Imma

Fräulein von Isenschnibbe war gut unterrichtet gewesen. Noch an dem Abend des Tages, an welchem sie der Fürstin zu Ried die große Neuigkeit überbracht hatte, veröffentlichte der »Eilbote« die Kunde von Samuel Spoelmanns, des weltberühmten Spoelmann, bevorstehender Ankunft, und anderthalb Wochen später, zu Anfang Oktober (es war der Oktober des Jahres, in welchem Großherzog Albrecht sein zweiunddreißigstes, Prinz Klaus Heinrich sein sechsundzwanzigstes Lebensjahr angetreten hatte) – kaum also, daß die öffentliche Neugier Zeit gehabt, einen rechten Höhepunkt zu erreichen – vollzog sich diese Ankunft, ward schlichte Wirklichkeit an einem herbstlich bedeckten, ganz unscheinbaren Wochentage, der sich gleichwohl der Zukunft als ein unendlich denkwürdiges Datum erweisen sollte.

Die Spoelmanns trafen mit Extrazug ein – darauf beschränkte sich vorderhand die Herrlichkeit ihres Auftretens; denn daß die »Fürstenzimmer« des Hotels Quellenhof durchaus nicht von blendender Pracht waren, wußte jedermann. Müßiges Publikum, überwacht von einem kleinen Gendarmerieaufgebot, hatte sich hinter der Perronsperre eingefunden; Vertreter der Presse waren zugegen. Aber wer Außerordentliches gewärtigt hatte, wurde enttäuscht. Spoelmann wäre fast gar nicht erkannt worden, so wenig überwältigend war er. Längere Zeit hielt man seinen Leibarzt für ihn, Doktor Watercloose – so, sagte man, hieß er –, einen langen Amerikaner, welcher, den Hut im Nacken, seinen Mund zwischen dem weißen geschorenen Backenbart beständig mild lächelnd in die Breite zog und die Augen dabei schloß. Erst im letzten Augenblick ward bekannt, daß vielmehr der Kleine, Rasierte im mißfarbenen Paletot – der, welcher im Gegenteil den Hut tief in die Stirn gedrückt trug, der eigentliche Spoelmann sei, und die Zuschauer waren einig darin, daß ihm nichts anzumerken sei. Fabelhafte Dinge waren über ihn im Umlauf gewesen. Durch irgendeinen Spaßvogel war das Gerücht verbreitet und auch gewissermaßen geglaubt worden, Spoelmann habe lauter goldene Vorderzähne, und in jeden dieser goldenen Vorderzähne sei in der Mitte ein Brillant eingelassen. Aber obgleich die Wahrheit oder Unwahrheit dieser Behauptung nicht gleich zu prüfen war – denn Spoelmann ließ seine Zähne nicht sehen, er lachte nicht, sondern schien vielmehr ärgerlich und durch seine Krankheit gereizt –, so glaubte angesichts seiner Person sogleich kein Mensch mehr daran. Was aber Miß Spoelmann, seine Tochter, betraf, so hatte sie den Kragen ihrer Pelzjacke, in deren Taschen sie ihre Hände verbarg, hoch emporgeschlagen, so daß überhaupt fast nichts von ihr zu sehen war als ein paar unverhältnismäßig großer braunschwarzer Augen, die über die Menschenansammlung hin eine ernste, fließende, aber nicht allgemeinverständliche Sprache führten. An ihrer Seite befand sich die Persönlichkeit, die man als ihre Gesellschaftsdame, die Gräfin Löwenjoul erkannte, eine Frau von fünfunddreißig Jahren, schlicht gekleidet und beide Spoelmanns an Körperlänge überragend, die ihren kleinen Kopf mit dem spärlichen glatten Scheitel nachdenklich schief trug und mit einer gewissen starren Sanftmut vor sich hinblickte. Das meiste Aufsehen erregte ohne Frage ein schottischer Schäferhund, der von einem Diener mit stillem Sklavengesicht an der Leine geführt wurde – ein ungewöhnlich schönes, aber, wie es schien, entsetzlich aufgeregtes Tier, das bebend und tänzelnd die Bahnhofshalle mit seinem exaltierten Gebell erfüllte.

Man sagte, daß ein paar Spoelmannsche Dienstboten männlichen und weiblichen Geschlechts schon einige Stunden früher im Quellenhof eingetroffen seien. Jedenfalls blieb es dem Diener mit dem Hunde allein überlassen, das Gepäck zu besorgen; und während er es besorgte, fuhr seine Herrschaft in zwei gemeinen Droschken – Herr Spoelmann mit Doktor Watercloose, Miß Spoelmann mit ihrer Gräfin – zum Quellengarten hinaus. Dort stiegen sie ab, und dort führten sie anderthalb Monate lang ein Leben, das mit geringeren Mitteln als den ihren zu bestreiten gewesen wäre.

Sie hatten Glück, das Wetter war gut, es war ein blauer Herbst, eine lange Reihe von sonnigen Tagen zog sich von dem Oktober in den November, und Miß Spoelmann ritt täglich – das war der einzige Luxus, den sie trieb – mit ihrer Ehrendame spazieren, auf Pferden übrigens, die sie im Tattersall wochenweise gemietet hatten. Herr Spoelmann ritt nicht, obgleich der »Eilbote« mit deutlichem Hinblick auf ihn eine Notiz seines medizinischen Mitarbeiters veröffentlichte, wonach das Reiten bei Steinleiden infolge der Erschütterung lindernd wirke und den Abgang der Steine befördere. Aber durch das Hotelpersonal wurde bekannt, daß der berühmte Mann in seinen vier Wänden ein künstliches Reiten betrieb mit Hilfe einer Maschine, eines feststehenden Velozipeds, dessen Sattel durch das Treten der Pedale in schütternde Bewegung versetzt wurde.

Mit Eifer trank er das Heilwasser, die Ditlindenquelle, auf die er große Stücke zu halten schien. In aller Frühe erschien er täglich im Füllhause, begleitet von seiner Tochter, die übrigens ganz gesund war und nur zur Gesellschaft mittrank, und bewegte sich dann in seinem mißfarbenen Paletot und den Hut in der Stirn durch den Kurgarten und die Wandelhalle, indem er das Wasser aus dem bläulichen Glasbecher durch eine gläserne Röhre zu sich nahm – aus der Ferne beobachtet von den beiden amerikanischen Zeitungskorrespondenten, die gehalten waren, ihren Blättern täglich tausend Worte über Spoelmanns Ferienaufenthalt zu telegraphieren und also danach trachten mußten, Stoff zu gewinnen.

Sonst sah man ihn wenig. Sein Leiden – Nierenkoliken, wie man sagte, höchst schmerzhafte Anfälle – schien ihn oft an das Zimmer, wenn nicht ans Bett zu fesseln, und während Miß Spoelmann mit der Gräfin Löwenjoul zwei- oder dreimal im Hoftheater erschien (wobei sie ein schwarzes Sammetkleid und um die kindlichen Schultern ein indisches Seidentuch von wundervollem Goldgelb trug, auch mit ihrem perlblassen Gesichtchen und ihren großen, schwarzen und fließend redenden Augen sehr fesselnd wirkte), wurde ihr Vater niemals bei ihr in der Loge gesehen. Er unternahm zwar in ihrer Begleitung ein paar Streifzüge durch die Residenz, um kleine Einkäufe zu machen, die Stadt in Augenschein zu nehmen und einige innere Sehenswürdigkeiten zu besuchen; er spazierte auch wohl mit ihr durch den Stadtgarten und besichtigte dort zweimal Schloß Delphinenort – das zweitemal allein, wobei er in seinem Interesse so weit ging, mit einem gewöhnlichen gelben Meterstabe, den er aus seinem mißfarbenen Paletot hervorzog, Messungen an den Wänden vorzunehmen … Aber nicht einmal im Speisesaal des Quellenhofes wurde man seines Anblickes teilhaftig; denn entweder, weil er auf schmale, fast fleischlose Kost gesetzt war oder aus anderen Gründen, speiste er mit den Seinen ausschließlich in seinen Zimmern, und die Neugier des Publikums erhielt im ganzen recht wenig Nahrung.

So kam es, daß Spoelmanns Ankunft dem Quellengarten vorderhand nicht in dem Maße zum Nutzen gereichte, wie Fräulein von Isenschnibbe und mit ihr viele Leute erwartet hatten. Der Flaschenversand nahm zu, das war festzustellen; er stieg sehr rasch fast um die Hälfte seiner bisherigen Ziffer und hielt sich dauernd auf dieser Höhe. Aber der Fremdenzuzug steigerte sich nicht wesentlich; die Gäste, die eintrafen, um sich an dem Anblick dieser ungeheuerlichen Existenz zu weiden, reisten bald befriedigt oder enttäuscht wieder ab, und zudem waren es großenteils nicht die besten Elemente, die von seiner Gegenwart angelockt wurden. Sonderbare Köpfe tauchten in den Straßen auf, unfrisierte und wildäugige Köpfe – Erfinder, Plänemacher, verbohrte Menschheitsbeglücker, die Spoelmann für ihre fixen Ideen zu gewinnen hofften. Aber der Milliardär verhielt sich durchaus ablehnend gegen diese Leute, ja, einen von ihnen, der sich im Stadtgarten an ihn machen wollte, schrie er, kirschbraun vor Jähzorn, dermaßen an, daß der Wirrkopf sich eilig trollte, und mehrfach wurde versichert, daß die Flut von Bettelbriefen, die täglich für ihn einströmte – Briefe die oft mit Marken beklebt waren, wie die Beamten des großherzoglichen Postbureaus sie niemals zu Gesichte bekommen –, geradeswegs in einen Papierkorb von seltenem Umfang geleitet werde.

Spoelmann schien sich alle geschäftlichen Mitteilungen verbeten zu haben, schien entschlossen, seine Ferien gründlich zu genießen und während dieser Europareise ausschließlich seiner Gesundheit – oder Krankheit – zu leben. Der »Eilbote«, dessen Zuträger sich beeilt hatten, mit den amerikanischen Berufsgenossen Freundschaft zu schließen, wußte zu erzählen, daß ein zuverlässiger Mann, ein chief manager, wie es hieß, Herrn Spoelmann drüben vertrat. Er erzählte ferner, daß seine Jacht, ein prunkvoll eingerichtetes Schiff, den gewaltigen Mann in Venedig erwarte, und daß er sich nach beendeter Trinkkur zunächst mit den Seinen nach Süden zu wenden beabsichtige. Er erzählte auch – und kam damit einem drängenden öffentlichen Bedürfnis nach – von der abenteuerlichen Entstehung des Spoelmannschen Besitzstandes, von dem Urbeginn im Lande Victoria, wohin sein Vater von irgendeinem deutschen Kontorsessel aus gekommen war, ganz jung und arm und ausgestattet allein mit einer Picke, einer Schaufel und einem zinnernen Teller. Dort hatte er anfänglich als Gehilfe eines Goldgräbers gearbeitet, als Tagelöhner, im Schweiße seines Angesichts. Und dann war das Glück gekommen. Einem Manne, einem kleinen Grubenbesitzer, war es so schlecht gegangen, daß er nicht einmal mehr seine Tomaten und sein trockenes Brot zum Mittagessen hatte kaufen können, und in der größten Not hatte er seine Grube veräußern müssen. Spoelmann der Ältere hatte sie gekauft, hatte sein Alles auf eine Karte gesetzt und für sein ganzes Erspartes, bestehend aus fünf Pfund Sterling, dies Stückchen Alluvialfeld, »Paradiesfeld« genannt, nicht größer als vierzig Quadratfuß, käuflich erworben. Und tags darauf hatte er anderthalb Handbreit unter der Oberfläche einen Klumpen Reingold, den zehntgrößten der Welt, den »Paradise Nugget« von neunhundertachtzig Unzen und fünftausend Pfund wert, zutage gefördert …

