Es begann eine Orgie, ein Fest über die ganze Erde hinweg! Gruschenka war die erste, die nach Wein rief: „Trinken will ich, betrunken will ich sein, oh, ganz betrunken, so wie damals, weißt du noch, Mitjä, weißt du, als wir uns hier anfreundeten!“ Mitjä selbst war wie im Fieber, und er „ahnte sein Glück“. Übrigens wurde er von Gruschenka immer wieder fortgeschickt: „Geh, sei lustig, sag ihnen, daß sie tanzen sollen, damit sich alle freuen, auch Hund und Katze, wie im Volkslied, alles, alles, wie damals, wie damals!“
Und Mitjä stürzte fort, um alles so anzuordnen, wie sie wollte. Der Chor hatte sich im Nebenzimmer versammelt, denn das blaue Zimmer, in dem man saß, war zu klein dazu, da es durch einen Kattunvorhang in zwei Hälften geteilt war. In der zweiten Hälfte stand ein riesengroßes Bett mit weichen Daunenkissen und einem ganzen Berg von Kopfkissen in Kattunbezügen. Solche Betten gab es in jedem der vier Gastzimmer. Gruschenka setzte sich an die Tür, wohin Mitjä ihren Lehnstuhl für sie gebracht hatte: so hatte sie auch „damals“ gesessen und dem Tanz zugesehen. Von den Mädchen waren wieder dieselben gekommen; keine einzige fehlte. Die jüdischen Musikanten waren mit Geigen, Zithern und Zimbeln gleichfalls angelangt, und schließlich kam auch die erwartete Fuhre mit den übrigen Vorräten und Weinen an. Mitjä war sehr in Anspruch genommen. Im vorderen Zimmer hatten sich noch andere Zuschauer versammelt, Weiber und Männer, die sich, als die Mädchen zum Chorgesang aufgetrieben worden waren, gleichfalls erhoben hatten, da sie sich wieder einmal eine ähnlich märchenhafte Bewirtung, wie sie ihnen vor einem Monat zuteil geworden war, versprachen. Mitjä begrüßte und umarmte die Bekannten, erinnerte sich der Gesichter, entkorkte Flaschen und schenkte allen ein, die sich ihm näherten. Der Champagner schmeckte eigentlich nur den Mädchen gut, die Männer zogen ihm Rum und Kognak vor, und besonders heißen Punsch. Auf Mitjäs Befehl wurde für alle Mädchen Schokolade gekocht; drei Ssamoware kochten die ganze Nacht Wasser für Tee und Punsch, damit alle sich bewirten konnten. Mit einem Wort, es begann etwas ungeheuer Sinnloses, doch Mitjä schien gerade in seinem Elemente zu sein, und je sinnloser alles wurde, desto mehr belebte sich sein ganzes Wesen. Hätte ihn jemand von den Bauern um Geld gebeten, so würde er sofort seine ganze Barschaft hervorgezogen und nach links und rechts, ohne zu bedenken, die Geldscheine hingegeben haben. Das war denn auch wahrscheinlich der Grund, warum Trifon Borissytsch, der, wie es schien, bereits jeden Gedanken an Schlaf in dieser Nacht aufgegeben hatte, Mitjä auf keinen Augenblick verließ, sich immer in seiner Nähe zu schaffen machte, und so auf seine Art Mitjäs Interessen bewachte. Er hatte nur ein einziges Glas Punsch getrunken, war also noch vollständig nüchtern, und so trat er denn, wenn er es für nötig fand, an Mitjä heran und beredete ihn, hielt ihn auf, ließ es nicht zu, daß er den Bauern „wie damals“ Zigarren und Rheinwein gab, und – um Gottes willen! – erst recht kein Geld, und war sehr ungehalten darüber, daß diese Dorfmädchen Liköre tranken und teure Süßigkeiten aßen. „Das ist doch nichts als die reine Verlaustheit, Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte er unwillig. „Ich werde jeder von ihnen Fußtritte geben, und befehlen, sich das noch zur Ehre anzurechnen, – derart ist das Pack!“ Mitjä erinnerte ihn noch einmal an Andrei und befahl, ihm Punsch zu geben. „Ich habe ihn vorhin gekränkt,“ wiederholte er mit weicher und gerührter Stimme. Kalganoff wollte zuerst von Wein nichts wissen, und auch der Gesang gefiel ihm anfangs nicht, doch als er noch zwei Glas Champagner getrunken hatte, wurde auch er ungewöhnlich munter und guter Laune, schritt im Zimmer auf und ab, lachte, lobte alles und jedes, die Lieder sowohl wie die jüdische Musikkapelle. Maximoff, der selig und betrunken war, verließ ihn nicht auf einen Schritt. Gruschenka, die gleichfalls schon einen kleinen Rausch hatte, machte Mitjä auf Kalganoff aufmerksam: „Wie reizend er ist, was für ein prächtiger Junge!“ Und Mitjä trat sofort entzückt zu Kalganoff und küßte sein junges Knabengesicht und küßte darauf auch noch seinen treuen Begleiter Maximoff. Oh, er ahnte vieles: zwar hatte sie ihm noch nichts gesagt, was zu Hoffnungen berechtigte, und augenscheinlich bezwang sie sich sogar absichtlich, um ihm noch nichts zu sagen; nur hin und wieder fing er ihren spähenden und heißen Blick auf. Schließlich erfaßte sie plötzlich fest seine Hand und zog ihn zu sich nieder. Das war, als sie im Lehnstuhl an der Tür saß.
„Wie konntest du nur so eintreten, als du vorhin ankamst, sag? Wie konntest du so eintreten! ... Ich erschrak so maßlos. Wie konntest du mich ihm nur abtreten? Sag, wolltest du das wirklich?“
„Ich wollte deinem Glück nicht im Wege sein,“ sagte Mitjä selig. Sie wußte es auch, ohne daß er es ihr sagte.
