Tatsachen, Tatsachen! ... Aber wird der Leser sie unerklärt überhaupt verstehen können? Ich weiß noch, wie diese Tatsachen mich damals bedrückten und mich nicht einmal nachdenken ließen, so daß mein Verstand am Ende des Tages vollständig verwirrt war. Darum will ich hier mit ein paar Worten vorgreifen.
Meine ganze Qual bestand in der Frage: Wenn es wahr ist, daß er sie seit gestern nicht mehr liebt, wo kann er sich dann heute aufhalten? Antwort: am ehesten bei mir, dem er gestern alles gesagt hat; dann – bei Mama, deren Bild er gestern geküßt hat. Statt dessen war er schon „in aller Frühe“ aus dem Hause gegangen und irgendwohin verschwunden, und Darja Onissimowna hatte sogar davon phantasiert, daß er vielleicht überhaupt nicht zurückkehren werde. Und nicht genug damit: Lisa spricht auf einmal von einer „Entscheidung der ewigen Geschichte“ und sagt, Mama hätte irgendwelche Nachrichten von ihm, und zwar die letzten; außerdem sind sie über Katerina Nikolajewnas Brief vollkommen unterrichtet (das hatte ich sehr wohl bemerkt) und wollen trotzdem an seine „Auferstehung“ zu neuem Leben nicht glauben, wenn sie mir auch mit Spannung zuhörten. Mama fühlt sich wie vernichtet, und Tatjana Pawlowna verhöhnt den Ausdruck „Auferstehung“. Wenn das aber so ist, dann muß in ihm über Nacht wieder eine Wandlung vorgegangen sein, eine neue Krisis – und das nach der ganzen Begeisterung, dem ganzen Glück, dem ganzen Pathos von gestern! Also ist seine „Auferstehung“ wie eine Seifenblase zerplatzt, und er treibt sich vielleicht wieder genau so herum, in derselben Wut wie damals, als er die Nachricht von ihrer Verlobung mit Bjoring erhalten hatte! Es fragt sich nur, was aus Mama, aus mir, aus uns allen werden wird ... und schließlich auch: was aus ihr werden wird? Was kann Tatjana Pawlowna mit der „Schlinge“ gemeint haben, als sie mich zu Anna Andrejewna schicken wollte? Und wer soll „erdrosselt“ werden? Jedenfalls steht die „Schlinge“ mit Anna Andrejewna in Zusammenhang, das ist klar. Warum aber mit Anna Andrejewna? Ich gehe sofort zu Anna Andrejewna! Ich habe ja nur aus Trotz gesagt, daß ich nicht hingehen werde, – ich gehe. Aber was sagte Tatjana Pawlowna doch noch von dem Brief, den Krafft verbrannt hätte? Und hat nicht auch er gestern zu mir gesagt: „das Dokument zerreiße“?
Das waren so meine Gedanken, war das, was mich gleichfalls wie eine „Schlinge“ würgte. Doch im Grunde brauchte ich ja nur ihn, nur ihn suchte ich. Ich hätte sofort alles gutgemacht, das fühlte ich; wir hätten einander in zwei Worten verstanden! Ich hätte seine Hände in meine genommen und sie gedrückt, ich hätte in meinem Herzen heiße Worte für ihn gefunden – davon war ich überzeugt. „Oh, ich würde den Wahnsinn schon überwinden!“ dachte ich. Aber wo war er nur, wo war er? ... Und da, gerade in einem solchen Augenblick, in solcher Erregung, mußte mir Lambert in den Weg laufen! Ein paar Schritte von meiner Wohnung entfernt begegnete er mir plötzlich. Er rief mich hoch erfreut mit lauter Stimme an und faßte mich sogleich unter den Arm.
