I. Kusjma Ssamssonoff

Dmitrij Fedorowitsch, dem Gruschenka „vor ihrem Flug ins neue Leben“ als letzten Gruß zu überbringen befohlen hatte, daß er „ewig dieses Stündchens ihrer Liebe“ gedenken solle, war zur selben Zeit, ohne von ihrem Vorhaben etwas zu ahnen, gleichfalls in großer Unruhe und Sorge. In den zwei letzten Tagen hatte er sich in einem unbeschreiblichen Zustande befunden, so daß es tatsächlich zu der „Gehirnentzündung“ hätte kommen können, an die er in manchen Augenblicken schon fest glaubte. Am Tage vorher hatte Aljoscha ihn vergeblich gesucht, und auch Iwan hatte ihn vergeblich im Gasthaus erwartet. Mitjäs Hauswirte verheimlichten auf seinen Befehl alles, was sich auf ihn bezog. Er aber trieb sich in diesen zwei Tagen überall herum. Er „kämpfte mit seinem Schicksal, um sich zu retten“, wie er sich später ausdrückte. Er verließ in einer dringenden Angelegenheit sogar die Stadt, obgleich es ihm schrecklich war, Gruschenka auch nur eine Stunde außer Aufsicht lassen zu müssen. Ich will nur die notwendigsten Tatsachen aus der Geschichte dieser Tage angeben; es waren dies die beiden letzten Tage vor jener furchtbaren Katastrophe, die so entscheidend in sein Leben eingreifen sollte.