„Nun geh ... sei lustig.“ Damit schickte sie ihn wieder fort. „So sei doch nicht traurig, ich werde dich wieder rufen.“
Und er ging abermals fort, sie aber hörte von neuem dem Gesang zu, doch ihr Blick folgte ihm unverwandt, wo er auch war oder ging, und nach einer Viertelstunde rief sie ihn wieder zu sich, und wieder eilte er selig zu ihr hin.
„So, setz dich jetzt her zu mir, erzähl mir, wie du gestern erfahren hast, daß ich hierhergefahren war. Von wem erfuhrst du es ganz zuerst?“
Und Mitjä erzählte alles, erzählte zusammenhanglos, zerstreut, erregt und sehr eigentümlich, verstummte mehrmals ganz plötzlich und zog finster die Brauen zusammen.
„Was hast du, warum runzelst du die Stirn?“ fragte sie.
„Nichts ... ich habe dort einen Kranken zurückgelassen. Wenn er wieder gesund wird, wenn ich wüßte, daß er gesund wird, oh, zehn Jahre meines Lebens würde ich dafür geben!“
„Nun, Gott mit ihm, wenn er krank ist. Und du wolltest dich wirklich morgen erschießen, du dummer Junge, und warum nur? Weißt du, gerade solche Unbesonnene, wie du, liebe ich,“ flüsterte sie mit etwas schwerer Zunge. „So würdest du für mich alles tun? Sag? Und wolltest du dich, kleiner Dummkopf, tatsächlich deswegen erschießen? Nein, weißt du, wart damit noch ein wenig, morgen werde ich dir vielleicht etwas Schönes sagen ... nicht heute, nein, morgen. Du aber würdest es wohl gern schon heute hören? Nein, heute will ich nicht ... Nun geh, geh jetzt, freue dich.“
Einmal aber rief sie ihn ganz erschrocken und besorgt zu sich.
„Was hast du? Ich sehe es, daß dich etwas bedrückt. Nein, leugne nicht, ich sehe es, ich kenne dich,“ sagte sie und blickte ihn aufmerksam mit unbeweglich offenen Augen an. „Du küßt dort wohl die Bauern ab und lachst, aber ich sehe trotzdem dieses Etwas. Nein, amüsiere dich lieber, denn ich freue mich, und so sollst du dich gleichfalls freuen ... Einen von denen, die hier sind, habe ich lieb, rat mal, wer das ist? ... Ach, sieh doch: mein Herzensjunge ist eingeschlafen, er hat wohl zu viel getrunken, der Kleine.“
Sie meinte Kalganoff. Der war auf dem Sofa mittlerweile eingenickt. Doch war er nicht vom Weine allein eingeschlafen, sondern er war traurig geworden, oder, wie er sich ausdrückte: es war ihm „langweilig“ geworden. Die Lieder der Dorfmädchen hatten ihn zum Schluß stark herabgestimmt, da sie, in Zusammenwirkung mit den genossenen Getränken, in ein für ihn gar zu Zügelloses und Unzüchtiges ausarteten. Und nicht minder die Tänze: zwei von den Mädels hatten sich als Bären verkleidet, und Stepanida, ein anderes Mädel, ging mit einem Stock voran und spielte den Bärenführer, der die beiden „zeigte“. „Munterer, Maria,“ rief sie, „oder sonst kriegst du Prügel, hier, mit diesem Stock!“ Schließlich purzelten die Bären irgendwie in ganz besonders unanständiger Weise zu Boden, was lautes Gelächter des versammelten, dichtgedrängten Publikums von Männern und Weibern hervorrief. – „Nun, nun, laßt sie doch, laßt sie doch sich amüsieren,“ hatte Gruschenka mit seligem Gesichtsausdruck gesagt, „haben sie auch einmal eine Gelegenheit, sich zu freuen, warum sollen sie es denn nicht tun? Nein, laßt sie, laßt sie, laßt sie sich ihres Lebens freuen.“ Kalganoff aber hatte dreingeschaut, als hätte er sich mit irgend etwas beschmutzt. „Nichts als eine Schweinerei, diese ganzen Volksgeschichten,“ hatte er gemeint und sich zum Sofa zurückgezogen. „Das sollen ihre Frühlingsspiele sein, wenn sie die Sonne die ganze Nacht über hüten!“ Besonders mißfallen hatte ihm ein Liedchen mit einer munteren Tanzweise, das davon erzählte, wie der Herr ausfährt und die Mädchen „probiert“:
Der Herr fuhr aus, die Mädchen zu erproben,
Ob sie lieben oder nicht?
Doch den Mädchen scheint es, daß man den Herrn nicht lieben könne, es hieß:
Der Herr, der wird mich schlagen,
Und ich kann mich dann plagen.
Darauf fährt der Zigeuner aus, doch auch ihn konnte man nicht lieben, denn:
Ach, der liebt nicht mich,
Der liebt ja nur das Stehlen,
Und ich kann mich dann grämen.
Und so fuhren viele vorüber, selbst ein Soldat; doch der wurde mit Verachtung zurückgewiesen:
Der wird nur den Ranzen tragen
und ich ...
Hier folgte ein gar zu derber Vers, der aber vollkommen offenherzig vorgesungen wurde und beim angeheiterten Publikum geradezu Furore machte. Schließlich endete es mit dem Kaufmann:
Da fuhr denn auch der Kaufmann aus
Die Mädchen zu probieren,
Ob sie lieben oder nicht?
Und da zeigte es sich, daß man ihn sogar sehr liebte, denn:
Der Kaufmann wird hübsch Handel treiben,
Und ich kann dann die Herrin bleiben.