Das war, erzählte der »Eilbote«, der Anfang gewesen. Mit dem Erlös seines Fundes war Spoelmanns Vater nach Südamerika übergesiedelt, ins Land Bolivia, und als Goldwäscher, Amalgam-Mühlenbesitzer und Bergwerksunternehmer hatte er fortgefahren, das gelbe Metall ohne Umwege den Flüssen, dem Schoß des Gesteins zu entreißen. Damals und dort hatte Spoelmann der Ältere sich vermählt – und der »Eilbote« ließ eine Bemerkung darüber einfließen, daß er es trotzigerweise und ohne Rücksicht auf dortzuland herrschende Vorurteile getan habe. So aber hatte er sein Kapital verdoppelt und auf unerhörte Art hatte er mit seinem Pfunde zu wuchern verstanden. Er war gen Norden gewandert nach Philadelphia im Staate Pennsylvanien. Das war in den fünfziger Jahren gewesen, der Zeit lebhaften Aufschwungs im Eisenbahnbau, und Spoelmann hatte seine Geschäfte mit einer Anlage in Aktien der Baltimore- und Ohiobahn begonnen. Er hatte ferner im Westen des Staates ein Kokskohlenlager bewirtschaftet, dessen Erträge bedeutend gewesen waren. Aber dann hatte er zu jener Gruppe gottbegnadeter junger Leute gehört, welche für einige tausend Pfund die berühmte Blockheadfarm erwarben – jenes Landgütchen, das mit seiner Steinölquelle binnen kurzem das Hundert- und aber Hundertfache seines Kaufpreises wert war … Dies Unternehmen hatte Spoelmann den Älteren reich gemacht, aber er hatte sich keineswegs zur Ruhe begeben, sondern unablässig die Kunst geübt, mit Geld mehr Geld und endlich überschwenglich viel Geld hervorzubringen. Er hatte Stahlwerke geschaffen, hatte Gesellschaften gebildet, die im größten Maßstabe die Umwandlung des Eisens in Stahl, den Bau von Eisenbahnbrücken betrieben. Er hatte die Mehrzahl der Aktien von vier oder fünf großen Eisenbahnkompanien an sich gebracht und war in vorgerückten Jahren Präsident, Vizepräsident, Bevollmächtigter oder Direktor dieser Gesellschaften gewesen. Bei der Begründung des Stahltrusts, so erzählte der »Eilbote«, war er dieser Vereinigung beigetreten, mit einem Aktienbesitz, der ihm allein schon eine jährliche Einnahme von zwölf Millionen Dollar gewährleistete. Aber ebenso war er Hauptaktionär und Aufsichtsrat des Petroleumzusammenschlusses gewesen, hatte gleichzeitig kraft seines Anteilbesitzes über drei oder vier der anderen Treuhandgesellschaften Vorherrschaft geübt. Und bei seinem Tode hatte sein Vermögen, berechnet im Münzfuß hierzulande, eine runde Milliarde betragen.

Samuel, sein einziger Sohn, erzeugt in jener zeitig geschlossenen und auf irgendeine Weise vorurteilswidrigen Ehe, war sein einziger Erbe gewesen – und der »Eilbote«, feinsinnig wie er war, schaltete eine Betrachtung darüber ein, wie doch etwas Wehmütiges in der Vorstellung liege, daß jemand so ohne eigenes Zutun und gleichsam ohne Verschulden sich durch Geburt in einer solchen Lebenslage finde. Samuel hatte den Palast in der Fünften Avenue von Neuyork, die Schlösser auf dem Lande und alle Aktien, Treuhandscheine und Gewinnanteile seines Vaters geerbt; er erbte auch die abenteuerliche Vereinzelung des Lebens, zu der jener emporgestiegen war, seinen Weltruhm und den Haß der benachteiligten Menge gegen die aufgehäufte Macht des Geldes – all den Haß, zu dessen Besänftigung er jährlich die gewaltigen Schenkungen an Kollegien, Konservatorien, Bibliotheken, Wohltätigkeitsanstalten und jene Universität verteilte, die sein Vater gegründet hatte und die seinen Namen führte.

Samuel Spoelmann trug ohne Verschulden den Haß der Benachteiligten, der »Eilbote« versicherte es. Er war früh in die Geschäfte eingeführt worden, hatte schon während der letzten Lebensjahre seines Vaters allein die schwindelerregende Besitzmasse des Hauses verwaltet. Aber es war allgemein bekannt, daß sein Herz niemals so recht und ganz bei den Transaktionen gewesen war. Seine eigentliche Neigung hatte sonderbarerweise vielmehr von jeher der Musik, und zwar der Orgelmusik, gehört – und diese Mitteilung des »Eilboten« war nachzuprüfen, denn in der Tat hielt sich Mister Spoelmann auch im Quellenhof ein kleines Pfeifenspiel, dessen Bälge er von einem Hausknecht des Hotels bedienen ließ, und jeden Tag konnte man ihn vom Kurgarten aus darauf musizieren hören.

Aus Liebe und ganz ohne geschäftliche Rücksichten, erzählte der »Eilbote«, hatte er sich vermählt – mit einem armen und schönen Mädchen, halb deutsch, halb angelsächsisch ihrer Abkunft nach. Sie war gestorben; aber sie hatte ihm eine Tochter zurückgelassen, dies merkwürdige Blutgemisch von einem Mädchen, das wir nun ebenfalls in unseren Mauern zu Gast hatten und das zur Zeit neunzehn Jahre alt war. Sie hieß Imma – ein kerndeutscher Name, wie der »Eilbote« hinzufügte, nichts weiter als eine ältere Form von »Emma«; und leicht war denn auch zu bemerken, daß, wenn auch englische Brocken mit unterliefen, die tägliche Umgangssprache im Hause Spoelmann das Deutsche geblieben war. Wie innig übrigens Vater und Tochter einander zu lieben schienen! Jeden Morgen, wenn man sich rechtzeitig in den Quellengarten begab, konnte man beobachten, wie Fräulein Spoelmann, die ein wenig später als ihr Vater im Füllhause einzutreffen pflegte, seinen Kopf zwischen beide Hände nahm und, während er sie zärtlich auf den Rücken klopfte, ihn zum Morgengruß auf Mund und Wangen küßte. Dann gingen sie Arm in Arm durch die Wandelhalle und sogen an ihren Glasröhren …

So plauderte das wohlunterrichtete Blatt und nährte die öffentliche Neugier. Es berichtete auch genau über die Besuche, die Miß Imma mit ihrer Gesellschafterin liebenswürdigerweise mehreren städtischen Wohltätigkeitsanstalten abstattete. Gestern hatten sie die Volksküche eingehend besichtigt. Sie hatte heute einen aufmerksamen Rundgang durch das Greisinnenhospital zum Heiligen Geist gemacht. Und nebenbei hatte sie zweimal dem zahlentheoretischen Kollegium des Geheimrats Klinghammer in der Universität beigewohnt – hatte als Student unter Studenten auf der Holzbank gesessen und mit ihrem Füllfederhalter eifrig nachgeschrieben, denn bekanntlich war sie ein gelehrtes Mädchen und oblag dem Studium der Algebra. Ja, das war fesselnd zu lesen und ergab reichen Gesprächsstoff. Wer aber ganz ohne Zutun des »Eilboten« von sich reden machte, das war erstens der Hund, jener edle, schwarzweiße Colliehund, den Spoelmanns mitgebracht hatten, und zweitens auf andere Art die Gesellschaftsdame, Gräfin Löwenjoul.

Den Hund angehend, der Perceval hieß (was englisch auszusprechen war) und meistens Percy gerufen wurde, so war dieses Tier von einer Erregbarkeit, einer Leidenschaft des Wesens, die jeder Beschreibung spottete. Innerhalb des Hotels gab er keinen Grund zu Klagen, sondern lag in vornehmen Posen auf einem kleinen Teppich vor den Spoelmannschen Gemächern. Aber bei jedem Ausgang unterlag er Anfällen von Kopflosigkeit, die allgemeines Aufsehen und Befremden, ja, mehr als einmal wirkliche Verkehrsstörungen hervorriefen. In weitem Abstande gefolgt von einem Schwarm einheimischer Hunde, gemeiner Köter, die, durch sein Benehmen in Aufruhr versetzt, mit schimpfendem Gekläff hinter ihm drein preschten und um die er sich übrigens nicht im geringsten kümmerte, flog er, die Nase mit Schaum bespritzt und mit wild klagendem Gebell durch die Straßen, führte wütende Kreiseltänze vor den Tramwagen auf, brachte Droschkenpferde zu Fall und stürzte zweimal den Kuchenstand der Witwe Klaaßen am Rathaus mit solcher Heftigkeit über den Haufen, daß das süße Gebäck über den halben Marktplatz rollte. Da aber bei solchen Unglücksfällen Herr Spoelmann oder seine Tochter sofort mit mehr als angemessenen Entschädigungen einsprangen, da sich auch zeigte, daß Percevals Zustände im Grunde ungefährlicher Natur waren, daß er nichts weniger als bissig und rauflustig, sondern im Gegenteil unnahbar und eben nur außer sich war, so wandte sich ihm rasch die Neigung der Bevölkerung zu, und namentlich den Kindern waren seine Ausgänge eine Quelle des Vergnügens.

Die Gräfin Löwenjoul ihrerseits gab auf stillere, aber nicht weniger sonderbare Weise Anlaß zum Gerede. Anfänglich, als ihre Person und Stellung in der Stadt noch unbekannt war, hatte sie sich das Gehänsel der Gassenjugend zugezogen, indem sie, allein gehend, mit sanfter und tiefsinniger Miene zu sich selber gesprochen und diese Selbstgespräche mit lebhaftem und übrigens durchaus anmutigem und elegantem Gebärdenspiel begleitet hatte. Aber den Kindern, die ihr nachgerufen und sie am Kleide gezupft hatten, war sie mit solcher Milde und Güte begegnet, hatte so liebreich und würdevoll zu ihnen gesprochen, daß die Verfolger beschämt und verwirrt von ihr abgelassen hatten; und später, als man sie kannte, verhinderte der Respekt vor ihrem Verhältnis zu den berühmten Gästen, daß man sie belästigte. Unter der Hand jedoch waren unverständliche Anekdoten über sie im Umlauf. Ein Mann erzählte, die Gräfin habe ihm ein Goldstück eingehändigt mit dem Auftrage, eine bestimmte alte Frau, die ihr irgendwelche unziemliche Anträge gemacht haben sollte, zu ohrfeigen. Der Mann hatte das Goldstück eingesteckt, ohne sich indessen seines Auftrages zu entledigen. Ferner wurde für wahr berichtet, daß die Löwenjoul den Posten vor der Kaserne der Leibfüsiliere angeredet und zu ihm gesagt habe, er müsse die Frau des Feldwebels von der und der Kompanie ihrer sittlichen Verfehlungen halber sogleich verhaften. Auch habe sie dem Obersten dieses Regiments einen Brief geschrieben, des Inhalts, daß innerhalb der Kaserne allerlei geheimnisvolle und unaussprechliche Greuel im Schwange seien. Gott wußte, was für eine Bewandtnis es damit hatte. Manche leiteten unmittelbar daraus ab, daß es der Gräfin im Kopfe fehle. Jedenfalls hatte man keine Zeit, der Sache auf den Grund zu kommen, denn unversehens waren sechs Wochen dahin, und Samuel N. Spoelmann, der Milliardär, reiste ab.

Er reiste ab, nachdem er sich von dem Professor von Lindemann hatte malen lassen, das teuere Bildnis jedoch dem Besitzer des Hotels »Quellenhof« zum Andenken geschenkt hatte, reiste ab mit seiner Tochter, der Löwenjoul und Doktor Watercloose, mit Perceval, dem Stubenveloziped und seiner Dienerschaft, reiste mit Sonderzug gen Süden, um an der Riviera, wohin ihm die beiden Neuyorker Zeitungsmänner vorausgeeilt waren, den Winter zu verbringen und dann über den Ozean heimzukehren. Alles war zu Ende. Der »Eilbote« rief Herrn Spoelmann ein aufrichtiges Lebewohl nach und gab dem Wunsche Ausdruck, daß die Kur ihm wohl anschlagen möge. Damit schien dieser merkwürdige Zwischenfall beschlossen und abgetan. Der Tag forderte sein Recht. Man begann Herrn Spoelmann zu vergessen.

Der Winter verging. Es war der Winter, in welchem die Fürstin zu Ried-Hohenried, Großherzogliche Hoheit, mit einem Töchterchen niederkam. Auch der Frühling ging ins Land, und Seine Königliche Hoheit Großherzog Albrecht begab sich gewohntermaßen nach Hollerbrunn. Da aber tauchte im Publikum und in der Presse ein Gerücht auf, das von ruhig denkenden Leuten anfangs mit Achselzucken aufgenommen wurde, das aber Gestalt annahm, sich festsetzte, sich in ganz bestimmte Einzelangaben kleidete und endlich als wirkliche und kernhafte Nachricht zur Herrschaft über das tägliche Gespräch gelangte.

