Auch die ärztliche Expertise lautete wenig günstig für den Angeklagten. Doch Fetjukowitsch schien auf dieselbe auch nicht sehr gerechnet zu haben, wie sich in der Folge zeigte. Ursprünglich war sie nur deshalb vorgenommen worden, weil Katerina Iwanowna darauf bestanden und zu dem Zweck einen berühmten Arzt aus Moskau verschrieben hatte. Jedenfalls konnte sie für die Verteidigung nicht ungünstig sein. Im übrigen wirkte sie bei der Meinungsverschiedenheit der Ärzte sogar etwas erheiternd. Als Experten erschienen: Der berühmte Doktor aus Moskau, unser Doktor Herzenstube und schließlich noch unser junger Arzt Warwinskij. Die beiden letzteren waren – auf Ersuchen des Staatsanwalts – auch als Zeugen erschienen. Der erste, der in der Eigenschaft eines Experten vernommen wurde, war Doktor Herzenstube. Das war ein ergrauter und kahlköpfiger alter Herr von siebzig Jahren, ein Mann von starkem Körperbau und mittlerem Wuchs. Bei uns in der Stadt wurde er von allen sehr geachtet und geschätzt. Er war ein gewissenhafter Arzt, ein ehrenwerter, prächtiger Mensch, irgendein Herrnhuter oder „Mährischer Bruder“, ich weiß es nicht mehr ganz genau. Er lebte schon seit langer Zeit bei uns und hielt sich außerordentlich würdig. Er war gut und menschenfreundlich, behandelte arme Kranke und die Bauern unentgeltlich, ging selbst in ihre Hütten und Hundelöcher und hinterließ ihnen noch Geld für die Medizin. Doch bei alledem war er eigensinnig wie ein Maulesel. Ihn von einer Idee abzubringen, die er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, war unmöglich. Indessen war jetzt allen in der Stadt bekannt geworden, daß der angereiste Doktor während seines zwei- bis dreitägigen Aufenthalts sich einige recht beleidigende Bemerkungen in betreff der Begabung Doktor Herzenstubes erlaubt hatte. Das war nämlich so gekommen: viele in der Stadt hatten sich über die seltene Gelegenheit gefreut und waren, ohne auf das Geld zu achten (der berühmte Arzt nahm nicht weniger als fünfundzwanzig Rubel für die Visite), zu ihm gegangen, um sich untersuchen zu lassen. Diese Kranken waren aber vorher von Herzenstube behandelt worden, und der berühmte Arzt hatte nun dessen Kenntnisse außerordentlich absprechend kritisiert. Zu guter Letzt hatte er jeden Kranken, der bei ihm erschienen war, gefragt: „Wer hat denn an Ihnen hier herumgepfuscht, etwa wieder Herzenstube? He – he!“ – was Doktor Herzenstube natürlich alsbald erfahren hatte. Und so erschienen alle drei Ärzte, einer nach dem anderen, zum Verhör. Doktor Herzenstube erklärte natürlich geradeaus, daß man die geistige Abnormität des Angeklagten sofort aus allem ersehen könne. Nachdem er seine Erwägungen auseinandergesetzt hatte, die ich hier übergehe, fügte er hinzu, daß man diese Abnormität nicht nur in den früheren Handlungen des Angeklagten feststellen könne, sondern sogar jetzt, in dieser Minute, und als man ihn bat, zu erklären, woraus er das in gegebenem Augenblick ersehe, da wies der alte Doktor in seiner Gutmütigkeit ganz offen darauf hin, daß der Angeklagte beim Eintritt in den Saal ein ganz ungewöhnliches und den Umständen gar nicht angemessenes Aussehen gehabt habe. „Er schritt wie ein Soldat, die Augen waren starr geradeaus gerichtet, während es doch natürlicher gewesen wäre, daß er nach links geblickt hätte, wo im Publikum so viel Damen sitzen, denn er ist doch ein großer Liebhaber des schönen Geschlechts und hätte daher daran denken müssen, was die Damen jetzt sagen würden,“ schloß der Alte seine Rede in seiner eigenartigen Ausdrucksweise. Ich muß hinzufügen, daß er Russisch viel und gern sprach, obgleich bei ihm jede Phrase auf deutsche Art geformt schien, was ihn indessen nicht im geringsten genierte, denn er hatte die kleine Schwäche, seine russische Sprache für mustergültig zu halten, „für besser sogar, als die der Russen selbst“, und mit besonderer Vorliebe zitierte er russische Sprichwörter, wobei er jedesmal hinzufügte, daß die russischen Sprichwörter die besten und zutreffendsten der ganzen Welt seien. Ich bemerke noch, daß er im Gespräch aus Zerstreutheit oft die allergebräuchlichsten Ausdrücke vergessen konnte, die er vorzüglich wußte, doch die ihm plötzlich nicht in den Sinn kamen. Dasselbe passierte ihm übrigens auch, wenn er Deutsch sprach, und er griff dann immer mit der Hand in die Luft, gerade vor seinem Gesicht, als wolle er das verlorene Wörtchen erhaschen, und dann konnte ihn keiner dazu bringen, in seiner Rede eher fortzufahren, als bis er das ihm entfallene Wort gefunden hatte. Seine Bemerkung, daß der Angeklagte in normalem Zustande auf die Damen hätte blicken müssen, rief im Publikum ein lustiges Geflüster hervor. Alle unsere Damen hatten den Alten sehr gern, denn sie wußten, daß er, der fromm und keusch war, nur deswegen nicht geheiratet hatte, weil er zu hoch und ideal von den Frauen dachte, und sie für entschieden höhere Wesen hielt. Darum erschien diese unerwartete Bemerkung allen sehr sonderbar.