Wenn es auch wahr ist, daß Gruschenka ihn ein Stündchen lang aufrichtig geliebt hatte, so hatte sie ihn doch zu gleicher Zeit wahrhaft grausam und schonungslos gequält; die größte Qual bestand aber für ihn darin, daß er ihre Absichten nicht erraten konnte. Sie im Guten oder mit Gewalt zu etwas zu bewegen, war gleichfalls unmöglich: sie hätte sich ihm auf diese Weise niemals ergeben, und sich, vielleicht auf immer erzürnt, ganz von ihm abgewandt, – das begriff er damals nur zu gut. Dabei fühlte er ganz richtig, daß sie sich selbst in einem Kampf, in einer seltsamen Unentschlossenheit befand, daß sie sich zu etwas entschließen wollte und doch nicht konnte – und darum ahnte er ganz mit Recht, und sein Herz stand ihm still bei diesem Gedanken, daß Gruschenka in manchen Augenblicken ihn und seine Leidenschaft geradezu hassen mußte. So war es denn auch. Warum jedoch Gruschenka trauerte, das konnte er nicht verstehen. Er glaubte, es handele sich für sie nur um die Frage, für wen sie sich entschließen sollte: für ihn, Mitjä, oder für Fedor Pawlowitsch. Hier muß noch auf eine auffallende Tatsache hingewiesen werden: Mitjä war fest überzeugt, daß Fedor Pawlowitsch durchaus Gruschenka eine rechtmäßige Ehe antragen werde (wenn er es nicht schon getan hatte), und glaubte keine Minute daran, daß der alte Wollüstling im Ernst nur mit dreitausend Rubeln davonzukommen hoffte. Darum konnte ihm aber auch zuzeiten scheinen, daß alle Qual Gruschenkas und ihre ganze Unentschlossenheit nur davon herrühre, daß sie nicht wußte, wen von beiden sie wählen sollte, und wer von ihnen für sie vorteilhafter sei. Sonderbar war nur, daß er die bevorstehende Rückkehr „des Offiziers“, jenes in Gruschenkas Leben so bedeutungsvollen Menschen, den sie mit solcher Aufregung und Furcht erwartete, überhaupt nicht beachtete und in diesen Tagen nicht einmal an ihn dachte. Auch Gruschenka hatte in den letzten Tagen ganz darüber geschwiegen. Indessen wußte er davon: Gruschenka selbst hatte ihm vor einem Monat von diesem Brief erzählt, und zum Teil war ihm sogar der Inhalt des Schreibens bekannt. Damals hatte Gruschenka in einem Augenblick gereizter Bosheit Mitjä diesen Brief gezeigt. Doch zu ihrer Verwunderung hatte diese Nachricht schon damals auf ihn fast überhaupt keinen Eindruck gemacht. Warum sie es nicht tat, ist sehr schwer zu erklären: vielleicht einfach darum nicht, weil Mitjä, der durch den schrecklichen Kampf mit seinem leiblichen Vater um dieses Weib niedergedrückt war, sich nichts Gefährlicheres und Schrecklicheres, als was er bereits vor Augen hatte, mehr vorstellen konnte. An einen Bräutigam, der plötzlich nach fünfjähriger Abwesenheit wieder auftauchte, konnte er einfach nicht glauben, und besonders daran nicht, daß der Betreffende nun bald tatsächlich erscheinen sollte. Außerdem war im ersten Brief dieses „Offiziers“, den Gruschenka Mitjä gezeigt hatte, die Ankunft desselben nur ganz unbestimmt angedeutet gewesen. Der Brief war sehr unklar, sehr hochtrabend verfaßt, und hatte eigentlich nichts anderes enthalten, als verschnörkelte Redewendungen. Ich muß dazu bemerken, daß Gruschenka die letzten Zeilen des Briefes, in denen etwas Bestimmteres über seine Wiederkehr gesagt war, verheimlicht hatte. Außerdem erinnerte sich Mitjä noch später, daß auf Gruschenkas Gesicht sich unwillkürlich stolze Verachtung ob dieser Nachricht aus Sibirien ausgedrückt hatte – wenigstens glaubte er so etwas damals bemerkt zu haben. Auch hatte ihm Gruschenka von ihren näheren Beziehungen zu diesem neuen Nebenbuhler nichts mitgeteilt. Auf diese Weise vergaß er denn den Offizier allmählich vollständig. Er dachte nur daran, daß es, wie die Sache sich auch wenden sollte, doch unvermeidlich, und zwar sehr bald, zu einem entscheidenden Zusammenstoß zwischen Fedor Pawlowitsch und ihm kommen werde, und da von diesem Zusammenstoß zweifellos Gruschenkas Entscheidung abhing, so ersehnte er ihn ebenso ungeduldig, wie er ihn fürchtete. So erwartete er denn in unerträglicher Qual jeden Augenblick den Entschluß Gruschenkas, und glaubte immer noch, daß er ganz plötzlich und in höherer Eingebung erfolgen werde. – Vielleicht würde sie ihm plötzlich sagen: „Nimm mich, ich gehöre dir auf ewig,“ und alles hätte dann ein Ende. Er würde sie dann nehmen und sofort ans andere Ende der Welt bringen. Oh, so weit, so weit als möglich würde er sie fortbringen, wenn auch nicht ans Ende der Welt, so doch mindestens ans andere Ende Rußlands. Er würde sich dort unverzüglich mit ihr trauen lassen und sich ungekannt und ungenannt ansiedeln, so daß niemand etwas von ihnen wußte, weder hier, noch dort, noch sonstwo. Dann, oh, dann, beginnt sofort ein neues Leben! Von diesem anderen, erneuten und unbedingt „tugendhaften“ Leben („durchaus, durchaus tugendhaft!“) träumte er ununterbrochen und wie in Verzückung. Er sehnte sich nach solcher Auferstehung und nach jenem neuen Leben. In diesem „unreinen Pfuhl“, in den er durch seinen eigenen Willen geraten war, ekelte es ihn dermaßen, daß er, wie sehr viele in solchen Fällen, mit der Veränderung des Wohnortes alles zu verändern glaubte. Nur nicht diese Menschen, nur nicht diese Verhältnisse, nur fort von diesem verfluchten Ort und – alles wird wiedergeboren werden, alles wird von neuem beginnen! Daran glaubte er unerschütterlich, und das war es, wonach er sich sehnte.

Aber dies alles war nur im Falle einer glücklichen Lösung des ganzen Gruschenka-Problems möglich. Es konnte aber auch eine andere, eine schreckliche Lösung bevorstehen. Wie, wenn sie ihm plötzlich sagte: „Geh fort, ich habe mich soeben für Fedor Pawlowitsch entschieden, ich werde ihn heiraten, dich habe ich nicht nötig.“ Was dann? ... Mitjä wußte übrigens nicht, was dann sein werde, bis zur letzten Stunde wußte er es nicht, das muß zu seiner Verteidigung gesagt sein. Irgendwelche bestimmte Absichten hatte er nicht, an ein Verbrechen dachte er auch nicht. Er ließ sie nur nicht aus den Augen; er spionierte und quälte sich, oder aber – er bereitete sich auf den glücklichen Ausgang vor. Jeden anderen Gedanken verscheuchte er ganz. Und nun kam für ihn noch eine neue Qual hinzu: es erhob sich eine neue, nebensächlichere, doch gleichfalls verhängnisvolle Sorge.

