen beruht, kann also nur geschehen, wenn entweder der Inhalt des Gedichts, das Erlebnis des Dichters ganz persönlich ist oder das Persönliche, das es etwa hat, durch die Form abgeschwächt und aufgelöst wird, oder aber hinwieder das Erlebnis des Käufers, an das ihn das Gedicht erinnern soll, sei es von Anfang an ganz undeutlich gewesen, sei es schon so verblaßt, ist so, daß er sich jedes andere dafür einreden läßt. Je stärker ein Dichter erlebt, je reiner er sein Erlebnis ausdrückt, desto weniger wird dieser Ausdruck fähig sein, mit dem Ausdruck anderer Erlebnisse verwechselt zu werden und den Zweck des literarischen Handels zu erfüllen, daß er nämlich im Käufer ein Erlebnis des Käufers zurückrufen soll. Und je stärker der Käufer erlebt, desto geringer wird seine Neigung sein, sich an einem Ausdruck, der ihn nur ungefähr von weitem daran erinnert, genügen zu lassen. Alle Persönlichkeit des Erlebens, beim Dichter wie beim Käufer, möglichst auszuräuchern, bis am Ende nur ein allgemeiner Dunst davon übrig bleibt, worin jede Farbe verschwimmt, muß also die größte Sorge des literarischen Betriebs sein, und es läßt sich nicht leugnen, daß dies heute mit einer ganz wunderbaren Hingebung geschieht. Wie sich die Dichter schon im Aeußeren immer mehr dem Vulgären assimilieren und mit Erfolg beflissen sind, das Aussehen und Auftreten von Bankiers anzunehmen, so gelingt es ihnen auch im Geistigen immer besser, ihr Gesicht zu verwischen. Und ebenso sind auf ihrer Seite die Käufer bemüht, sich in ganz unpersönlichen Erlebnissen aufzuhalten, die dann freilich an jeden vorübergleitenden Schatten angehängt werden können.

Das wird nun so bleiben müssen, solange die Welt ein Warenhaus und der Mensch ein Händler bleibt. Es sind Anzeichen da, die jedoch vermuten lassen, daß in hundert Jahren die menschliche Wirtschaft anders geworden sein werde. So hätte auch dieser literarische Betrieb keinen Sinn mehr; und es könnte dann keine Literaten mehr geben, keine Menschen mehr, die davon leben, daß sie ihr eigenes Leben verunstalten, um seinen Ausdruck für den Ausdruck fremden Erlebens ausgeben und dafür Geld einnehmen zu können.

Die Literatur in hundert Jahren wird sich dann von der heutigen vor allem durch das Motiv unterscheiden. Das Motiv des heutigen Literaten, eingestanden oder nicht, ist der Lohn. Er dichtet, um die Miete, den Haushalt und das Zubehör bezahlen zu können. Er ist darum verhalten, kaufkräftig zu dichten. Er muß das dichten, was verlangt wird; und verlangt wird, was sich jedem anpaßt, was von jedem getragen werden kann, was sich nach jedem Geschmack dehnen läßt; und allenfalls auch, schlägt die Mode um, leicht wieder umfalten und auffärben.

Dieses Motiv fällt dann weg. Es muß dann niemand mehr dichten, bloß um nicht zu verhungern, weil jedem ein anständiger Erwerb zugesichert sein wird, und das Dichten trägt dann nicht mehr dazu bei, das Einkommen zu vermehren. Ist dann also das bewegende Grundmotiv der heutigen Literatur ausgeschaltet, so wird es zunächst fraglich, ob nicht alle Literatur überhaupt stillstehen und vielleicht für einige hundert Jahre sistiert sein wird, solange nämlich, bis es etwa geschehen mag, daß einer einmal aus einem ganz anderen, heute durchaus unbekannten Motiv das Wort nimmt, also z. B. vielleicht, weil er etwas zu sagen hat, oder auch einfach deshalb, weil er, geheimnisvoll getrieben, eben muß. Dies alles kommt uns heute freilich höchst phantastisch vor, aber seit wir es erlebt haben, daß der Mensch das Fliegen erlernt hat, sind wir geneigt, allen Ausschweifungen der Phantasie zu trauen.

Allerdings würde das Dichten dann aus seiner öffentlichen Bedeutung verdrängt. Es würde nicht mehr genossenschaftlich betrieben und jene Organisationen, durch die heute den Dichtern die Verbindung mit dem Markt hergestellt und der Absatz gesichert wird, also die verschiedenen Schulen und Richtungen, wie wir sagen, hätten aufgehört. Das Dichten hätte keinen Zweck mehr, sondern nur noch einen Grund, nämlich im eigenen Trieb; es wäre nur noch ein Dichten vor sich hin und für sich hin, nicht mehr auf die anderen los. Seinen heutigen Sinn hätte es allerdings damit ganz verloren, aber es ließen sich immerhin Menschen denken, denen auch ein solches sinnloses und zweckloses Dichten, ein Dichten an und für sich, Freude machen könnte, so wenig wir jetzt eigentlich in der Lage sind, uns einen solchen Menschenschlag recht vorzustellen. Jedenfalls würde das dann auch nur ganz im Geheimen geschehen, als eine vollkommen intime Verrichtung, als ein geistiges Müllern sozusagen, wodurch es denn, ohne sich freilich mit der großen öffentlichen Bedeutung unserer heutigen Literatur, die ja ihren Platz unter den wichtigsten Industrien hat, irgendwie messen zu dürfen, immerhin noch einen gewissen hygienischen Wert ansprechen könnte.

Zu bemerken ist noch, daß jedenfalls der Uebergang zu dieser neuen Zeit, in der jeder sein eigener Dichter sein wird, sehr große Schwierigkeiten haben muß. Denn es wird vor allem dann die Frage zu lösen sein, was mit den außer Betrieb gesetzten Dichtern geschehen soll, und es ist zu befürchten, daß für sie durchaus nicht so leicht eine auch nur halbwegs passende Verwendung zu finden sein wird. Seien wir froh, daß uns diese Sorgen unserer Enkel erspart bleiben!

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