Da wir damals den ganzen Abend sprachen und bis tief in die Nacht hinein zusammensaßen, so will ich nicht unsere ganze Unterhaltung wiedergeben, sondern nur noch das, was mich damals endlich über einen rätselhaften Punkt in seinem Leben aufklärte.
Ich möchte mit der Versicherung beginnen, daß ich an seiner Liebe zu Mama nicht zweifle; wenn er sie damals verlassen und vor der Abreise seine Verbindung mit ihr gelöst hatte, so hatte er das wohl nur getan, weil er sich zu langweilen begann, oder aus irgendeinem ähnlichen Grunde, was einem jeden von uns in der Welt widerfahren kann, und was im einzelnen immer schwer zu erklären ist. Im Auslande hatte er dann plötzlich, allerdings erst nach längerer Zeit, Mama in ihrer Abwesenheit wieder zu lieben angefangen, das heißt, in der Erinnerung, und da hatte er sie sogleich zu sich gerufen. Man wird vielleicht sagen: „Eine Laune!“ Ich aber sage etwas anderes: meiner Überzeugung nach lag hierin alles, was es im Menschenleben nur Ernstes gibt, ungeachtet der ganzen Müßiggängerei und daraus folgenden Langweile, deren teilweise Mitwirkung ich meinetwegen zugeben will. Aber ich schwöre, daß ich seinen europäischen Schmerz ohne zu zögern nicht nur so hoch wie eine beliebige neuzeitlich praktische Betätigung etwa im Eisenbahnbau anschlage, sondern noch unvergleichlich höher. Seine Liebe zur Menschheit erkenne ich als das aufrichtigste und tiefste Gefühl ohne jede Vorgaukelei an, und seine Liebe zu Mama als etwas vollkommen Unanfechtbares, wenn auch vielleicht ein wenig Phantastisches. Im Auslande, in seinem „Schmerz und Glück“, und ich füge hinzu: in seiner strengsten mönchischen Einsamkeit (diesen besonderen Aufschluß erhielt ich erst später durch Tatjana Pawlowna) erinnerte er sich auf einmal an Mama – erinnerte sich gerade ihrer „eingefallenen Wangen“, und da ließ er sie gleich kommen.
„Mein Freund,“ entfuhr es ihm unvorsichtigerweise, „ich erkannte plötzlich, daß meine Idee, wenn ich ihr in dieser Weise diente, mich als sittlich bewußtes Wesen durchaus nicht von der Pflicht befreite, in meinem Leben wenigstens einen Menschen praktisch glücklich zu machen.“
„War wirklich ein solcher Buchgedanke der ganze Anlaß?“ fragte ich verwundert.
„Das ist kein Buchgedanke. Oder übrigens – meinetwegen. Trotzdem traf da alles zusammen: ich liebte deine Mutter doch wirklich und aufrichtig, nicht mit abstrakter Liebe. Hätte ich sie nicht so geliebt, dann hätte ich sie doch nicht kommen lassen, sondern hätte den ersten besten, irgendeinen Deutschen oder eine Deutsche ‚glücklich gemacht‘, da ich mich nun einmal von dieser Pflicht überzeugt hatte. Aber die Pflicht, unbedingt wenigstens einen Menschen in seinem Leben glücklich zu machen, und zwar praktisch, das heißt, in Wirklichkeit, würde ich für jeden entwickelten Menschen einfach zum Gebot erheben; ganz wie ich im Hinblick auf die Entwaldung Rußlands jeden Bauern gesetzlich zwingen würde, in seinem Leben wenigstens einen Baum zu pflanzen. Übrigens, ein Baum wäre zu wenig, man könnte eigentlich verlangen, daß er in jedem Jahr einen Baum pflanze. Ein höher entwickelter Mensch, der eine höhere Idee verfolgt, läßt sich bisweilen von der Wirklichkeit vollkommen ablenken, wird lächerlich, eigensinnig und kalt, ja, ich kann sogar sagen – dumm, und das nicht nur im praktischen Leben, sondern zu guter Letzt sogar auch in seinen Theorien. So würde die Pflicht, sich praktisch im Leben zu betätigen und wenigstens einen Menschen praktisch zu beglücken, alles gutmachen und den