Das Haus Fedor Pawlowitsch Karamasoffs lag nicht im Zentrum der Stadt, doch war es auch nicht gerade sehr weit davon entfernt. Es war schon ziemlich alt, machte aber trotzdem einen guten Eindruck: es war einstöckig, mit einem spitzen Giebel, grau angestrichen und hatte ein rotes Blechdach. Übrigens konnte es noch lange so stehen. Im Inneren war es geräumig und gemütlich. Es gab in ihm viel verschiedene Dach- und Rumpelkammern, eigenartige Verstecke und ganz unvermutete Treppchen. Auch Ratten gab es in ihm, doch Fedor Pawlowitsch konnte sich nicht recht über sie ärgern. „’S ist doch immerhin nicht so langweilig am Abend, wenn man allein bleibt,“ pflegte er zu sagen. Er aber hatte wirklich die Angewohnheit, die Dienstboten für die Nacht in das Nebengebäude auf dem Hof zu schicken und sich dann allein im großen Hause einzuschließen. Dieses Nebengebäude auf dem Hof war gleichfalls groß und gemütlich; in ihm wurde das Essen gekocht, obgleich auch das große Haus eine Küche hatte, doch Fedor Pawlowitsch konnte den Küchengeruch nicht vertragen, und so wurden denn die Speisen im Winter wie im Sommer über den Hof gebracht. Überhaupt war das Haus für eine große Familie gebaut, und man hätte das Fünffache an Herrschaft und Dienerschaft bequem in ihm unterbringen können; doch damals wohnten im großen Hause nur Fedor Pawlowitsch und sein zweiter Sohn, Iwan Fedorowitsch, und im Nebengebäude nur die drei Bedienten: der alte Grigorij, seine Frau, die alte Marfa, und der Diener Ssmerdjäkoff, ein noch junger Mensch. Ich sehe, daß ich etwas ausführlicher von diesen drei Dienstboten berichten muß. Von dem alten Grigorij Wassiljewitsch Kutusoff habe ich übrigens schon gesprochen; das war ein strenger, starrköpfiger Mensch, der hartnäckig und unablenkbar seine Ziele verfolgte, wenn nur so ein Ziel aus irgendwelchen Gründen – häufig aus erstaunlich unlogischen – vor ihm als unwandelbare Wahrheit erschien. Überhaupt war er ein ehrlicher, unbestechlicher und treuer Diener. Sein Weib, Marfa Ignatjewna, wollte nach der Aufhebung der Leibeigenschaft unsäglich gern von Fedor Pawlowitsch fortgehen und nach Moskau ziehen, um dort irgendein kleines Geschäft zu gründen (sie hatten beide ein kleines Kapital), und kam ihrem Mann immer wieder mit diesem Plan, wenn sie sich auch sonst stets widerspruchslos vor seinem Willen beugte; Grigorij aber behauptete, daß das Weib lüge, „denn jedes Weib ist unehrlich“, und daß es ihnen nicht zustände, den früheren Herrn, wie er auch sein mag, zu verlassen, denn „das ist jetzig also unsere Pflicht“.
„Begreifst du auch, was das ist – Pflicht?“ wandte er sich an Marfa Ignatjewna.
„Was Pflicht ist, das schon, Grigorij Wassiljewitsch; aber wo hier etwas von Pflicht sein soll, davon begreife ich nichts,“ antwortete Marfa Ignatjewna.
