III.

Ein Schluchzen saß mir in der Kehle, und Tränen traten mir in die Augen, ich weiß selbst nicht, weshalb; ich weiß auch nicht, wie es kam, daß ich dann neben ihr saß; ich weiß nur noch – und diese Erinnerung ist mir unsagbar teuer – daß wir nebeneinander saßen, meine Hand in ihrer Hand ruhte, und daß wir fieberhaft sprachen: sie fragte mich nach dem Alten und nach seinen letzten Augenblicken, und ich erzählte ihr von ihm. Man hätte denken können, ich weinte um Makar Iwanowitsch, während das durchaus nicht der Fall war; aber ich weiß ja, daß sie mich einer solchen kindischen Rührseligkeit ganz entschieden nicht für fähig halten konnte. Damals aber kam mir diese Möglichkeit plötzlich zu Bewußtsein, und ich schämte mich. Heute bin ich der Meinung, daß ich einzig aus Begeisterung geweint habe, und ich denke, sie wird das auch sehr gut verstanden haben, so daß ich wegen dieser Erinnerung ganz ruhig bin.

Auf einmal kam es mir aber sehr sonderbar vor, daß sie mich so eingehend über Makar Iwanowitsch ausfragte.

„Ja, haben Sie ihn denn gekannt?“ fragte ich sie verwundert.

„Oh, ich kenne ihn schon lange. Ich habe ihn nie gesehen, aber er hat auch in meinem Leben eine Rolle gespielt. Vieles von ihm hat mir seinerzeit jener Mann erzählt, vor dem ich mich fürchte. Sie wissen, wen ich meine.“

„Ich weiß jetzt nur, daß jener Mann Ihnen innerlich viel näher gestanden hat, als Sie mich haben ahnen lassen,“ erwiderte ich, ohne selbst zu wissen, was ich damit eigentlich sagen wollte, aber ich sagte es gleichsam vorwurfsvoll und mit gerunzelter Stirn.

„Sie sagten, er habe Ihre Mutter soeben geküßt und umarmt? Haben Sie das selbst gesehen?“ fragte sie mich hastig weiter – meine Bemerkung überhörte sie.

„Ja, ich habe es mit eigenen Augen gesehen; und glauben Sie mir, es geschah alles mit der größten Aufrichtigkeit und Innigkeit!“ beeilte ich mich, zu versichern, als ich ihre Freude sah.

„Gott gebe es!“ sagte sie und bekreuzte sich. „Jetzt ist er frei. Dieser herrliche Alte hatte sein Leben doch in Ketten geschlagen. Jetzt, wo der Alte tot ist, wird wieder das Pflichtbewußtsein und ... die Würde in ihm auferstehen, wie es schon einmal geschehen ist. Oh, ich weiß, er ist vor allen Dingen großmütig und wird dem Herzen Ihrer Mutter den Frieden geben, denn er liebt sie ja doch mehr als alles auf der Welt, und wird schließlich auch selbst Ruhe finden, Gott sei Dank – und es wäre auch Zeit.“

„Er ist Ihnen wohl teuer?“

„Ja, sehr teuer, wenn auch nicht in dem Sinne, in dem er es wünschte und in dem Sie jetzt fragen,“ antwortete sie ernst.

„Fürchten Sie denn nun für ihn oder für sich?“ fragte ich plötzlich.

„Ach, das sind schwierige Fragen, lassen wir das!“

„Gut, lassen wir das; selbstverständlich; nur habe ich von alledem nichts gewußt, vielleicht gar zu viel nicht gewußt. Aber mögen Sie recht damit haben, daß jetzt alles von neuem anfängt, und wenn einer schon auferstanden ist, so bin ich es, ich als erster. Ich stehe mit niedrigen Gedanken vor Ihnen, Katerina Nikolajewna, und vielleicht ist es noch nicht eine ganze Stunde her, daß ich auch durch die Tat niedrig an Ihnen gehandelt habe. Aber Sie sollen auch das wissen, daß ich jetzt hier neben Ihnen sitze und nicht die geringsten Gewissensbisse verspüre. Denn jetzt ist alles Alte verschwunden und alles, was ist, ist neu. Und jenen Schuft, der vor einer Stunde eine Gemeinheit gegen Sie plante, kenne ich einfach nicht und will ich überhaupt nicht mehr kennen!“

„Kommen Sie zu sich,“ sagte sie lächelnd, „Sie scheinen mir ein bißchen im Fieber zu sprechen.“

„Und kann man sich denn überhaupt verurteilen, solange man neben Ihnen sitzt?“ fuhr ich fort. „Da mag einer noch so anständig sein, oder mag auch noch so niedrig sein – Sie sind doch immer, wie die Sonne, unerreichbar ... Sagen Sie, wie haben Sie mir jetzt so entgegenkommen können, nach allem, was geschehen ist? Wenn Sie nur wüßten, was noch vor einer Stunde geschehen ist, gerade vor einer Stunde! Und was für ein Traum mir in Erfüllung geht!“