Wohltäter selbst erfrischen und beleben. Als Theorie hört sich das sehr lächerlich an; doch wenn sich das praktisch durchsetzen und zum allgemeinen Brauch werden würde, so wäre das ganz und gar nicht lächerlich. Ich habe das an mir selbst erfahren: kaum hatte ich diese Idee von dem neuen Gebot zu entwickeln begonnen – und anfangs tat ich das natürlich nur halb im Scherz – als ich plötzlich auch die ganze Größe der in mir verborgenen Liebe zu deiner Mutter zu erkennen anfing. Bis dahin hatte ich überhaupt nicht begriffen, daß ich sie liebte. Solange ich mit ihr gelebt hatte, war sie für mich nur zu meinem Vergnügen dagewesen, solange sie noch hübsch war, und nachher hatte ich sie mit meinen Launen gequält. Erst in Deutschland begriff ich, daß ich sie liebte. Es begann mit der Erinnerung an ihre eingefallenen Wangen, an die ich niemals ohne Schmerz habe denken, und die ich manchmal nicht einmal ohne Schmerz habe sehen können – einen buchstäblichen, wirklichen Schmerz. Es gibt schmerzhafte Erinnerungen, mein Lieber, die uns wirklichen, körperlichen Schmerz verursachen; fast jeder Mensch hat solche Erinnerungen, nur vergessen die Menschen sie gewöhnlich. Aber dann geschieht es bisweilen, daß sie ihnen plötzlich wieder einfallen, wenn es auch nur irgendein kleiner Zug ist, der ihnen einfällt, und dann können sie die Erinnerung nicht mehr abschütteln. So begann ich damals, tausend verschiedene Einzelheiten aus meinem Leben mit Ssonjä mir ins Gedächtnis zurückzurufen; bald kamen sie von selbst, und schließlich stürmten sie in Massen auf mich ein und hätten mich fast totgequält, während ich auf Ssonjä wartete. Ganz besonders quälte mich die Erinnerung an ihre ewige Unterwürfigkeit mir gegenüber, und daran, wie sie sich beständig für tief unter mir stehend gehalten hatte, in jeder Beziehung, stell dir vor, sogar körperlich. Sie schämte sich und wurde glühend rot, wenn ich auf ihre Hände oder Finger sah, die ja gar nicht aristokratisch sind. Und nicht nur ihrer Finger schämte sie sich, – sie schämte sich ihres ganzen Äußeren, ungeachtet dessen, daß ich doch ihre Schönheit liebte. Sie war mir gegenüber schon immer von einer Schamhaftigkeit gewesen, die ich geradezu unverständlich fand, doch das Schlimme war, daß aus dieser Schamhaftigkeit immer eine Art Angst hervorsah. Sie hielt sich, wenigstens vor mir, für etwas ganz Wertloses oder fast Unanständiges. Glaube mir, ich habe in der ersten Zeit manchmal gedacht, sie halte mich immer noch für ihren Gutsherrn und fürchte mich, aber das war es nicht, der Grund war ein ganz anderer. Und dabei war sie, ich schwöre dir, mehr als jeder andere fähig, meine Mängel zu erkennen; überhaupt bin ich in meinem Leben keiner Frau begegnet, die ein so feinfühliges und verstehendes Herz gehabt hätte wie sie. Oh, wie war sie unglücklich, wenn ich in der ersten Zeit, als sie noch so hübsch aussah, von ihr verlangte, sie solle sich schmücken. Da war es nicht nur ihre Eigenliebe, sondern noch irgendein anderes Gefühl, das sich dadurch gekränkt fühlte: sie begriff, daß sie niemals eine Dame sein konnte und in einem ihr fremden Kleide immer nur lächerlich aussehen werde. Sie aber, als Frau, wollte nicht lächerlich sein in ihren Kleidern, denn sie fühlte wohl, daß jede Frau ihre Kleidung hat, was Tausende und Hunderttausende von Frauen nie begreifen, die sich immer nur nach der Mode kleiden wollen. Sie fürchtete sich vor meinem spöttischen Blick – das war’s! Aber besonders schmerzlich war mir die Erinnerung an ihren