Der berühmte Moskauer Arzt erklärte seinerseits schneidend und bestimmt, daß er den geistigen Zustand des Angeklagten für unnormal halte – „sogar im höchsten Grade“. Er sprach viel und klug über den „Affekt“ und die „Manie“ und wies darauf hin, daß, nach allen Angaben zu schließen, der Angeklagte sich schon einige Tage vor der Katastrophe zweifellos im Affekt befunden habe, und wenn er die Tat vollführt haben sollte, so sei das, wenn auch nicht unbewußt, so doch unfreiwillig geschehen, da er keine Kraft mehr gehabt habe, gegen seine sittlich krankhaften Neigungen, die ihn beherrschten, anzukämpfen. Doch außer dem Affekt konstatierte der Doktor auch Manie, die seiner Meinung nach darauf hinwies, daß er schon auf dem Wege zu vollkommenem Wahnsinn gewesen sei. Ich gebe die Aussagen des Doktors mit meinen Worten wieder; er drückte sich in seiner fachmännischen Sprache sehr gelehrt aus. „Alle seine Handlungen stehen im Widerspruch zur Logik und dem gesunden Menschenverstande,“ fuhr er fort. „Ich will schon von alledem nichts sagen, was ich nicht gesehen habe, das heißt, vom Verbrechen selbst und von dieser ganzen Katastrophe, doch vor drei Tagen fiel mir im Gespräch mit ihm sein sonderbarer, unbeweglicher Blick auf, sein unerwartetes Lachen, wenn es gar nicht am Platz war, seine ewige unverständliche Gereiztheit, seltsame Worte, wie: ‚Bernard‘, ‚Ethik‘ und andere, die gar nicht angebracht waren.“ Vor allem aber sah der Doktor darin eine Manie, daß der Angeklagte ganz besonders gereizt sei, „wenn man von den dreitausend Rubeln spricht, um die er sich betrogen glaubt, während er von allen seinen anderen Fehlschlägen und erlittenen Kränkungen ganz harmlos sprechen kann“. Endlich sei er, nach den eingezogenen Erkundigungen, auch früher schon jedesmal, wenn man von diesen Dreitausend gesprochen hatte, außer sich geraten, „während man doch weiß, daß er uneigennützig und kein Egoist ist“. „Was aber die Ansicht meines gelehrten Kollegen betrifft,“ fügte der Doktor noch ironisch hinzu, nachdem er seine Rede beendet hatte, „daß der Angeklagte, als er in den Saal trat, durchaus zu den Damen und nicht gerade vor sich hin hätte blicken müssen, so sage ich nur, daß, abgesehen von der Scherzhaftigkeit dieser Ansicht, diese außerdem noch absolut falsch ist: denn, obgleich ich darin vollkommen mit ihm übereinstimme, daß der Angeklagte, als er hier in diesen Saal eintrat, in dem über sein Geschick entschieden wird, nicht starr vor sich hinsehen sollte, was durchaus ein Zeichen seines unnormalen seelischen Zustandes im gegebenen Augenblick ist, so behaupte ich doch zu gleicher Zeit, daß er nicht nach links zu den Damen, sondern nach rechts hätte sehen sollen, zu seinem Verteidiger, auf dessen Hilfe er jetzt seine ganze Hoffnung setzt, und von dessen Verteidigung sein ganzes Geschick abhängt.