IV. Die Hymne und das Geheimnis

Es war schon sehr spät, als Aljoscha am Gefängnistor schellte. Es begann schon stark zu dunkeln – sind doch die Novembertage nicht lang. Aljoscha wußte aber, daß man ihn ungehindert zu Mitjä durchlassen werde. Vorsichtsmaßregeln werden in unserem Städtchen nicht anders als überall in der Welt beobachtet. Anfangs natürlich, als die Voruntersuchung noch nicht abgeschlossen war, da gab es noch verschiedene Schwierigkeiten zu überwinden, wenn man zu Mitjä gelangen wollte, doch mit der Zeit wurden diese Formalitäten, wenigstens für die Verwandten, bedeutend abgeschwächt, und schließlich wurden mit einigen von den Besuchern regelrechte Ausnahmen gemacht. Ja, zuweilen fanden die Zusammenkünfte in dem dazu bestimmten Zimmer so gut wie unter vier Augen statt. Übrigens wurden diese Ausnahmen doch nur mit wenigen gemacht: nur mit Gruschenka, Aljoscha und Rakitin. Gruschenka hatte das dem besonderen Wohlwollen unseres alten Polizeichefs Michail Makarowitsch zu danken. Dem Alten lagen immer noch die bösen Worte, mit denen er sie in Mokroje angeschrien hatte, auf der Seele. Später, als er den ganzen Sachverhalt erfahren hatte, änderte er seine Meinung über sie. Und sonderbar: obgleich er von Mitjäs Schuld fest überzeugt war, beurteilte er ihn, seitdem der „Verbrecher“ hinter Schloß und Riegel saß, doch viel nachsichtiger, empfand schließlich sogar fast Mitleid mit ihm. „Es war vielleicht ein herzensguter Mensch,“ meinte er, „hat sich aber durch Trunk und Ausschweifung selbst zugrunde gerichtet, ja, ja, wie’n oller Schwede bei Poltawa, jetzt ist nichts mehr zu machen!“ Was aber Aljoscha betrifft, so hatte ihn Michail Makarowitsch, der ihn schon lange kannte, aufrichtig ins Herz geschlossen, und Rakitin, der Mitjä in der Folge immer häufiger besuchte, war wiederum ein guter Bekannter von seinen Enkelinnen, die er oft besuchte; außerdem gab er im Hause des Gefängnisinspektors Privatstunden. Aljoscha war gleichfalls gut mit dem alten Inspektor bekannt, da jener gern mit ihm über „Allwissenheit im allgemeinen“ sprach. Iwan Fedorowitsch aber, oh, der! – vor dem hatte der Inspektor nicht nur unermeßlichen Respekt, vor dem fürchtete er sich geradezu, besonders was seine „philosophischen Urteile“ betraf, obwohl er selbst ein großer Philosoph war – versteht sich: „so weit der Verstand dazu ausreicht“. Für Aljoscha aber empfand er eine unbezwingliche Sympathie. Im letzten Jahre hatte sich der Alte an die apokryphen Evangelien gemacht und war dann Sonntags immer ins Kloster gegangen, um seinem jungen Freunde seine Eindrücke und Gedanken mitzuteilen. Zuweilen hatte er mit ihm und den Priestermönchen stundenlang disputiert. So hätte denn Aljoscha, wenn ihm vom Wächter der Eintritt verwehrt worden wäre, nur zum Inspektor zu gehen gebraucht, um trotz der späten Stunde noch seinen Bruder sehen zu können. Zudem hatten sich alle im Gefängnis, bis zum letzten Wächter, an ihn gewöhnt, und ein jeder von ihnen sah ihn gern. Die Wache hatte natürlich nichts dagegen, wenn er nur die Erlaubnis vom Vorgesetzten hatte. Mitjä kam, wenn er gerufen wurde, stets aus seiner Zelle in den unteren Stock, in den Raum, der für den Besuch bestimmt war. Als Aljoscha eintreten wollte, stieß er fast mit Rakitin zusammen, der Mitjä gerade verließ. Beide sprachen sie laut. Mitjä, der ihn zur Tür begleitete, lachte herzlich über irgend etwas, Rakitin aber schien etwas vor sich hin zu brummen. Es war Aljoscha besonders in der letzten Zeit aufgefallen, daß Rakitin ihn nicht gerne sah, jedenfalls vermied, mit ihm zu sprechen, und kaum seinen Gruß erwiderte. Als Rakitin jetzt plötzlich Aljoscha erblickte, runzelte er mit ganz besonders geschäftiger Miene die Stirn, blickte wie suchend zur Seite und tat, als ob er ganz mit dem Zuknöpfen seines großen Paletots, den ein warmer Pelzkragen zierte, beschäftigt wäre. Darauf machte er sich daran, seinen Schirm zu suchen.

„Wenn ich nur nichts von meinen Sachen vergesse,“ brummte er vor sich hin – einzig um etwas zu sagen.

„Gib nur acht, daß du von fremden Sachen nichts vergißt,“ witzelte Mitjä und lachte über seine Bemerkung.

Rakitin war sofort beleidigt.

„Das empfiehl lieber deinen Karamasoffs, deinen Leibeigenschaftspartisanen, aber nicht Rakitin!“ rief er aufbrausend vor Wut.

„Was fehlt dir? Ich habe doch nur gescherzt ... Pfui Teufel! So sind sie ja alle,“ sagte er darauf zu Aljoscha, indem er mit dem Kopf noch zur Seite auf Rakitin wies, der sich schnell entfernte; „er hat die ganze Zeit hier gesessen, gelacht und ist fröhlich gewesen, und dann plötzlich das reine Noli me tangere! Dir hat er nicht einmal mit dem Kopf zugenickt. Habt ihr euch beide denn ganz überworfen? Warum kommst du heute so spät? Ich habe dich vom Morgen an nicht etwa nur erwartet, ich habe mich geradezu nach dir gesehnt, wie, wie, ich weiß nicht wie! Nun, macht nichts. Wir können es ja jetzt nachholen.“

„Warum besucht er dich jetzt so oft? Hast du dich mit ihm etwa angefreundet?“ fragte Aljoscha, indem er gleichfalls mit dem Kopf auf die Tür wies, durch die Rakitin hinausgegangen war.