tief verwunderten Blick, den ich in der Zeit unseres Zusammenlebens so oft auf mir hatte ruhen fühlen: in diesem Blick hatte immer ein vollkommenes Sichbewußtsein ihres Geschicks und der sie erwartenden Zukunft gelegen, so daß es mir selber unter diesem Blick schwer ums Herz geworden war, obgleich ich mich damals in Gespräche mit ihr nicht eingelassen und alles dies, ich muß gestehen, gewissermaßen von oben herab behandelt hatte. Sie war doch nicht immer so scheu und ängstlich wie jetzt; und auch jetzt kommt es ja noch bisweilen vor, daß sie plötzlich fröhlich wird, und die Fröhlichkeit sie so verjüngt, daß sie wie eine Zwanzigjährige aussieht; in ihrer Jugend aber liebte sie es sehr, zu scherzen und zu lachen, natürlich nur unter ihresgleichen – so mit den Mädchen und dem ganzen Frauenvolk, das sich in unseren Gutshäusern einzunisten pflegt ... und wie sie zusammenfuhr, wenn ich sie beim Lachen überraschte, wie sie dann rot wurde, wie scheu sie mich ansah! Einmal, das war vor meiner Abreise ins Ausland, das heißt, kurz bevor ich die Ehe mit ihr löste, kam ich in ihr Zimmer und traf sie ganz allein an: sie saß ohne Arbeit an ihrem Tischchen, die Arme aufgestützt und tief in Gedanken. Es kam fast nie vor, daß sie so ohne Arbeit saß. Damals war ich schon lange nicht mehr zärtlich zu ihr gewesen. Es gelang mir, mich ganz leise ihr zu nähern, und auf einmal umfaßte und küßte ich sie ... Sie sprang auf – oh, nie werde ich diese Seligkeit vergessen, dieses Glück in ihrem Gesicht, doch plötzlich wich das alles einem heißen Erröten, und ihre Augen sprühten. Weißt du, was ich in diesem sprühenden Blick las? ‚Du hast mir ein Almosen gegeben – als ob ich’s nicht wüßte!‘ Sie brach in hysterisches Weinen aus, ich hätte sie erschreckt, sagte sie; aber ich wurde sogar damals nachdenklich. Und überhaupt – alle diese Erinnerungen sind etwas sehr Schweres, mein Freund. Das ist ähnlich wie mit gewissen schmerzhaften Szenen in den Dichtungen der großen Künstler, an die man sein Leben lang mit einem Schmerzempfinden denkt, – zum Beispiel der letzte Monolog Othellos bei Shakespeare, oder wie Puschkins Eugen Onégin vor Tatjana kniet, oder in den Misérables von Victor Hugo die Begegnung des entsprungenen Sträflings mit dem kleinen Mädchen in der kalten Nacht am Brunnen; das durchbohrt einem einmal das Herz, und die Wunde vernarbt nie wieder. Oh, wie sehnsüchtig wartete ich damals auf Ssonjä, ich konnte es nicht erwarten, sie in meine Arme zu schließen! In fiebernder Ungeduld träumte ich von einem ganz neuen Leben; ich träumte davon, wie ich mit liebevoller Geduld diese beständige Angst vor mir in ihrer Seele zerstören, ihr ihren eigenen Wert klarmachen und ihr auseinandersetzen würde, worin sie sogar über mir stand! Oh, ich wußte auch damals schon und nur zu gut, daß ich deine Mutter immer dann zu lieben anfing, wenn wir getrennt waren, und daß ich immer kühl zu ihr wurde, wenn ich mit ihr wieder zusammenkam; aber damals war es nicht das, damals war es etwas ganz anderes.“
Ich wunderte mich. „Und sie?“ fuhr es mir durch den Kopf.
Ich fragte vorsichtig: „Und wie trafen Sie denn damals mit Mama zusammen?“
„Damals? Ja, zu diesem Zusammentreffen kam es damals gar nicht. Sie kam nur bis Königsberg und blieb dort, ich aber war am Rhein. Ich fuhr ihr nicht entgegen, sondern schrieb ihr, sie solle dort bleiben und warten. Wir sahen uns erst viel später, oh, erst nach langer Zeit, als ich zu ihr reiste, um von ihr die Einwilligung zu jener Heirat zu erbitten ...“