„Dreimal war ich schon bei dir ... Enfin![107] Komm, wir wollen frühstücken!“
„Halt! Du warst bei mir, sagst du? Ist Andrei Petrowitsch da gewesen?“
„Nein, bei dir ist niemand. Ach, pfeif auf sie alle! Du Dummkopf hast dich gestern geärgert. Du warst betrunken. Aber jetzt kann ich dir etwas Wichtiges mitteilen: ich habe heute ausgezeichnete Nachrichten über die Sache bekommen, von der wir gestern sprachen ...“
„Lambert,“ unterbrach ich ihn hastig und außer Atem und kam unwillkürlich ein wenig ins Deklamieren – „wenn ich hier mit dir stehen geblieben bin, so tue ich es nur, weil ich dir sagen will, daß ich meinen Verkehr mit dir jetzt für immer abbreche. Ich habe dir das schon gestern gesagt, aber du scheinst es nicht verstehen zu wollen. Du bist kindisch und dumm, bist albern, wie nur ein Franzose albern sein kann. Du scheinst zu glauben, daß wir immer noch bei Touchard sind, und daß ich noch ebenso unerfahren sei wie damals ... Aber ich bin nicht mehr so dumm ... Ich war gestern betrunken, aber nicht etwa vom Wein, sondern weil ich sowieso schon aufgeregt war; und wenn ich deinem Geschwätz zustimmte, so habe ich das nur aus Schlauheit getan, um deine geheimen Gedanken aus dir herauszulocken. Ich habe dir eine Grube gegraben, und du hast dich gefreut und mich für den Dummen gehalten und alles ausgeplaudert. Weißt du, ich und – sie heiraten, das ist schon als Idee ein Blödsinn, den dir kein Sextaner glaubt! Und du bildest dir ein, ich hätte so etwas ernst nehmen können? Und du hast das im Ernst für möglich gehalten! Das hast du ja nur tun können, weil du die höhere Gesellschaft nicht kennst und nicht weißt, welche Anschauungen in diesen Kreisen herrschen. In der vornehmen Gesellschaft ist das ganz unmöglich, daß eine Dame einfach hingeht und heiratet ... Und jetzt werde ich dir klar und deutlich sagen, was du eigentlich willst: du willst mich einfach zu dir locken, um mich betrunken zu machen, damit ich dir das Dokument herausgebe und mit dir zusammen eine Gemeinheit gegen Katerina Nikolajewna begehe. Du irrst dich aber gewaltig! Ich werde niemals zu dir kommen, und wisse, das Dokument wird sich, wenn nicht morgen, so doch übermorgen in ihren Händen befinden, denn das Dokument gehört ihr und ist von ihr geschrieben worden, und ich selbst werde es ihr, ihr persönlich übergeben, und wenn du noch mehr wissen willst, so kann ich dir sagen, daß es bei Tatjana Pawlowna, die mit ihr gut bekannt ist, geschehen wird, in Tatjana Pawlownas Wohnung; und in Gegenwart von Tatjana Pawlowna werde ich ihr das Dokument übergeben und nichts von ihr verlangen. Und jetzt pack dich, verschwinde für mich auf ewig, denn sonst ... sonst, Lambert, könnte ich weniger höflich mit dir umgehen ...“
Ich zitterte am ganzen Körper. Es ist eine der schändlichsten Angewohnheiten, die ein Mensch im Leben haben kann, und zwar eine, die immer nur schädlich wirkt, wenn man sich in Szene setzen will. Welcher Teufel hatte mich geritten, mich so vor ihm zu ereifern, daß ich, der ich immer heftiger auf ihn einredete und die Stimme immer mehr erhob, plötzlich so in Eifer geriet, daß ich ihm die durchaus unnötige Einzelheit unter die Nase hielt, ich würde ihr das Dokument in Tatjana Pawlownas Gegenwart und in deren Wohnung ausliefern! Aber mich überkam damals die Lust, ihn zu verblüffen! Als ich so offen von dem Dokument gesprochen und plötzlich seinen dummen Schreck gesehen hatte, überkam mich der Wunsch, ihn mit der genauen Angabe von Einzelheiten vollends zu zerschmettern. Und eben dieses weibische prahlerische Geschwätz wurde später zur Ursache schrecklichen Unglücks, denn mein Hinweis auf Tatjana Pawlowna und ihre Wohnung setzte sich sofort in seinem Kopf fest, wie es bei Spitzbuben und bei in kleinen Dingen gerissenen Menschen zu geschehen pflegt; zu höheren und wichtigeren Dingen ist er unfähig und begreift von ihnen nichts, aber für Kleinigkeiten hat er einen feinen Instinkt. Ja, hätte ich von Tatjana Pawlowna geschwiegen, so wäre großes Unglück vermieden worden. Im ersten Augenblick verlor er gänzlich die Fassung.