„Ich mich mit diesem Michail angefreundet? Nein, mein Lieber ... Dieses Schwein! Er hält mich für einen ... Schuft. Scherz verstehen diese Leute gleichfalls nicht – das ist das Charakteristischste. Niemals wird diese Sorte Menschen Scherz verstehen. Trocken sind ihre Seelen, trocken und flach und platt, ganz wie mir damals die Gefängniswände erschienen, als ich hergefahren wurde und zum erstenmal diese Mauern sah. Aber er ist nicht dumm, durchaus nicht dumm. Nun, Alexei, mein Kopf ist jetzt verloren!“

Er setzte sich auf die Bank und zog Aljoscha neben sich nieder.

„Ja, morgen wird das Urteil gesprochen. Aber hast du denn wirklich so alle Hoffnung verloren, Mitjä?“ fragte Aljoscha schüchtern und mitleidig.

„Wieso, wie meinst du das?“ Mitjä blickte ihn seltsam unbestimmt an. „Ah so, du sprichst vom Gericht! Na, zum Teufel damit! Wir haben beide bis jetzt nur über Dummheiten gesprochen, immer nur von diesem Gericht, über das Wichtigste aber habe ich geschwiegen, wenn ich mit dir zusammen war. Ja, morgen wird man über mich zu Gericht sitzen, nur habe ich nicht in der Beziehung gesagt, daß mein Kopf verloren sei. Nicht mein Kopf ist verloren, sondern das, was im Kopf war, das ist verloren. Warum siehst du mich so kritisch an?“

„Wovon redest du, Mitjä?“

„Ideen, Ideen, das ist es! Ethik! Was ist das eigentlich für ein Gewächs, die Ethik?“

„Ethik?“ fragte Aljoscha verwundert.

„Ja, das ist wohl irgendeine Wissenschaft, aber was für eine ist es nun eigentlich?“

„Ja, es gibt eine solche Wissenschaft ... nur ... ich muß gestehen, ich kann es dir nicht so ganz erklären, was für eine das ist.“

„Rakitin weiß es. Der Schuft weiß ziemlich viel ... ach nun, hol ihn der Teufel! Mönch wird er jedenfalls nicht werden. Er spitzt sich auf Petersburg. Dort, sagt er, will er Kritiken schreiben, und zwar mit einer edlen Tendenz. Nun was, meinen Segen hat er, wird vielleicht noch nützlich sein und sich eine Karriere bauen. Oh, was das Karrieremachen betrifft, darin sind diese Leute Meister! Zum Teufel mit der Ethik. Ich aber bin verloren, Alexei, ich! – begreifst du das, du Kind Gottes! Ich liebe dich am meisten von allen in der Welt. Wenn ich dich sehe, weitet sich mein Herz, begreifst du das? Was hat es dort für einen Karl Bernard gegeben?“

„Karl Bernard?“ fragte Aljoscha wiederum verwundert.

„Nein, nicht Karl, wart, wie hieß doch das Vieh? – Ach, richtig, Claude Bernard. Was ist nun das jetzt wieder? Chemie etwa, nicht?“

„Das ist wahrscheinlich ein Gelehrter,“ meinte Aljoscha, „nur muß ich wieder gestehen, daß ich dir auch von ihm nicht viel sagen kann. Ich habe nur den Namen gehört, ich weiß, daß es ein Gelehrter ist, was für einer aber, das weiß ich nicht.“

„Na, dann hol ihn der Teufel, auch ich weiß es nicht,“ schimpfte Mitjä. „Höchstwahrscheinlich ist’s irgendein Gauner und weiter nichts – wie sie es ja alle sind. Rakitin wird sich schon durchfressen. Rakitin wird selbst durch Spalten, durch die kein Floh durch kann, auch noch durchkriechen. Das ist gleichfalls so ein Bernard. Ach, diese Bernards! Weiß Gott, die vermehren sich wahrlich wie Kaninchen!“

„Aber was hast du heute?“ fragte Aljoscha ernst.

„Er will über mich, das heißt über meinen Prozeß, einen Artikel schreiben und damit in die Literatur eintreten, deswegen kommt er her, – hat es mir selbst erklärt. Das soll so eine Chose mit ’ner besonderen Tendenz werden, ungefähr: ‚Er konnte unmöglich nicht morden, die Verhältnisse seiner Umgebung zwangen ihn dazu,‘ oder so was Gutes. Und das geht so endlos weiter, er hat es mir selbst erklärt. Mit einem leisen Hauch von Sozialismus, sagt er, wird es sein. Ach, hol ihn der Teufel samt seinem ganzen leisen Hauch, mir soll’s egal sein. Iwan kann sich nicht seiner Wohlgeneigtheit erfreuen. Rakitin haßt ihn. Für dich hat er gleichfalls nichts Gutes übrig. Nun, ich jage ihn aber nicht fort, er ist trotz alledem ein gescheiter Kerl. Überhebt sich bloß unglaublich. Ich sagte ihm vorhin, als du eintratest: ‚Die Karamasoffs sind nicht Schufte, sondern Philosophen, denn alle echten Russen sind Philosophen, du aber bist, wieviel du da auch gelernt haben magst, doch kein Philosoph, sondern ein ganz gemeiner Knecht.‘ Er lachte, so gehässig, weißt du. Da sagte ich ihm: de Geschmackibus non est disputandum. Ist der Witz nicht gut? Na, wenigstens habe auch ich jetzt mal was Klassisches gesagt.“ Mitjä lachte.

„Aber sag doch, wodurch bist du denn verloren? Du sagtest es doch vorhin?“ unterbrach ihn Aljoscha.