„Ich glaube, das kann ich mir schon denken,“ sagte sie mit einem stillen Lächeln. „Sie werden sich für irgend etwas an mir haben rächen wollen. Sie haben sich wohl gar geschworen, mich ins Verderben zu stürzen; und dabei hätten Sie ganz gewiß einen jeden auf der Stelle totgeschlagen oder verprügelt, der es gewagt hätte, in Ihrer Gegenwart auch nur ein schlechtes Wort über mich zu sagen.“

Oh, sie lächelte und scherzte: aber sie tat es nur aus unermeßlicher Güte, denn ihre ganze Seele war in dem Augenblick, wie ich später erriet, so voll von eigener niederdrückender Sorge und von einer so starken und gewaltigen Empfindung, daß sie wohl nur so mit mir sprechen und auf meine nichtigen, lästigen Fragen antworten konnte, wie man vielleicht einem kleinen Kinde auf seine naseweisen unablässigen Fragen antwortet, damit es Ruhe gibt. Das begriff ich plötzlich, und ich schämte mich, aber ich konnte mich schon nicht mehr zurückhalten.

„Nein,“ rief ich, ohne mich zu beherrschen, „nein, ich habe den nicht erschlagen, der schlecht von Ihnen sprach, im Gegenteil, ich hab’ ihm noch beigestimmt!“

„Oh, um Gottes willen, nicht beichten, nein, erzählen Sie nichts!“ Sie streckte plötzlich die Hand aus, um mich aufzuhalten, und aus ihrem Gesicht sprach geradezu schmerzliches Mitleid, aber schon war ich aufgesprungen und stand vor ihr, um ihr alles zu sagen; und wenn ich ihr damals alles gesagt hätte, so wäre es nicht dazu gekommen, wozu es später gekommen ist; denn es wäre bestimmt darauf hinausgelaufen, daß ich ihr alles gebeichtet und das Dokument ihr ausgeliefert hätte. Aber da begann sie auf einmal zu lachen:

„Nein, es ist nicht nötig, nichts ist nötig, ich will keine Einzelheiten hören. Ich kenne schon alle Ihre fürchterlichen Verbrechen: ich wette, Sie hatten die Absicht, mich zu heiraten oder so etwas Ähnliches, und haben gerade einen diesbezüglichen Plan geschmiedet, mit einem Ihrer Freunde oder einem Ihrer früheren Schulkameraden ... Ach, es scheint ja, daß ich es wirklich erraten habe!“ rief sie plötzlich und sah mir ernst forschend ins Gesicht.

„Wie ... wie haben Sie das erraten können?“ stotterte ich wie ein Narr vor lauter Betroffenheit.

„Das war, weiß Gott, nicht schwer. Doch genug, genug davon! Ich verzeihe Ihnen alles, nur hören Sie auf,“ sagte sie abwehrend und jetzt schon mit sichtlicher Ungeduld. „Ich bin selbst eine Träumerin, und wenn Sie wüßten, was ich alles in manchen Augenblicken ausdenke, wenn ich’s nicht mehr ertragen kann! Aber genug davon, Sie bringen mich immer von dem ab, was ich eigentlich sagen wollte. Ich bin sehr froh, daß Tatjana Pawlowna weggegangen ist: ich hatte schon die ganze Zeit den Wunsch, Sie wiederzusehen, aber in ihrer Gegenwart hätten wir uns doch nicht so aussprechen können. Ich glaube, ich trage die Schuld an dem, was Ihnen damals zugestoßen ist. Ja? Ich bin doch die Schuldige?“

„Sie die Schuldige? Aber damals habe ich Sie doch an ihn verraten, und – was haben Sie überhaupt von mir denken müssen! Daran habe ich seitdem die ganze Zeit gedacht, alle diese Tage, jede Minute hab’ ich daran gedacht und nur dies gefühlt!“ (Ich log nicht.)

„Sie haben sich ganz umsonst gequält, denn ich habe doch schon damals nur zu gut verstanden, wie das geschehen konnte: es ist Ihnen da in der Freude ihm gegenüber das Geständnis entschlüpft, daß Sie in mich verliebt waren, und daß ich ... nun, daß ich Sie angehört hatte. Dafür sind Sie eben zwanzig Jahre alt. Und Sie lieben ihn doch mehr als die ganze Welt, Sie suchen in ihm doch einen Freund, ein Ideal? Das habe ich sehr gut begriffen, aber nur etwas zu spät. O ja, ich war damals selbst schuld daran: ich hätte Sie unverzüglich zu mir rufen müssen, um Sie zu beruhigen; aber ich ärgerte mich zu sehr, und so bestimmte ich, daß Sie im Hause nicht mehr empfangen werden sollten. Und so kam es dann zu jenem Auftritt an der Vorfahrt und später zu Ihren Erlebnissen in der Nacht. Und wissen Sie, ich habe genau so wie Sie diese ganze Zeit daran gedacht, wie ich Sie heimlich treffen könnte, nur wußte ich nicht, wie ich das einrichten sollte. Und was glauben Sie, was ich dabei am meisten fürchtete? Daß Sie seiner üblen Nachrede über mich glauben könnten.“

„Niemals!“ rief ich.

