I. Der Staretz Sossima und seine Gäste

Als Aljoscha mit Schmerz und Aufregung im Herzen die Zelle des Staretz betrat, blieb er im ersten Augenblick vor Verwunderung stehen: statt einen sterbenden Kranken vorzufinden, der vielleicht schon besinnungslos war (wie er die ganze Zeit gefürchtet hatte), erblickte er ihn plötzlich im Lehnstuhl sitzend, wenn auch anscheinend etwas erschöpft und schwach, so doch jedenfalls mit frohem Antlitz, und umgeben von Gästen, mit denen er eine ruhig heitere Unterhaltung führte. Übrigens war er erst eine viertel Stunde vor Aljoschas Ankunft aufgestanden. Die Gäste hatten sich schon früher in der Zelle versammelt und auf sein Erwachen gewartet, denn Pater Paissij hatte ihnen gesagt, daß der Lehrer sich gewiß noch erheben werde, um sich noch einmal mit allen, die seinem Herzen teuer waren, auszusprechen, wie er dies selbst am Morgen gewünscht und versprochen hatte. An dieses Versprechen, wie überhaupt an jedes Wort des sterbenden Staretz glaubte Pater Paissij unerschütterlich, so daß er sogar dann, wenn er ihn schon bewußtlos und sterbend gesehen und gleichwohl sein Versprechen, noch einmal aufzustehen, gehabt hätte, ja daß er dem Tode selbst nicht geglaubt, sondern immer noch erwartet haben würde, der Sterbende werde sich erheben und sein Versprechen halten. Am Morgen aber hatte ihm der Staretz vor dem Einschlafen gesagt: „Ich werde nicht früher sterben, als bis ich noch einmal vorher, ihr Geliebten meines Herzens, eure lieben Gesichter geschaut und vor euch meine Seele ausgeschüttet habe.“ Die vier Mönche, die sich zu dieser letzten Unterhaltung beim Staretz eingefunden hatten, waren seine Freunde, die innig an ihm hingen: die beiden Priestermönche Pater Jossiff und Pater Paissij und der Priestermönch Pater Michail. Es war das der Vorsteher der Einsiedelei, eigentlich noch kein alter Mann, auch war er nicht gerade sehr gelehrt, dafür aber ein fester Charakter mit schlichtem, unerschütterlichem Glauben und von strengem Äußeren; sein Herz war von tiefster Güte durchdrungen, die er jedoch äußerlich fast wie aus einem gewissen Schamgefühl heraus zu verbergen suchte. Der vierte Gast war ein kleines, altes, einfaches Mönchlein aus niedrigstem Bauernstande, Bruder Anfim, der kaum lesen und schreiben konnte, still und schweigsam war, selten mit jemandem sprach, der Demütigste aller Demütigen. Er hatte das Aussehen eines Menschen, der durch etwas Großes und Schreckliches, für seinen Geist Unfaßliches auf ewig erschreckt worden ist. Diesen gleichsam vor Furcht bebenden Menschen liebte der Staretz Sossima sehr und behandelte ihn stets mit außergewöhnlicher Hochachtung. Trotzdem hatte Pater Anfim vielleicht in seinem ganzen Leben mit niemandem weniger geredet als mit dem Staretz, obgleich er viele Jahre mit ihm allein als Pilger durch das heilige Rußland gewandert war. Das aber war schon vor langer Zeit gewesen, ungefähr vor vierzig Jahren, als der Staretz Sossima erst seine Laufbahn als Mönch in einem armen, fast ganz unbekannten Kostromaschen Kloster begonnen hatte. Bald darauf begleitete ihn Pater Anfim auf seinen Wanderungen zum Sammeln von Opfergaben für ihr armes Klosters. Sie alle, der Staretz wie seine Gäste, hatten sich im zweiten Zimmer der Zelle versammelt, in dem auch das Bett stand. Dieses Zimmer war, wie ich schon einmal erwähnte, sehr klein, so daß alle vier (außer dem Novizen Porfirij, der die ganze Zeit über stand) um den Lehnstuhl des Staretz auf den Stühlen, die aus dem ersten Zimmer herbeigebracht waren, kaum Platz fanden. Draußen dunkelte es bereits, und das Zimmer wurde nur durch die Lämpchen und Wachslichte vor den Heiligenbildern erleuchtet. Als der Staretz Aljoscha erblickte, der beim Eintreten an der Tür stehen geblieben war, lächelte er freudig und streckte ihm die Hand entgegen.