„Wodurch verloren? Hm! Im Grunde ... wenn man so das Ganze nimmt – um Gott tut es mir leid. Sieh, dadurch bin ich verloren.“

„Wie das, warum tut es dir denn leid um ihn?“

„Nun, wart, stell dir vor: Es gibt dort in den Nerven im Kopf, das heißt dort im Gehirn, solche Nerven ... ach, nun, der Teufel hole sie! – es gibt da solche, solche Schwänzchen, nämlich an den Nerven solche Schwänzchen, nun, und sobald sie dort nur anfangen zu zappeln oder zu zippeln ... das heißt, sieh: Ich sehe zum Beispiel mit meinen Augen auf irgend etwas, sieh so, geradeaus, und sie fangen plötzlich an zu zittern, nämlich diese Schwänzchen meine ich ... wie sie aber erzittern, da erscheint denn auch der Gegenstand, das Bild, oder was es da ist, aber es erscheint nicht sofort, da vergeht noch zuerst ein Augenblick Zeit, so eine Sekunde, und dann, heißt es, tritt so ein Moment ein, das heißt, kein Moment, – der Teufel hole die Momente! – sondern ein Bild oder ein Gegenstand oder eine Handlung, – ach, nun, hol sie allesamt der Teufel! – also deswegen sehe ich und denke ich dann später ... weil so ein Schwänzchen da ist, und weil es zippelt, und durchaus nicht darum, weil ich eine Seele habe, und weil ich da so ein Ebenbild Gottes bin, das sind alles nur Dummheiten. Das hat mir dieser Michail noch gestern ganz genau erklärt, und weißt du, es war mir, als hätte er mir Feuer übergegossen. Großartig, bei Gott, ist diese Wissenschaft! Ein neuer Mensch entsteht, das begreife auch ich, Bruder ... Aber trotzdem tut es mir doch leid um Gott!“

„Tut nichts, auch das ist gut,“ sagte Aljoscha.

„Daß es mir um Gott leid tut? Die Chemie rückt ran, Brüderchen, ja, ja, die Chemie! Nichts zu machen, Ew. Hochehrwürden, Sie müssen zur Seite treten, die Chemie kommt! Von Gott aber will Rakitin nichts wissen, oh! den kann er nicht verdauen! Gott ist bei diesen Leuten der wundeste Punkt! Aber sie suchen es zu verbergen. Sie lügen. Verstellen sich. Ich fragte ihn: ‚Nun was, wirst du das gleichfalls in deine Kritiken hineinbringen?‘ – ‚Tja, soweit man’s durchläßt, deutlich wird man sich doch wohl nicht fassen können,‘ sagt er. Lacht. ‚Aber wie ist’s denn jetzt?‘ fragte ich ihn, ‚was ist denn der Mensch noch nach alledem? Ohne Gott und ohne Leben nach dem Tode? Das heißt dann doch, daß alles erlaubt ist, dann kann man ja alles machen?‘ – ‚Und du wußtest das noch nicht?‘ sagt er. Lacht. ‚Ein kluger Mensch,‘ sagt er, ‚kann alles tun, ein kluger Mensch kann auch Krebse fangen, ohne geklemmt zu werden. Nun, du aber hast erschlagen und bist hereingefallen, und jetzt kannst du im Gefängnis lebendig verfaulen!‘ Das sagt er mir, versteh, ins Gesicht! Ein geborenes Schwein! Solches Pack habe ich früher hinausgeworfen ... jetzt hört man ihnen zu. Er spricht aber auch Gescheites. Auch schreibt er nicht schlecht. Riesig klug sogar. Vor einer Woche las er mir hier einen Artikel vor, ich habe daraus drei Zeilen abgeschrieben, wart, ich habe sie, hier, hier sind sie.“

Mitjä zog eilig aus seiner Westentasche ein kleines Papier hervor und las:

„Um dieses Problem zu lösen und seinen abstrakten Sinn richtig zu erfassen, ist die erste Bedingung, daß man seine Persönlichkeit der ganzen Wirklichkeit quer entgegensetzt.“

„Begreifst du was davon?“

„Nein,“ sagte Aljoscha. Er beobachtete interessiert seinen Bruder und hörte ihm aufmerksam zu.

„Ich auch nicht. Dunkel ist es und unklar, dafür aber klug. ‚Alle schreiben jetzt so,‘ sagt er, ‚das Milieu hat sich bereits herausgebildet ...‘ Das ist es ja, sie fürchten, daß die Kollegen den Stil nicht klug genug finden könnten. Auch Gedichte schreibt das Schwein ... Denk doch nur, er hat Frau Chochlakoffs Füßchen besungen, hahaha!“

„Ich weiß, ich habe davon gehört,“ sagte Aljoscha.

„Ja? Und auch das Gedicht?“

„Nein, das Gedicht selbst habe ich nicht gehört.“

„Ich habe es hier, wart, ich werde es dir vorlesen. Du weißt noch nicht alles, ich habe es dir nicht erzählt, das ist ja eine ganze Geschichte. Der Spitzbube! Denk dir, vor drei Wochen war’s, da läßt er sich plötzlich einfallen, mich zu foppen: ‚Da bist du nun wegen lumpiger Dreitausend perdu,‘ sagt er, ‚ich aber werde mir Hundertfünfzigtausend verschaffen, werde hier eine kleine Witwe heiraten und mir dann in Petersburg ein Haus kaufen, ein großes von Stein.‘ Und er erzählt mir, daß er der Chochlakowa den Hof macht, die aber, sagt er, die von Kindheit an keinen Verstand gehabt hat, hätte ihn mit vierzig Jahren vollends verloren. ‚Sie ist fabelhaft sentimental,‘ sagt er, ‚das wird mir aber zustatten kommen. Werde sie heiraten, nach Petersburg mitnehmen und dort eine Zeitung herausgeben.‘ Und dabei wässert ihm der Mund in so gemeiner Lüsternheit, – doch nicht nach der Chochlakowa, sondern nach den Hundertfünfzigtausend. Und täglich kam er her und beteuerte, es ginge famos; sie ergibt sich, sagt er, strahlt vor Freude. Und da wird er plötzlich vor die Tür gesetzt! Perchotin hat ihn aus dem Sattel gehoben! Das hat er großartig gemacht! Ich würde diese kleine Witwe am liebsten zehnmal kräftig dafür abküssen, daß sie ihn vor die Tür gesetzt hat! Er war gerade kurz vorher bei mir gewesen, um mir dieses Gedicht vorzulesen. ‚Zum erstenmal besudle ich meine Hände,‘ sagte er, ‚schreibe Gedichte – um sie zu bezaubern, das heißt also, zu einem nützlichen Zweck. Habe ich erst der Gans das Kapital abgenommen, so kann ich später damit großen sozialen Nutzen bringen.‘ Dieses Pack hat doch für jede Gemeinheit eine ‚soziale‘ Rechtfertigung! ‚Und doch habe ich,‘ sagt er, ‚besser als dein Puschkin gedichtet, denn ich habe es fertig gebracht, in einem närrischen Gedicht ein soziales Malheur auszudrücken.‘ Was er da von Puschkin sagt, das verstehe ich schließlich. Es ist ja wahr. Ein begabter Mensch, der dabei nur Weiberfüßchen besungen hat! Wie aber Rakitin auf sein Gedicht stolz war! Eine Eigenliebe haben die Kerls! So etwas Dünkelhaftes findet man nicht leicht. ‚Zur Heilung des kranken Füßchens meines Objekts‘ – das hat er sich als Überschrift ausgedacht! Nichts zu sagen, ein kühner Mann! Hör jetzt:

Es war einmal ein kleiner Fuß,

Der eines Tags erkrankte;

Die Ärzte kamen tagtäglich ins Haus,

Doch der Fuß es ihnen nicht dankte,

– Denn er wurde nicht gesund.