Wenn sie ihm nämlich sagte: „Ich bin dein, bringe mich fort von hier,“ wie sollte er sie dann fortbringen? Wo hatte er die Mittel dazu, das Geld? Gerade in diesen Tagen waren seine Einkünfte, die aus den Abzahlungen Fedor Pawlowitschs bestanden, und die er ununterbrochen im Laufe so vieler Jahre erhalten hatte, völlig versiegt. Allerdings hatte ja Gruschenka Geld, aber Mitjä war in dieser Hinsicht mehr als stolz. Mit seinen eigenen Mitteln wollte er sie fortführen und das neue Leben beginnen, nicht mit ihren. Er vermochte sich nicht einmal vorzustellen, daß er von ihr Geld annehmen könnte, und litt bei dem Gedanken die schrecklichsten Qualen. Über diesen wunden Punkt werde ich mich weiter nicht verbreiten und ihn auch nicht weiter untersuchen; ich will nur gesagt haben, welcher Art seine Seelenverfassung in diesen Tagen war. Vielleicht kam sie, ohne daß er sich dessen bewußt wurde, von den Qualen seiner geheimen Gewissensbisse um das entwendete Geld Katerina Iwanownas her. In den Augen der einen bin ich schon ein Schuft, soll ich es auch noch in den Augen der anderen werden? dachte er damals, wie er selbst später gestand. „Ja, wenn Gruschenka das erfährt, so wird sie nichts von einem solchen Schufte wissen wollen. Woher aber nun die Mittel nehmen, wie sich dieses verhängnisvolle Geld verschaffen? Nichts wird zustandekommen, alles werde ich verlieren, und einzig und allein darum, weil ich kein Geld habe! Oh, Schmach!“

Ich muß hier vorgreifen: Das war es ja, daß er vielleicht wußte, wo dieses Geld zu haben war, vielleicht sogar wußte, wo es lag! Ausführlicheres darüber werde ich dieses Mal noch nicht sagen, das wird sich später von selbst ergeben. Doch worin sein Hauptunglück bestand, darüber will ich, wenn er sich auch der Ursache desselben nicht ganz bewußt war, wenigstens meine Meinung äußern. Um diese irgendwo liegenden Mittel nehmen zu können, um das Recht zu haben, sie zu nehmen, war es unbedingt nötig, die Dreitausend Katerina Iwanowna zurückzuerstatten, – „sonst bin ich ein Taschendieb, ein Schuft, und mein neues Leben will ich nicht als Schuft beginnen.“ Das waren Mitjäs Gefühle, und darum beschloß er auch, wenn es sein müßte, die ganze Welt umzudrehen, doch diese Dreitausend Katerina Iwanowna unter allen Umständen zurückzugeben, was es auch koste. Den endgültigen Entschluß faßte er erst in den letzten Stunden, nämlich nach seinem letzten Gespräch mit Aljoscha, am Abend auf dem Wege zum Kloster, nachdem Gruschenka Katerina Iwanowna beleidigt hatte. Mitjä hatte nach der Erzählung Aljoschas sofort eingesehen, daß er wirklich als „Schuft“ gehandelt hatte, und befohlen, Katerina Iwanowna zu sagen, daß er die Bezeichnung annehme, „wenn das sie trösten könne“. Als er in dieser Nacht vom Bruder fortgegangen war, hatte er sich in seiner Verzweiflung gesagt, daß es für ihn besser wäre, „jemanden zu erschlagen, zu berauben, doch unbedingt die Schuld an Katjä zu tilgen“. „Mag ich lieber vor dem Toten und Geplünderten als Mörder und Dieb dastehen, und vor allen Menschen, – lieber will ich nach Sibirien geschickt werden, als daß ich Katjä das Recht gebe, von mir zu sagen, daß ich sie betrogen, ihr Geld gestohlen, und daß ich mit ihrem Geld Gruschenka entführt und ein neues Leben begonnen habe! Das kann ich nicht ertragen!“ So dachte Mitjä wutknirschend und glaubte, wie erwähnt, nicht ohne Grund, daß es zu jener „Gehirnentzündung“ kommen werde. Einstweilen aber kämpfte er noch ...

Sonderbar: schien es doch, daß ihm bei einem solchen Entschluß außer Verzweiflung nichts anderes übrigblieb; denn wo sollte er plötzlich dieses Geld hernehmen, ein Hungerleider wie er? Trotzdem aber glaubte und hoffte er bis zum Schluß, hoffte er die ganze Zeit über, daß er diese Dreitausend erhalten werde, daß sie, wenn nichts anders, ihm vom Himmel in den Schoß fallen würden. So aber ergeht es allen, die, wie Dmitrij Fedorowitsch, in ihrem Leben nur Geld verausgabt und ein durch Erbschaft und ohne Mühe erhaltenes Geld verschwendet haben, davon aber, wie man Geld verdient, sich überhaupt keine Vorstellung machen können.