Kalganoff war darob ganz böse geworden:
„Das ist ja ein vollkommen modernes Lied,“ hatte er laut und unwillig gesagt, „wer dichtet ihnen denn solche Lieder? Es fehlte noch, daß die Eisenbahnaktionäre und die Juden herumziehen, die Mädchen zu probieren: die würden alle besiegen.“ Und fast gekränkt hatte er gesagt, daß er sich langweile, und hatte sich auf das Sofa gesetzt, wo er dann eingeschlafen war. Sein reizendes Gesicht war etwas bleich geworden, und der Kopf war an das Kissen der Sofalehne zurückgesunken.
„Sieh doch, wie reizend er ist,“ sagte Gruschenka, als sie Mitjä zu ihm geführt hatte. „Ich habe ihm vorhin das Köpfchen gestreichelt. Wie Flachs ist sein Haar, und so dicht ...“
Sie beugte sich gerührt über ihn und küßte ihn auf die Stirn. Kalganoff schlug sofort die Augen auf und blickte sie an, erhob sich und fragte mit der besorgtesten Miene: „Wo ist Maximoff?“
„Hör doch, was seine erste Sorge ist!“ sagte Gruschenka lachend. „So sitz doch ein Weilchen mit mir. Mitjä, such ihm seinen Maximoff auf.“
Da zeigte sich, daß Maximoff jetzt die Mädchen auf keinen Augenblick mehr verließ, nur hin und wieder lief er zum Tisch, um ein Gläschen Likör zu trinken, und Schokolade hatte er schon tassenweise getrunken. Sein Gesicht war rot, die Nase blaurot, und die Augen waren feucht geworden und blickten süßlich-selig drein. Er kam sofort herbeigelaufen und meldete, daß er sogleich nach einem „besonderen Motivchen“ die Sabotière tanzen werde.
„Man hat mich doch, als ich-ich noch klein war, in diesen französischen Tänzchen unterrichtet ...“
„Nun geh, geh mit ihm, Mitjä, ich werde von hier aus zusehen, wie er dort tanzt.“
„Nein, auch ich, auch ich will ihn tanzen sehen,“ rief Kalganoff, womit er in der allernaivsten Weise Gruschenkas Einladung, neben ihr zu sitzen, verschmähte. Und so begaben sich denn alle hin, um zuzusehen. Maximoff führte tatsächlich seinen Tanz aus, doch außer Mitjä konnte er niemanden so recht entzücken. Der ganze Tanz bestand in Hopsern, wobei die Füße zur Seite geworfen wurden, so daß die Stiefelsohlen nach oben kamen, und bei jedem Sprung schlug Maximoff mit der flachen Hand auf die Sohle. Kalganoff gefiel der Tanz gar nicht, Mitjä aber umarmte den Tänzer vor Entzücken.
„Bravo, großartig! Nun, bist du müde, was? Willst du etwas? Ein Bonbon, wie? Oder willst du eine Zigarette?“
„Ein Zigarettchen, bitte.“
„Willst du nicht auch trinken?“
„Ich habe hier Likörchen ... Aber haben Sie nicht noch etwas Schokoladenkonfekt?“
„Auf dem Tisch ist doch eine ganze Fuhre, nimm was du willst, du Taubenseele!“
„Nein, ich will – will eines mit Vanille ... etwas Besonderes für alte Menschen ... hi – hi!“
„Nein, mein Freund, so etwas Besonderes gibt es nicht.“
„Hören Sie!“ sagte plötzlich der Alte, ganz zu Mitjäs Ohr gebeugt, „dies eine Mädel, die Marjuschka, hi – hi! Könnt ich nicht, wenn’s-wenn’s möglich wäre, ihre Bekanntschaft machen, dank Ihrer Güte ...“
„Oho, sieh mal einer, was dir in den Sinn gekommen ist! Nein, Freund, du faselst ...“
„Ich-ich tue doch niemandem was Schlechtes,“ flüsterte Maximoff wehmütig.
„Nun gut, gut. Aber Freund, das geht nicht, hier wird nur gesungen und getanzt ... übrigens – hol’s der Teufel! Wart ... Trink vorläufig, iß, zerstreue dich. Brauchst du Geld?“
„Später vielleicht ein bißchen,“ meinte Maximoff schmunzelnd.
