I.

Am nächsten Morgen bemühte ich mich, möglichst früh aufzustehen. Gewöhnlich stand man bei uns um acht Uhr auf, das heißt ich, meine Mutter und meine Schwester; Werssiloff pflegte sich und blieb bis halb zehn im Bett. Pünktlich um halb neun brachte mir meine Mutter immer den Kaffee, diesmal aber beschloß ich, das Haus schon vorher, schon um acht Uhr zu verlassen. Ich hatte mir bereits am Abend einen ganzen Plan für diesen Tag zurechtgelegt. Dabei hatte ich aber schon gefühlt, daß, trotz meiner ganzen leidenschaftlichen Entschlossenheit, unverzüglich mit der Verwirklichung meiner Idee zu beginnen, gerade in den wichtigsten Punkten dieses Planes noch unendlich viel Unsicheres und Unbestimmtes war. Deshalb hatte ich denn auch fast die ganze Nacht wie im Halbschlaf verbracht, hatte unzählige Träume gehabt, und war überhaupt nicht so, wie es sich gehört, eingeschlafen. Dennoch stand ich am nächsten Morgen munterer und frischer auf als je. Gerade jetzt wollte ich eine Begegnung mit meiner Mutter unbedingt vermeiden. Ich konnte mit ihr nach allem Vorgefallenen doch über nichts anderes sprechen als über das bewußte Thema, und ich fürchtete, irgendein neuer, unerwarteter Eindruck würde mich vielleicht von meinem Vorsatz ablenken können.

Der Morgen war kalt, und über allem lag ein feuchter, milchiger Nebel. Ich weiß nicht weshalb, aber der frühe, geschäftige Petersburger Morgen gefällt mir immer, trotz seines garstigen Aussehens, und dieses ganze, an sein Tagewerk eilende, auf sein Ich bedachte und stets gedankenversunkene Menschenvolk hat für mich morgens um acht Uhr etwas besonders Anziehendes. Namentlich liebe ich es, unterwegs, eilend, entweder selbst jemand nach irgend etwas zu fragen oder von anderen gefragt zu werden: die Frage wie die Antwort sind immer kurz, klar, vernünftig, und werden gewechselt, fast ohne daß man stehenbleibt, und immer nahezu freundschaftlich. Die Bereitwilligkeit, zu antworten, ist in den Morgenstunden größer als zu jeder anderen Tageszeit. Mitten am Tage ist der Petersburger weniger mitteilsam; und gegen Abend wird er es noch weniger; sobald ihm dann etwas nicht recht ist, kann er einen sogar anfahren oder verhöhnen; früh am Morgen aber, noch vor der Arbeit, in den nüchternsten und ernstesten Tagesstunden ist er ganz anders. Das habe ich beobachtet.

Ich ging wieder über die Newa nach der „Petersburger Seite“. Da ich jedoch gegen zwölf Uhr unbedingt bei Wassin sein mußte, der in der Stadt an der Fontanka wohnte (um diese Zeit war er am ehesten zu Hause anzutreffen), so beeilte ich mich sehr und hielt mich nirgends auf, obgleich ich ein großes Verlangen hatte, irgendwo einen Morgenkaffee zu trinken. Zudem mußte ich auch Jefim Swerjoff unbedingt noch zu Hause antreffen; ich begab mich wieder zu ihm und wäre in der Tat beinahe zu spät gekommen; er war mit seinem Kaffee fast schon fertig und hatte einen Gang vor.

„Was bringt dich schon wieder zu mir?“ begrüßte er mich, ohne sich zu erheben.

„Das werde ich dir gleich erklären.“

Jeder frühe Morgen, der Petersburger einbegriffen, übt auf die Natur des Menschen eine ernüchternde Wirkung aus. Mancher feurige nächtliche Gedankentraum ist im Licht und in der Kälte des Morgens plötzlich erloschen und wie Rauch verschwunden. Ich selbst habe schon an manchem Morgen meiner noch in der letzten Dunkelheit geträumten Phantasien, und mitunter sogar auch begangenen Taten, mit Selbstvorwürfen und Scham gedacht. Übrigens will ich hier noch erwähnen, da ich nun einmal darauf zu sprechen gekommen bin, daß ich den Petersburger Morgen, den anscheinend prosaischsten auf dem ganzen Erdball, nahezu für den phantastischsten der Welt halte. Das ist meine persönliche Auffassung oder richtiger, mein persönlicher Eindruck, aber ich stehe für ihn ein. An einem solchen modrigen, feuchten und nebligen Petersburger Morgen muß sich, wie mir scheint, der wilde Gedanke eines Puschkinschen Hermann aus der „Pique-Dame“ (eine kolossale Figur, ein ungewöhnlicher, vollkommen Petersburger Typus – ein Typus aus der Petersburger Periode unserer Geschichte!) – noch mehr festigen und erstarken.[12] In diesem Nebel ist mir hundertmal die sonderbare, zudringliche, durch nichts zu verscheuchende Vorstellung gekommen: „Wie, wenn dieser Nebel verfliegt und in die Höhe steigt, – wird dann nicht mit ihm zusammen auch diese ganze modrige, sumpfige Stadt emporsteigen und wie Rauch verfliegen? – und was zurückbleibt ist dann nur der frühere finnische Sumpf, und mitten in ihm, meinetwegen als Schmuck, der Eherne Reiter[13] auf dem heißschnaubenden überjagten Pferde.“ Aber ich sehe, ich kann meine Eindrücke nicht so wiedergeben, wie ich möchte. Schließlich ist das alles doch nur Phantasie oder gar Poesie und folglich Unsinn; nichtsdestoweniger habe ich oft vor der vollständig sinnlosen Frage gestanden, und immer wieder steht sie noch vor mir auf: „Da hasten und eilen sie nun alle und mühen sich ab, aber wer weiß, vielleicht ist das alles nur ein Traum von irgend jemand, und es gibt hier nicht einen einzigen leibhaftigen, wirklichen Menschen, nicht eine einzige wirkliche Handlung? Irgend jemand, dessen Traum dies alles ist, wird plötzlich aufwachen – und alles wird dann jäh verschwunden sein.“ Doch ich habe mich fortreißen lassen.