„Sei gegrüßt, mein Stiller, sei gegrüßt, mein Lieber, da bist ja auch du! Ich wußte doch, daß du kommen würdest.“

Aljoscha trat auf ihn zu, verbeugte sich vor ihm bis zur Erde und brach in Tränen aus. Sein Herz wollte zerspringen; seine Seele erbebte, und am liebsten hätte er laut aufgeschluchzt.

„Was tust du? warte noch mit dem Weinen,“ sagte der Staretz lächelnd und legte ihm die rechte Hand auf den Scheitel, „siehe, ich sitze und plaudere hier, vielleicht werde ich noch zwanzig Jahre leben, wie es mir gestern die Gute, Liebe aus Wyschegorje, mit dem Töchterchen Lisaweta auf dem Arme, gewünscht hat. Herr, segne sie und ihr Töchterchen Lisaweta!“ (er bekreuzte sich). „Porfirij, hast du die Gabe dorthin gebracht, wie ich es dir befahl?“ Ihm waren die sechzig Kopeken eingefallen, die ihm seine opferfreudige Verehrerin mit der Bitte übergeben hatte, sie „einer, die ärmer ist als ich“, zu spenden. Solche Spenden, die man sich freiwillig auferlegt, müssen durchaus durch eigene Arbeit erworben werden, um ein Bußopfer zu sein. Der Staretz hatte Porfirij damit noch am selben Abend zu einer armen Bürgersfrau geschickt, einer Witwe mit Kindern, die durch einen Brand alles verloren hatte. Porfirij meldete sofort, daß er die Sache besorgt und das Geld, wie er beauftragt war, „von einer unbekannten Wohltäterin“ überbracht habe.

„Steh auf, mein Lieber,“ wandte sich der Staretz wieder zu Aljoscha, „laß mich dich ansehen. Warst du bei den Deinen und sahst du deinen Bruder?“

Aljoscha schien es sonderbar, daß er so bestimmt nur nach einem von seinen Brüdern fragte – aber nach welchem? Folglich hatte er ihn gestern wie auch heute nur um dieses Bruders willen fortgeschickt.

„Den einen der Brüder habe ich gesehen,“ antwortete Aljoscha.

„Ich meine den von gestern, den älteren, vor dem ich niederfiel.“

„Den habe ich gestern gesehen, heute aber konnte ich ihn nicht finden,“ sagte Aljoscha.

„Suche ihn eiligst auf, morgen gehe wieder hin, beeile dich, laß alles andere bleiben und beeile dich. Vielleicht gelingt es dir noch, etwas Schrecklichem vorzubeugen. Denn wisse: ich bin gestern wegen des großen Leidens, das ihn in Zukunft erwartet, vor ihm niedergefallen.“

Er verstummte plötzlich und versank in Gedanken. Sonderbar waren seine Worte. Der Pater Jossiff, der Zeuge des gestrigen Kniefalls gewesen war, und der Pater Paissij tauschten einen Blick aus. Aljoscha aber konnte nicht an sich halten:

„Mein Vater und mein Lehrer,“ stieß er in ungewöhnlicher Aufregung hervor, „unklar sind mir Eure Worte ... Welch ein Leiden erwartet ihn?“