„Gut, gut ...“
Mitjä brannte der Kopf. Er ging hinaus in den Flur und trat auf die obere kleine Galerie, die auch auf dem Hof einen Teil des ganzen Gebäudes umgab. Die frische Luft belebte ihn. Er stand in der Dunkelheit an die Wand gelehnt, in einer Ecke, und plötzlich faßte er sich mit beiden Händen an den Kopf. Seine zerstreuten Gedanken sammelten sich schnell, seine Empfindungen vereinigten sich zu einer einzigen Vorstellung, und alles wurde ihm klar. Eine furchtbare, grausige Erleuchtung war’s! „Wenn ich mich schon erschieße, wann soll es denn geschehen, wenn nicht jetzt?“ zuckte es ihm durch den Kopf. „Einfach den Pistolenkasten herbringen und hier, gerade hier in dieser schmutzigen, dunklen Ecke mit allem ein Ende machen.“ Eine ganze Minute lang war er unentschlossen. Vorhin, als er hergejagt war, hatte hinter ihm die Schande gestanden, begangener Diebstahl und dieses Blut, oh, dieses Blut! ... Doch da war ihm leichter zumut gewesen, oh, viel leichter! Damals hatte er doch mit allem abgeschlossen; er hatte sie verloren, hatte sie abgetreten, sie war für ihn verschwunden, untergegangen, – oh, da war es leichter gewesen, das Todesurteil an sich zu vollziehen. Wenigstens war es ihm unbedingt notwendig, ganz unvermeidlich erschienen, denn wozu dann noch leben, hatte er sich gefragt? Jetzt aber! War es denn jetzt dasselbe wie damals? Jetzt war doch schon ein Schrecknis, ein Gespenst beseitigt: der „Erste“, ihr Alleinberechtigter, dieser fatale Mensch war verschwunden. Das große Schreckgespenst war so klein geworden, so lächerlich: man hatte es im Nebenzimmer hinter Schloß und Riegel einfach eingesperrt. Und niemals wird es mehr ängstigen! Sie schämt sich seiner, und in ihren Augen hat er klar gelesen, wen sie jetzt liebt. Ach, jetzt nur leben, leben! Und da – gerade jetzt nicht leben können! Oh, verflucht! „Gott, erwecke den Toten am Zaun! Gott, mein Gott, laß diesen furchtbaren Kelch an mir vorübergehen! Hast Du doch Wunder getan, und an ebenso großen Sündern wie ich! Aber wie, wenn der Alte lebt? Oh, dann werde ich die Schande der anderen Schmach vernichten, ich werde das gestohlene Geld zurückerstatten, alles zurückgeben, aus der Erde hervorkratzen ... Es wird keine Spur mehr von der Schande übrigbleiben, außer in meinem Herzen, und dort wird sie bis in alle Ewigkeit brennen! Aber nein, nein, das sind ja unmögliche, kleinmütige Träume! Oh, Fluch!“
Und doch war es ihm, als fühlte er einen hellen Hoffnungsstrahl durch das Dunkel leuchten. Er riß sich plötzlich los von der Ecke und stürzte in die Zimmer zu ihr, wieder zu ihr, seiner Königin! „Ist denn eine Stunde, eine Minute ihrer Liebe nicht das ganze Leben wert, wenn auch in Qualen der Schmach und Schande?“ Diese wilde Frage machte sein Herz klopfen. „Zu ihr, zu ihr allein, sie sehen, sie hören und an nichts denken, alles andere vergessen, und wenn auch nur diese eine Nacht – eine Stunde, einen Augenblick lang!“ Kurz vor der Tür zum Flur, noch auf der Galerie, stieß er mit dem Wirt Trifon Borissytsch zusammen. Der kam ihm finster und besorgt vor und schien ihn zu suchen.
„Was ist – Borissytsch, suchst du mich?“
„Nein, nicht Euch,“ sagte der Wirt etwas erschrocken, wie es Mitjä schien. „Warum sollte ich Euch suchen? Aber ... wo wart Ihr denn?“
„Warum bist du plötzlich so mißgestimmt? Ärgerst du dich etwa? Wart, bald kannst du schlafen gehn ... Wie spät ist es denn eigentlich schon?“
„Es wird drei sein, vielleicht aber auch schon vier.“
„Dann machen wir ein Ende damit, dann ist es genug!“
„Aber ich bitte, es hat doch nichts zu sagen. Solange es Euch beliebt, Herr ...“
„Was hat der Kerl?“ fuhr es Mitjä durch den Sinn, und er trat eilig in das Zimmer, in dem die Mädchen tanzten. Doch Gruschenka war nicht da. Im blauen Zimmer war sie gleichfalls nicht zu sehen; nur Kalganoff allein schlummerte auf dem Sofa. Mitjä blickte hinter den Vorhang – dort war sie. In der Ecke saß sie auf einer Truhe, hatte sich mit den Armen und dem Kopf auf das daneben stehende Bett gestützt und weinte, war dabei aus allen Kräften bemüht, ihr Schluchzen zu ersticken, damit es niemand höre. Als sie Mitjä bemerkte, streckte sie ihm die Hand entgegen, und als er zu ihr stürzte, preßte sie seine Finger wie im Krampf.
„Mitjä, Mitjä, ich habe ihn doch geliebt!“ raunte sie ihm qualvoll zu, „so geliebt, diese ganzen fünf Jahre, die ganze, ganze Zeit. Sag, habe ich ihn oder habe ich nur meinen Haß geliebt? Nein, ihn! Ach, ihn! Ich lüge doch, wenn ich sage, daß ich meinen Haß und nicht ihn geliebt habe! Mitjä, ich war ja damals erst siebzehn Jahre alt, und er war damals so freundlich zu mir, so lustig und sang mir Lieder vor ... Oder sollte es mir, dem dummen Kinde, damals nur so geschienen haben? ... Jetzt aber, o Gott! – das ist ja gar nicht er, gar nicht derselbe! Und auch das Gesicht ist ein ganz anderes, ich erkannte ihn zuerst nicht einmal. Als ich mit Timofei herfuhr, dachte ich die ganze Zeit, die ganze Zeit: ‚Wie werde ich ihm entgegentreten, was werde ich ihm sagen, wie werden wir uns in die Augen blicken können? ...‘ Meine Seele wollte vergehen. Und da komme ich hier an und er – ach, als hätte er mir Spülicht übergegossen! Redet wie ein Schulmeister, alles so pedantisch, wichtig, aufgeblasen, empfängt mich so unnahbar, daß ich ganz verdutzt war. Ich wußte kein Wort zu sagen. Anfangs glaubte ich, daß er sich vor diesem anderen, seinem langen Polen, schämt. Ich saß, betrachtete sie beide und dachte: Warum verstehe ich denn plötzlich nicht mehr mit ihm zu sprechen? Weißt du, das hat seine Frau aus ihm gemacht, dieselbe, wegen der er mich damals verließ, und die er dann heiratete ... Sie, sie hat ihn dort so umgemodelt. Mitjä, diese Schande, diese Schande ertrage ich nicht! Mitjä, wenn du wüßtest, wie ich mich schäme, Mitjä, für mein ganzes Leben! Verflucht seien diese ganzen fünf Jahre, verflucht!“ Und sie brach wieder in Tränen aus und schluchzte, doch Mitjäs Hand ließ sie nicht mehr los, sie hielt sie krampfhaft fest.