„Hör nur,“ murmelte er, „Alphonsina ... Alphonsina wird dir vorsingen ... Alphonsina war bei ihr: ich besitze einen Brief ... ein Papier ... so gut wie ein Brief, worin die Achmakowa über dich spricht ... der Pockennarbige hat ihn mir verschafft, du weißt doch: der Pockennarbige – und du wirst schon sehen, du wirst schon sehen, komm nur mit!“
„Du lügst, zeig mir den Brief!“
„Er ist zu Haus, Alphonsina hat ihn, komm!“
Selbstverständlich log er und fabelte mir etwas vor, aus Angst, daß ich ihm davon laufen könnte. Ich ließ ihn denn auch mitten auf der Straße stehen, und als er mir nachfolgen wollte, machte ich halt und drohte ihm mit der Faust. Er hatte sich’s aber schon anders überlegt und – ließ mich gehen: in seinem Kopf war vielleicht schon ein neuer Plan aufgetaucht.
Für mich war der Überraschungen und Begegnungen noch kein Ende ... Und wenn ich mich heute dieses ganzen unglücklichen Tages erinnere, so scheint es mir, daß alle diese Zufälle sich gegenseitig verschworen hatten und sich nun aus irgendeinem verfluchten Füllhorn über meinem Haupte ausschütteten. Kaum hatte ich die Tür zu meiner Wohnung geöffnet, als ich schon im Vorzimmer mit einem jungen Manne zusammenstieß: er hatte ein längliches, blasses Gesicht, war von hohem Wuchs, von hochmütigem und „elegantem“ Äußeren und in einen kostbaren Pelz gekleidet. Auf seiner Nase saß ein Kneifer, den er aber sofort fallen ließ, als er mich erblickte, wie es schien, aus Höflichkeit; während er mit der Hand den Zylinder lüftete, sagte er, ohne übrigens stehen zu bleiben, mit einem weltmännischen und liebenswürdigen Lächeln: „Ah, bonsoir,“ zu mir und ging an mir vorüber, die Treppe hinunter. Wir beide erkannten einander sofort, obgleich ich ihn nur flüchtig ein einziges Mal gesehen hatte: in Moskau. Es war Anna Andrejewnas Bruder, der Kammerjunker, Werssiloffs Sohn, der junge Werssiloff, also ein Bruder von mir. Ihn geleitete meine Wirtin (der Wirt war noch nicht aus dem Büro zurückgekehrt). Als er draußen war, stürzte ich mich auf sie:
„Was hat er hier zu suchen? Ist er in meinem Zimmer gewesen?“
„Er ist durchaus nicht in Ihrem Zimmer gewesen. Er war bei mir ...“ sagte sie kurz und trocken und kehrte mir den Rücken.