Doch wie dem nun auch sein mag,

Ich will deswegen nicht trauern.

Mir tut es nur leid ums Köpfchen,

Den Fuß mag Puschkin bedauern,

– Denn er wurde nicht gesund.

Das Köpfchen fing grad an zu verstehen,

Da kam das Füßchen und störte.

Ach! mag es doch wieder gehen,

Damit das Köpfchen mich hörte!

– Denn es wäre sonst gar zu dumm ...

Ein Schwein ist der Kerl, ein geborenes Schwein, aber er hat sich dabei doch ganz flott ausgedrückt. Und er hat sogar den Kummer über das schwache Köpfchen hineingeflochten, und seine ganze ‚soziale‘ Sehnsucht, nach Petersburg zu kommen, liegt in diesem ‚Ach!‘ Wie er aber wütend war, Herrgott! daß sie ihn vor die Tür gesetzt hatte! Er knirschte selbst hier noch vor Wut!“

„Er hat sich auch schon gerächt,“ sagte Aljoscha. „Er hat einen Bericht an die ‚Gerüchte‘ geschickt, in dem er über sie herzieht.“

Und Aljoscha erzählte ihm kurz von der Nachricht aus dem Petersburger Blatt.

„Das kann allerdings nur Rakitin getan haben!“ sagte Mitjä finster, nachdem er unruhig zugehört hatte, und er biß nervös die Unterlippe. „Das ist wieder echt Rakitin! Diese Korrespondenzen ... ich weiß ... wieviel Schändlichkeiten geschrieben worden sind ... über Gruscha zum Beispiel ... Und auch über sie, über Katjä ... Hm!“

Er erhob sich und schritt besorgt im Zimmer auf und ab.

„Mitjä, ich kann heute nicht lange bei dir bleiben,“ sagte Aljoscha nach kurzem Schweigen. „Morgen ist ein unheimlich großer Tag für dich: Gottes Gericht wird sich über dir vollziehen ... und du sprichst heute, anstatt Ernstes zu reden, weiß Gott, wovon ... Das, das wundert mich ...“

„Nein, wundere dich nicht,“ unterbrach ihn Mitjä erregt. „Was soll ich denn immer wieder von diesem stinkenden Hunde reden? Haben wir denn noch immer nicht genug über den Mörder gesprochen? Ich will nichts mehr von ihm hören, von dieser Ausgeburt der Idiotin. Gott wird ihn totschlagen, das wirst du sehen, schweig!“

Anfangs trat er dicht an Aljoscha heran, und plötzlich küßte er ihn. Seine Augen brannten.

„Rakitin würde das nicht verstehen,“ fuhr er fort, als ob ihn Begeisterung erfaßt hätte, „du aber, du wirst alles verstehen. Deswegen habe ich mich auch nach dir gesehnt. Sieh, ich wollte dir schon lange hier zwischen diesen nackten Wänden vieles sagen, aber ich habe bis jetzt doch das Wichtigste verschwiegen: Es war mir immer, wenn ich davon anfangen wollte, als wäre die Zeit dazu noch nicht gekommen. So habe ich unbewußt bis zur letzten Stunde gewartet, um vor dir meine Seele aufzutun. Aljoscha, ich habe in diesen zwei letzten Monaten einen neuen Menschen in mir entdeckt, ein neuer Mensch ist in mir auferstanden! Dieser Mensch war immer in mir verborgen, doch es wäre mir nie zum Bewußtsein gekommen, daß ich ihn in mir trug, wenn Gott nicht dieses Gewitter geschickt hätte. Unheimlich ist das Leben! Aber was liegt daran, daß ich zwanzig Jahre lang dort in sibirischen Erzgruben mit dem Hammer klopfen werde, – das schreckt mich jetzt nicht mehr. Ich fürchte etwas ganz anderes, und das ist meine einzige große Angst: ich fürchte und bange, daß mich der in mir auferstandene Mensch nur ja nicht wieder verläßt! Man kann auch dort in den Erzgruben unter der Erde neben sich in genau solch einem Zwangsarbeiter und Mörder ein menschliches Herz finden, und man kann ihm dort näher treten, denn auch dort kann man leben, lieben und leiden. In diesem Zwangsarbeiter kann man doch das erfrorene Herz wieder beleben, jahrelang kann man ihn pflegen, und einmal wird man die Seele aus der dunklen Höhle zum Licht emporziehen, und dann wird er bereits ein veredelter Mensch sein, ein Mensch mit der Anschauung eines Märtyrers. Ja, so kann man Engel auferstehen machen und Helden wieder beleben! Und ihrer gibt es doch so viele dort unter der Erde, Hunderte, und wir alle haben schuld an ihnen! Warum träumte mir damals vom ‚Kindichen‘, warum gerade in jener Stunde? ‚Warum ist das Kindichen arm?‘ Das war in jenem Augenblick eine Prophezeiung! Für das ‚Kindichen‘ gehe ich hin. Denn alle sind für alle schuldig. Überall gibt es solche ‚Kindichen‘, denn es gibt ja kleine und große Kinder. Alle sind solch ein ‚Kindichen‘. Und so gehe ich denn für alle, denn irgend jemand muß doch für alle gehen! Ich habe meinen Vater nicht erschlagen, aber ich muß hingehen. Ich nehme es auf mich! Das alles ist mir erst hier aufgegangen ... hier zwischen den nackten Wänden. Ihrer aber gibt es doch viele, zu Hunderten sind sie dort unter der Erde, und alle haben sie eine Haue in der Hand. O ja, ich weiß, wir werden in Ketten sein, und wir werden keinen freien Willen haben, doch dann, in unserem großen Leid, werden wir von neuem zur Freude auferstehen, zur Freude, ohne die es dem Menschen unmöglich ist, zu leben, ebensowenig wie Gott ohne sie sein kann, denn Gott gibt die Freude, das ist sein großes Privilegium ... Gott, mein Gott, erweiche den Menschen im Gebet! Wie werde ich denn dort unter der Erde ohne Gott leben? Rakitin lügt: Wenn man Gott von der Erde vertreibt, so werden wir ihn dort unter der Erde willkommen heißen! Für einen unterirdischen Zwangsarbeiter ist es unmöglich, ohne Gott auszukommen, unmöglicher als für einen Nichtzwangsarbeiter. Und dann werden wir, wir unterirdischen Sträflinge dort in den Schachten Sibiriens, aus dem Eingeweide der Erde eine tragische Hymne unserem Gotte singen, unter der Erde hervor unserem Gotte, bei dem die Freude ist! Ach, es lebe Gott, und es lebe deine Freude! – Ich liebe dich, Gott!“