Eines schicke ich voraus: Es gibt in jedem Menschenleben Einfälle, die scheinbar so exzentrisch sind, daß man sie auf den ersten Blick unbedingt für Wahnsinn halten kann. Mit einem solchen Einfall kam ich an diesem Morgen zu Jefim – zu Jefim, weil ich in Petersburg keinen Menschen kannte, an den ich mich mit diesem besonderen Anliegen hätte wenden können. Dabei war gerade Jefim ein Mensch, zu dem ich, wenn ich die Wahl gehabt hätte, wohl zuletzt mit einem solchen Anliegen gegangen wäre. Als ich mich ihm gegenüber hingesetzt hatte, schien es mir selbst, daß ich, ein verkörperter Fiebertraum, der verkörperten goldenen Mittelmäßigkeit und Prosa gegenübersäße. Aber auf meiner Seite war die Idee und das richtige Gefühl, auf seiner – nur der praktische Schluß, daß man es so nicht machen könne. Mit einem Wort, ich erklärte ihm kurz und bündig, daß ich in Petersburg außer ihm keinen einzigen Bekannten hätte, den ich in einer außergewöhnlichen Ehrenangelegenheit als meinen Sekundanten eine Forderung überbringen lassen könnte; er aber wäre mein ehemaliger Schulkamerad und hätte deshalb nicht das Recht, meinen Auftrag abzulehnen: fordern wollte ich den Gardeleutnant Fürsten Ssergei Ssokolski, weil er vor mehr als einem Jahr in Ems meinem Vater, Werssiloff, einen Schlag ins Gesicht versetzt hatte. Ich muß bemerken, daß Jefim meine Familienverhältnisse ganz genau kannte, ebenso mein Verhältnis zu Werssiloff und beinahe alles, was ich selbst von Werssiloff wußte, und was ich ihm zu verschiedenen Zeiten selbst erzählt hatte, natürlich mit Ausnahme der Geheimnisse. Er saß und hörte zu, wie gewöhnlich verdrossen, wie ein Spatz im Vogelbauer, ernst, schweigend, aufgeblasen, mit seinem borstigen weißblonden Haar. Doch schon nach meinen ersten Worten erschien ein unbewegliches spöttisches Lächeln auf seinen Lippen. Dieses Lächeln war um so unangenehmer, als es ein ganz unbeabsichtigtes und unwillkürliches war; man sah es ihm an, daß er sich wirklich und wahrhaftig in diesem Augenblick sowohl an Verstand als an Charakter mir weit überlegen fühlte. Auch hatte ich noch den Verdacht, daß er mich wegen der Szene bei Dergatschoff verachtete; das konnte nicht anders sein: Jefim ist die Menge, Jefim ist die Gasse, und die beugt sich immer nur vor dem Erfolge.

„Und Werssiloff weiß nichts davon?“ fragte er.

„Selbstverständlich nicht.“

„Aber was hast du denn für ein Recht, dich in seine Angelegenheiten einzumischen? Das erstens. Und zweitens, was gedenkst du damit zu bezwecken?“

Ich kannte die Einwände und erklärte ihm sogleich, daß mein Vorhaben gar nicht so dumm wäre, wie er annehme. „Erstens würde diesem unverschämten Fürsten bewiesen werden, daß es auch in unserem Stande noch Menschen gibt, die einen Begriff von Ehre haben, und zweitens wird Werssiloff beschämt und erhält eine Lehre. Und drittens, und dies ist die Hauptsache: selbst wenn Werssiloff damit recht gehabt haben sollte – vielleicht aus irgendwelchen Überzeugungen –, daß er ihn nicht forderte und die Beleidigung ertrug, so wird er wenigstens sehen, daß es einen Menschen gibt, der die ihm, Werssiloff, zugefügte Beleidigung so stark zu empfinden vermag, wie eine ihm selbst zugefügte, und der bereit ist, für ihn, Werssiloff, sogar das Leben einzusetzen ... obgleich er sich von ihm auf ewig getrennt hat.“