„Frage nicht. Mir schien gestern etwas Schreckliches ... In seinem Blick konnte man sein ganzes Schicksal lesen. Nur ein Blick war es, und in diesem Augenblick erschrak ich in meinem Herzen über das, was dieser Mensch sich selbst bereitet. Ein- oder zweimal in meinem Leben habe ich diesen Gesichtsausdruck gesehen ... einen Gesichtsausdruck, der das ganze Schicksal dieser Menschen kennzeichnete, und wehe! das sie auch ereilte. Ich habe dich zu ihm geschickt, Alexei, denn ich dachte, daß das Bruderantlitz ihn retten könnte. Doch alles kommt vom Herrn, auch alle unsere Geschicke. ‚Wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und nicht stirbt, so bleibt es allein; stirbt es aber, so bringt es viele Früchte.‘ Denke daran, mein Sohn. Dich aber, Alexei, habe ich oft in Gedanken um deines Blickes willen gesegnet, damit du es weißt,“ sagte der Staretz, und ein schwaches Lächeln huschte über seine Lippen. „Oft denke ich von dir: Du wirst wie ein Einsiedler aus diesen Mauern hinausgehen in die Welt. Viele Gegner wirst du haben, aber selbst deine Feinde werden dich lieben. Viel Leid wird dir das Leben bringen, doch nur durch Leid wirst du glücklich sein, und nur um des Leidens willen wirst du das Leben segnen, und du wirst auch andere zwingen, es zu segnen – was das wichtigste ist. Siehe, das bist du. Meine Väter und Lehrer,“ wandte er sich gerührt lächelnd an seine Freunde – „bis zu dieser Stunde habe ich niemandem gesagt, auch ihm selbst nicht, warum der Anblick dieses Jünglings mir so lieb war. Jetzt werde ich es sagen: Sein Antlitz war mir eine Erinnerung und eine Prophezeiung. In der Morgenröte meiner Tage, als ich noch ein ganz kleines Kind war, hatte ich einen älteren Bruder; es war ein Jüngling, der mit siebzehn Jahren starb. Später, als ich mein Leben begann, überzeugte ich mich immer mehr, daß dieser Bruder in meinem Schicksal gleichsam ein Hinweis zu etwas Höherem gewesen war, denn wäre er in meinem Leben nicht gewesen, so wäre ich vielleicht nie auf den Gedanken gekommen, die Mönchskutte zu wählen und diesen Weg zu betreten, der mir jetzt so teuer ist. Diese Erscheinung kreuzte in meiner Kindheit meinen Weg, und siehe, am Ende meiner Tage tritt sie wie wiedererstanden aufs neue mir entgegen. Wunderbar ist es, meine Väter und Lehrer, daß Alexei, auch wenn er dem Antlitze nach ihm weniger ähnlich wäre, geistig ihm doch so gleicht, daß ich ihn oft für jenen Jüngling, für meinen Bruder gehalten habe, der am Ende meiner Tage mir geheimnisvoll erschienen ist, zur Erinnerung und zur Erleuchtung. Ich habe mich selbst oft über diesen meinen Gedanken gewundert. Merke es dir, Porfirij,“ wandte er sich an den bedienenden Novizen. „Oft sah ich auf deinem Gesicht Unmut darüber, daß ich Alexei mehr liebte als dich. Jetzt weißt du, warum das geschah, doch liebe ich auch dich. Wisse, ich war oft betrübt, daß du darüber grolltest. Euch aber, liebe Gäste, will ich von diesem Jüngling, meinem Bruder erzählen, denn seine Erscheinung war in meinem Leben die teuerste, die prophetischste und die ergreifendste. Mein Herz ist von Rührung ergriffen, und mir ist, als durchlebte ich in dieser Minute nochmals mein ganzes Leben ...“

Hier muß ich bemerken, daß dieses Gespräch des Staretz mit seinen Gästen, am letzten Tage seines Lebens, später von seinen Anhängern aufgeschrieben und aufbewahrt worden ist. Alexei Fedorowitsch Karamasoff schrieb es einige Tage nach dem Tode des Staretz aus dem Gedächtnis nieder. Ob er nun bloß das letzte Gespräch von damals aufgeschrieben oder einiges aus den früheren Erzählungen seines Lehrers noch hinzugefügt hat, das kann ich nicht feststellen. In der Niederschrift zieht sich das Gespräch des Staretz ununterbrochen hin, als ob er sein Leben den Freunden in der Form einer Erzählung wiedergegeben hätte, während es sich doch in Wirklichkeit ohne Zweifel anders verhalten hat. Die Unterhaltung an diesem Abend war eine allgemeine gewesen; denn wenn auch die Gäste ihren Meister nur wenig unterbrachen, so mischten sie sich doch zuweilen in das Gespräch ein, teilten auch ihre Meinungen und Erlebnisse mit, abgesehen davon, daß der Staretz ununterbrochen seine Erzählung gar nicht hätte zu Ende führen können, da er viel zu erschöpft war, die Stimme ihm versagte und er sich von Zeit zu Zeit aufs Bett legen mußte, um sich zu erholen, während die Gäste ihren Platz nicht verließen. Ein- oder zweimal wurde die Unterhaltung durch Lesen des Evangeliums unterbrochen. Pater Paissij las vor. Bemerkenswert ist auch noch, daß niemand von ihnen ahnte, wie nahe sein Ende war – daß er noch in dieser Nacht sterben werde. Er hatte an diesem letzten Abend seines Lebens nach einem tiefen Nachmittagsschlaf neue Kräfte geschöpft, die ihn während des langen Gespräches mit seinen Freunden aufrecht erhielten. Doch waren es, wie sich erwies, seine letzten Kräfte gewesen ... Aber davon später. Jetzt will ich nur mitteilen, daß ich mich hier bei der Erzählung des Staretz auf die Niederschrift Alexei Fedorowitsch Karamasoffs beschränke, ohne auf alle Einzelheiten der Unterhaltung mit seinen Gästen einzugehen. So ist sie übersichtlicher und nicht so ermüdend, obgleich, ich wiederhole es, Aljoscha sie nicht wörtlich wiedergegeben hat.

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