Die Worte stürzten Mitjä fast atemlos über die Lippen. Er war bleich, seine Lippen zuckten, und aus seinen Augen rollten Tränen herab.

„Nein, das Leben ist groß, groß ist das Leben und voll und mächtig ist es! Leben ist auch unter der Erde!“ begann er wieder in seiner Begeisterung. „Du kannst dir nicht einmal denken, Alexei, wie ich jetzt leben will, wie, wie ich lechze nach Leben und Erkennen, welch ein Verlangen danach sich gerade hier zwischen diesen nackten Wänden in mir erhoben hat! Rakitin begreift das nicht, er will nur ein Haus bauen und dann Wohnungen vermieten. Ich aber habe dich erwartet, um dir zu sagen ... Und was ist denn das Leiden? Ich fürchte es nicht, und wenn es auch unermeßlich sein sollte. Jetzt fürchte ich es nicht, früher fürchtete ich es. Weißt du, ich, ich werde morgen vielleicht gar nicht antworten vor Gericht ... Ich glaube, ich habe jetzt so viel von dieser Kraft in mir, daß ich alles besiegen werde, alles werde ich überwinden, alles Leid, nur um mir immer wieder sagen zu können: Ich bin! Unter tausend Qualen – ich bin! Wenn ich mich auch auf der Folterbank krümme – aber ich bin! Und wenn ich auch angeschmiedet bin, so lebe ich doch, so sehe ich doch die Sonne, oder wenn ich sie auch nicht sehe, so weiß ich doch, daß sie ist! Wissen aber, daß die Sonne ist, – das ist schon ein ganzes Leben. Aljoscha, du mein Cherub, mich quälen verschiedene Philosophien, der Teufel hole sie! Bruder Iwan ...“

„Was? was wolltest du sagen von Iwan?“ fragte Aljoscha hastig, doch Mitjä überhörte die Frage ganz.

„Sieh, früher wußte ich nichts von allen diesen Zweifeln, aber es war doch schon alles in mir. Vielleicht war das der einzige Grund, weil diese unbewußten Ideen in mir tobten, warum ich trank und mich herumschlug und ins Leben stürmte. Um sie in mir zum Schweigen zu bringen, um sie zu beruhigen, zu ersticken, darum tobte ich. Iwan ist nicht wie Rakitin, er trägt eine große Idee. Iwan ist eine Sphinx und schweigt, er schweigt immer und zu allem. Mich aber quält Gott. Nur Gott quält mich. Was aber dann, wenn Er nicht ist? Was dann, wenn Rakitin recht hat, daß das nur eine künstliche Idee in der Menschheit ist? Dann, wenn Er nicht ist, dann ist der Mensch der Herr der Erde. Großartig! Wie aber wird er denn tugendhaft sein ohne Gott? Das ist die Frage! Über diese Frage komme ich nicht hinweg. Denn wen wird er dann noch lieben, dieser Mensch ohne Gott? Wem wird er dann noch dankbar sein, wem wird er dann noch eine Hymne singen? Rakitin lacht darüber. Er sagt, man könne die Menschheit auch ohne Gott lieben. Nun, dieser Rotzbub kann schließlich vieles behaupten. Nein, das verstehe ich nicht. Rakitin hat leicht, zu leben. ‚Du,‘ sagte er mir heute, ‚bemühe dich lieber um die Vermehrung der bürgerlichen Rechte der Menschen oder meinetwegen auch nur darum, daß der Preis des Rindfleisches nicht steige; damit wirst du der Menschheit einfacher und unmittelbarer eine Liebe erweisen als mit Philosophien.‘ Da wurde ich wütend. ‚Du aber,‘ sagte ich ihm, ‚wirst ohne Gott selbst noch den Preis des Rindfleisches erhöhen, wenn das nur in deiner Macht steht, wirst womöglich einen Rubel auf jede Kopeke aufschlagen.‘ Er ärgerte sich. Denn was ist Tugend? Beantworte du mir diese Frage, Alexei. Ich habe eine Tugend, und der Chinese hat eine andere – folglich: ein relatives Ding. Oder nicht? Oder nicht relativ? Hm, eine hinterlistige Frage! Lach nicht, wenn ich dir sage, daß ich ihretwegen zwei Nächte nicht geschlafen habe. Ich wundere mich jetzt nur noch über eines: Wie die Menschen so leben können und niemals darüber nachdenken. Wie beschäftigt sie alle sind! Iwan hat keinen Gott. Er hat eine Idee. Das ist zu hoch für mich. Aber er schweigt. Ich glaube, er ist Freimaurer. Ich habe ihn gefragt – er schweigt. Ich wollte aus seinem Brunnen einen Schluck Wasser trinken – er schweigt. Nur ein einziges Mal sagte er ein Wort.“

„Was sagte er?“ fragte Aljoscha gierig.