Was ging vor? – Ein großherzogliches Schloß sollte verkauft werden. – Das war Unsinn. Welches Schloß? – Delphinenort. Schloß Delphinenort im nördlichen Stadtgarten. – Das war Narrengeschwätz. Verkauft? An wen? – An Spoelmann. – Lächerlich. Was sollte er damit anfangen? – Es wiederherstellen und bewohnen. – Sehr einfach. Aber vielleicht hatte unser Landtag ein wenig in solche Angelegenheit dreinzureden. – Den Landtag kümmerte das gar nicht. Hatte etwa der Staat eine Unterhaltungspflicht an Schloß Delphinenort? Dann hätte es hoffentlich besser ausgesehen um das schöne Ding. Und also hatte der Landtag nicht dreinzureden. – Die Verhandlungen waren wohl allgemein weit vorgeschritten? – Allerdings. Denn sie waren abgeschlossen. – Ei, und so war man denn natürlich wohl gar in der Lage, den genauen Kaufpreis zu nennen? – Aufzuwarten. Der Kaufpreis betrug zwei Millionen auf Heller und Pfennig. – Unmöglich! Ein Kronbesitz! – Kronbesitz hin und her. Handelte es sich um die Grimmburg? Ums Alte Schloß? Es handelte sich um ein Lustschloß, ein ewig unbenütztes, aus Geldmangel rettungslos verkommendes Lustschloß. – Und Spoelmann beabsichtigte also, jedes Jahr wiederzukommen und einige Wochen in Delphinenort zu wohnen? – Nein. Denn er beabsichtigte vielmehr, ganz und gar zu uns überzusiedeln. Er war Amerikas müde, wollte Amerika den Rücken kehren, und sein erster Aufenthalt bei uns war nichts als eine Auskundschaftung gewesen. Er war krank, er wollte sich von den Geschäften zurückziehen. Er war in seinem Herzen immer ein Deutscher geblieben. Der Vater war ausgewandert, und der Sohn wollte heimkehren. Er wollte an der gemessenen Lebensführung, den geistigen Darbietungen unserer Hauptstadt teilnehmen und in unmittelbarer Nähe der Ditlindenquelle den Rest seiner Tage verbringen!

Verblüffung, Getümmel und endlose Disputationen. Aber die öffentliche Meinung ging, mit Ausnahme der Stimmen einiger weniger Griesgrame, nach kurzem Schwanken in Begeisterung für den Verkaufsplan auf, und sicher hätte ohne diese allgemeine Zustimmung die Sache überhaupt gar weit nicht gedeihen können. Hausminister von Knobelsdorff war es gewesen, der eine erste behutsame Verlautbarung des Spoelmannschen Angebots in die Tagespresse gespielt hatte. Er hatte abgewartet, hatte den Volkswillen sich entscheiden lassen. Und nach der ersten Verwirrung hatten starke Gründe in Fülle sich eingefunden, die für das Projekt sprachen. Die Geschäftswelt brach in Beifall aus bei dem Gedanken, den gewaltigen Abnehmer dauernd am Platze zu sehen. Die Schöngeister zeigten sich entzückt in der Aussicht, daß Schloß Delphinenort wiederhergestellt und erhalten – daß dieses edle Bauwerk so unvorhergesehener-, ja abenteuerlicherweise wieder zu Ehren und Jugend gelangen sollte. Aber die staatswirtschaftlich Denkenden führten Ziffern ins Feld, die, wie im Lande die Dinge lagen, tiefe Erschütterung hervorrufen mußten. Wenn Samuel N. Spoelmann sich bei uns niederließ, so wurde er Steuersubjekt, so war er gehalten, bei uns sein Einkommen zu versteuern. Vielleicht fand man es der Mühe wert, sich die Bedeutung dieser Tatsache ein wenig klarzumachen? Es würde Herrn Spoelmann überlassen bleiben, sich einzuschätzen; aber nach allem, was man wußte – mit annähernder Genauigkeit wußte –, würde dieser Einwohner eine Steuerquelle von zwei Millionen und einer halben alljährlich darstellen, wobei allein die Staatssteuern und noch nicht einmal die Gemeindesteuern in Rechnung gezogen waren. Kam das in Betracht für uns oder nicht? Und zwar richtete man diese Frage ganz unmittelbar an den Herrn Finanzminister Doktor Krippenreuther. Wenn dieser Beamte nicht alles tat, um die Einwilligung der höchsten Person zu dem Verkaufe zu erlangen, so handelte er pflichtvergessen. Denn es war ein Gebot der Vaterlandsliebe, auf Spoelmanns Anerbieten einzugehen, damit er sich so recht nach Gefallen bei uns einrichten konnte, und alle Bedenken erschienen nichtig gegenüber diesem ernsten Gebot.

So hatte Exzellenz von Knobelsdorff beim Großherzog Vortrag gehabt. Er hatte seinem Herrn über die öffentliche Stimmung berichtet; hatte hinzugefügt, daß zwei Millionen ein Preis seien, der den sachlichen Wert des Schlosses in seinem jetzigen Zustand beträchtlich übertreffe; hatte angemerkt, daß diese Einkunft für die Hof-Finanzdirektion eine wahre Labsal bedeuten würde; und hatte schließlich etwas von der Zentralheizung für das Alte Schloß einfließen lassen, die, wenn der Verkauf zustande käme, nicht länger ein Ding der Unmöglichkeit sein werde. Kurz, der unbefangene alte Herr hatte seinen ganzen Einfluß für den Verkauf eingesetzt und dem Großherzog nahegelegt, die Sache vor einen Familienrat zu bringen. Albrecht hatte leicht mit der Unterlippe an der oberen gesogen und den Familienrat einberufen. Derselbe war im Rittersaal zusammengetreten, und es hatte Tee und Biskuits dazu gegeben. Nur zwei weibliche Mitglieder, die Prinzessinnen Katharina und Ditlinde, waren gegen den Verkauf gewesen, und zwar aus Gründen der Würde. »Man wird dich mißverstehen, Albrecht!« hatte Ditlinde gesagt. »Man wird es dir als Mangel an Hoheitsbewußtsein auslegen, und das ist nicht richtig, denn du hast im Gegenteil zuviel davon, du bist so stolz, Albrecht, daß dir alles ganz einerlei ist. Aber ich sage nein. Ich wünsche nicht, daß in einem von deinen Schlössern ein Vogel Roch wohnt, das ist nicht schicklich, und es genügt ja, daß er einen Leibarzt hat und die Fürstenzimmer vom Quellenhof in Anspruch nahm. Der »Eilbote« sagt immer, daß er ein Steuersubjekt ist, aber in meinen Augen ist er ganz einfach ein Subjekt und weiter nichts. Welcher Ansicht bist du, Klaus Heinrich?« – Aber Klaus Heinrich stimmte für den Verkauf. Erstens erhalte Albrecht die Zentralheizung, und dann sei Spoelmann nicht irgendeiner, er sei nicht Seifensieder Unschlitt, er sei ein Sonderfall, und es sei keine Schande, ihm Delphinenort zu überlassen. Schließlich hatte Albrecht mit niedergeschlagenen Augen erklärt, der ganze Familienrat sei im Grunde »Affentheater«. Das Volk habe längst entschieden, seine Minister drängen auf den Verkauf, und es bleibe ihm gar nichts anderes übrig, als wieder einmal auf den Bahnhof zu gehen und zu winken.

Der Familienrat hatte im Frühling getagt. Von nun an hatten die Verkaufsverhandlungen, die zwischen Spoelmann einerseits und dem Oberhofmarschall Herrn von Bühl zu Bühl andererseits geführt wurden, raschen Fortgang genommen, und der Sommer war noch nicht weit vorgeschritten, als Schloß Delphinenort mit Park und Nebengebäuden Herrn Spoelmanns rechtmäßiges Eigentum war.

Da begann ein Gewimmel und eine Geschäftigkeit um das Schloß und in seinem Innern, daß täglich viele Leute in den nördlichen Teil des Stadtgartens gelockt wurden. Delphinenort ward ausgebessert, ward innerlich umgebaut zu einem Teil, und zwar mit außerordentlichem Aufgebot an Arbeitskräften. Denn schnell, schnell mußte es gehen, das war Spoelmanns Wille, und kaum fünf Monate hatte er Frist gegeben, bis daß alles zu seinem Einzug bereit sein mußte. So wuchs mit Windeseile ein Holzgerüst mit Treppen und Plattformen um das schadhafte Prachtgebäude empor, ausländische Arbeiter bevölkerten es von oben bis unten, und ein Architekt kam mit Vollmachten über den Ozean herbei, um die Oberleitung des Ganzen zu übernehmen. Aber der Aufgabe größter Teil fiel doch unserem Handwerksfleiße zu, und die Steinmetzen und Dachdecker, die Schreiner, Vergolder, Tapezierer, Glaser, Parkettleger der Residenz, die Gartenkünstler und Werkmeister für Heizungsanlagen und Beleuchtungswesen hatten harte, ergiebige Arbeit diesen Sommer und Herbst. Wenn Seine Königliche Hoheit Klaus Heinrich auf »Eremitage« die Fenster geöffnet hielt, so drang der Schall des Treibens dort drüben bis in seine Empirestuben, und mehrmals ließ er sich, vom Publikum ehrerbietig begrüßt, in seiner Chaise an Schloß Delphinenort vorüberfahren, um sich von den Fortschritten des Erneuerungswerkes zu überzeugen. Das Gärtnerhäuschen ward aufgefrischt, die Ställe und Remisen, die den Spoelmannschen Wagen- und Automobilpark aufnehmen sollten, wurden erweitert; und was wurde im Oktober nicht alles ausgeladen an Möbeln und Teppichen, an Kisten und Kasten mit Stoffen und Hausrat vor Schloß Delphinenort, während sich unter den Umstehenden die Kunde verbreitete, daß dort drinnen kundige Hände geschäftig seien, Spoelmanns über das Weltmeer dahergesandte Orgel mit elektrischem Triebwerk aufzurichten. Spannung herrschte, ob wohl der Parkgrund, der zum Schlosse gehörte und so prächtig gesäubert und hergerichtet wurde, gegen den Stadtgarten durch Mauer oder Zaun werde abgeschlossen werden. Aber nichts dergleichen geschah. Der Besitz sollte zugänglich bleiben, die Bewegungsfreiheit der Hauptstädter im Grünen nicht eingeschränkt werden – so wollte es Spoelmann. Bis dicht an das Schloß, bis an die beschnittenen Hecken, die das große viereckige Wasserbassin einsäumten, sollten die sonntäglichen Spaziergänger Zutritt haben – und das verfehlte nicht, den besten Eindruck in der Bevölkerung zu machen, ja, der »Eilbote« veröffentlichte einen besonderen Artikel darüber, worin er Herrn Spoelmann für seine freisinnige Maßnahme pries.

Und siehe da: als wieder die Blätter fielen, genau ein Jahr nach seiner ersten Ankunft, traf Samuel N. Spoelmann zum zweitenmal auf unserem Bahnhof ein. Diesmal war die Beteiligung des Publikums an dem Ereignis weit größer als voriges Jahr, und es ist verbürgt, daß, als Herr Spoelmann in dem bekannten mißfarbenen Paletot und den Hut in der Stirn seinen Salonwagen verließ, lebhafte Hochrufe aus der Menge der Zuschauer erschollen – Kundgebungen, über die Herr Spoelmann sich übrigens eher zu ärgern schien, und für die statt seiner Doktor Watercloose dankte, indem er seinen Mund mild lächelnd in die Breite zog und die Augen schloß. Auch als Miß Spoelmann ausstieg, wurde ein Hoch ausgebracht, und ein paar Spaßvögel riefen sogar hurra, als Percy, der Colliehund, bebend, tänzelnd und vollständig außer sich auf dem Bahnsteig erschien. Außer dem Arzt und der Gräfin Löwenjoul befanden sich zwei noch unbekannte Personen in der Begleitung der Herrschaften, zwei rasierte und entschlossen blickende Herren in auffallend weiten Paletots. Es waren Herrn Spoelmanns Sekretäre, die Herren Phlebs und Slippers, wie der »Eilbote« in seinem Bericht bemerkte.