Nachdem er Aljoscha damals verlassen hatte, waren ihm die phantastischsten Gedanken wie ein Sturmwind durch den Kopf gezogen. So kam es denn, daß er mit dem allerunglaublichsten Unternehmen anfing. Ja, es kommt vor, daß solchen Leuten in solcher Lage die phantastischsten Unternehmungen gerade die möglichsten scheinen. Er entschloß sich plötzlich, zum Kaufmann Ssamssonoff, dem Protektor Gruschenkas, zu gehen, und ihm einen Plan vorzulegen, um sich auf diese Weise sofort das nötige Geld zu verschaffen. Den kommerziellen Wert seines Projektes bezweifelte er nicht im mindesten. Was ihn peinlich beschäftigte, war viel mehr die eine Frage: wie der alte Ssamssonoff diesen Schritt aufnehmen werde, wenn er ihn nicht ausschließlich von der kommerziellen Seite betrachten sollte. Mitjä kannte diesen Kaufmann nur dem Ansehen nach: bekannt mit ihm war er nicht, noch nie hatte er mit ihm gesprochen. In Mitjä jedoch hatte sich schon lange die Überzeugung festgesetzt, daß dieser alte Wollüstling, dessen Stunden bereits gezählt waren, nichts dagegen haben würde, wenn Gruschenka einen „zuverlässigen Menschen“ heiraten wollte, ja, daß er sogar selbst wünschen werde, ihr dazu zu verhelfen, besonders wenn sich eine so gute Gelegenheit bot. Nach dem Hörensagen oder aus einigen Worten Gruschenkas entnahm er wohl, daß der Alte für Gruschenka Fedor Pawlowitsch vorgezogen hätte. Vielleicht werden viele Leser meiner Erzählung diese Hoffnung Mitjäs auf eine solche Hilfe und die Absicht, die Braut gewissermaßen aus den Händen ihres früheren Beschützers zu empfangen, sehr wenig feinfühlig von Dmitrij Fedorowitsch finden. Ich kann dazu nur eines bemerken: daß die Vergangenheit Gruschenkas von ihm als etwas ganz Abgetanes angesehen wurde. Er sah auf diese Vergangenheit mit unendlichem Mitleid, und in der Glut seiner Leidenschaft glaubte er, daß von dem Augenblick an, wenn Gruschenka ihm sagen werde, daß sie ihn liebe und mit ihm gehen wolle, sofort eine andere Gruschenka und er zusammen mit ihr gleichfalls ein anderer Dmitrij Fedorowitsch sein würde, ohne alle Laster und nur noch mit Tugenden begabt; beide würden sie einander alles vergeben und ihr Leben ganz von neuem beginnen. Was aber Kusjma Ssamssonoff anbelangt, so zählte er ihn zu den „verhängnisvollen“ Menschen in Gruschenkas früherem verunglückten Leben, den sie indessen nie geliebt hatte, und der – und dies war die Hauptsache – auch schon „Vergangenheit“ war, so daß er für ihn überhaupt nicht mehr da zu sein schien. Und außerdem konnte ihn Mitjä jetzt auch gar nicht mehr für einen Mann halten: wußte doch jedermann in der Stadt, daß die Beziehungen dieser „Ruine“ zu Gruschenka nur noch väterlicher Art und durchaus nicht mehr die von früher waren, und zwar schon lange nicht mehr, fast schon seit einem Jahr. Jedenfalls war von seiten Mitjäs viel Herzenseinfalt dabei, denn bei all seinen Lastern war er doch ein gutmütiger Mensch. Infolge dieser Herzenseinfalt war er denn auch unter anderem fest überzeugt, daß der alte Kusjma, jetzt, da er sich vorbereitete, in die andere Welt abzugehen, aufrichtige Reue wegen seiner Vergangenheit mit Gruschenka empfände, und daß Gruschenka nun keinen besseren Gönner, noch zuverlässigeren Freund haben könnte als gerade diesen harmlos gewordenen Alten.