„Wart’, schrei nicht so, Tante liebt das nicht. Aber sag’, mit diesem selben Fürsten Ssokolski führt doch Werssiloff augenblicklich einen Prozeß wegen einer Erbschaft? In dem Fall wäre das nun ein ganz neues und originelles Verfahren, einen Prozeß zu gewinnen – indem man den Gegner einfach fordert und im Duell über den Haufen schießt.“

Hierauf erklärte ich ihm en toutes lettres,[29] daß er einfach ein Dummkopf und ein eingebildeter Patron sei, und sein spöttisches Lächeln nur seine Selbstzufriedenheit und Gewöhnlichkeit beweise. Er glaube wohl, die Verwickelung der Sache durch den Erbschaftsstreit wäre mir nicht von Anfang an klar gewesen, und dieser Gedanke hätte nur seinen gedankenreichen Schädel eines Besuchs für würdig gehalten. Darauf setzte ich ihm auseinander, daß der Prozeß schon von Werssiloff gewonnen sei; ferner, gar nicht von diesem einen Fürsten Ssokolski, sondern von den Fürsten Ssokolski angestrengt worden war, so daß, falls der eine im Duell fiele, deshalb noch nicht alle Gegner Werssiloffs beseitigt wären. Ungeachtet dessen würde man mit der Forderung so lange warten müssen, bis die Berufungsfrist verstrichen wäre (obschon die Fürsten gewiß nicht Berufung einlegen würden), eben um des Anstands willen. Nach Ablauf der Frist aber sollte dann das Duell stattfinden, und jetzt wäre ich nur deshalb zu ihm gekommen, um mich zu versichern, ob ich auf ihn als Sekundanten rechnen könne, und falls nicht, dann hätte ich bis dahin wenigstens noch Zeit, mich nach einem anderen umzusehen. So, und deshalb wäre ich jetzt zu ihm gekommen.

„Nun, so komm dann, wenn du mich brauchst, was läufst du denn umsonst die zehn Werst ab.“

Er erhob sich und nahm seine Mütze.

„Und dann wirst du es tun?“

„Nein, selbstverständlich nicht.“

„Warum nicht?“

„Ja, schon allein deshalb nicht, weil du dann bis zum Ablauf der Berufungsfrist jeden Tag zu mir laufen wirst, wenn ich jetzt einwillige. Außerdem ist das Ganze doch barer Unsinn und nichts weiter. Wozu soll ich mir deinetwegen meine Karriere verpfuschen? Und wenn mich der Fürst auf einmal fragt: ‚Wer schickt Sie zu mir?‘ – ‚Dolgoruki.‘ – ‚Aber was hat Dolgoruki mit Werssiloff zu schaffen?‘ – Soll ich ihm dann deinen ganzen Stammbaum erklären, was? Er wird mir doch ins Gesicht lachen!“

„Dann schlag’ ihm in die Fratze!“

„Leicht gesagt!“

„Du wagst es nicht? Du bist doch so groß und warst der Stärkste auf dem Gymnasium.“

„Natürlich wage ich es nicht. Und der Fürst wird allein schon aus dem Grunde die Forderung nicht annehmen, weil man sich nur mit seinesgleichen schlägt.“

„Bitte, ich bin gleichfalls ein Gentleman, meiner Bildung nach, und ich habe Rechte, folglich bin ich seinesgleichen ... Im Gegenteil, eher könnte ich von ihm sagen, daß er unter mir steht.“

„Nein, du bist ein Kleiner.“

„Wieso ein Kleiner?“

„So, eben weil du klein bist; wir sind beide noch Kleine, er aber ist ein Großer.“

„Dummkopf! Nach dem Gesetz kann ich schon seit einem Jahr heiraten.“

„Na, dann heirate! Trotzdem bist du jetzt noch ein Bengel: du wächst ja noch!“

Ich begriff natürlich, daß er sich über mich lustig machen wollte. Diese ganze dumme Geschichte hätte ich ohne Zweifel gar nicht erst zu erzählen brauchen, und es wäre sogar besser, wenn sie unerzählt geblieben wäre; hinzu kommt, daß sie in ihrer Kleinlichkeit und Überflüssigkeit widerlich ist, was jedoch nicht hinderte, daß sie ziemlich ernste Folgen hatte.

Um mich aber noch mehr zu bestrafen, werde ich sie ganz erzählen. Als ich begriffen hatte, daß Jefim sich über mich lustig machte, stieß ich ihn mit der rechten Hand an die Schulter oder richtiger, mit der rechten Faust. Da erfaßte er mich an beiden Schultern, drehte mich um, mit dem Gesicht zur Tür, und – bewies mir durch die Tat, daß er auf dem Gymnasium wirklich der Stärkste von uns allen gewesen war.

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