Damals war Delphinenort noch bei weitem nicht fertig, und Spoelmanns bezogen zunächst das erste Stockwerk des Residenz-Hotels, woselbst ein großer, bauchiger und stolzer Mann in Schwarz, der Spoelmannsche Haushofmeister oder butler, der vor ihnen eingetroffen war, für sie Quartier gemacht und eigenhändig das Stubenveloziped aufgestellt hatte. Täglich, während Miß Imma mit ihrer Gräfin und Percy spazierenritt oder Wohltätigkeitsanstalten besichtigte, weilte Herr Spoelmann in seinem Hause, um die Arbeiten zu überwachen und Anordnungen zu treffen; und als das Jahr sich zu Ende neigte, ganz kurz nachdem der erste Schnee gefallen war, da wurde es Wahrheit, da zogen Spoelmanns in Schloß Delphinenort ein. Zwei Automobile (man hatte sie kürzlich anlangen sehen – herrliche Fahrzeuge, von Riesenkräften mit zart metallischem Rauschen dahingetrieben) trugen die sechs Personen – denn in dem zweiten saßen die Herren Phlebs und Slippers –, gelenkt von in Leder gekleideten Chauffeuren, neben denen mit verschränkten Armen Bediente in schneeweißen Pelzmänteln saßen, in wenigen Minuten vom Residenz-Hotel durch den Stadtgarten, und als die Wagen die stattliche Kastanienallee durchflogen, die in die Auffahrt mündete, da hingen an den hohen Lampenträgern, welche an allen vier Ecken des großen Brunnenbassins aufgerichtet waren, die Knaben des Volks und schwenkten schreiend ihre Mützen …

So wurden Samuel N. Spoelmann und die Seinen bei uns ansässig, und seine Gegenwart wurde zu einer lieben Gewohnheit. Man sah und kannte seine weißgoldenen Bedienten in der Stadt, wie man die braungoldenen großherzoglichen Lakaien sah und kannte; der in bordeauxroten Plüsch gekleidete Neger, der als Türhüter vor dem Portal von Delphinenort Wache hielt, war bald eine volkstümliche Gestalt; und wenn man am Schlosse vorüberspazierte und das gedämpfte Brausen von Herrn Spoelmanns Orgelspiel aus dem Innern hervordrang, so hob man den Finger und sagte: »Horch, er spielt. Er hat also wohl keine Koliken im Augenblick.« Täglich sah man Miß Imma an der Seite der Gräfin Löwenjoul, gefolgt von einem Reitknecht und umlärmt von dem rasenden Percy, spazierenreiten oder ein prächtiges Four-in-hand-Gespann eigenhändig durch den Stadtgarten lenken – wobei der Bediente, der auf dem Rücksitz des leichten Wagens saß, sich von Zeit zu Zeit erhob, aus einem Lederfutteral eine lange silberne Trompete zog und mit hellem Schall das Nahen des Gefährtes verkündete; und wenn man früh aufstand, konnte man jeden Morgen Vater und Tochter in einem dunkelrot lackierten Coupé oder bei schönem Wetter zu Fuße sich durch den Parkgrund von Schloß »Eremitage« zum Quellengarten begeben sehen, um den Brunnen zu trinken. Was Imma betraf, so nahm sie, wie erwähnt, ihre Besichtigungen der städtischen Wohltätigkeitsanstalten wieder auf, schien aber darüber ihre Wissenschaft nicht zu vernachlässigen, denn seit dem Beginne des Studienhalbjahres besuchte sie regelmäßig die Vorlesungen des Geheimrats Klinghammer in der Universität – saß täglich in einem schwarzen Kleid mit weißem Umlegekragen und Manschetten unter den jungen Leuten im Hörsaal und führte mit hochaufgesetztem und eingedrücktem Zeigefinger – dies war ihre Schreibart – die Füllfeder über die Seiten ihres Kollegheftes. Spoelmanns lebten zurückgezogen, sie pflogen keinen Verkehr in der Stadt, was ja sowohl in Herrn Spoelmanns Krankheit als auch in seiner gesellschaftlichen Einsamkeit seine Erklärung fand. Welcher Gesellschaftsgruppe hätte er sich anschließen sollen? Niemand mutete ihm zu, etwa mit Seifensieder Unschlitt oder Bankdirektor Wolfsmilch auf vertrauten Fuß zu treten. Wohl aber näherte man sich ihm bald mit Ansprüchen an seine Mildtätigkeit und wurde nicht abgewiesen. Denn Herr Spoelmann, der, wie man wußte, vor seiner Abreise von Amerika der Behörde für den öffentlichen Unterricht in den Vereinigten Staaten eine gewaltige Summe Dollars überwiesen, auch die bindende Versicherung abgegeben hatte, seine jährlichen Zuwendungen an die Spoelmann-Universität und die übrigen Bildungsinstitute keineswegs einzustellen – er zeichnete bald nach seinem Einzuge in »Delphinenort« zehntausend Mark zugunsten des Dorotheen-Kinderhospitals, für das gerade gesammelt wurde: eine Handlungsweise, deren Hochherzigkeit der »Eilbote« und die übrige Presse in warmen Worten zu würdigen wußte. Ja, obwohl Spoelmanns gesellschaftlich abgeschlossen lebten, so eignete ihrem Dasein bei uns doch von der ersten Stunde an eine gewisse Öffentlichkeit, und mindestens im örtlichen Teil der Tagesblätter wurde ihr Wandel mit nicht geringerer Aufmerksamkeit verfolgt als der der Mitglieder des großherzoglichen Hauses. Das Publikum wurde unterrichtet davon, wenn Miß Imma mit der Gräfin und den Herren Phlebs und Slippers eine Partie Tennis im Park von »Delphinenort« gespielt hatte, es war auf dem laufenden darüber, wann sie das Hoftheater besucht hatte, wann auch ihr Vater dabeigewesen war, um anderthalb Aufzüge einer Oper anzuhören; und wenn Herr Spoelmann der Neugier auswich, wenn er während der Theaterpause niemals seine Loge verließ und sich fast niemals zu Fuß in den Straßen blicken ließ, so war er doch offenbar nicht ohne Sinn für die darstellerischen Verpflichtungen, die ein außerordentliches Dasein auferlegt, und gab der Schaulust das ihre. Bekanntlich war der Park von »Delphinenort« nicht gegen den Stadtgarten abgeteilt. Keine Mauer trennte das Schloß von der Welt. Von der Rückseite zumal konnte man über die Rasenflächen bis dicht an den Fuß der breiten gedeckten Terrasse vordringen, die dort errichtet war, und war man keck, so konnte man durch die große Glastür geradeswegs in den hohen, weißgoldenen Gartensalon blicken, woselbst Herr Spoelmann mit den Seinen um fünf Uhr den Tee nahm. Ja, als die schöne Jahreszeit eintrat, da wurde die Teestunde draußen auf der Terrasse abgehalten, und wie auf einer Bühne saßen Herr und Fräulein Spoelmann, die Löwenjoul und Doktor Watercloose in neuartig geformten Korbstühlen und tranken öffentlich Tee. Denn am Sonntag wenigstens fehlte es niemals an Publikum, das aus einiger ehrerbietiger Entfernung das Schauspiel genoß. Man zeigte einander den großen silbernen Teekessel, der, was man noch niemals gesehen, elektrisch geheizt wurde, und die wundersamen Livreen der beiden Bedienten, die die Tassen und Konfitüren darreichten: weiße, hochgeschlossene und goldbetreßte Fräcke, die an den Kragen, den Ärmeln, den Säumen mit Schwan besetzt waren. Man horchte auf das englisch-deutsche Gespräch und verfolgte mit offenen Mündern jede Bewegung der merkwürdigen Familie dort oben. Dann ging man hinüber vors Hauptportal, um dem bordeauxroten Plüschmohren ein paar Scherze im Volksdialekt zuzurufen, die jener mit weißem Grinsen beantwortete …

Klaus Heinrich sah Imma Spoelmann zum erstenmal an einem heiteren Wintertage mittags um zwölf. Damit ist nicht gesagt, daß er sie nicht vorher schon manches Mal im Theater, auf der Straße, im Stadtpark erblickt hätte. Aber das ist etwas anderes. Er sah sie zum erstenmal um diese Mittagsstunde, und zwar unter lebhaften Umständen.

Er hatte bis halb zwölf Uhr im Alten Schlosse »Freiaudienzen« erteilt und war nach ihrer Beendigung nicht sofort nach Schloß »Eremitage« zurückgekehrt, sondern hatte seinem Kutscher Befehl gesandt, mit dem Coupé in einem der Höfe zu warten, indes er mit den diensttuenden Offizieren des Leibgrenadierregiments auf der Hauptwache eine Zigarette rauchen wollte. Da er die Uniform dieses Regiments trug, dem auch sein persönlicher Adjutant angehörte, so gab er sich Mühe, den Schein einer gewissen Kameradschaft mit den Offizieren zu wahren, speiste zuweilen in ihrem Kasino und leistete ihnen von Zeit zu Zeit eine halbe Stunde auf der Hauptwache Gesellschaft, obgleich er dunkel vermutete, daß er eher störend wirke, indem er die Herren davon abhielt, Karten zu spielen und unanständige Geschichten zu erzählen. Er stand also, den gewölbten Silberstern des Großen Ordens vom Grimmburger Greifen auf dem Waffenrock, die linke Hand weit hinten in die Hüfte gestemmt, mit Herrn von Braunbart-Schellendorf, der den Besuch rechtzeitig angekündigt hatte, in der Offizierswachtstube, die zu ebener Erde des Schlosses, ganz nahe beim Albrechtstor gelegen war – unterhielt ein nichtssagendes Gespräch mit zwei oder drei der Herren in der Mitte des Dienstraumes, während eine weitere Gruppe von Offizieren an dem tiefgelegenen Fenster plauderte. Weil draußen so warm die Sonne schien, hatte man das Fenster geöffnet, und von der Kaserne her näherte sich die Albrechtsstraße herauf zu Musik und Paukenschlag der Marschschritt der aufziehenden Ablösung. Es schlug zwölf von der Hofkirche. Man hörte draußen den Unteroffizier mit heiserer Stimme sein »Angetreten!« in die Mannschaftsstube rufen, hörte das Getrappel der zu ihren Gewehren eilenden Grenadiere. Publikum versammelte sich auf dem Platze. Der Leutnant, der das Kommando zu führen hatte, gürtete hurtig den Säbel um, schlug vor Klaus Heinrich die Absätze zusammen und ging hinaus. Da plötzlich rief Leutnant von Sturmhahn, der aus dem Fenster geblickt hatte, mit jener ein wenig falschen Unmittelbarkeit, die zum Ton zwischen Klaus Heinrich und den Offizieren gehörte: »Teufel auch, wollen Königliche Hoheit was Feines sehen? Da kommt die Spoelmann vorbei, mit ihrer Algebra unterm Arm …« Klaus Heinrich trat an das Fenster. Miß Imma kam zu Fuß und allein von rechts auf dem Bürgersteig daher. Beide Hände in ihrem großen, mappenartigen Muff, dessen lang hinabhängende Decke mit Schwänzchen besetzt war, hielt sie mit einem Unterarm ihr Kollegienheft an sich gedrückt. Sie trug eine lange Jacke aus glänzendem Schwarzfuchspelz und eine Mütze aus dem gleichen Rauchwerk auf ihrem dunklen, fremdartigen Köpfchen. Sie kam von »Delphinenort« offenbar und sputete sich, die Universität zu erreichen. Sie gelangte vor die Hauptwache in dem Augenblick, als die Ablösungsmannschaft gegenüber der Wachtmannschaft, die in zwei Gliedern und Gewehr bei Fuß die Höhe des Bürgersteiges besetzt hielt, im Rinnstein aufmarschierte. Sie mußte unbedingt umkehren, das Musikkorps und die Zuschauermenge umgehen, ja, wenn sie den offenen Platz mit seiner Trambahn vermeiden wollte, auf dem ringsherum führenden Fußsteig einen ziemlich weiten Bogen beschreiben oder das Ende der militärischen Verrichtung erwarten. Sie machte zu keinem von beidem Miene. Sie schickte sich an, auf dem Bürgersteige vorm Schloß zwischen den Gliedern hindurchzugehen. Der Unteroffizier mit der heiseren Stimme sprang vor. »Kein Durchgang!« schrie er und hielt den Kolben seines Gewehrs vor sich hin. »Kein Durchgang! Umkehren! Abwarten!« Da aber wurde Miß Spoelmann zornig. »Was fällt Ihnen ein!« rief sie. »Ich habe Eile!!« Aber diese Worte besagten wenig im Vergleich mit dem Nachdruck aufrichtigster, leidenschaftlichster, unwiderstehlichster Entrüstung, mit dem sie hervorgestoßen wurden. Wie klein und seltsam sie war! Die blonden Soldaten, unter denen sie stand, überragten sie wohl um doppelte Haupteslänge. Ihr Gesichtchen war bleich wie Wachs in dieser Minute, ihre schwarzen Brauen bildeten über der Nasenwurzel eine schwere und ausdrucksvolle Zornesfalte, die Löcher ihres unbestimmt gebildeten Näschens waren kreisrund geöffnet, und ihre Augen, tiefschwarz vor Erregung und übergroß, führten eine dermaßen eindringliche, hinreißend fließende Sprache, daß keine Einrede möglich schien. »Was fällt Ihnen ein!« rief sie. »Ich habe Eile!!« Und dabei schob sie mit der Linken den Kolben mitsamt dem verdutzten Unteroffizier beiseite und ging mitten zwischen den Gliedern hindurch – ging geradeaus ihres Weges, bog linker Hand in die Universitätsstraße und entschwand den Blicken.