„Nun, so begreif’s dann nicht; es bleibt doch so, wie’s ist. Schweig aber lieber.“
Und dabei blieb es denn auch: sie zogen nicht fort, und Fedor Pawlowitsch bestimmte für sie ein Monatsgehalt, zwar kein großes, aber er zahlte es doch aus. Zudem wußte Grigorij, daß er auf seinen Herrn einen gewissen Einfluß hatte; das fühlte er, und so war es auch in der Tat: der schlaue und eigensinnige Fedor Pawlowitsch, der, wie er sich selbst ausdrückte, „in manchen Lebensdingen“ einen sehr festen Charakter bewies, war zu seiner eigenen nicht geringen Verwunderung wiederum äußerst charakterschwach in gewissen anderen „Lebensdingen“. Er wußte selbst ganz genau, in welchen Dingen er es war; wußte es, und fürchtete sich vor vielem. In diesen gewissen „Lebensdingen“ hieß es, auf der Hut sein, und dann war es schwer, ohne einen zuverlässigen Menschen auszukommen; Grigorij aber war der zuverlässigste von allen. Es kam sogar vor, daß Fedor Pawlowitsch mitunter auch Prügel verabfolgt wurden, und zwar gehörige, und dann hatte ihm immer Grigorij herausgeholfen und nachher eine Predigt gehalten. Doch Prügel allein schreckten Fedor Pawlowitsch nicht: es gab dagegen höhere Fälle, und sogar sehr zarte und verzwickte, in denen Fedor Pawlowitsch selbst nicht einmal imstande gewesen wäre, dieses ungewöhnliche Bedürfnis nach einem treuen und nahestehenden Menschen, das er dann augenblicks in sich fühlte, zu erklären. Das waren fast krankhafte Augenblicke: Der verderbte und in seiner Wollust oftmals wie ein böses Insekt grausame Fedor Pawlowitsch empfand zuweilen, wenn er trunken war, eine geistige Angst und eine moralische Erschütterung, die beinahe physisch, wenn man sich so ausdrücken kann, auf seine Seele wirkten. „Die ganze Seele sitzt mir dann zitternd in der Kehle,“ äußerte er sich zuweilen über diese sonderbaren Anwandlungen. Und in diesen Augenblicken liebte er es, wenn irgendwo in der Nähe, es brauchte nicht einmal in seinem Zimmer zu sein, meinetwegen auch nur im Nebengebäude auf dem Hof, ein ihm ergebener Mensch war, einer, der aber keineswegs ihm glich, nicht verdorben, sondern ehrlich und streng war, der selbst die ganze Liederlichkeit mit ansah und alle Geheimnisse kannte, doch aus Ergebenheit und Anhänglichkeit alles zuließ, und – die Hauptsache – keine Vorwürfe machte und mit nichts drohte, weder mit dem Diesseits noch mit dem Jenseits, im Notfalle ihn aber beschützte – vor wem? Vor irgendeinem Unbekannten, doch Furchtbaren und Gefährlichen. Es mußte unbedingt gerade ein anderer Mensch sein, ein alter und freundschaftlicher, den brauchte er, um ihn im „kranken Augenblick“ rufen zu können, natürlich nur, um sein Gesicht zu sehen, meinetwegen auch ein Wort mit ihm zu wechseln, irgendein nebensächliches: ärgerte er sich deswegen nicht, dann werde es dem Herzen leichter, ärgerte er sich aber, nun, dann wurde man etwas trauriger! Es kam vor – übrigens nur äußerst selten –, daß Fedor Pawlowitsch sogar mitten in der Nacht über den Hof zu Grigorij ging und ihn auf einen Augenblick zu sich rief. Der kam dann auch; doch Fedor Pawlowitsch sprach mit ihm dummes Zeug und entließ ihn bald wieder, nicht selten sogar noch mit einer spöttischen Bemerkung oder einem Scherz, selbst aber legte er sich, kräftig ausspuckend, schlafen und schlief dann den Schlaf eines Gerechten. Auch nach der Ankunft Aljoschas geschah mit Fedor Pawlowitsch etwas Ähnliches. Aljoscha „eroberte sein Herz“ sofort durch den einen Umstand, daß er „lebte, alles sah und nichts verurteilte“, und außerdem noch durch das Unglaubliche: daß er nicht die geringste Verachtung für ihn, den Alten, zeigte, sondern im Gegenteil, immer freundlich war und eine ganz natürliche, offenherzige Anhänglichkeit an ihn, der sie doch so wenig verdient hatte, zu haben schien. Das war für den alten Herumtreiber und familienlosen Wüstling eine Überraschung, die ihn ganz stutzig machte: nein, das kam für ihn, der bis dahin nur Unzucht geliebt hatte, doch zu unerwartet! Als Aljoscha in das Kloster ging, gestand er sich, daß er etwas begriffen hatte, was er bis dahin nicht hatte begreifen wollen.