Am Tage nach seinem Gespräch mit Aljoscha auf dem Felde (nach welchem Mitjä die ganze Nacht nicht hatte schlafen können), erschien er um zehn Uhr morgens im Hause Ssamssonoffs und ließ sich bei ihm anmelden. Es war ein altes, düsteres, sehr großes, zweistöckiges Haus mit einem Anbau und Nebengebäuden auf dem Hof. In der unteren Etage lebten die beiden verheirateten Söhne Ssamssonoffs mit ihren Familien, eine alte Schwester von ihm und eine unverheiratete Tochter. Im Anbau des Hauses waren zwei seiner Kommis untergebracht, von denen einer wiederum Vater einer zahlreichen Familie war. Alle diese Familien lebten eingeengt und eingezwängt in ihren kleinen Wohnungen, doch den ganzen oberen Stock seines Hauses bewohnte der Alte allein und erlaubte nicht einmal, daß seine Tochter bei ihm wohnte, die ihn pflegte, und zu bestimmten Stunden und auf die immerwährenden Rufe jedesmal zu ihm von unten nach oben laufen mußte, ungeachtet ihrer schwachen Brust. Dieser obere Stock bestand aus einer Menge großer Paradezimmer, die auf alte, kaufmännische Art ausgestattet waren: mit langen, langweiligen Reihen plumper angestrichener Sessel und Stühle aus rotem Holz an den Wänden, mit kristallenen Kronleuchtern in Überzügen, mit alten, trüben Spiegeln zwischen den Fenstern. Alle diese Zimmer waren unbewohnt, denn der kranke Alte hatte sich in ein einziges kleines Zimmer zurückgezogen, in ein abgelegenes, kleines Schlafzimmer, wo ihm eine alte Magd, die ihre Haare mit einem Tuch umwickelt trug, und ein Bursche, der auf der Truhe im Vorzimmer schlief, aufwarteten. Wegen seiner geschwollenen Füße konnte der Alte überhaupt nicht mehr allein gehen und erhob sich daher sehr selten aus seinem Ledersessel; die Alte, die ihm aufstehen half, führte ihn dann ein- oder zweimal durch das Zimmer. Er war streng und wortkarg; selbst mit der Alten sprach er kaum. Als man ihm den „Hauptmann“, wie der Alte Dmitrij Fedorowitsch zu nennen pflegte, meldete, befahl er, ihn abzuweisen. Aber Mitjä bestand darauf und bat, ihn noch einmal anzumelden. Kusjma Kusjmitsch erkundigte sich ausführlich beim Burschen nach dem Besuch: „Wie sieht er aus? Ist er nicht betrunken? Ist er vielleicht aufgebracht?“ und erhielt zur Antwort, daß er „nüchtern“ sei, aber auf keinen Fall fortgehen wolle. Der Alte befahl, ihn noch einmal abzuweisen. Da schrieb Mitjä, der das alles vorausgesehen und sich für den Fall mit Bleistift und Papier versorgt hatte, auf eine Karte: „In einer sehr dringlichen Angelegenheit, die Agrafena Alexandrowna betrifft,“ und schickte sie dem Alten. Nach einigem Nachdenken befahl der Alte dem Burschen, den Gast in den Saal zu führen; die Alte aber schickte er zum jüngeren Sohn nach unten, mit der Weisung, der möge sofort sich zu ihm nach oben begeben. Dieser jüngere Sohn, ein Mann von fast sieben Fuß Länge und von außergewöhnlicher Kraft, mit glattrasiertem Gesicht und in deutscher Kleidung (Ssamssonoff selbst trug einen russischen Leibrock und einen langen Bart), erschien sofort und ohne ein Wort zu reden. Alle zitterten sie vor dem Vater. Der Vater hatte den jungen Mann nicht etwa aus Furcht vor dem „Hauptmann“ rufen lassen, denn er war nichts weniger als furchtsam, sondern vielmehr, um auf jeden Fall einen Zeugen zugegen zu haben. In Begleitung des Sohnes und des Burschen, die ihn unter den Armen gestützt hielten, erschien der Alte endlich im Saal. Man sollte meinen, daß auch er eine genügend starke Neugier empfinden mußte. Der Saal, in dem Mitjä wartete, war ein sehr großes, dunkles, die Seele des Menschen bedrückendes Gemach, mit zwei übereinanderliegenden Fensterreihen und mit einer Galerie; die Wände waren marmorartig bemalt, und an der Decke hingen drei große Kristall-Kronleuchter in Überzügen. Mitjä saß auf einem kleinen Stuhl neben der Tür und wartete in nervöser Ungeduld. Als der Alte in der gegenüberliegenden großen Tür erschien, sprang Mitjä sofort vom Stuhl auf und ging ihm mit seinen festen Offiziersschritten entgegen. Er war gut gekleidet: in zugeknöpftem Gehrock, einen schwarzen, englischen Hut in der Hand und in schwarzen Handschuhen, fast genau so, wie er am Tage vorher beim Staretz zur Familienversammlung erschienen war. Der Alte erwartete ihn stehend, würdig und streng, und Mitjä fühlte sofort, daß jener ihn, solange er auf ihn zuging, musternd betrachtete. Das Gesicht Kusjma Kusjmitschs war in der letzten Zeit ganz aufgeschwollen und setzte Mitjä etwas in Erstaunen: seine untere und ohnehin schon dicke Lippe glich jetzt geradezu einem hängenden, dicken Fleischlappen. Würdig und schweigend verneigte er sich vor dem Gast und wies ihm einen Sessel neben dem Diwan an; er selbst aber ließ sich – von seinem Sohne gestützt und schwer ächzend – Mitjä gegenüber auf dem Diwan nieder. Mitjä empfand, als er die Anstrengung des Alten sah, in seinem Herzen sofort etwas wie zartfühlende Reue wegen seiner Belästigung eines so würdigen, kranken Greises.