»Verdammt!« rief Leutnant von Sturmhahn. »Da sind wir schön angekommen!« Die Offiziere am Fenster lachten. Auch draußen unter den Zuschauern herrschte viel Heiterkeit, die übrigens unbedingt beifällig klang. Klaus Heinrich stimmte in die allgemeine Fröhlichkeit ein. Die Ablösung vollzog sich unter Kommandos und abgerissenen Marschklängen. Klaus Heinrich kehrte nach »Eremitage« zurück.

Er frühstückte ganz allein, unternahm nachmittags einen Spazierritt auf seinem Pferde Florian und verbrachte den Abend in großem Kreise beim Finanzminister Doktor Krippenreuther. Mehreren Personen erzählte er mit heiter bewegter Stimme den Auftritt vor der Schloßwache, und sie zeigten sich hingerissen von seiner Erzählung, obgleich die Geschichte sofort die Runde gemacht hatte und allgemein bekannt war. Am nächsten Tage mußte er verreisen, da sein Bruder ihn mit der Vertretung bei der Feier zur Einweihung der neuen Stadthalle in der Nachbarstadt beauftragt hatte. Aus irgendwelchen Gründen fuhr er ungern, verließ er nur mit Widerstreben die Residenz. Ihm schien es so, als ob er eine wichtige, freudige, auch wohl beunruhigende Angelegenheit zurückließe, die eigentlich aufs dringlichste seine Anwesenheit erforderte. Dennoch war sein hoher Beruf wohl das Wichtigere. Aber während er fest und glänzend gekleidet auf seinem Ehrenstuhl in der Stadthalle saß und der Bürgermeister die Festrede hielt, war Klaus Heinrich nicht ausschließlich darauf bedacht, wie er sich den Blicken der Menge darstelle, sondern vielmehr in seinem Innern mit jener neuen und dringlichen Angelegenheit beschäftigt. Vorübergehend dachte er auch an eine Person, deren flüchtige Bekanntschaft er vor langen Jahren einmal gemacht, an Fräulein Unschlitt, die Tochter des Seifensieders – eine Erinnerung, die in gewissem Zusammenhang mit der dringlichen Angelegenheit stand.

Imma Spoelmann schob zornig den heiseren Unteroffizier beiseite – ging ganz allein, ihre Algebra unterm Arm, durch die Gasse der großen, blonden Grenadiere. Wie perlblaß ihr Gesichtchen war gegen das schwarze Haar unter der Pelzmütze, und wie ihre Augen redeten! Niemand glich ihr. Ihr Vater war krank vor Reichtum und hatte einfach ein Schloß aus dem Kronbesitz erworben. Wie war das noch, was der »Eilbote« über seinen unverschuldeten Weltruhm und die »abenteuerliche Vereinzelung seines Lebens« gesagt hatte? Er trage den Haß der benachteiligten Menge – so ähnlich hatte der Artikel sich ausgedrückt. Übrigens waren ihre Nasenlöcher kreisrund gewesen vor Entrüstung. Niemand glich ihr, niemand weit und breit. Sie war ein Sonderfall. Und wie, wenn sie damals auf dem Bürgerball gewesen wäre? So hätte er eine Gefährtin gehabt, hätte sich nicht verirrt, und der Abend hätte nicht in Schimpf und Schande geendet. »Herunter, herunter, herunter mit ihm!« O pfui! Laß das noch einmal sehen, wie sie so schwarzbleich und fremdartig durch die Gasse der blonden Soldaten ging.

Diese Gedanken waren es, die Klaus Heinrich während der nächsten Tage bei sich bewegte – nur diese drei, vier Vorstellungen. Und eigentlich war es zum Erstaunen, wie reichlich er damit auskam, ohne nach anderen zu verlangen. Aber alles in allem erschien es ihm mehr als wünschenswert, daß er sehr bald und womöglich noch heute das perlblasse Gesichtchen wiedersähe.

Abends fuhr er ins Hoftheater, wo man die Oper »Zauberflöte« spielte. Und als er von seiner Loge aus Fräulein Spoelmann neben der Gräfin Löwenjoul vorn auf der ersten Galerie gewahrte, erschrak er bis zum Grund seines Herzens. Während des Spiels konnte er sie aus dem Dunkel durch sein Glas betrachten, da das Licht von der Bühne auf sie fiel. Sie ließ ihr Köpfchen in der schmalen, ungeschmückten Hand ruhen, indem sie unbekümmert den bloßen Arm auf die Sammetbrüstung stützte, und sah nicht mehr entrüstet aus. Sie trug ein Kleid aus seegrüner glänzender Seide mit lichtem Überwurf, in den farbige Blumensträuße gestickt waren, und um Hals und Brust eine lange Kette aus lauter blitzenden Diamanten. Eigentlich war sie nicht so klein, wie es scheinen mochte, fand Klaus Heinrich, als sie am Aktschluß aufstand. Nein, es lag an dem kindlichen Gepräge des Köpfchens und der Schmalheit ihrer bräunlichen Schultern, daß sie so wie ein kleines Mädchen erschien. Ihre Arme waren wohlausgebildet, und man konnte sehen, daß sie Sport trieb und Pferde zügelte. Aber vom Handgelenk wurde auch der Arm wie der eines Kindes.

Als die Dialogstelle gesprochen wurde: »Er ist ein Prinz. Er ist mehr als das«, spürte Klaus Heinrich den Wunsch, mit Doktor Überbein zu plaudern. Doktor Überbein sprach zufällig am nächsten Tage auf »Eremitage« vor: in schwarzem Gehrock mit weißer Krawatte, wie immer, wenn er Klaus Heinrich besuchte. Klaus Heinrich fragte ihn, ob er die Geschichte von der Hauptwache schon gehört habe? Ja, antwortete Doktor Überbein, die habe er mehrfach gehört. Aber wenn Klaus Heinrich sie ihm noch einmal erzählen wolle … »Nein, wenn Sie sie kennen«, sagte Klaus Heinrich enttäuscht. Dann kam Doktor Überbein auf etwas völlig anderes. Er fing an von Operngläsern zu sprechen und betonte, daß das Opernglas doch eine ausgezeichnete Erfindung sei. Es bringe nahe, was leider fern sei, nicht wahr? es schlage Brücken zu angenehmen Zielen. Was Klaus Heinrich meine? Klaus Heinrich war geneigt, dem halb und halb zuzustimmen. Und er solle ja gestern abend, wie man erzähle, recht ausgiebig von dieser schönen Erfindung Gebrauch gemacht haben, sagte der Doktor. Das konnte Klaus Heinrich nicht verstehen. Da sagte Doktor Überbein: »Nein, hören Sie mal, Klaus Heinrich, so geht das nicht. Sie werden angestarrt, und die kleine Imma wird angestarrt, das genügt. Wenn nun aber Sie auch noch die kleine Imma anstarren, so ist das zuviel. Das müssen Sie doch einsehen?«

»Ach, Doktor Überbein, ich habe nicht daran gedacht.«

»Sie pflegen aber doch sonst an so was zu denken.«

»Mir ist seit einigen Tagen so neuartig zumute«, sagte Klaus Heinrich.

Doktor Überbein lehnte sich zurück, ergriff seinen roten Bart in der Nähe der Gurgel und nickte langsam mit Kopf und Oberkörper.

»So? Ist Ihnen?« fragte er. Und fuhr dann fort zu nicken.

Klaus Heinrich sagte: »Sie glauben nicht, wie ungern ich neulich zur Einweihung der Stadthalle gefahren bin. Und morgen muß ich die Rekrutenvereidigung bei den Leibgrenadieren vornehmen. Und dann kommt das Hausordens-Kapitel. Das ist mir sehr zuwider. Ich habe gar keine Lust zu repräsentieren. Ich habe gar keine Lust zu meinem sogenannten hohen Beruf.«

»Das höre ich ungern!« sagte Doktor Überbein scharf.

»Ja, ich konnte mir denken, daß Sie böse werden würden, Doktor Überbein. Sie nennen es gewiß eine Schlamperei. Und dann werden Sie gewiß von ›Schicksal und Strammheit‹ reden, wie ich Sie kenne. Aber gestern in der Oper habe ich bei einer bestimmten Stelle an Sie gedacht und mich gefragt, ob Sie eigentlich so ganz recht hätten in manchen Punkten …«

»Hören Sie, Klaus Heinrich, wenn ich mich nicht irre, so habe ich Euere Königliche Hoheit schon einmal sozusagen bei den Ohren wieder zu sich selber gebracht …«

»Das war etwas anderes, Doktor Überbein. Ach wenn Sie doch einsähen, daß das etwas ganz und gar anderes war! Das war im ›Bürgergarten‹, aber der liegt so weit zurück, und ich habe keinerlei Verlangen danach. Denn sie ist ja selbst … Sehen Sie, Sie haben mir früher manchmal erklärt, was Sie unter ›Hoheit‹ verstünden, und daß sie rührend sei, und daß man sich ihr mit zarter Teilnahme zu nahen habe, wie Sie sich ausdrückten. Finden Sie denn nicht, daß die, von der wir reden, daß sie rührend ist und daß man teil an ihr nehmen muß?«

»Vielleicht«, sagte Doktor Überbein. »Vielleicht.«

»Sie sagten oft, daß man die Sonderfälle nicht wegleugnen dürfe, das sei eine Schlamperei und eine liederliche Gemütlichkeit. Finden Sie denn nicht, daß sie auch ein Sonderfall ist, die, von der wir reden?«

Doktor Überbein schwieg.

»Und nun sollte ich wohl gar,« sagte er plötzlich mit schallender Stimme, »wenn es möglich wäre, dazu helfen, daß aus zwei Sonderfällen so etwas wie ein Allerweltsfall werde?«

Hierauf ging er. Er sagte, daß er zu seiner Arbeit zurückkehren müsse, wobei er das Wort »Arbeit« scharf betonte, und bat, sich zurückziehen zu dürfen. Er verabschiedete sich seltsam zeremoniös und unväterlich.

Klaus Heinrich sah ihn wohl zehn oder zwölf Tage nicht. Er lud ihn einmal zum Frühstück ein, aber Doktor Überbein ließ um gnädigste Entschuldigung bitten, seine Arbeit nähme ihn augenblicklich gar zu sehr in Anspruch. Schließlich kam er von selbst. Er war aufgeräumt und sah übrigens grüner aus als je. Er schwadronierte von diesem und jenem und kam dann auf Spoelmanns zu sprechen, indem er zur Decke blickte und sich bei der Gurgel ergriff. Alles was recht sei, sagte er, aber es sei ganz auffallend viel Sympathie für Samuel Spoelmann vorhanden, man spüre es überall in der Stadt, wie er beliebt sei. Erstens natürlich als Steuersubjekt, aber auch sonst. Man habe einfach Sinn für ihn, in allen Schichten, für sein Orgelspiel und seinen mißfarbenen Paletot und seine Nierenkoliken. Jeder Schusterjunge sei stolz auf ihn, und wenn er nicht so unzugänglich und verdrießlich wäre, würde man es ihm schon zu fühlen geben. Die Zehntausend-Mark-Spende für das Dorotheen-Spital habe natürlich den besten Eindruck gemacht. Sein Freund Sammet habe ihm, Überbein, erzählt, daß mit Hilfe dieser Schenkung umfassende Verbesserungen im Spital vorgenommen seien. Und übrigens, was ihm da einfalle! Die kleine Imma wolle ja morgen vormittag die Verbesserungen in Augenschein nehmen, habe Sammet erzählt. Sie habe einen von ihren Schwanverbrämten geschickt und angefragt, ob sie morgen willkommen sei. Eigentlich gehe sie ja das Kinderelend den Teufel etwas an, meinte Überbein, aber sie wolle vielleicht was lernen. Morgen vormittag um elf, wenn ihn sein Gedächtnis nicht täusche. Dann sprach er von etwas anderem. Beim Weggehen sagte er noch: »Der Großherzog sollte sich mal ein bißchen um das Dorotheen-Spital kümmern, Klaus Heinrich, man erwartet das. Eine segensreiche Anstalt. Kurzum, jemand müßte vorfahren. Und das hohe Interesse bekunden. Ohne vorgreifen zu wollen … Und damit Gott befohlen.«

Aber er kehrte noch einmal zurück, und in seinem grünlichen Gesicht war, unterhalb der Augen, eine Röte entstanden, die sich völlig unwahrscheinlich darin ausnahm. »Sollte ich«, sagte er laut, »Sie jemals wieder mit einem Bowlendeckel auf dem Kopfe treffen, Klaus Heinrich, so lasse ich Sie sitzen.« Dann kniff er die Lippen zusammen und ging schnell hinaus.