„Ich schätze die Stunden unseres früheren Zusammenseins. Der Jüngling in Ihnen ist mir immer teuer gewesen, und vielleicht sogar auch diese Ihre Aufrichtigkeit ... Ich bin ja doch ein ernst veranlagter Charakter. Ich bin der ernsteste und düsterste Charakter von allen heutigen Frauen, merken Sie sich das ... hahaha! Aber wir werden uns schon noch aussprechen können, augenblicklich fühle ich mich nicht recht wohl, ich bin zu aufgeregt und ... ich glaube fast, ich bekomme eine Nervenkrise ... Gott, jetzt wird er mich doch endlich, endlich in Ruhe leben lassen!“

Dieser Ausruf entschlüpfte ihr ganz unbedacht; das begriff ich sofort und tat deshalb, als hätte ich ihn überhört, aber mein Herz war erzittert.

„Er weiß, daß ich ihm verziehen habe!“ sagte sie plötzlich vor sich hin, als wäre sie ganz allein mit sich.

„Haben Sie ihm denn wirklich jenen Brief verzeihen können? Und woher kann er denn wissen, daß Sie ihm verziehen haben?“ rief ich jetzt doch, denn ich konnte mich nicht mehr halten.

„Woher er das wissen kann? Oh, er weiß es,“ sagte sie versonnen, wieder wie zu sich selbst, und als hätte sie mich ganz vergessen. „Er ist jetzt erwacht. Und wie sollte er denn nicht wissen, daß ich ihm verziehen habe, da er doch meine ganze Seele auswendig kennt? Er weiß doch, daß auch ich ein wenig von seiner Art bin.“

„Sie?“

„Ja, ich; und das weiß er. Oh, ich bin nicht leidenschaftlich, ich bin ruhig: aber auch ich möchte, ganz wie er, daß alle Menschen gut wären ... Wegen irgend etwas hat er mich doch geliebt.“

„Wie hat er dann sagen können, in Ihnen wären alle Laster?“

„Das hat er nur so gesagt; für sich, im geheimen, weiß er etwas ganz anderes. Aber nicht wahr, sein Brief war doch unsagbar lächerlich?“

„Lächerlich?“

Ich hörte mit gespanntester Aufmerksamkeit zu; sie schien tatsächlich sehr erregt zu sein und ... sprach vielleicht Dinge aus, die keineswegs für meine Ohren bestimmt waren; aber ich konnte mich trotz der peinlichen Situation nicht enthalten, sie auszufragen.

„O ja, gewiß lächerlich, und wie hätte ich gelacht, wenn ... wenn ich mich nicht so gefürchtet hätte. Übrigens bin ich durchaus nicht so furchtsam, glauben Sie das nicht. Aber nach jenem Brief habe ich doch die ganze Nacht nicht geschlafen; er ist wie mit krankem Blut geschrieben ... und worauf kann ich mich nach einem solchen Brief noch verlassen? Ich liebe das Leben, ich fürchte entsetzlich für mein Leben, darin bin ich wirklich schrecklich kleinmütig ... Ach, hören Sie!“ rief sie auf einmal und wandte sich erregt mir zu, „gehen Sie schnell zu ihm! Er ist jetzt allein, er kann nicht die ganze Zeit dort bleiben, bestimmt ist er allein aus dem Hause gegangen: suchen Sie ihn schnell auf, unbedingt so schnell wie möglich, laufen Sie zu ihm, zeigen Sie ihm, beweisen Sie ihm, daß Sie sein liebender Sohn, daß Sie der liebe, gute Junge sind, mein Student, den ich ... Oh, gebe Gott Ihnen Glück! Ich liebe niemanden, und so ist es auch am besten; aber ich wünsche allen Glück, allen, und vor allen wünsche ich es ihm, und das soll er wissen ... womöglich jetzt gleich, das wäre mir sogar sehr lieb ...“

Sie stand auf, in ihren Augen blitzten Tränen, und plötzlich verschwand sie hinter der Portiere (es waren wohl hysterische Tränen nach dem Lachen). Ich stand allein da und war erregt und verwirrt. Ich wußte wirklich nicht, was sie denn in eine solche Erregung versetzt haben konnte, in eine Erregung, die ich bei ihr gar nicht für möglich gehalten hätte. Irgend etwas in meinem Herzen krampfte sich gleichsam zusammen.

Ich wartete fünf Minuten, schließlich zehn Minuten; die tiefe Stille schreckte mich plötzlich auf, und ich entschloß mich, zur Tür hinauszuschauen und zu rufen. Auf meinen Ruf erschien die Köchin Marja und sagte mir im gleichgültigsten Ton, die gnädige Frau hätte sich längst angezogen und die Wohnung durch die Hintertür verlassen.

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