„Ich sagte ihm: Dann ist also alles erlaubt, wenn es so ist? Er runzelte die Stirn. ‚Fedor Pawlowitsch, unser Vater,‘ sagte er, ‚war zwar ein Schwein, aber er dachte doch vollkommen richtig.‘ Sieh, was er zu sagen fertig brachte. Und das war alles, was er darauf zu erwidern geruhte. Mehr habe ich nicht von ihm gehört. Das ist denn doch sauberer als Rakitin.“

„Ja,“ bestätigte Aljoscha bitter. „Wann war er bei dir?“

„Davon später, jetzt noch von etwas anderem. Über Iwan habe ich dir bis jetzt fast nichts gesagt. Ich habe es immer bis zur letzten Stunde hinausgeschoben. Wenn hier diese Sache ein Ende hat und mein Urteil gesprochen ist, dann werde ich dir etwas erzählen, alles werde ich dir dann erzählen. Hier gibt es so einen besonderen Punkt ... Und du wirst mein Richter sein in dieser Frage. Jetzt aber beginn lieber gar nicht davon, jetzt sei still ... Da sprichst du nun von morgen, vom Gericht, aber wirst du’s mir glauben, ich weiß nichts von alledem.“

„Hast du mit dem Advokaten gesprochen?“

„Ach was, Advokat! Ich habe ihm von allem gesprochen. Ein geriebener Schurke ist er, ein großstädtischer. Auch so ein Claude Bernard! Nur glaubt er mir nicht für eine halbe zerbrochene Kopeke. Er glaubt, daß ich erschlagen habe, denk dir nur, – ich weiß schon, was er glaubt, da sei du unbesorgt. ‚Warum sind Sie denn,‘ fragte ich ihn, ‚gekommen, mich zu verteidigen, wenn Sie mich für schuldig halten?‘ Nun, zum Henker mit der Bande. Auch einen Doktor hat man verschrieben, will mich für verrückt erklären. Das erlaube ich nicht! Katerina Iwanowna will ‚ihre Pflicht und Schuldigkeit‘ bis zum Schluß erfüllen. Bißchen gewaltsam!“ (Mitjä lächelte bitter.) „Die Katze! Ein grausames Herz! Sie weiß, daß ich damals in Mokroje von ihr gesagt habe, sie sei ein Weib, das ‚gewaltigen Zornes fähig ist‘! Das hat man ihr wiedererzählt. Ja, die Aussagen gegen mich haben sich vermehrt wie Sand am Meer! Grigorij besteht auf der offenen Tür. Grigorij ist ein ehrlicher Mensch, aber er ist ein Dummkopf. Viele Menschen sind nur darum ehrlich, weil sie dumm sind. Das ist ein Ausspruch von Rakitin. Grigorij ist mein Feind. Von manch einem kann man sagen, daß es vorteilhafter ist, ihn zum Feinde als zum Freunde zu haben. Das ist in bezug auf Katerina Iwanowna gesagt. Ich fürchte, oh! nichts fürchte ich so, als daß sie morgen von jener Verbeugung bis zur Erde nach den Viertausendfünfhundert erzählen wird! Bis zum Schluß wird sie mir heimzahlen, bis auf den letzten Tropfen! Ich will aber ihr Opfer nicht! Beschämen werden sie mich vor Gericht! Sie wollen, daß ich vor Scham vergehe! Wie werde ich es aushalten? Geh zu ihr, Aljoscha, bitt sie, daß sie es nicht vor Gericht sage, nur dieses eine nicht! Oder geht das nicht? Ach, Teufel, einerlei, ich werde es eben aushalten! Sie tut mir nicht leid. Sie will es ja selbst. Nicht umsonst leidet der Dieb Qualen. Ich, Alexei, ich werde meine Rede halten.“ (Er lächelte wieder bitter vor sich hin.) „Nur ... nur Gruscha, Gruscha, o Gott! Warum hat sie denn diese Qual jetzt auf sich genommen?“ rief er plötzlich mit Tränen in den Augen. „Gruscha tötet mich, der Gedanke an sie tötet mich, tötet mich! Sie war heute bei mir ...“

„Sie hat es mir erzählt. Du hast Sie heute sehr gekränkt.“

„Ich weiß. Hol mich der Teufel dafür, daß ich so einen Charakter habe. Ich wurde eifersüchtig. Als sie fortging, bereute ich es und küßte sie. Um Verzeihung bat ich nicht.“

„Warum hast du das nicht getan?“ fragte Aljoscha vorwurfsvoll.

Mitjä lachte plötzlich fast heiter auf.

„Gott behüte dich davor, du lieber Junge, daß du jemals wegen einer Schuld das geliebte Weib um Verzeihung bittest! Besonders gilt das vom geliebten Weibe, gerade vom geliebten Weibe, wie groß deine Schuld auch vor ihr sein mag! Denn das Weib – das ist, Bruder, – weiß der Teufel, was das ist, aber ich kenne sie doch gründlich, das weiß Gott! Versuche einmal, deine Schuld einzugestehen, soundso, es war schlecht von mir, verzeih, vergib – dann hagelt es Vorwürfe! Unter keiner Bedingung wird sie einfach und sofort verzeihen, sie wird dich zum Lappen erniedrigen, wird dir alles vorzählen, selbst das, was gar nicht gewesen ist, alles wird sie wieder herauskratzen, nichts wird sie vergessen, wird noch vieles von sich hinzufügen, und dann erst wird sie verzeihen. Und das ist noch die beste, die beste von allen! Das letzte wird sie dir noch abschaben und dann alles über dein armes Haupt schütten – so eine, sage ich dir, so eine Lust am Menschenschinden steckt in ihnen, in allen ohne Ausnahme, in diesen Engeln, ohne die zu leben uns unmöglich ist! Sieh, mein Täubchen, ich sage es dir aufrichtig und überzeugt: Jeder anständige Mann muß sich unter dem Pantoffel eines Weibes befinden. Das ist meine Überzeugung; das heißt, nicht Überzeugung, aber so mein Gefühl. Der Mann muß großmütig sein, das aber besudelt keinen. Selbst einen Helden erniedrigt das nicht, selbst einen Cäsar nicht! Nun, aber um Verzeihung bitte du trotzdem niemals und um keinen Preis. Behalte diese Lehre: die gibt dir dein Bruder Mitjä, der sich wegen der Weiber zugrunde gerichtet hat. Nein, ich werde ihr lieber, ohne um Verzeihung zu bitten, etwas recht Liebes tun. Ich bete sie an! Alexei, wenn sie vor mir steht, überkommt es mich immer wie Andacht! Nur sieht sie das nicht. Nein, es ist immer noch zu wenig Liebe für sie. Und wie sie mich quält! Mit ihrer Liebe quält sie mich. Früher! Früher quälten mich nur ihre Launen, das Infernale an ihr, jetzt aber habe ich ihre ganze Seele in meine Seele aufgenommen und bin durch sie zum Menschen geworden! Wird man uns auch trauen? Sonst sterbe ich vor Eifersucht. Jeden Tag sehe ich denn auch ein neues Gespenst ... Was hat sie dir über mich gesagt?“

Aljoscha erzählte alles, was Gruschenka ihm gesagt hatte. Mitjä hörte aufmerksam zu, fragte vieles zweimal und war schließlich zufrieden.