Am nächsten Vormittag gegen elf Uhr fuhr Klaus Heinrich, von Schloß »Eremitage« kommend, mit Herrn von Braunbart-Schellendorf, seinem Adjutanten, durch die beschneite Birkenallee, auf holperigen Vorstadtstraßen zwischen ärmlichen Wohnungen hin und hielt vor dem schlichten weißen Hause, über dessen Eingang in breiten schwarzen Lettern »Dorotheen-Kinderspital« zu lesen war. Sein Besuch war gemeldet. Der Chefarzt der Anstalt, im Frack und angetan mit dem Albrechtskreuz dritter Klasse, erwartete ihn mit zwei jüngeren Ärzten und dem Korps der Diakonissinnen in der Vorhalle. Der Prinz und sein Begleiter trugen Helm und Pelzmantel. Klaus Heinrich sagte: »Ich erneuere zum zweitenmal eine alte Bekanntschaft, lieber Herr Doktor. Sie waren anwesend, als ich zur Welt kam. Und dann standen Sie am Sterbebett meines Vaters. Auch sind Sie ja ein Freund meines Lehrers Überbein. Ich freue mich sehr.«

Doktor Sammet, in tätiger Sanftmut ergraut, verbeugte sich seitwärts geneigten Kopfes, eine Hand an der Uhrkette und den Ellenbogen dicht am Oberkörper. Er stellte dem Prinzen die beiden jüngeren Ärzte und die Schwester-Oberin vor und sagte dann: »Ich muß Euerer Königlichen Hoheit anzeigen, daß der gnädige Besuch Euerer Königlichen Hoheit mit einem anderen Besuch zusammentrifft. Ja. Wir erwarten Fräulein Spoelmann. Ihr Vater hat unsere Anstalt in so großartiger Weise gefördert … Wir konnten die Vereinbarung nicht wohl noch rückgängig machen. Die Schwester-Oberin wird das Fräulein führen.«

Klaus Heinrich nahm freundlich von diesem Zusammentreffen Kenntnis. Er tat hierauf eine Äußerung über die Tracht der Diakonissinnen, die er kleidsam nannte, und erklärte dann, daß er begierig sei, einen Einblick in die segensreiche Anstalt zu tun. Man begann den Rundgang. Die Oberin blieb mit drei Schwestern in der Vorhalle zurück.

Alle Wände im Haus waren weiß getüncht, waren waschbar. Ja. Die Kräne der Wasserleitungen waren sehr groß; man bewegte sie mit dem Ellenbogen, aus Reinlichkeitsrücksichten. Und Spülstrahlapparate waren angebracht, für die Milchflaschen. Man ging durch den Empfangsraum, der leer war bis auf ein paar Betten außer Dienst und die Fahrräder der Ärzte. Im Ordinationszimmer, nebenan, war außer dem Schreibtisch und dem Gestell mit den weißen Mänteln der Ärzte noch eine Art Wickeltisch mit Wachstuchkissen, ein Operationstisch, ein Schrank mit Nährmitteln und eine muldenförmige Kinderwage zu sehen. Klaus Heinrich verweilte bei den Nährmitteln, ließ sich die Zusammensetzung der Präparate erklären. Doktor Sammet dachte bei sich, daß, wenn man den Rundgang mit dieser Gründlichkeit fortsetzen wolle, empfindlich viel Zeit verlorengehen werde.

Plötzlich gab es Geräusch auf der Straße. Ein Automobil fuhr tutend an und bremste vorm Hause. Es wurde hoch gerufen, man hörte es deutlich im Ordinationszimmer, wenn es auch wohl nur Kinder waren, die riefen. Klaus Heinrich kümmerte sich nicht sehr um diese Vorgänge. Er betrachtete eine Büchse mit Milchzucker, die übrigens nicht viel Merkwürdiges bot. »Scheinbar kommt Besuch«, sagte er. »Oh, richtig, Sie sagten ja, daß welcher kommen werde. Gehen wir weiter?«

Man begab sich in die Küche, die Milchküche, den großen, mit Kacheln ausgelegten Raum für Milchmischung, den Aufbewahrungsort für Vollmilch, Schleime und Buttermilch. Die täglichen Quanten standen auf reinlichen weißen Tischen in kleinen Flaschen beisammen. Es herrschte ein säuerlich fader Geruch.

Klaus Heinrich wandte auch diesem Raum seine volle Aufmerksamkeit zu. Er ging so weit, von der Buttermilch zu kosten und fand sie vorzüglich. Wie müßten nicht die Kinder gedeihen, betonte er, bei einer solchen Buttermilch. Während dieser Musterung öffnete sich die Tür, und Miß Spoelmann kam zwischen der Schwester-Oberin und der Gräfin Löwenjoul herein, gefolgt von den drei Diakonissinnen.

Heute bestanden Jacke, Mütze und Muff, die sie trug, aus dem herrlichsten Zobel, und der Muff hing an einer goldenen, mit farbigen Edelsteinen besetzten Kette. Übrigens zeigte ihr schwarzes Haar die Neigung, ihr in glatten Strähnen in die Stirn zu fallen. Sie überflog den Raum mit einem großen Blick, ihre Augen waren wirklich ganz ungebührlich groß im Verhältnis zu ihrem Gesichtchen; sie beherrschten es wie bei einem Kätzchen – nur daß sie schwarz waren wie Glanzkohle und diese fließende Sprache führten … Die Gräfin Löwenjoul, ein Federhütchen auf ihrem kleinen Kopf und übrigens schlicht, knapp und nicht ohne Vornehmheit gekleidet wie immer, lächelte abwesend.

»Die Milchküche,« sagte die Schwester-Oberin, »hier wird die Milch gekocht für die Kinder.«

»Etwas Ähnliches ließ sich vermuten«, entgegnete Fräulein Spoelmann. Sie sagte es äußerst rasch und obenhin, ohne englischen Einschlag übrigens, mit vorgeschobenen Lippen und einem kleinen, hochmütigen Hin- und Herwenden des Köpfchens. Ihre Stimme war doppelt; sie bestand aus einer tiefen und einer hohen, mit einem Bruch in der Mitte.

Die Schwester-Oberin war ganz betreten. »Ja,« sagte sie, »man sieht es gleich.« Und eine kleine, schmerzliche Verzerrung war in ihrem Gesicht zu bemerken.

Die Sachlage war nicht einfach. Doktor Sammet suchte in Klaus Heinrichs Miene nach Befehlen; allein da Klaus Heinrich wohl gewohnt war, innerhalb feststehender Formen Dienst zu tun, nicht aber, neuartige und verwirrte Umstände zu ordnen, so entstand eine Ratlosigkeit. Herr von Braunbart war im Begriffe, vermittelnd einzutreten, und Fräulein Spoelmann, auf der anderen Seite, schickte sich an, die Milchküche wieder zu verlassen, als der Prinz mit der Rechten eine kleine verbindende Bewegung zwischen sich und dem jungen Mädchen vollführte. Dies war das Zeichen für Doktor Sammet, auf Imma Spoelmann zuzutreten.

»Doktor Sammet. Ja.« Er bitte um die Ehre, das gnädige Fräulein Seiner Königlichen Hoheit vorstellen zu dürfen … »Fräulein Spoelmann, Königliche Hoheit, Mister Spoelmanns Tochter, dem das Spital so viel verdankt.«

Mit geschlossenen Absätzen reichte Klaus Heinrich ihr die Hand im weißen Militärhandschuh, und indem sie ihr schmales, mit braunem Rehleder bekleidetes Händchen hineinlegte, gab sie der Bewegung des Händedrucks eine wagerechte Richtung, machte ein englisches shake-hands daraus, wobei sie gleichzeitig mit spröder Pagenanmut etwas wie einen Hofknicks andeutete, ohne ihre großen Augensterne von Klaus Heinrichs Gesicht zu wenden. Er sagte etwas sehr Gutes, nämlich: »Sie machen also auch dem Spital einen Besuch, gnädiges Fräulein?«

Und rasch wie vorhin, mit vorgeschobenen Lippen und dem kleinen hochmütigen Hin und Her des Kopfes, antwortete sie mit ihrer gebrochenen Stimme: »Man kann nicht leugnen, daß manches für diese Annahme spricht.«

Unwillkürlich hob Herr von Braunbart abwehrend die Hand. Doktor Sammet blickte still auf seine Uhrkette nieder, und einem der jungen Ärzte entschlüpfte ein kurzer Laut durch die Nase, der nicht am Platze war. Man sah jetzt in Klaus Heinrichs Gesicht die kleine schmerzliche Verzerrung. Er sagte: »Natürlich … so werde ich also die Anstalt zusammen mit dem gnädigen Fräulein besichtigen können … Herr Hauptmann von Braunbart, mein Adjutant«, fügte er rasch hinzu, da er seine Bemerkung gleich der letzten würdig fand. Sie sagte dagegen: »Frau Gräfin Löwenjoul.«

Die Gräfin verbeugte sich vornehm – mit einem rätselhaften Lächeln übrigens, einem Seitenblick ins Ungewisse, der etwas seltsam Lockendes hatte. Als sie sich aber wieder aufrichtete und ihren so wunderlich entwichenen Blick zu Klaus Heinrich zurückkehren ließ, der in gefaßter und militärisch gesammelter Haltung vor ihr stand, da verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht, ein Ausdruck von Ernüchterung und Gram ergriff von ihren Zügen Besitz, und in derselben Sekunde war es, als ob in ihren ein wenig verschwollenen grauen Augen etwas wie Haß gegen Klaus Heinrich aufzuckte … Das war nur eine flüchtige Erscheinung. Klaus Heinrich fand nicht Zeit, darauf achtzuhaben, und vergaß es alsbald. Die beiden jungen Ärzte gelangten zur Vorstellung vor Imma Spoelmann. Und dann stimmte Klaus Heinrich dafür, daß man den Rundgang wieder aufnähme.

Es ging die Treppe hinauf, ins erste Stockwerk. Klaus Heinrich und Imma Spoelmann vorauf, geleitet von Doktor Sammet, dann die Gräfin Löwenjoul mit Herrn von Braunbart und endlich die jungen Ärzte. Hier waren die größeren Kinder – ja; im Alter bis zu vierzehn Jahren. Ein Vorraum mit Wäscheschränken trennte die Säle für Mädchen und Knaben. In weißen Gitterbettchen, mit einem Namensschild zu Häupten und einem Klapprahmen am Fußende, der Tabellen mit Fieber- und Gewichtskurven zeigte, gewartet von Schwestern in weißen Hauben, umgeben von Ordnung und Reinlichkeit, lagen die kranken Kinder, und Husten erfüllte den Raum, während Klaus Heinrich und Imma Spoelmann zwischen den Reihen dahinschritten.