“ Diese seine Meinung sprach der Doktor sehr bestimmt und nachdrücklich aus. Doch wirkten die Behauptungen beider gelehrten Experten durch ihren Widerspruch ein wenig komisch, besonders noch nach der unerwarteten Folgerung des Arztes Warwinskij, der als Dritter befragt wurde. Seiner Meinung nach befand sich der Angeklagte jetzt wie früher in ganz normalem Zustande, und wenn er auch vor seiner Verhaftung außerordentlich nervös und erregt gewesen sein mochte, es könne das doch auf die alleraugenscheinlichsten Ursachen zurückgeführt werden, wie z. B. Eifersucht, Zorn, die fortwährende Betrunkenheit usw. Doch dieser nervöse Zustand brauchte absolut keinen besonderen „Affekt“ in sich zu schließen, von dem soeben die Rede gewesen war. Und was das anbelangt, ob der Angeklagte nach links oder nach rechts hätte sehen sollen, als er in den Saal trat, so mußte der Angeklagte, nach seiner „bescheidenen Meinung“, geradeaus sehen, wie er es auch getan, denn geradeaus vor ihm saßen ja der Vorsitzende und die Gerichtspersonen, von denen jetzt sein ganzes Geschick abhing, so daß er, „indem er geradeaus sah, damit bewiesen hat, wie normal der Zustand seines Geistes im gegebenen Augenblick ist“, schloß mit einigem Feuer der junge Arzt seine „bescheidene“ Aussage.
„Bravo, Doktor!“ rief Mitjä von seinem Platz aus, „genau so war es!“
Mitjä wurde natürlich wieder zum Schweigen gebracht, aber die Meinung des jungen Arztes hatte die ausschlaggebende Wirkung auf das Gericht und auch auf das Publikum, denn, wie sich nachher zeigte, waren alle mit ihm einverstanden. Übrigens sagte Doktor Herzenstube, der auch als Zeuge vernommen wurde, ganz unerwartet und ganz plötzlich noch etwas zugunsten Mitjäs aus. Als alter Einwohner unserer Stadt, der schon lange die Familie Karamasoff kannte, machte er sehr interessante Aussagen zur Entlastung Mitjäs und darauf fügte er, als wäre ihm plötzlich wieder etwas eingefallen, hinzu:
„Indessen konnte dem armen jungen Manne ein besseres Geschick zuteil werden, denn er hatte ein gutes Herz als Kind, wie auch noch später, ich weiß es genau. Ein russisches Sprichwort lautet: ‚Wenn jemand Verstand hat, so ist es gut, wenn aber ein kluger Mensch zu ihm zum Besuch kommt, so ist es noch besser, denn dann werden es zwei kluge Menschen sein und nicht nur einer ...‘“
„‚Ein Verstand ist gut, aber zwei sind besser,‘“ unterbrach ihn ungeduldig der Staatsanwalt, der die Gewohnheit des guten Alten kannte, langsam, gedehnt und umständlich zu reden, ohne sich darüber aufzuregen, daß er andere warten ließ, der, im Gegenteil, selbst sehr von seinem schwerfälligen, fröhlich-selbstzufriedenen Humor eingenommen war. Der gute Alte sprach gern viel und gut.
„Oh, ja, ja, das habe ich ja auch gesagt,“ griff der Alte beharrlich auf, „ein Verstand ist gut, aber zwei sind besser, dasselbe Sprichwort habe ich ja auch gesagt. Doch zu ihm ist niemand mit einem Verstande gekommen, und den seinen hat er selbst herausgelassen ... Wie sagt man das? Dieses Wort – wohin er seinen Verstand ... ich habe es vergessen,“ stotterte er und griff wieder vor seinem Gesicht mit der Hand danach, „ach, ja, spazieren.“
„Spazieren?“
„Nun, ja, spazieren, das habe ich ja auch gesagt. Sein Verstand ist ihm spazieren gegangen und dabei in ein so tiefes Loch gefallen, daß er sich vollständig verloren hat. Doch nichtsdestoweniger war er ein guter und gefühlvoller Junge, oh, ich erinnere mich seiner sehr wohl, wie er noch ganz klein war, von seinem Vater auf den Hinterhof hinausgeworfen, und wie er da ohne Stiefelchen umherlief, und wie die kleinen Höschen an einem Knopf hingen ...“
Eine gefühlvolle und innige Note klang in der Stimme des guten Alten. Fetjukowitsch horchte auf, als hoffe er, sich an etwas anklammern zu können.