„So ärgert sie sich denn nicht darüber, daß ich eifersüchtig war?“ fragte er freudig. „Ein echtes Weib! – ‚Ich habe selbst ein grausames Herz.‘ Ach, wie ich diese Menschen liebe, die solche Herzen haben! Aber ich dulde nicht, daß man auf mich eifersüchtig ist, das erlaube ich nicht! Werden uns streiten. Aber lieben – lieben werde ich sie unendlich! Wird man uns auch trauen? Werden denn Zwangsarbeiter auch getraut? Das ist die Frage. Ohne sie aber kann ich nicht leben ...“

Mitjä schritt finster auf und ab. Es war schon fast ganz dunkel im Zimmer. Er wurde plötzlich eigentümlich unruhig und besorgt.

„Also ein Geheimnis, sagt sie, ein Geheimnis hätten wir? Also alle drei sollen wir uns gegen sie verschworen haben, und ‚Katjka‘ soll dahinterstecken? Nein, Freund Gruschenka, das ist es nicht. Hierin hast du dich getäuscht, hast es so echt auf Frauenart getan! Aljoscha, Liebling ... ich werde dir unser Geheimnis sagen ... einerlei, was draus wird!“

Er blieb stehen, blickte sich nach allen Seiten um und trat dann schnell dicht an Aljoscha, der nicht weit von ihm stand, heran und flüsterte ihm mit geheimnisvoller Miene ganz leise zu, obgleich sie niemand hören konnte: Der alte Wächter schlief in der Ecke auf der Bank, und bis zu den wachestehenden Soldaten konnte kein Laut dringen.

„Ich werde dir unser ganzes Geheimnis aufdecken!“ flüsterte Mitjä eilig. „Ich wollte es zuerst später tun, wenn das Urteil schon gesprochen ist, denn wie könnte ich mich ohne deine Zustimmung zu etwas entschließen? Du bist mir alles. Wenn ich auch sage, daß Iwan höher steht als wir, so bist doch du mein Schutzgeist. Was du sagst, wird geschehen, das werde ich tun. Vielleicht aber bist gerade du der höhere Mensch und nicht Iwan. Sieh, hier handelt es sich um eine Gewissenssache, eine höhere Gewissenssache, – ein Beschluß von solcher Wichtigkeit, daß ich selbst nie damit zurechtkommen werde, und so habe ich es denn hinausgeschoben, bis du entscheidest. Und außerdem ist es jetzt noch zu früh, man muß zuerst das Urteil abwarten. Werde ich verurteilt, gut, dann entscheide du. Jetzt aber entscheide noch nicht; ich werde dir sogleich alles sagen, du wirst alles erfahren, aber du entscheide jetzt noch nicht. Höre und schweige. Ich werde dir nicht alles ausführlich erklären, – ich werde dir nur die Idee im großen ganzen aufdecken, ohne Details, – du aber schweige. Keine Frage, keine Bewegung! Bist du damit einverstanden? Aber deine Augen, Herrgott, wohin mit denen? Ich fürchte, daß deine Augen das Urteil sprechen werden, selbst wenn du schweigst. Ich habe Angst! Aljoscha, hör jetzt: Iwan schlägt mir vor, zu entfliehen. Die Einzelheiten zum Teufel, die sage ich jetzt nicht, – alles ist vorgesehen, es kann ganz ohne Hindernisse gemacht werden. Schweig, entscheide noch nicht! Nach Amerika mit Gruscha! Ich kann doch ohne sie nicht mehr leben! Nun, versteh, wenn man sie nun dort, in Sibirien, nicht zu mir läßt? Werden denn Zwangsarbeiter getraut? Iwan sagt: Nein. Aber was werde ich denn dort ohne Gruschenka allein unter der Erde mit dem Hammer machen? Ich werde mir doch den Schädel mit diesem Hammer einschlagen! Nun aber andererseits – das Gewissen? Dann bin ich doch vor dem Leiden geflohen! Mir ward ein Fingerzeig Gottes – ich folgte ihm nicht; mir ward ein Weg der Läuterung gezeigt – ich machte linksum kehrt. Iwan sagt, daß man in Amerika ‚bei guten Vorsätzen‘ mehr Nutzen bringen könne als unter der Erde. Aber wo wird dann noch unsere unterirdische Hymne zu Gott emporgesungen werden? Was ist denn Amerika, – das ist doch wieder eitle Sorge um Erwerb. Und es gibt auch viel Schurken, denke ich, in Amerika. Und ich bin dann vor der Kreuzigung – fortgelaufen! Ich sage das dir, Alexei, weil doch nur du allein das verstehen kannst, außer dir aber niemand. Für die anderen sind das Dummheiten, krankhafte Hirngespinste, alles das, was ich dir von der unterirdischen Hymne gesagt habe. Man wird sagen, ich sei verrückt geworden oder sei ein Esel. Aber ich bin nicht verrückt, ich bin weder das eine noch das andere. Oh, auch Iwan begreift die Hymne, oh, er begreift das alles vorzüglich, nur antwortet er mir darauf nicht, er schweigt. Er glaubt nicht an die Hymne. Sprich nicht, sprich nicht, ich sehe doch, was deine Augen sagen. Du hast ja schon entschieden! Entscheide nicht, hab Erbarmen mit mir, ich kann nicht, ich kann nicht ohne Gruscha leben – wart bis das Urteil gesprochen ist!“

Mitjä sprach flehend, sprach wie ein Wahnsinniger. Er hielt Aljoscha mit beiden Händen an den Schultern gepackt, hielt ihn wie mit Klammern fest, und sein gleichsam entzündeter Blick hing flehend, bittend an den Augen des Bruders.

„Werden denn Zwangsarbeiter getraut?“ wiederholte er zum drittenmal angstvoll seine Frage.

Aljoschas Herz klopfte stark, und er hörte ihm in ungewöhnlicher Spannung zu.