Er hielt sich aus Höflichkeit zu ihrer Linken und lächelte, wie er es tat, wenn er durch Ausstellungen geführt wurde, die Fronten von Veteranen, Turnern und Ehrenkompanien musterte. Aber immer, wenn er den Kopf nach rechts wandte, gewahrte er, daß Imma Spoelmann ihn betrachtete – begegnete er ihrem großen schwarzen Blick, der prüfend, mit glänzend ernster Frage auf ihn gerichtet war. Das war so seltsam, daß Klaus Heinrich nie etwas Seltsameres erlebt zu haben glaubte als ihre Art, so ohne Rücksicht auf ihn und alle, ganz unverhohlen und frei, ganz unbesorgt, ob jemand acht darauf habe, mit ihren großen Augen ihn zu betrachten. Wenn Doktor Sammet an einem Bettchen verweilte, um den Fall zu erklären, wie bei dem kleinen Mädchen, dessen gebrochenes, weiß verpacktes Bein ganz senkrecht emporgebunden war, so hörte Fräulein Spoelmann ihm aufmerksam zu, man sah es wohl; aber während sie lauschte, blickte sie nicht auf den Redenden, sondern ihre Augen gingen zwischen Klaus Heinrich und dem Kinde, das schmal und still, mit auf der Brust gekreuzten Händen aus seiner Rückenlage zu ihnen emporblickte – zwischen dem Prinzen und diesem kleinen Leidensfall, der ihnen gemeinsam erklärt wurde, hin und her, als beaufsichtige sie Klaus Heinrichs Teilnahme oder als suche sie die Wirkung von Doktor Sammets Worten in seiner Miene zu lesen – man wußte nicht recht, warum es geschah. Ja, namentlich war es so bei dem Knaben mit dem Schuß durch den Arm und bei dem, der aus dem Wasser gezogen worden: zwei traurigen Fällen, wie Doktor Sammet bemerkte. »Eine Verbandschere, Schwester«, sagte er und zeigte ihnen die Doppelwunde am Oberarm des Knaben, den Eintritt und Austritt einer Revolverkugel. »Die Wunde«, sagte Doktor Sammet gedämpft zu seinen Gästen, indem er dem Bettchen den Rücken zuwandte, »die Wunde hat ihm sein eigener Vater beigebracht, ja. Es ist gut abgelaufen bei diesem einen. Der Mann hat seine Frau und drei seiner Kinder und sich selbst mit einem Revolver erschossen. Er hat fehlgeschossen bei diesem Knaben …« Klaus Heinrich sah auf die Doppelwunde. »Warum tat das der Mann?« fragte er scheu, und Doktor Sammet antwortete: »In der Verzweiflung, Königliche Hoheit; es war Schande und Not, was ihn dazu veranlaßte. Ja.« Er sagte nichts weiter; nur dies Allgemeinste – ebenso wie bei dem Kleinen, der aus dem Wasser gezogen war, einem zehnjährigen Knaben. »Er schnauft«, sagte Doktor Sammet. »Er hat noch Wasser in seiner Lunge. Man hat ihn heute früh aus dem Fluß gefischt – ja. Übrigens ist es wenig wahrscheinlich, daß er so recht eigentlich in das Wasser gefallen ist. Mehrere Anzeichen sprechen dagegen. Er war von Hause entflohen. Ja.« Er schwieg. Und wieder fand Klaus Heinrich, daß Fräulein Spoelmann ihn anblickte, groß, schwarz und glänzend ernst – mit ihrem Blick, der den seinen suchte, ihn dringlich aufzufordern schien, gemeinsam mit ihr die »traurigen Fälle« zu durchdenken, Doktor Sammets Andeutungen im Geist zu vervollständigen, bis zu den schrecklichen Wahrheiten vorzudringen, die durch diese zwei kranken Kinderkörper zusammengefaßt und dargestellt wurden … Ein kleines Mädchen weinte bitterlich, als der dampfende und zischende Inhalierapparat zusammen mit einem Pappdeckel voll bunter Bilder an ihr Bettchen gestellt wurde. Fräulein Spoelmann beugte sich zu der Kleinen nieder. »Es tut nicht weh,« sagte sie und ahmte die Kindersprache nach, »kein bißchen. Du mußt nicht weinen.« Und als sie sich wieder aufrichtete, fügte sie rasch hinzu und rümpfte die Lippen: »Es steht zu vermuten, daß sie nicht sowohl über den Apparat als über die Bilder weint.« Alle lachten. Der eine der jungen Assistenten hob den Pappdeckel empor und lachte noch lauter, als er die Bilder betrachtete. Man ging hinüber ins Laboratorium. Klaus Heinrich dachte im Gehen darüber nach, wie seltsam Fräulein Spoelmann spottete. »Es steht zu vermuten«, hatte sie gesagt, und »nicht sowohl«. Es war gewesen, als ob sie sich nicht nur über die Bilder, sondern auch über die ausgesuchten und scharfen Redensarten lustig machte, die sie mit rascher Gewandtheit benutzte. Und das war wohl der unumschränkteste Spott, der sich denken ließ …

Das Laboratorium war der größte Raum des Hauses. Gläser, Retorten, Trichter und Chemikalien standen auf den Borden, und es standen Präparate in Spiritus darauf, die Doktor Sammet seinen Gästen in ruhigen und festen Worten erklärte. Ein Kind war auf unerklärliche Weise erstickt: Hier war sein Kehlkopf, mit pilzartigen Wucherungen statt der Stimmbänder. Ja. Dies hier im Glase war eine krankhaft erweiterte Kinderniere; und dies waren entartete Knochen. Klaus Heinrich und Fräulein Spoelmann sahen alles an, sie blickten zusammen in die Gläser, die Doktor Sammet gegen das Fenster hielt, und ihre Augen waren andächtig, während um ihre Münder derselbe kleine Zug von Widerstand lag. Sie blickten auch nacheinander in das Mikroskop, betrachteten, mit einem Auge über die Linse gebeugt, eine böse Ausscheidung, eine blau gefärbte, auf ein Glasplättchen gestrichene Materie, die neben den großen Flecken ganz kleine Punkte zeigte: das waren Bazillen. Klaus Heinrich wollte Fräulein Spoelmann zuerst an das Mikroskop treten lassen, aber sie wehrte ab, indem sie die Brauen emporzog und einen Mund machte, als wollte sie mit übertriebener Betonung »Oh, unter keiner Bedingung!« sagen. Da nahm er denn den Vortritt, denn er fand, daß es wirklich einerlei sei, wer zuerst etwas so Ernstes und Furchtbares wie Bazillen in Augenschein nahm. Und hierauf wurden sie hinaufgeführt, in den zweiten Stock, zu den Säuglingen.

Sie lachten beide über das vielstimmige Geschrei, das ihnen schon auf der Treppe entgegenscholl. Und dann gingen sie mit ihrem Gefolge im Saal zwischen den Bettchen dahin, beugten sich nebeneinander über die kahlköpfigen Geschöpfe, die mit geballten Fäustchen schliefen oder aus allen Kräften schreiend ihre nackten Gaumen zeigten – hielten sich die Ohren zu und lachten aufs neue. In einer Art Ofen, darin eine gleichmäßige Wärme erzeugt wurde, lag eine Frühgeburt. Und Doktor Sammet zeigte den hohen Gästen ein grausig leichenhaftes Armenkind mit häßlichen großen Händen, diesem Abzeichen einer niederen und harten Geburt … Er nahm ein schreiendes Kind aus dem Bettchen, und es verstummte sofort. Sachkundig stützte er den haltlosen Kopf in seine hohle Hand und wies das rote, blinzelnde, mit kurzen Bewegungen sich dehnende Wesen den beiden vor – Klaus Heinrich und Imma Spoelmann, die nebeneinander standen und auf den Säugling niederblickten. Klaus Heinrich sah mit geschlossenen Absätzen zu, wie Doktor Sammet das Kind in das Bettchen zurücklegte; und als er sich wandte, traf er auf Imma Spoelmanns glänzend forschende Augen, wie er es erwartet hatte.

Zuletzt traten sie an eines der drei Fenster des Saales und blickten hinaus über die ärmliche Vorstadtgegend, hinunter auf die Straße, wo, umlagert von Kindern, der braune Hofwagen und Immas prachtvolles, dunkelrot lackiertes Automobil hintereinander hielten. Der Spoelmannsche Chauffeur, unförmig in seinem Zottenpelz, saß tief zurückgelehnt, eine Hand am Steuer des gewaltigen Fahrzeugs, und sah zu, wie sein Kamerad, der weiße Bediente, dort vorn am Coupé ein Geplauder mit Klaus Heinrichs Kutscher in Gang zu halten suchte.

»Die Nachbarn«, sagte Doktor Sammet, der mit einer Hand die weiße Tüllgardine zurückhielt, »sind zugleich die Eltern unserer Pfleglinge. Sonnabends spät ziehen die betrunkenen Väter johlend vorüber. Ja.«

Sie standen und lauschten; aber Doktor Sammet sagte nichts mehr von den Vätern, und so brachen sie auf, denn nun hatten sie alles gesehen.

Der Zug, Klaus Heinrich und Imma voran, bewegte sich die Treppen hinunter, und in der Vorhalle war auch das Schwesternkorps wieder versammelt. Es wurde Abschied genommen, mit Absatzklappen und Honneurs, mit Verbeugungen und Knicksen. Klaus Heinrich, in förmlicher Haltung vor Doktor Sammet, der ihm mit seitwärts geneigtem Kopfe und die Hand an der Uhrkette zuhörte, äußerte sich in einer feststehenden Redewendung höchst beifällig über das Gesehene, während er fühlte, daß Imma Spoelmann ihre großen Augen dabei auf ihm ruhen ließ. Er geleitete mit Herrn von Braunbart die Damen zum Automobil, als die Verabschiedung von den Ärzten und den Schwestern beendet war. Während sie, zwischen Kindern und Frauen, die Kinder auf den Armen hielten, das Trottoir überschritten, und noch an dem breiten Trittbrett des Automobils unterhielten sich Klaus Heinrich und Fräulein Spoelmann wie folgt.

»Es war mir eine große Freude, mit dem gnädigen Fräulein zusammenzutreffen«, sagte er.

Sie antwortete hierauf nichts, sondern schob nur die Lippen vor, indem sie ein wenig den Kopf hin und her wandte.

»Es war eine fesselnde Besichtigung«, sagte er wieder. »Man tat allerlei Einblicke.«

Sie sah ihn an, groß und schwarz. Dann sagte sie rasch und obenhin, mit ihrer gebrochenen Stimme: »O ja, bis zu einem gewissen Grade …«

Er verfiel auf die Frage: »Ich hoffe, es gefällt Ihnen auf Schloß Delphinenort, gnädiges Fräulein?« Worauf sie mit vorgeschobenen Lippen erwiderte: »Oh, warum nicht. Es ist ja eine ganz schickliche Unterkunft …«

»Gefällt es Ihnen besser dort als in Neuyork?« fragte er. Und sie antwortete: »Ebensogut. Es ist ziemlich gleich. Es ist ziemlich überall dasselbe.«

Das war alles. Klaus Heinrich und, einen Schritt hinter ihm, Herr von Braunbart standen, die Hand am Helm, als der Chauffeur ankurbelte und das Automobil sich unter Erschütterungen in Bewegung setzte.

Es versteht sich, daß diese Begegnung nicht lange eine innere Angelegenheit des Dorotheen-Spitales blieb, vielmehr noch am selben Tage in aller Munde war. Der »Eilbote« veröffentlichte unter zart poetischer Überschrift eine ausführliche Schilderung des Zusammentreffens, die, ohne in den Einzelheiten streng den Tatsachen zu entsprechen, die Gemüter doch mächtig gefangennahm, ja Kundgebungen einer so lebhaften Wißbegierde des Publikums hervorrief, daß das wachsame Blatt sich veranlaßt sah, auf weitere Annäherungen zwischen den Häusern Grimmburg und Spoelmann fortan ein Auge zu haben. Es war nicht viel, was es melden konnte. Es vermerkte ein paarmal, daß Seine Königliche Hoheit Prinz Klaus Heinrich, nach Schluß der Hoftheatervorstellung den Wandelgang der ersten Galerie durchschreitend, einen Augenblick vor der Spoelmannschen Loge haltgemacht habe, um die Damen zu begrüßen. Und in seinem Bericht über den kostümierten Wohltätigkeitsbasar, der Mitte Januar im großen Rathaussaale stattfand – einer eleganten Veranstaltung, an der sich auf inständige Einladung durch das Komitee Miß Spoelmann als Verkäuferin beteiligte –, nahm keinen geringen Raum die Beschreibung jener Szene ein, wie Prinz Klaus Heinrich bei dem Rundgang des Hofes vor der Bude angehalten habe, in der Fräulein Spoelmann schaltete, wie er einen Gegenstand, eine Vase, ein Kunstglas (denn Fräulein Spoelmann verkaufte Porzellan und Kunstgläser) von ihr erworben und sich wohl acht oder zehn Minuten lang plaudernd vor dem Verkaufsstande verweilt habe. Von dem Inhalt des Gespräches verlautbarte nichts. Dennoch war es durchaus nicht ohne Ergebnis verlaufen.

Der Hof (mit Ausnahme Albrechts) war gegen Mittag im Rathaussaale erschienen. Als Klaus Heinrich, das erstandene Kunstglas in Seidenpapier auf den Knien, in seinem Coupé nach Eremitage zurückkehrte, hatte er sich in Delphinenort angesagt, hatte er die Absicht kundgetan, sich das Schloß in seinem neuen Zustande einmal anzusehen und bei dieser Gelegenheit Herrn Spoelmanns Sammlung von Kunstgläsern in Augenschein zu nehmen. Denn unter Miß Spoelmanns Waren hatten sich drei oder vier alte Gläser befunden, die ihr Vater selbst aus seiner Kollektion für den Basar gestiftet hatte, und eines davon hatte Klaus Heinrich gekauft.