Ich erwähnte schon einmal, wie Grigorij, der Diener, Adelaida Iwanowna, die erste Frau Fedor Pawlowitschs und die Mutter Dmitrij Fedorowitschs gehaßt, und wie er dagegen die zweite Frau, die Klikuscha Ssofja Iwanowna, sogar gegen seinen Herrn verteidigt hatte und überhaupt gegen jeden, der es sich einfallen ließ, ein leichtfertiges oder schlechtes Wort über sie zu sagen. Sein Mitleid mit dieser unglücklichen Frau ließ es ihn allmählich als seine heilige Pflicht empfinden, sie zu beschützen, so daß er auch noch nach zwanzig Jahren keine einzige schlechte Anspielung, einerlei von wem, ertragen konnte. Äußerlich war Grigorij ein kalter Mensch mit ziemlich wichtiger Miene, der nur wohlbedachte, niemals leichtsinnige Worte sprach, wofern er überhaupt sprach. Unmöglich war es gleichfalls, nach dem Äußeren zu schließen, ob er seine ebenso wortkarge, ihm stets ergebene Marfa Ignatjewna liebte oder nicht; er aber liebte sie wirklich, und sie fühlte das wohl. Diese Marfa Ignatjewna war nicht nur keine dumme Frau, sondern war vielleicht sogar klüger als ihr Mann, oder wenigstens in Lebensfragen weit vernünftiger; indessen unterwarf sie sich ihm widerspruchslos schon gleich zu Anfang der Ehe und achtete ihn selbstverständlich wegen seiner, wie sie meinte, geistigen Überlegenheit. Bemerkenswert ist, daß sie beide ihr ganzes Leben lang auffallend wenig miteinander sprachen, es sei denn über die notwendigsten alltäglichen Dinge. Grigorij bedachte alles allein, und Marfa Ignatjewna hatte schon längst ein für allemal begriffen, daß ihr Mann ihrer Ratschläge nicht bedurfte, dafür aber ihr Schweigen zu schätzen wußte und das auch für ihr Bestes hielt. Schlagen tat er sie eigentlich nicht, abgesehen von einem einzigen Ausnahmefall. Im ersten Jahr der Ehe Adelaida Iwanownas mit Fedor Pawlowitsch waren einmal auf dem Gutshof die damals noch leibeigenen jungen Mädchen und Weiber versammelt worden, um der Herrschaft vorzutanzen und zu singen. Der Chor begann „Auf grünen Wiesen und Auen“, und plötzlich sprang Marfa Ignatjewna, die damals noch ein junges Weib war, vor und tanzte die „Rußkaja“ in einer ganz besonderen Weise, nicht so, wie das Volk sie tanzt, sondern wie es ihr früher, als sie noch Leibeigene der reichen Miussoffs gewesen war, zu den Theateraufführungen im Herrenhause ein aus Moskau bestellter Ballettmeister gezeigt hatte. Grigorij sah, wie sein Weib tanzte; doch nach einer Stunde belehrte er sie eines Besseren, indem er auf sie einhieb und sie an den Haaren zog. Damit war das Prügeln abgetan; es wiederholte sich niemals mehr, denn Marfa Ignatjewna hatte sich geschworen, nie wieder die „Rußkaja“ zu tanzen.
Kinder schenkte ihnen Gott leider nicht; sie hatten zwar einmal ein Kleines gehabt, aber das war alsbald gestorben. Grigorij jedoch liebte kleine Kinder sehr und verheimlichte das nicht einmal, das heißt, er schämte sich nicht, es zu zeigen. Den kleinen dreijährigen Dmitrij Fedorowitsch hatte er, als dessen Mutter fortgelaufen war, zu sich genommen und hatte sich mit ihm fast ein ganzes Jahr lang abgegeben, ihn eigenhändig gekämmt, gewaschen und im kleinen Waschtrog gebadet. Darauf hatte er sich auch mit den zwei anderen Kleinen, Iwan und Aljoscha, abgeplagt, was ihm später die Ohrfeige von der Generalin eintrug; doch davon habe ich ja schon gesprochen. Das eigene Kindchen aber erfreute ihn nur mit der Hoffnung, solange Marfa Ignatjewna noch schwanger war. Als aber der Junge geboren wurde, da erfüllte er sein Herz mit Angst und Trauer: denn das Kind hatte sechs Finger. Als Grigorij das sah, war er dermaßen erschrocken und erschüttert, daß er bis zur Taufe kein Wort mehr sprach und in den Garten ging, um dort mit sich allein zu sein. Es war gerade Frühling, und so grub er denn im Gemüsegarten Beete. Am dritten Tage mußte das Kind getauft werden; Grigorij hatte inzwischen Zeit gehabt, sich zu bedenken. Als er ins Haus trat, wo sich schon die ganze Verwandtschaft und die Gäste versammelt hatten und sogar Fedor Pawlowitsch in höchsteigener Person als Pate erschienen war, erklärte er plötzlich, daß man das Kind „eigentlich überhaupt nicht taufen sollte“ – verbreitete sich jedoch nicht weiter über seine Meinung, sondern blickte nur stumpf und aufmerksam auf den Popen.
„Warum nicht?“ erkundigte sich in heiterer Verwunderung der Geistliche.
„Weil ... das ist ein Drache ...“ brummte schließlich Grigorij.
„Wieso, was für ein Drache?“
Grigorij schwieg eine Zeitlang.