„Ja, ja, ich selbst war damals noch ein junger Mensch ... Ich ... nun ja, ich war damals fünfundvierzig Jahre alt, ich war vor kurzem hier angekommen, und mir tat der Junge leid, und ich fragte mich: Sollte ich ihm nicht ein Pfund ... Nun, ja, ein Pfund ... Ich habe vergessen, wie man das sagt ... Pfund von dem, was die Kinder sehr lieben, wie sagt man das, – ach nun, wie ist doch das Wort ...“ (er griff wieder mit der Hand danach) „sie wachsen an Bäumen, man sammelt sie und schenkt sie allen Kindern ...“
„Äpfel?“
„O nein, nein, nein! Ein Pfund, ein Pfund ... Äpfel kauft man nicht pfundweise ... nein, sie sind alle klein, und man bekommt viele auf ein Pfund, man legt sie in den Mund und – krach! ...“
„Nüsse?“
„Nun, ja, Nüsse, das habe ich ja auch gesagt,“ bekräftigte der Doktor gelassen, als hätte er das Wort nie im Leben gesucht, „und ich brachte ihm ein Pfund Nüsse, denn dem Jungen hatte noch niemals jemand ein Pfund Nüsse gebracht, und ich hob meinen Finger auf und sagte ihm auf Deutsch: ‚Junge! Gott der Vater,‘ er lachte und sagte: ‚Gott der Vater.‘ – ‚Gott der Sohn.‘ Er lachte noch mehr und stammelte: ‚Gott der Sohn.‘ – ‚Gott der Heilige Geist.‘ Er lachte wieder und wiederholte, so gut er konnte: ‚Gott der Hei-Heilige Geist.‘ Ich ging fort, und nach drei Tagen, wie ich an ihm vorübergehe, ruft er mir zu: ‚Onkel! Gott der Vater, Gott der Sohn ...‘ – doch Gott den Heiligen Geist hatte er vergessen, ich sagte es ihm wieder vor, und er sprach es brav nach, und er tat mir wieder sehr leid. Dann brachte man ihn fort, und ich sah ihn nicht mehr. Und siehe, es vergingen dreiundzwanzig Jahre. Eines Morgens sitze ich in meinem Kabinett, schon mit weißem Haar, und plötzlich tritt ein blühender, junger Mann bei mir ein, den ich niemals wiedererkannt hätte, doch er hob den Finger und sagte lachend auf Deutsch: ‚Gott der Vater, Gott der Sohn und Gott der Heilige Geist! Ich bin soeben angekommen und habe Sie aufgesucht, um Ihnen für das Pfund Nüsse zu danken, denn Sie allein haben mir ein Pfund Nüsse geschenkt.‘ Ich dachte dann an meine eigene glückliche Jugend im Elternhause und an diesen armen, kleinen Jungen ohne Stiefelchen auf dem Hof, und mein Herz drehte sich in mir um, und ich sagte zu ihm: ‚Du guter junger Mann, du hast dieses Pfund Nüsse nicht vergessen, das ich dir in deiner Kindheit geschenkt habe.‘ Und ich umarmte und segnete ihn. Und ich weinte. Er lachte, doch weinte er eigentlich gleichfalls, denn der Russe lacht manchmal dann, wenn er weinen will. Er weinte, ich habe es gesehen. Jetzt aber, wie traurig! ...“
„Und auch jetzt weine ich, Deutscher, auch jetzt weine ich, du gottesfürchtiger Mann!“ rief ihm plötzlich Mitjä von seinem Platze aus zu.
Auch diese Anekdote machte auf das Publikum einen freundlichen Eindruck. Doch das Hauptereignis zugunsten Mitjäs waren die Aussagen Katerina Iwanownas, die ich sofort wiedergeben werde. Und überhaupt, als die Reihe an die Entlastungszeugen kam, das heißt, an die vom Verteidiger gestellten Zeugen, da schien das Glück Mitjä zu lächeln, und was ganz besonders bemerkenswert war: – dies kam selbst dem Verteidiger ganz unerwartet. Doch vor Katerina Iwanowna wurde noch Aljoscha verhört, der sich plötzlich einer Tatsache erinnerte, die wirklich ein wichtiges Zeugnis gegen den Hauptpunkt der Beschuldigung sein konnte.