I.

Am nächsten Morgen erwachte ich viel frischer und gutherziger. Ich machte mir sogar Vorwürfe – und zwar ganz unwillkürlich und aufrichtig – weil ich, wie ich mich erinnerte, manche Stellen seiner „Beichte“ nicht sehr ernst genommen und gleichsam mit einer gewissen Überlegenheit angehört hatte. Wenn auch ein Teil seiner Beichte etwas unklar und wirr gewesen war, so mußte ich mir doch sagen, daß er sich nach dem erschütternden Erlebnis wohl nicht gerade mit einer gutausgearbeiteten Rede auf den Weg gemacht hatte, um mich zu suchen und zu sich zu führen. Er hatte mir nur eine große Ehre erwiesen, als er sich in einem solchen Augenblick an mich als an seinen einzigen Freund wandte, und das werde ich ihm nie vergessen! Im Gegenteil, seine Beichte war eigentlich rührend gewesen, mag man auch wegen dieses Ausdrucks über mich lachen, und wenn manchmal etwas Zynisches oder sogar etwas gleichsam Lächerliches durchschimmerte, so war ich doch vorurteilslos genug, um auch den Realismus zu verstehen und seine Berechtigung anzuerkennen – übrigens ohne mir durch ihn das Ideal trüben zu lassen. Die Hauptsache war, daß ich diesen Menschen jetzt endlich verstand: und teilweise bedauerte ich sogar, und es ärgerte mich fast ein wenig, daß alles, wie sich nun herausstellte, so einfach gewesen war: in meinem Herzen hatte ich diesen Menschen immer so unendlich hochgestellt, hatte ihn bis in die Wolken erhoben, und sein Schicksal war von mir stets mit etwas unbedingt Geheimnisvollem umwoben worden, weshalb ich denn auch unwillkürlich und bis zuletzt gewünscht hatte, daß dieses Geheimfach nur auf eine möglichst verzwickte Weise zu öffnen sein möge. Übrigens lag auch in seiner Begegnung mit ihr und in seiner ganzen zweijährigen Qual viel Verzwicktes: „er wollte kein Fatum, er wollte Freiheit; er wollte nicht die Sklaverei des Fatums, denn als Sklave des Fatums war er gezwungen, Mama, die in Königsberg auf ihn wartete, so zu kränken ...“ Hinzu kam, daß ich diesen Menschen unter allen Umständen für einen Propheten hielt: in seinem Herzen trug er das goldene Zeitalter, und er kannte die Zukunft des Atheismus; doch da kam die Begegnung mit ihr und zerbrach und entstellte alles! Oh, ich wurde ihr nicht untreu, aber ich nahm doch für ihn Partei. „Mama, zum Beispiel,“ sagte ich mir damals, „hätte sein Schicksal in nichts behindert, nicht einmal, wenn er sie geheiratet hätte!“ Das begriff ich; das war etwas ganz anderes, als die Begegnung mit jener. Freilich hätte ihm auch Mama nicht die Ruhe gegeben, aber das wäre schließlich um so besser gewesen: solche Menschen wie er muß man anders beurteilen, und mag ihr Leben auch ewig so bleiben – dabei ist weiter nichts Schlimmes; im Gegenteil, es wäre schlimm, wenn sie sich beruhigten oder den Durchschnittsmenschen anglichen. Seine Hochschätzung des Adels und seine Worte: „Je mourrai gentilhomme“[106] beirrten mich nicht im geringsten: ich begriff, was das für ein gentilhomme war: das war ein Typus, der alles hingibt und zum Propheten wird, zum Verkünder des Weltbürgertums und des höchsten russischen Gedankens – der „Vereinigung aller Ideen“. Und selbst wenn das alles ein Unsinn war, ich meine diese „Vereinigung aller Ideen“ (denn sie ist natürlich undenkbar), so lag doch schon darin ein Gutes, daß er sein Leben lang eine Idee verehrt hat und nicht das dumme goldene Kalb. O Gott! – und ich, ich selbst, habe ich denn, als ich meine „Idee“ mir ausdachte, etwa an das goldene Kalb gedacht, brauchte ich denn damals Geld? Nein; ich schwöre, ich brauchte nur eine Idee! Ich schwöre, daß ich nicht einen Stuhl, nicht ein Sofa mit Samt überziehen ließe und auch als Besitzer von hundert Millionen nur meinen Teller Suppe mit Rindfleisch essen würde, wie ich es heute tue!

Ich kleidete mich an und beeilte mich dabei; denn es zog mich mächtig zu ihm hin. Ich muß hier bemerken, daß ich auch wegen seiner gestrigen Erwähnung des „Dokuments“ mindestens fünfmal ruhiger war als am Abend vorher. Erstens hoffte ich, mich mit ihm aussprechen zu können; und zweitens, was war denn schließlich dabei, daß Lambert sich auch an ihn herangemacht und über irgend etwas mit ihm gesprochen hatte? – Aber der Hauptgrund meiner Freude lag doch in einem außergewöhnlichen Gefühl: es war der Gedanke, daß er „sie nicht mehr liebte“. Daran glaubte ich mit aller Gewalt, und ich hatte eine Empfindung, als hätte jemand gleichsam einen unheimlich schweren Stein von meinem Herzen gewälzt. Ich erinnere mich auch noch einer ganz flüchtig in mir auftauchenden Erkenntnis: eben der Unglaublichkeit und Sinnlosigkeit seines letzten rasenden Wutausbruchs bei der Nachricht von ihrer Verlobung mit Bjoring und der Absendung jenes beleidigenden Briefes an sie – eben diese äußerste Heftigkeit des Ausbruchs konnte ein Anzeichen und ein Vorläufer der vollkommenen Veränderung seiner Gefühle und seiner baldigen Rückkehr zur Vernunft gewesen sein: vielleicht wie bei einer Krankheit, dachte ich bei mir, einer Krankheit, in deren Verlauf er einmal unbedingt zu diesem entgegengesetzten Punkt hatte gelangen müssen – also eine ärztlich vorauszusehende Übergangserscheinung und nichts weiter! Dieser Gedanke machte mich glücklich.

„Und mag sie doch selbst ihr Schicksal bestimmen, mag sie doch ihren Bjoring heiraten, soviel sie will, wenn nur er, mein Vater, mein Freund, wenn nur er sie nicht mehr liebt!“ rief es in mir. Übrigens lag hier ein gewisses Geheimnis meinen Gefühlen zugrunde, doch besagte Gefühle will ich in diesen meinen Aufzeichnungen nicht weiter auseinandersetzen.

Das dürfte genügen. Und nun will ich den ganzen folgenden Schrecken, dies ganze Zusammenwirken der Tatsachen ohne alle weiteren Betrachtungen wiedergeben.

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