„Womit kann ich Ihnen gefällig sein, mein Herr,“ fragte endlich der Alte, nachdem er sich gesetzt hatte, langsam, deutlich, streng, doch in höflichem Tone.

Mitjä fuhr zusammen und wollte schon vom Stuhl aufspringen, besann sich aber und blieb sitzen. Darauf fing er sofort mit lauter Stimme, sich überstürzend, mit unruhigen Gesten und in großer Aufregung zu reden an. Es war, wie wenn ein Mensch an der letzten Grenze angelangt ist, unmittelbar vor dem Untergang steht und noch einen letzten Ausweg sucht, – gelingt es ihm nicht, ihn zu finden, so springt er sofort ins Wasser. Alles das begriff der alte Ssamssonoff sofort, doch sein Gesicht blieb unveränderlich und kalt wie das eines Götzenbildes. Mitjä wußte nicht recht, wie er ihn anreden sollte.

„Der sehr geehrte Kusjma Kusjmitsch,“ begann er endlich, „wird wohl schon oft genug von meinen Streitigkeiten mit meinem Vater, Fedor Pawlowitsch Karamasoff, gehört haben, der mich des Erbes meiner leiblichen Mutter beraubt hat ... da ja die ganze Stadt davon spricht ... denn hier reden doch alle von Dingen, die sie nichts angehen ... Außerdem hätten Sie von Gruschenka ... pardon: von Agrafena Alexandrowna ... der von mir hochgeehrten und hochgeachteten Agrafena Alexandrowna ...“ So begann Mitjä und verwirrte sich schon bei den ersten Worten. Doch ich will hier nicht seine ganze Rede wortwörtlich wiederholen, sondern nur den Inhalt derselben. Zunächst ging’s folgendermaßen weiter: Mitjä hätte sich schon vor drei Monaten „absichtlich“ mit einem Advokaten aus der Gouvernementsstadt beraten, „mit dem berühmten Advokaten Pawel Pawlowitsch Korneplodoff. Sie werden diesen Namen wahrscheinlich schon gehört haben? Ein kluger Kopf, ein fast staatsmännischer Verstand ... er kennt Sie ... er hat Ihrer im besten Sinne erwähnt ...“ Mitjä verlor schon wieder den Faden. Aber das hielt ihn nicht im geringsten auf, er überhastete sich und strebte immer weiter. Dieser Korneplodoff hätte nun, nachdem er die Dokumente, die Mitjä ihm stellen konnte, zur Durchsicht verlangt (von den Dokumenten sprach Mitjä sehr unklar, und er beeilte sich offenbar, über diesen Punkt hinwegzukommen), ihm gesagt, daß man in betreff des Gutes Tschermaschnjä, das Mitjä mütterlicherseits zukam, tatsächlich einen Prozeß gegen den alten Lüstling beginnen könne ... „denn es sind doch nicht alle Türen verschlossen! Wer soll es denn sonst wissen, wenn nicht die Juristen, wo man durchschlüpfen kann!“ Mit einem Wort, man könne noch auf eine Abzahlung von sechstausend, sogar siebentausend Rubel von seiten Fedor Pawlowitschs hoffen. Denn Tschermaschnjä sei immerhin nicht weniger als fünfundzwanzigtausend wert, „das heißt achtundzwanzig – was sage ich –, dreißig, dreißigtausend, Kusjma Kusjmitsch, und denken Sie sich doch, ich hab nur siebzehntausend von ihm ausgezahlt erhalten! ... Ich habe die Sache damals nur deswegen liegen lassen, weil ich nichts mit dem Gericht zu tun haben wollte, doch als ich herkam, fiel ich geradezu aus den Wolken: Er bereitete eine Gegenklage vor!“ (Hier verwirrte sich Mitjä von neuem und übersprang daher auch diesen Punkt.) „Mit einem Wort, wollen Sie vielleicht, sehr geehrter Kusjma Kusjmitsch, alle meine Ansprüche auf dieses Gut übernehmen, und mir dafür nur dreitausend Rubel geben ... Sie können dabei in keinem Falle etwas verlieren, dessen versichere ich Sie bei meiner Ehre, sondern Sie können statt dreitausend, sechs- bis siebentausend gewinnen ... Die Hauptsache ist aber, daß man die Sache so schnell als möglich erledigt, wenn möglich sogar heute schon ... Ich werde Ihnen beim Notar, oder wie da ... Mit einem Wort, ich bin zu allem bereit, ich werde Ihnen alle Dokumente einhändigen, die Sie nur wollen, alles unterschreiben ... und wir würden dieses Papier sofort aufsetzen, und wenn es nur möglich, ja wenn es nur irgend möglich ist, sogleich heute alles erledigen ... Sie würden mir die Dreitausend geben ... Denn welcher Kapitalist hier in der Stadt könnte sich mit Ihnen messen? ... und Sie würden mich retten vor ... mit einem Wort, Sie würden meinen Kopf retten, um einer hochherzigen ... Ich hege die edelsten Gefühle zu einer gewissen Dame, die Sie nur zu gut kennen, und die Sie väterlich beschützen. Es sind hier, wenn Sie wollen, drei mit den Köpfen zusammengestoßen, denn das Schicksal – das ist etwas Grausames! Der Realismus, Kusjma Kusjmitsch, der Realismus! Da man Sie aber schon seit langem ausschließen muß, so bleiben nur noch zwei Köpfe ... pardon, ich drücke mich vielleicht nicht ganz geschickt aus ... ich bin kein Literat. Das heißt, der eine Kopf, das bin ich, und der andere – das ist das Ungeheuer! Und so wählen Sie denn. Alles liegt jetzt in Ihren Händen ... drei Schicksale und zwei Lose ... Verzeihen Sie, ich habe mich versprochen ... doch Sie verstehen schon ... ich sehe es an Ihren ehrwürdigen Augen, daß Sie verstanden haben ... Wenn Sie aber nicht verstehen wollen, so ist es heute noch aus mit mir!“