„Mitjä, Liebling, wart, geh nicht fort, ich habe dir etwas zu sagen,“ raunte sie ihm plötzlich, das Gesicht zu ihm erhebend, zu. „Höre, sage du mir, wen ich liebe? Ich habe hier von allen nur einen lieb. Wer mag nun das wohl sein? Sieh, das sollst du mir sagen.“ Auf ihrem von den Tränen geschwollenen Gesicht erschien ein Lächeln, und ihre Augen glänzten im Halbdunkel. „Es kam vorhin ein Falke her, und als ich ihn erblickte, da rief mir das Herz zu: ‚Wie dumm du bist, sieh, den dort, den allein liebst du!‘ – so flüsterte mir im Augenblick das Herz zu. Du tratest ein, und alles erleuchtetest du, – du! ‚Aber was fürchtet er?‘ fragte ich mich. Denn du fürchtetest dich doch, nicht wahr, du konntest ja kaum sprechen. ‚Er kann doch nicht diesen ... diesen fürchten,‘ dachte ich, – kannst du dich denn überhaupt vor jemandem fürchten? ‚Nein, mich fürchtet er, mich, nur mich allein!‘ dachte ich. So hat dir also Fenjä erzählt, wie ich Aljoscha durch das Fenster zugerufen habe, daß ich Mitjenka im ganzen ein Stündchen geliebt hätte und nun fortführe, um einen anderen zu ... lieben? Mitjä, ach Mitjä, wie konnte ich dummes Geschöpf glauben, daß ich nach dir noch einen anderen lieben könnte! Verzeihst du mir, Mitjä? Verzeihst du mir oder nicht? Liebst du mich? Liebst du mich?“
Sie sprang auf und faßte ihn mit beiden Händen an den Schultern. Mitjä blickte ihr stumm vor Entzücken in die leuchtenden Augen, in das Gesicht, auf ihre lächelnden Lippen, und plötzlich riß er sie in seine Arme, preßte sie wie mit Klammern an sich und küßte sie, küßte sie.
„Und verzeihst du mir, daß ich dich gequält habe? Ich habe euch alle doch nur aus Haß, wegen meiner Liebe zu ihm, so gequält. Ich habe doch den Alten absichtlich, aus Bosheit um den Verstand gebracht ... Weißt du noch, wie du einmal bei mir trankst und darauf das Glas zerschlugst? Das habe ich nicht vergessen, und so habe ich heute gleichfalls mein Glas zerschlagen. Ich trank auf mein ‚niedriges Herz‘! Mitjä, mein lichter Falke, warum küßt du mich nicht? Hast mich nur einmal geküßt und bist dann erstarrt, hörst du ... Wozu mich anhören! Küß mich, küß mich stärker, so, so. Liebt man, dann soll man auch lieben! Ich werde jetzt deine Sklavin sein, mein ganzes Leben lang deine Sklavin! Süß ist es, Sklavin zu sein! ... Küß mich! Schlage mich, quäle mich, tu mir etwas an ... Ach, wirklich, du solltest mich foltern ... Nein! nicht! ... wart, später, so will ich nicht ...“ – Und sie stieß ihn plötzlich zurück. „Geh fort, Mitjä, ich werde jetzt Wein trinken, ich will mich antrinken, ich will betrunken tanzen, ich will, ich will!“
Sie riß sich von ihm los und lief fort. Mitjä folgte ihr wie im Traum. „Meinetwegen, meinetwegen ... was jetzt auch geschehen mag, – für eine Minute gebe ich die ganze Welt hin,“ fuhr es ihm wirr durch den Kopf. Gruschenka leerte auf einen Zug noch ein ganzes Glas Champagner. Sie setzte sich in den Lehnstuhl, auf ihren alten Platz und lächelte selig! Ihre Wangen glühten, die Lippen schienen zu brennen, über ihre Augen legte sich ein matter Schimmer, und der Blick blinkte verführerisch. Selbst Kalganoff schien ihn zu spüren, und er trat an sie heran.
„Hast du es gefühlt, mein Herzensjunge, wie ich dich vorhin küßte, als du schliefst?“ fragte sie ihn mit etwas schwerer Zunge. „Betrunken bin ich jetzt, siehst du ... Und du nicht? Aber warum trinkt Mitjä nicht? Warum trinkst du nicht, Mitjä? Sieh, ich habe schon getrunken, du aber trinkst nicht ...“
„Ich bin ja schon betrunken! Auch so schon trunken ... trunken von dir, jetzt aber will ich es auch noch vom Weine werden.“
Er stürzte noch ein Glas hinab und – es schien ihm selbst sonderbar – erst von diesem Glase wurde er betrunken, ganz plötzlich, bis dahin war er immer noch nüchtern gewesen. Das fühlte er jetzt deutlich, da er wirklich betrunken wurde. Von diesem Augenblicke an begann alles sich vor ihm wie im Rausch zu drehen. Er ging, lachte, sprach mit allen und tat es doch, wie ohne zu wissen, was er tat. Nur ein einziges, unbewegliches, brennendes Gefühl trug er fortwährend mit sich herum, „ganz wie eine glühende Kohle“, sagte er später. Er trat zu ihr, setzte sich neben sie hin, blickte sie an, hörte ihr zu ... Sie aber wurde ungemein gesprächig: rief alle zu sich heran, winkte plötzlich auch ein Chormädchen zu sich, und wenn die dann zu ihr kam, küßte sie sie oder machte mit der Hand das Zeichen des Kreuzes über sie. Vielleicht fehlte nur noch etwas, und sie wäre in Tränen ausgebrochen. Am meisten belustigte sie Maximoff. Der kam immer wieder zu ihr gelaufen, um ihr die Hand „und jedes Fingerchen“, wie er sagte, zu küssen, und zum Schlusse tanzte er noch zu einem alten Liede, das er selbst sang, einen Volkstanz. Mit besonderer Liebe trug er vor:
„Schweinchen macht chruchru, chruchru,
Kälbchen macht mumu, mumu,
Entlein macht quaqua, quaqua,
Gänschen macht gaga, gaga.