„Eine Verwechslung der Natur ...“ murmelte er, wenn auch sehr undeutlich, so doch fest überzeugt; augenscheinlich wollte er sich nicht darüber aussprechen.
Man lachte natürlich und taufte das arme Kind. Grigorij betete eifrig, änderte aber seine Meinung über das Neugeborene nicht im geringsten. Übrigens verhinderte er nichts, nur bemühte er sich in den ganzen zwei Wochen, die das schwächliche Kindchen lebte, dasselbe überhaupt nicht zu bemerken, und verließ, so oft er nur konnte, das Haus. Als aber der Knabe nach zwei Wochen am Milchfieber starb, da legte er ihn sorgfältig in den kleinen Sarg, blickte ihn in tiefer Trauer an, und als sein kleines Grab zugeschüttet wurde, da kniete er nieder und verneigte sich vor dem Grabe. Seit der Zeit sprach er lange Jahre kein einziges Mal von seinem Kinde, und selbst Marfa Ignatjewna wagte nicht, in seiner Gegenwart ihres toten Kleinen zu erwähnen; konnte sie aber sonst mit irgend jemandem von ihrem „Kindchen“ sprechen, so tat sie es immer nur flüsternd, selbst wenn Grigorij überhaupt nicht im Hause war. Es fiel ihr auf, daß Grigorij Wassiljewitsch seit jener Beerdigung sich ganz besonders mit „Religiösem“ zu beschäftigen begann, das Leben der Heiligen las, doch nur still für sich, wozu er dann seine silberne Brille mit den großen, runden Gläsern aufsetzte. Nur selten las er laut vor, höchstens zur Fastenzeit. Er liebte das Buch Hiob sehr, wußte sich von irgend jemandem die mystischen „Predigten unseres von Gott erleuchteten Paters Issaak Ssirin“ zu verschaffen, las sie unermüdlich jahrelang, verstand so gut wie überhaupt nichts davon und schätzte vielleicht gerade darum dieses Buch am meisten. In der letzten Zeit begann er sich für die Geißler[12] zu interessieren, von denen sich einige in der Nachbarschaft eingefunden hatten. Er war sichtlich erschüttert, fand es aber doch nicht für richtig, zu einem anderen Glauben überzutreten. Seine Belesenheit „in göttlichen Dingen“ äußerte sich nur auf seinem Gesicht in einem noch wichtigeren Ausdruck.
Vielleicht war er auch zum Mystizismus geneigt. Und da mußte es noch geschehen, daß ihn nach der Geburt seines sechsfingrigen Sohnes und dessen Tode eine ganz sonderbare Überraschung erwartete, die, wie er sich selbst äußerte, in seiner Seele auf ewig einen „Stempel“ hinterließ. Es war in der Nacht desselben Tages, an dem der kleine Sechsfingrige begraben worden war, als Marfa Ignatjewna plötzlich erwachte und das Weinen eines neugeborenen Kindes zu vernehmen glaubte. Sie erschrak und weckte ihren Mann. Grigorij horchte hinaus, meinte aber, daß eher jemand stöhne, „wahrscheinlich ein Weib“. Er erhob sich und kleidete sich an. Es war eine ziemlich dunkle Mainacht; als er auf die Treppe hinaustrat, hörte er deutlich, daß das Gestöhn aus dem Garten kam. Die Hoftür aber zum Garten wurde jeden Abend verschlossen, anders jedoch, als durch diese Tür oder unmittelbar aus dem Hause, konnte man nicht in den Garten gelangen, denn er war von einem hohen, starken Zaun umgeben. Grigorij kam zurück, nahm den Gartenschlüssel und die Laterne und ging schweigend hinaus in den Garten, ohne auf das Entsetzen Marfa Ignatjewnas zu achten, die immer noch behauptete, sie höre das Weinen eines kleinen Kindes, und das sei bestimmt ihr Söhnchen, das sie rufe. Hier hörte er deutlich, daß das Gestöhn aus ihrem kleinen Badehause, das nicht weit von der Hoftür im Garten stand, kam, und daß es wirklich eine Frauenstimme war. Als er die Tür des Häuschens öffnete, bot sich ihm ein Schauspiel, das ihn erstarren machte: die Stadtverrückte, die sich überall herumtrieb und allen bekannt war, namens Lisaweta Ssmerdjäschtschaja, die auf unerklärliche Weise in dieses Badehaus gekommen war, hatte gerade ein Kind geboren. Das Neugeborene lag neben ihr, sie aber wand sich in Todeskrämpfen. Sie sprach nichts, sie konnte ja überhaupt nicht richtig sprechen. Doch von ihr muß ich etwas mehr erzählen.