„Nein, so geht das nicht!“ schrie ich. „Antworten Sie gefälligst: was hat er hier gewollt?“
„Ach, du lieber Gott! Ich müßte Ihnen dann immer erzählen, warum die Leute zu mir kommen! Wir können, glaube ich, doch auch unsere Geschäfte haben! Der junge Mann wollte vielleicht Geld bei mir aufnehmen, oder eine Adresse erfahren ... Ich kann es ihm ja schon das vorige Mal versprochen haben ...“
„Wieso, das vorige Mal?“
„Ach, du lieber Gott! Er ist doch nicht zum erstenmal hier!“
Sie zog die Tür hinter sich zu. Ich begriff vor allem, daß sich hier der Ton verändert hatte: man fing an, unhöflich gegen mich zu werden. Klar war mir, daß hier wieder ein Geheimnis steckte: die Geheimnisse häuften sich mit jedem Schritt, mit jeder Stunde. Das erstemal war der junge Werssiloff mit seiner Schwester Anna Andrejewna dagewesen, damals, als ich krank daniederlag: dessen erinnerte ich mich sehr wohl, ebenso der sonderbaren Andeutung, die Anna Andrejewna gestern mir gegenüber machte: daß der alte Fürst in meiner Wohnung absteigen werde ... Aber das alles war so sinnlos und unwahrscheinlich, daß ich mir dabei überhaupt nichts vorstellen konnte. Ich faßte mich an die Stirn, ich setzte mich nicht einmal hin, um auszuruhen, lief vielmehr gleich zu Anna Andrejewna. Doch fand ich sie nicht zu Haus und erhielt vom Portier nur die Auskunft, sie wäre nach Zarskoje gefahren und werde vielleicht morgen ungefähr um dieselbe Zeit wieder da sein.
Sie war also nach Zarskoje gefahren, selbstverständlich zum alten Fürsten ... und ihr Bruder besieht sich mittlerweile meine Wohnung! „Nein, das soll nicht geschehen!“ sagte ich knirschend vor mich hin, „und wenn dort tatsächlich eine Mörderschlinge gelegt wird, so werde ich es sein, der die ‚arme Frau‘ verteidigt!“
Von Anna Andrejewna kehrte ich nicht nach Haus zurück. In meinem wirren und heißen Kopf tauchte auf einmal die Erinnerung an das Kellerrestaurant am Kanal auf, das Andrei Petrowitsch in seinen düsteren Stunden wohl aufsuchte. Ich freute mich ordentlich, daß ich darauf verfallen war und eilte sofort hin. Es war bereits vier Uhr, und es dunkelte. In dem Keller teilte man mir mit, er sei allerdings dagewesen, hätte sich aber nur kurz aufgehalten und sei dann gegangen – vielleicht käme er wieder, fügte man hinzu. Ich beschloß, ihn, wenn möglich, zu erwarten und bestellte mir ein Mittagessen: so verblieb mir wenigstens die Hoffnung.
Ich aß das Mittagessen, aß sogar noch mehr, nur um das Recht zu haben, mich länger in dem Keller aufzuhalten, und habe, glaube ich, vier ganze Stunden so dagesessen. Ich will meine Schwermut und meine Ungeduld nicht beschreiben: in meinem Innern bebte alles. Diese Drehorgel, diese Gäste, – diese ganze traurige Umgebung prägte sich für immer in mein Herz! Ich kann und will meine Gedanken nicht schildern, die durch meinen Kopf wirbelten gleich einer Wolke von trockenen Blättern im Herbst, in die ein Windstoß gefahren ist. Es war wirklich so ähnlich mit mir, und ich muß gestehen, daß ich zeitweise fühlte, wie mich die gesunde Vernunft zu verlassen drohte. Was mich geradezu bis zum körperlichen Schmerz peinigte (selbstverständlich nur nebenbei, als Begleiterscheinung meiner sonstigen Pein), – das war eine Erinnerung – böse und aufdringlich wie eine giftige Herbstfliege, die man zunächst gar nicht bemerkt, und die doch die ganze Zeit um einen kreist, einen stört und plötzlich schmerzhaft sticht. Es war das die Erinnerung an ein Erlebnis, von dem ich noch keinem Menschen auf Erden ein Wort erzählt habe, das ich aber jetzt erzählen will, weil es doch einmal erzählt werden muß.