Doch Spätzchen ging auf frischem Heu spazieren,
Konnte nur zipzirrip, zipzirrip tirillieren,
Zipzirrip, zipzirrip tirillieren!“
„Gib ihm etwas, Mitjä,“ sagte Gruschenka, „schenk ihm etwas, er ist doch arm. Ach ihr Armen, Erniedrigten! ... Weißt du, Mitjä, ich werde ins Kloster gehen. Nein, im Ernst, einmal werde ich ins Kloster gehen. Aljoscha hat mir heute Worte fürs ganze Leben gesagt ... Ja ... Heute aber wollen wir noch tanzen. Morgen ins Kloster, heute aber noch getanzt. Ich will ausgelassen sein, ihr Guten. Nun, und was ist denn dabei? Gott wird es verzeihen. Wenn ich Gott wäre, würde ich allen Menschen vergeben. ‚Ihr meine lieben, kleinen Sünder,‘ würde ich sagen, ‚von heute ab vergebe ich euch allen.‘ Und ich werde um Verzeihung bitten. ‚Vergebt, ihr guten Leute, einem dummen Weibe.‘ Ja, genau so. ‚Ein Tier bin ich, ja, das bin ich.‘ Beten will ich. Ich habe im ganzen nur ein Zwiebelchen gegeben. Ja, ein Scheusal wie ich will beten. Mitjä, laß sie tanzen, störe sie nicht. Alle Menschen auf der Welt sind gut, alle bis auf den letzten. Es ist schön, in der Welt zu leben. Wenn wir auch schlecht sind, es ist doch schön auf der Welt. Schlecht und gut sind wir, schlecht und gut ... Nein, sagt mir, ich frage euch, kommt alle her, ich frage euch, sagt mir alle folgendes: Warum bin ich so gut? Ich bin doch gut – bin sehr gut ... Nun, darum also: Warum bin ich so gut?“
So stammelte Gruschenka, indem sie immer berauschter wurde, und zu guter Letzt erklärte sie, selbst tanzen zu wollen. Sie erhob sich aus dem Lehnstuhl und wankte.
„Mitjä, laß mich nicht mehr trinken,“ sagte sie, „ich werde bitten, gib du mir aber nichts mehr, hörst du. Wein gibt keine Ruhe. Und alles dreht sich, auch der Ofen, alles dreht, dreht sich. Tanzen will ich. Sie sollen alle herkommen, zusehen, wie ich tanze ... wie schön und gut ich tanze ... wie?“
Und sie machte bereits Ernst mit ihrer Absicht: zog ihr kleines, weißes Batisttüchlein hervor, nahm es mit zwei Fingern der rechten Hand am Zipfelchen, um es beim Tanz zu schwenken. Es sollte der Nationaltanz werden! Mitjä eilte ins vordere Zimmer, die Mädchen verstummten und bereiteten sich vor, auf den ersten Wink den Chorgesang zum Nationaltanz anzustimmen. Als Maximoff hörte, daß Gruschenka selbst tanzen wollte, ward er ganz Begeisterung und begann sofort – so gut es bei seinem Alter ging – den Kasatschock ihr entgegen zu tanzen, wozu er etwas atemlos sang:
Kleine Hexe, schlanke Beinchen,
Weiche Hüften, Ringelschweinchen!
Doch Gruschenka winkte ihm mit dem Tüchelchen ab und schickte ihn zurück.
„Sch – sch! Mitjä, warum kommen sie denn nicht? Alle sollen herkommen ... zusehen. Ruf auch jene beiden, die Eingeschlossenen ... Warum hast du sie eingeschlossen? Sag ihnen, daß ich tanze, ich will, daß auch sie zusehen, wie ich tanze ...“
Mitjä ging etwas schwankend zur verschlossenen Tür und begann mit den Fäusten bei den Panen anzuklopfen.
„He, ihr ... Podwyssotzkijs! Kommt heraus, sie will tanzen, läßt euch rufen.“
„Laidack!“ schrie zur Antwort einer von den Panen.
„Und du bist ein Oberlaidack! Ein ganz gemeiner, kleinlicher Schuft bist du, verstanden!“
„Wenn Sie doch endlich aufhören wollten, sich über Polen lustig zu machen!“ bemerkte ungehalten Kalganoff, der jetzt gleichfalls zu viel getrunken hatte.
„Schweig, Knabe! Wenn ich ‚Schuft‘ zu ihm sage, so heißt das noch nicht, daß ich es zu ganz Polen sage. Ein Schuft macht vorläufig noch nicht ganz Polen aus. Schweig, ein netter Junge bist du. Da – nimm ein Bonbon.“
„Ach, wie sie sind! Gar nicht wie Menschen. Warum wollen sie sich denn nicht versöhnen?“ sagte Gruschenka und trat vor zum Tanz.
Der Chor fiel schmetternd ein: „Auf grünen Fluren in kühlem Schatten ...“ Gruschenka warf den Kopf in den Nacken, ihre Lippen öffneten sich halb, sie lächelte, schwenkte schon das Taschentuch und plötzlich – wankte sie und blickte sich verwundert im Kreise um.