Mitjä hielt plötzlich in seiner sinnlosen Rede inne und erwartete eine Antwort auf seinen dummen Vorschlag. Bei der letzten Phrase hatte er plötzlich gefühlt, daß nun alles verloren war – und hauptsächlich, daß er einen schrecklichen Unsinn zusammengesprochen hatte. „Sonderbar, als ich herkam, schien mir alles so klar und gut, und jetzt ist alles Unsinn!“ ging es ihm plötzlich durch seinen hoffnungslosen Kopf. Die ganze Zeit, während er sprach, saß der Alte unbeweglich da und beobachtete ihn mit einem eisigen Ausdruck. Nachdem er ihn eine Weile auf seine Antwort hatte warten lassen, sagte er endlich im kühlsten und teilnahmlosesten Tone:

„Entschuldigen Sie, aber mit solchen Sachen befassen wir uns nicht.“

Mitjä fühlte, daß seine Füße schwach wurden.

„Was soll ich jetzt tun, Kusjma Kusjmitsch?“ murmelte er erblassend. „Was glauben Sie, jetzt bin ich doch verloren?“

„Entschuldigen Sie ...“

Mitjä stand noch immer da und starrte vor sich hin, und plötzlich bemerkte er, daß im Gesicht des Alten etwas zuckte. Er schrak zusammen.

„Sehen Sie, mein Herr, solche Sachen – passen mir nicht,“ sagte langsam der Alte, „mit dem Gericht und mit den Advokaten, das ist das reine Unglück! Doch wenn Sie wollen, ich kenne einen Menschen, an den Sie sich damit wenden könnten ...“

„Mein Gott, wer ist das? ... Sie retten mich, Kusjma Kusjmitsch!“ stotterte Mitjä.

„Er ist kein Hiesiger, und auch jetzt befindet er sich nicht hier. Er ist Bauer, handelt mit Wald und heißt Ljägawyj. Mit Fedor Pawlowitsch verhandelt er schon ein Jahr lang wegen des Waldes von Tschermaschnjä; sie können mit dem Preis nicht übereinkommen, wie Sie vielleicht gehört haben. Jetzt ist er wieder hergekommen und hält sich beim Popen Iljinskij auf, zwölf Werst von der Station Wolowje entfernt, im Dorfe Iljinskoje. Er hat auch an mich in dieser Angelegenheit geschrieben, das heißt, er hat mich wegen des Waldes um Rat gefragt. Fedor Pawlowitsch wollte selbst hinfahren. Wenn Sie jetzt Fedor Pawlowitsch zuvorkommen und dem Ljägawyj dasselbe vorschlagen, was Sie mir vorgeschlagen haben, so könnte er ...“

„Ein genialer Gedanke!“ unterbrach ihn Mitjä begeistert. „Gerade ihm, gerade ihm muß man das in die Hand geben! Er will den Wald kaufen, man verlangt einen hohen Preis von ihm, und da, da gibt man ihm ein Dokument mit dem Anrecht auf den ganzen Besitz in die Hände, hahaha!“ Und Mitjä lachte plötzlich sein trockenes, kurzes Lachen, und zwar so unerwartet, daß Ssamssonoff mit dem Kopf zurückzuckte.