„Sag mir nur eines: Besteht Iwan sehr darauf?“ fragte er stockend. „Und wer hat sich das zuerst ausgedacht?“

„Er, er hat es sich ausgedacht, er besteht darauf! Zuerst kam er überhaupt nicht zu mir, und da plötzlich kam er, vor einer Woche ungefähr, und begann gleich damit. Er besteht unglaublich hartnäckig darauf. Er bittet nicht, sondern befiehlt. Er zweifelt nicht an meiner Folgsamkeit, ungeachtet dessen, daß ich ihm, so wie jetzt dir, mein ganzes Herz aufgedeckt und auch von der ‚Hymne‘ gesprochen habe. Er hat mir alles genau erklärt, wie er es machen wird, er hat sich peinlich orientiert, aber davon später. Geradezu krankhaft will er es. Die Hauptsache ist dabei natürlich das Geld: zehntausend, sagt er, gibt er für die Flucht, und zwanzigtausend für Amerika; für zehntausend, sagt er, wird uns die Flucht ohne jede Schwierigkeit gelingen.“

„Und er hat befohlen, daß mir nichts davon gesagt werde?“ fragte Aljoscha nochmals.

„Keinem Menschen ein Wort, vor allem aber dir nicht, dir unter keiner Bedingung! Er fürchtet wahrscheinlich, daß du wie das Gewissen vor mir stehen würdest. Sag es ihm nicht wieder, daß ich es dir mitgeteilt habe! Sag es ihm bitte nicht!“

„Du hast recht,“ sagte Aljoscha, „man muß das Urteil des Gerichts abwarten und dann entscheiden. Nach dem Gericht wirst du es selbst tun; dann wirst du einen neuen Menschen in dir finden, der für dich entscheiden wird.“

„Einen neuen Menschen oder einen Bernard, und der wird dann à la Bernard entscheiden. Denn ich selbst bin, wie es scheint, ein verächtlicher Bernard!“ sagte Mitjä mit bitterem Lächeln.

„Aber Mitjä, hast du denn gar keine Hoffnung mehr, dich morgen rechtfertigen zu können? Wie ist das nur möglich?“

Mitjä zuckte mit den Achseln und schüttelte verneinend den Kopf.

„Aljoscha, mein Liebling, es ist Zeit, daß du gehst!“ sagte er plötzlich eilig, als wollte er ihn schneller forthaben. „Der Aufseher hat schon auf dem Hof gerufen, er wird gleich herkommen. Es ist spät. Wir wollen doch die Ordnung nicht stören. Umarme mich rasch, küsse mich, segne mich, Liebling, segne mich, damit ich das Kreuz morgen tragen kann ...“

Sie umarmten sich und küßten einander.

„Iwan aber,“ sagte Mitjä plötzlich, „schlägt mir wohl vor, mir zur Flucht zu verhelfen, selbst aber glaubt er, daß ich den Vater erschlagen habe!“

Ein gequältes, spöttisches Lächeln erschien auf seinen Lippen.

„Hast du ihn gefragt, ob er es glaubt?“ fragte Aljoscha.

„Nein, ich habe ihn nicht danach gefragt. Ich wollte ihn fragen, aber ich konnte es nicht, die Kraft reichte dazu nicht aus. Doch das bleibt sich ja gleich, ich sehe es ja an den Augen. Nun, leb wohl!“

Noch einmal küßten sie sich eilig, und Aljoscha verließ bereits das Zimmer, als ihn Mitjä plötzlich wieder zurückrief.

„Stell dich vor mich hin, sieh mich an.“

Und er erfaßte ihn wieder mit beiden Händen an den Schultern. Sein Gesicht wurde unheimlich bleich, so daß es selbst in der matten Dunkelheit entsetzlich anzusehen war. Die Lippen verzerrten sich, und der Blick bohrte sich starr in Aljoschas Augen.

„Aljoscha, sage du mir die volle Wahrheit, sage wie Gott dem Herrn: Glaubst du, daß ich der Mörder bin oder glaubst du es nicht? Du, du, ob du es glaubst oder nicht glaubst? Die Wahrheit sage! – Lüge nicht!“ schrie er plötzlich laut in seiner Verzweiflung auf.

Aljoscha war es, als wankte er auf den Füßen unter dem Druck der Hände des Bruders, und über sein Herz, das fühlte er, glitt etwas Scharfes, Spitzes ...

„Was ... was tust du, laß gut sein, genug ...“ stammelte er wie geistesabwesend.

„Die Wahrheit, die Wahrheit! Lüge nicht!“

„Keine Sekunde lang ... habe ich geglaubt, daß du der Mörder wärest!“ stieß Aljoscha mit schwankender Stimme fast atemlos hervor, und er erhob die rechte Hand, als wolle er Gott zum Zeugen für seine Worte aufrufen.

Wie Seligkeit breitete es sich über Mitjäs bleiches Gesicht.

„Ich danke dir ...“ sagte er langsam, als wenn er nach einer Ohnmacht aufatmete. „Du hast mich von den Toten auferweckt ... Wirst du es mir glauben: – bis zu diesem Augenblick habe ich mich gefürchtet, dich zu fragen, dich, dich! – denk nur, Liebling, dich! ... Nun, geh jetzt, geh! Gestärkt hast du mich für morgen, Gott segne dich dafür! Nun, geh ... und liebe Iwan!“ rang es sich noch als letztes Wort aus Mitjä heraus.

Als Aljoscha ihn verließ, stürzten ihm die Tränen aus den Augen. Ein solches Mißtrauen bei Mitjä, solcher Argwohn, so wenig Zutrauen selbst zu ihm, Aljoscha, – alles das deckte plötzlich vor seinen Augen einen so bodenlosen Abgrund von aussichtsloser Verzweiflung und unfaßbarem Leid in der Seele seines unglücklichen Bruders auf, wie er ihn nie geahnt, nie für möglich gehalten hatte. Tiefes, unendliches Mitleid ergriff ihn und quälte ihn so, daß er schon nach einem Augenblick davon müde gequält war. Sein Herz glaubte er zerrissen, es tat ihm unsäglich weh. „Liebe Iwan!“ klang es ihm wieder in den Ohren. Ja, ja, er ging ja schon zu Iwan. Schon seit dem Morgen wollte er zu Iwan gehen. Der quälte ihn nicht weniger als Mitjä, jetzt aber, nach allem, was ihm Mitjä gesagt hatte, jetzt quälte er ihn mehr denn je.

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