„Bin schwach ...“ sagte sie stammelnd mit einer geradezu müde gequälten Stimme, „verzeiht, bin zu schwach ... ich kann nicht ... es war meine Schuld ...“
Sie verbeugte sich vor dem Chor und machte dann nach allen vier Seiten hin eine Verbeugung.
„Meine Schuld ... Verzeiht ...“
„Hat sich bißchen angetrunken, die Herrin, bißchen angetrunken die schöne Herrin,“ ertönten unter den Zuschauern einige Stimmen.
„Haben sich etwas angeheitert,“ erklärte kichernd Maximoff den Mädchen.
„Mitjä, bring mich fort ... nimm mich, Mitjä,“ sagte Gruschenka erschöpft.
Mitjä, der schon neben ihr stand, hob sie im Augenblick hoch auf die Arme und eilte mit seiner Last zurück hinter den Vorhang. „Nun, jetzt werde ich lieber fortgehen,“ dachte Kalganoff und verließ das blaue Zimmer. Vorsichtig schloß er hinter sich beide Türflügel. Doch das Fest im Saal wurde tobend fortgesetzt, viel ausgelassener als vorher. Mitjä legte Gruschenka auf das große Bett und küßte sie, als hätte er sich im Kuß an ihren Lippen festgesogen.
„Rühr mich nicht an ...“ bat sie ihn stammelnd, mit flehender Stimme. „Rühr mich nicht an, bevor ich nicht dein bin ... Ich habe gesagt, daß ich dein bin, aber du rühr mich nicht an ... schone mich, bitte ... Nicht neben jenen, nicht in ihrer Gegenwart. Er ist hier. Widerlich ist es hier ...“
„Ich gehorche! ... Mit keinem Gedanken ... Ich bete dich an ...“ murmelte Mitjä. „Ja, widerlich ist’s hier, oh, verflucht!“
Und ohne sie aus den Armen zu lassen, kniete er neben dem Bett nieder.
„Ich weiß, du bist wohl ein Tier, aber du bist doch edel,“ sagte Gruschenka mit schwerer Zunge. „Es muß ehrenhaft sein ... von nun an wird es ehrenhaft sein ... und auch wir müssen ehrenhaft sein, auch wir wollen gut sein, keine Tiere, sondern gut ... Bring mich fort, bring mich weit fort, hörst du ... Ich will nicht hier ... nein, weit fort, weit ...“
„Oh, ja, ja, unbedingt!“ Und er preßte sie in seinen Armen. „Ich bringe dich fort, fortfliehen werden wir ... Oh, mein ganzes Leben gebe ich sofort dafür hin – wenn ich nur um dieses Blut wüßte! ...“
„Was für ein Blut?“ fragte Gruschenka verwundert.
„Nichts, nichts!“ stieß Mitjä knirschend hervor. „Gruscha, du willst, daß hinfort alles ehrenhaft sei, ich aber – bin – ein – Dieb. Ich habe von Katjä Geld gestohlen.“
„Von Katjä? Von dem Fräulein? Nein, du hast nicht gestohlen. Gib ihr, nimm von mir ... Was brauchst du? Jetzt ist alles, was mein ist – dein. Was ist uns Geld?? Wir würden es ohnehin durchbringen ... Wir sind die rechten, die es halten könnten. Wir beide aber wollen lieber gehen und die Erde pflügen. Mit diesen meinen Händen will ich die Erde aufscharren. Arbeiten muß man, sich mühen muß man, hörst du? Aljoscha hat es gesagt. Ich werde dir nicht Geliebte sein, ich werde dir treu sein, werde deine Sklavin sein, werde für dich arbeiten. Wir werden zum Fräulein gehen und sie bitten, daß sie uns verzeiht, und dann werden wir fortfahren. Und du bring ihr das Geld zurück, mich aber liebe ... Sie jedoch, hörst du, sie sollst du nicht lieben. Jetzt darfst du sie nicht mehr lieben. Wenn du sie noch liebst, werde ich sie erwürgen ... Werde ihr beide Augen mit einer Nadel ausstechen ...“
„Dich liebe ich, dich allein! Ich werde dich auch in Sibirien lieben, ewig ...“
„Warum in Sibirien? Aber warum schließlich auch nicht, meinetwegen auch nach Sibirien, wenn du willst, mir soll’s recht sein ... einerlei ... wir werden arbeiten ... in Sibirien ist Schnee ... Ich liebe es, im Schlitten über Schneefelder zu fahren ... das Pferd muß eine Glocke am Krummholz haben ... Hörst du, eine Glocke klingt ... Wo klingt nur die Glocke? Es fährt jemand ... da hat sie auch schon aufgehört.“
Erschöpft schloß sie die Augen und schien einzuschlafen. Es hatte in der Tat irgendwo in der Ferne eine Glocke geklungen, und dann – hatte sie plötzlich aufgehört zu klingen. Mitjä senkte seinen Kopf auf ihre Brust. Er merkte nicht, wie die Glocke zu klingen aufgehört hatte, hatte es auch nicht gemerkt, wie plötzlich der Chorgesang verstummt war und an Stelle des Geräusches und trunkenen Lärmes im ganzen Hause Totenstille eintrat. Gruschenka schlug die Augen auf.
„Was ist das? Habe ich geschlafen? Ja ... Glockenklang ... Ich schlief und mir träumte: es war, als wenn ich über Schneefelder fuhr ... die Glocke klang, und ich schlummerte mit offenen Augen. Es war, als führe ich mit meinem Geliebten, mit dir. Und weit, weit fuhren wir. Ich umarmte und küßte dich, schmiegte mich an dich, ich glaube, mich fror, und der Schnee schimmerte ... Weißt du, wenn in der Nacht der Schnee schimmert und der Mond scheint, und es war, als ob ich nicht auf der Erde wäre ... Da erwachte ich, und du warst bei mir, Geliebter, wie wundervoll ...“
„Bei dir,“ murmelte Mitjä und küßte ihr Kleid, ihre Brust, ihre Hände.