„Wie soll ich Ihnen dafür danken, Kusjma Kusjmitsch!“ stieß Mitjä aufgeregt hervor.

„Ich bitte, nicht der Mühe wert,“ erwiderte Ssamssonoff mit einem Kopfneigen.

„Sie wissen gar nicht, Sie haben mich gerettet, mein Vorgefühl hat mich zu Ihnen geführt ... Also, auf zu diesem Popen! Ich eile, ich fliege sofort ... Ich habe auf Ihre Krankheit keine Rücksicht genommen ... Aber ich werde es Ihnen nie vergessen! Ein russischer Mensch sagt Ihnen das, Kusjma Kusjmitsch, ein russischer Mensch!“

„Sehr wohl.“

Mitjä wollte bereits die Hand des Alten ergreifen, um sie zu schütteln, doch etwas Böses blitzte in dessen Augen auf. Mitjä ließ seine Hand sinken, machte sich aber seines Argwohns wegen sofort Vorwürfe. „Er ist ermüdet ...“ ging es ihm durch den Sinn.

„Für sie! Für sie! Kusjma Kusjmitsch! Sie verstehen mich doch, alles ist ja für sie!“ rief er plötzlich laut durch den ganzen Saal, verbeugte sich, drehte sich auf dem Hacken hastig um und ging mit denselben raschen, gleichmäßigen Schritten, ohne sich umzukehren, dem Ausgang zu. Er zitterte vor Begeisterung. „Alles war schon verloren, da hat mich mein Schutzengel gerettet! ... Und wenn schon selbst solch ein Geschäftsmann wie dieser Alte –, welch ein edler Greis, welch eine Haltung! – mir diesen Ausweg zeigt, so ... so ist doch wenigstens schon der Weg gefunden! Ich werde sofort hinfahren. Vor der Nacht bin ich dann wieder zurück, und die Sache ist erledigt. Der Alte hat sich doch nicht über mich lustig machen wollen?“ So dachte Mitjä bei sich, als er in seine Wohnung eilte. Es konnte ihm auch gar nicht anders scheinen: entweder, es war ein sachlicher Rat (von solch einem Geschäftsmann!) mit Sachkenntnis gegeben, oder – oder aber der Alte hatte sich wirklich über ihn lustig gemacht! Leider war der zweite Gedanke der richtige. Später, lange nachher, als die ganze Katastrophe schon geschehen war, gestand der alte Ssamssonoff selbst lachend, daß er sich über den „Hauptmann“ tatsächlich lustig gemacht hatte. Er war ein böswilliger, kalter und höhnischer Mensch, und dazu war er noch voller krankhafter Abneigungen. Die begeisterte Stimmung des „Hauptmanns“, die dumme Überzeugung dieses „Verschwenders und Verschleuderers“, daß er, Ssamssonoff, auf so einen „wilden Plan“ hereinfallen könnte, die Eifersucht wegen Gruschenka, um derentwillen dieser „Herumtreiber“ zu ihm gekommen war, um für irgendeinen wilden Blödsinn Geld zu erhalten – ich weiß nicht, was in dem Alten in jenem Augenblick aufstieg, als Mitjä vor ihm stand und fühlte, daß seine Füße schwach wurden, und er sinnlos ausrief, daß er verloren sei: aber in dieser Minute sah der Greis mit unendlicher Wut auf ihn und nahm sich vor, ihn zum besten zu haben. Als Mitjä hinausgegangen war, befahl Kusjma Kusjmitsch, bleich vor Zorn, seinem Sohn, dafür zu sorgen, daß von diesem Herumtreiber hinfort selbst nicht der Schatten mehr vor seine Augen komme, nicht einmal auf den Hof solle man ihn lassen, geschweige denn ...

Er beendete seine Drohung nicht, doch der Sohn, der ihn oft im Zorn gesehen hatte, erzitterte vor Furcht, denn so war der Vater noch nie gewesen. Noch eine ganze Stunde nachher bebte der Alte vor Wut, und zum Abend hin erkrankte er und schickte nach dem Arzt.

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