Und plötzlich schien ihm etwas so sonderbar: es schien ihm, als ob sie gerade vor sich hinblicke, doch nicht auf ihn, nicht in sein Gesicht, sondern über seinen Kopf hinweg, aufmerksam, unbeweglich und ganz eigentümlich starr. Und plötzlich drückte sich in ihrem Gesichte Verwunderung aus, fast Schreck.
„Mitjä,“ flüsterte sie plötzlich, „wer blickt von dort auf uns her?“
Mitjä wandte sich um und sah, daß tatsächlich jemand durch den Vorhang sie gleichsam zu beobachten schien. Ja, es schien nicht nur einer zu sein. Er sprang auf und trat auf den Beobachter zu.
„Hierher, darf ich bitten, hierher zu uns,“ sagte nicht laut, doch bestimmt und fest eine unbekannte Stimme zu ihm.
Mitjä trat hinter dem Vorhang hervor und blieb unbeweglich stehen. Das ganze Zimmer war voll von Menschen, doch nicht von denen, die noch vor kurzem dagewesen waren, sondern von ganz anderen, neuangekommenen. Ein plötzlicher Frostschauer lief ihm über den Rücken, und er fuhr zusammen. Alle diese Menschen erkannte er auf den ersten Blick. Dieser große, wohlbeleibte Herr im grauen Uniformpaletot mit der Kokarde an der runden Karakulmütze, das war der Kreisrichter, der Chef der Landpolizei, Michail Makarytsch Makaroff. Und dieser „schwindsüchtige“, saubergekleidete Stutzer, „immer in so blankgeputzten Stiefeln“ – das war der Stellvertreter des Staatsanwalts. „Er besitzt eine Uhr im Wert von vierhundert Rubeln, er hat sie mir gezeigt,“ dachte Mitjä. Und dieser jugendliche Kleine mit der Brille ... Mitjä hatte nur seinen Namen vergessen, aber er kannte auch ihn, er hatte ihn gesehen: das war der Untersuchungsrichter des Gerichtshofes, der erst vor kurzer Zeit bei uns eingetroffen war. Und dieser dort – war der Polizeimeister, Mawrikij Mawrikitsch, den kannte er ja ganz genau, – ein alter Bekannter. Aber diese dort mit den Blechschildern, was wollen denn die? Und dann noch zwei Unbekannte, Bauernkerle wahrscheinlich ... Und dort an der Tür Kalganoff und Trifon Borissytsch ...
„Meine Herren ... Was soll das, meine Herren?“ fing Mitjä an, doch plötzlich – rief er außer sich, als wäre er nicht mehr er selbst gewesen, laut, mit der ganzen Stimme:
„Ich be – grei – fe!“
Der jugendliche Kleine mit der Brille drängte sich plötzlich etwas vor und, zu Mitjä tretend, begann er, wenn auch ein wenig würdevoll, so doch gewissermaßen ziemlich eilig:
„Wir haben an Sie ... Kurz, ich bitte Sie hierher, hierher zum Sofa ... Gewisse Umstände machen es unbedingt notwendig, daß wir Sie um gewisse Erklärungen bitten.“
„Der Alte!“ schrie Mitjä außer sich auf. „Der Alte und sein Blut! ... Ich begreife!“
Und wie von einem Keulenschlage getroffen, sank er, oder richtiger gesagt fiel er auf einen Stuhl, der neben ihm stand.
„Du begreifst? Du hast es begriffen! Du Vatermörder und Ungeheuer, das Blut deines erschlagenen alten Vaters schreit hinter dir her!“ brüllte plötzlich, auf Mitjä zutretend, der alte Polizeichef ihn an.
Er war außer sich, war dunkelrot vor Zorn und zitterte am ganzen Körper.
„Aber das ist unmöglich, so geht das nicht!“ rief der kleine junge Mann. „Michail Makarytsch, Michail Makarytsch! So geht das nicht, das geht wirklich nicht so! ... Ich bitte Sie, mich allein sprechen zu lassen. Ich hätte nie von Ihnen erwartet, daß Sie so ...“
„Aber das ist ja nicht möglich, meine Herren, das ist ja Wahnsinn!“ schrie wieder der Alte. „Sehen Sie ihn an: in der Nacht, betrunken, mit einem liederlichen Mädchen, in dem Blute seines Vaters ... Wahnsinn, Wahnsinn!“
„Ich bitte Sie nochmals ernstlich, lieber Michail Makarytsch, dieses Mal Ihre Gefühle zu beherrschen,“ flüsterte dem Alten schnell der stutzerhafte Stellvertreter des Staatsanwalts zu, „anderenfalls wäre ich gezwungen, Maßregeln zu ergreifen.“
Aber der kleine Untersuchungsrichter unterbrach ihn; er wandte sich zu Mitjä und sagte mit fester Stimme, laut und wichtig:
„Herr Leutnant Karamasoff, ich muß Ihnen mitteilen, daß Sie angeklagt sind, Ihren Vater Fedor Pawlowitsch Karamasoff in dieser Nacht ermordet zu haben ...“
Er fügte noch etwas hinzu, auch der Stellvertreter des Staatsanwalts wandte noch etwas ein, doch Mitjä, der wohl ihre Worte hörte, begriff sie nicht mehr. Sein wilder Blick ging verständnislos von einem der Anwesenden zum anderen.