Er sah sich wieder in dem Halbkreis von Menschen, die ihnen zusahen – allein vor Imma Spoelmann und getrennt von ihr durch den Budentisch mit seinen Kelchen, Karaffen, seinen weißen und farbigen Porzellangruppen. Er sah sie in dem roten Phantasiegewande, das, aus einem Stück gearbeitet, ihre wohlausgebildete und dennoch kindliche Gestalt umschloß, indem es ihre bräunlichen Schultern und ihre Arme freiließ, die rund und fest waren und dennoch vor dem Handgelenk wie die eines Kindes wurden. Er sah den goldenen Schmuck, halb Kranz und halb Diadem, in der Schwärze ihres aufgelösten Haares, das eine Neigung zeigte, ihr in glatten Strähnen in die Stirn zu fallen, ihre übergroßen und schwarzen, glänzend fragenden Augen in dem perlblassen Gesichtchen, ihren vollen und weichen Mund, den sie mit verwöhnter Geringschätzung vorschob, wenn sie sprach – und um sie herum in dem großen, gewölbten Raum war Tannengeruch und wirrer Lärm, Musik, Gongschläge, Gelächter und Marktschreierei gewesen.

Er hatte das Kunstglas, den alten, edlen Kelch mit seinem Schmuck von silbernem Blattwerk bewundert, den sie ihm zum Kaufe angeboten, und sie hatte gesagt, daß er aus ihres Vaters Sammlung stamme. – So herrliche Dinge besitze also ihr Vater eine ganze Menge? – Allerdings. Und glaublicherweise seien es nicht eben die besten Nummern, die ihr Vater für den Basar gestiftet habe. Sie stehe nicht an, zu erklären, daß er viel schönere Gläser habe. – Die wünschte Klaus Heinrich wohl sehen zu dürfen! – Nun, das würde sich gelegentlich ja unschwer ermöglichen lassen, hatte Fräulein Spoelmann mit ihrer gebrochenen Stimme geantwortet, indem sie die Lippen vorgeschoben und ihr Köpfchen ein wenig hin und her gewandt hatte. Ihr Vater, hatte sie gemeint, werde durchaus nicht dawider seien, die Früchte seines Sammelfleißes wieder einmal einem verständnisvollen Beschauer vorzuführen. Um die Teestunde seien Spoelmanns immer zu Hause.

Sie hatte die Sache sehr bürgerlich genommen, hatte aus der Ansage eine Einladung gemacht und im leichtesten Tone gesprochen. Schließlich, auf Klaus Heinrichs Frage, welchen Tag man in Aussicht nehmen solle, hatte sie geantwortet: »Welchen Sie wollen, Prinz. Wir werden uns jederzeit unsäglich glücklich schätzen …«

»Unsäglich glücklich schätzen« – so sprach sie, so scharfzüngig und spöttisch übertrieben, daß es fast weh tat und man nur mühsam gute Miene machte. Wie sie die arme Schwester-Oberin verwirrt und verletzt hatte, neulich im Spital! Aber bei alledem war etwas Kindliches in ihrer Sprechweise, ja, gewisse Laute kamen heraus, wie Kinder sie bilden – nicht nur das eine Mal, als sie das kleine Mädchen über den Dampfapparat getröstet hatte. Und so große Augen hatte sie gemacht, als von den Vätern die Rede gewesen und den traurigen Fällen …

Am nächsten Tage nahm Klaus Heinrich seinen Tee auf Schloß Delphinenort – am nächstfolgenden, den Tag darauf. Gelegentlich, hatte Imma Spoelmann gesagt, möge er kommen. Aber der nächstfolgende Tag war ihm gelegen, und da ihm die Sache dringlich schien, so fand er es nicht angebracht, sie auf die lange Bank zu schieben.

Gegen fünf Uhr – es war schon dunkel – trug ihn sein Coupé über die aufgeweichten Fahrwege des Stadtgartens, der kahl und menschenleer lag – schon war es Spoelmannscher Besitz, wo er rollte –, Bogenlampen erhellten den Park, das große, viereckige Brunnenbassin schimmerte trüb zwischen den Bäumen, dahinter erhob sich das weißliche Schloß mit dem Säulenaufbau seines Portals, seiner geräumigen Doppelrampe, die, zwischen seinen Flügeln eingelagert, in flachem Aufstieg zur Beletage emporführte, seinen hohen, in kleine Scheiben geteilten Fenstern, seinen römischen Büsten in den Nischen – und als Klaus Heinrich durch die Auffahrtsallee von mächtigen Kastanien fuhr, da sah er zu Füßen der Rampe den bordeauxroten Plüschmohren stehen und mit aufgestütztem Stabe Ausschau halten …

Klaus Heinrich beschritt eine steinerne, hell erleuchtete und lind durchwärmte Halle mit goldig schimmerndem Mosaikfußboden und weißen Götterbildern in der Runde, schritt geradeaus, der marmornen, breitgeländrigen und mit rotem Teppich belegten Freitreppe zu, auf welcher, mit zurückgezogenen Schultern und hängenden Armen, bauchig und stolz, im Schmuck seines rasierten Doppelkinns, der Spoelmannsche Haushofmeister herniederstieg, um den Gast zu empfangen. Er geleitete ihn in den oberen, mit Bilderteppichen umkleideten und mit einem Marmorkamin geschmückten Vorsaal, wo ein paar weißgoldene und schwanverbrämte Bediente des Prinzen Mütze und Mantel in Empfang nahmen, während der Haushofmeister in eigener Person seiner Herrschaft Meldung zu machen ging … Zwischen dem Dienerpaar hindurch, das einen Teppich beiseiteraffte, schritt Klaus Heinrich zwei oder drei Stufen hinab.

Pflanzengeruch umfing ihn, und er hörte das sanfte Plätschern fallenden Wassers; in dem Augenblick aber, da hinter ihm der Teppich sich schloß, brach ein Gebell aus, so jäh und toll, daß Klaus Heinrich, einen Augenblick halb betäubt, zu Füßen der Stufen haltmachte. Perceval, der Colliehund, hatte sich ihm entgegengeworfen, und nichts glich seiner maßlosen Raserei. Er geiferte, er litt, er wußte nicht, wie sich gebärden vor wütender Zerrissenheit seines Innern, er wand sich, peitschte mit dem Schweif seine Flanken, stemmte die Vorderfüße gegen den Boden und schwang sich in blinder Leidenschaft um sich selber, indem er in Lärm und Tobsucht vergehen zu wollen schien. Eine Stimme – es war nicht Immas Stimme – rief ihn zurück, und Klaus Heinrich sah sich in einem Wintergarten, einem von schlanken marmornen Säulen gestützten gläsernen Gewölbe, dessen Boden mit großen, quadratischen, spiegelnden Marmorfliesen belegt war. Palmen aller Art erfüllten es, deren Schäfte und Fächer sich manchmal bis dicht unter die gläserne Decke erhoben. Ein beetartiges Blumenparterre, bestehend aus zahllosen, gleich den Steinen eines Mosaiks aneinandergesetzten Blumentöpfen, breitete sich im starken Mondlicht der Bogenlampen aus und erfüllte die Luft mit Wohlgeruch. Aus einem schöngemeißelten Brunnen rieselten silberne Quellen in ein marmornes Becken, und Enten von seltsam künstlich gefiederter Art schwammen auf der durchleuchteten Wasserfläche. Ein steinerner Wandelgang mit Pfeilern und Nischen nahm den Hintergrund ein. Es war die Gräfin Löwenjoul, die dem Eintretenden entgegenkam und sich lächelnd verneigte.

»Königliche Hoheit wollen verzeihen«, sagte sie. »Unser Percy ist so heftig. Und dann ist er jetzt so wenig an Besuch gewöhnt. Aber er tut niemandem Böses. Darf ich Königliche Hoheit bitten … Fräulein Spoelmann wird sogleich zurückkehren. Sie war eben noch hier. Sie wurde abgerufen. Ihr Vater schickte nach ihr. Mister Spoelmann wird hocherfreut sein …«

Damit führte sie Klaus Heinrich zu einer Anordnung von Korbstühlen, die, mit gestickten Leinwandkissen ausgestattet, vor einer Palmengruppe standen. Sie sprach lebhaft und kräftigen Tons, den kleinen Kopf mit dem spärlichen aschblonden Scheitel zur Seite geneigt und lächelnd ihre weißen Zähne zeigend. Ihre Gestalt war entschieden vornehm in dem eng anschließenden braunen Kleid, das sie trug, und wie sie mit munterem Händereiben Klaus Heinrich zu den Stühlen geleitete, hatte sie die frischen und eleganten Bewegungen der Offiziersfrau. Nur in ihren Augen, deren Lider sie blinzelnd zusammenzog, war etwas wie Tücke und Mißtrauen, etwas Unverständliches. Sie nahmen Platz, einander gegenüber an dem runden Gartentischchen, auf dem ein paar Bücher lagen. Perceval, erschöpft von dem Anfall, den er erlitten, nahm auf dem schmalen, blaßfarbigen und perlmutterartig schimmernden Teppich, darauf die Möbel standen, eine schneckenförmige Ruhestellung ein. Sein schwarzseidiges Fell war weiß an Pfoten, Brust und Schnauze. Er hatte eine weiße Halskrause, goldene Augen und einen Scheitel den ganzen Rücken entlang. Klaus Heinrich begann ein Gespräch um des Gespräches willen, eine förmliche Unterhaltung mit Scheingegenstand, wie er es nicht anders kannte.

»Ich wünschte wohl, Gräfin, daß ich nicht gar zu ungelegen käme. Ich bin glücklich, mich wenigstens nicht als ganz unberechtigter Eindringling zu fühlen. Ich weiß nicht, ob Fräulein Spoelmann Ihnen erzählt hat … Sie hatte die Güte, mich zu einem Besuch zu ermutigen. Es handelte sich um die schönen Gläser, die Herr Spoelmann so freigebig war, für den gestrigen Basar zu stiften. Fräulein Spoelmann meinte, daß ihr Vater nichts dagegen haben werde, mir seine Sammlung einmal zu zeigen. Da bin ich nun …«

Die Gräfin ließ es dahingestellt, ob Imma ihr von der Verabredung erzählt habe. Sie sagte: »Dies ist die Teestunde des Hauses, Königliche Hoheit. Wie könnten Königliche Hoheit ungelegen kommen? Selbst wenn, was ich nicht hoffen will, Mister Spoelmann durch sein Befinden verhindert wäre, zu erscheinen …«

»Oh, er ist leidend?« Eigentlich wünschte Klaus Heinrich ein wenig, daß Herr Spoelmann verhindert sein möge. Er sah der Bekanntschaft mit unbestimmter Besorgnis entgegen.

»Er war heute leidend, Königliche Hoheit. Er hatte leider Fieber, Schüttelfrost und sogar eine kleine Ohnmachtsanwandlung. Vormittags war Doktor Watercloose lange bei ihm. Er hat eine Morphiumeinspritzung vorgenommen. Es handelt sich darum, ob nicht doch einmal eine Operation nötig werden wird.«

»Das tut mir leid«, sagte Klaus Heinrich aufrichtig. »Eine Operation. Das ist schrecklich.« Und hierauf antwortete die Gräfin mit abirrenden Augen: »O ja. Aber es gibt Schrecklicheres im Leben – viele Dinge, die viel schrecklicher sind als dies.«

»Zweifellos«, sagte Klaus Heinrich. »Ich glaube es wohl.« Er fühlte seine Einbildungskraft auf allgemeine und ungewisse Art angeregt durch die Andeutung der Gräfin.

Sie sah ihn an, mit seitwärts geneigtem Kopfe, und ein Ausdruck von Geringschätzung war in ihrem Gesicht. Dann entwichen ihre ein wenig verschwollenen grauen Augen zur Seite, man wußte nicht, wohin, mit jenem geheimnisvollen Lächeln, das Klaus Heinrich schon kannte, und das etwas seltsam Lockendes hatte.

Er empfand die Notwendigkeit, das Gespräch wieder aufzunehmen.

»Leben Sie schon lange im Hause Spoelmann, Gräfin?« fragte er.

»Ziemlich lange«, antwortete sie, und man sah ihr an, daß sie zu rechnen versuchte. »Ziemlich. Ich habe so vieles durchlebt, so viele Erfahrungen gemacht, daß ich es auf den Tag genau natürlich nicht sagen kann. Aber kurz nach der Wohltat war es – bald nachdem mir die Wohltat zuteil geworden.«

»Die Wohltat?« fragte Klaus Heinrich.

»Allerdings«, sagte sie mit Bestimmtheit und sogar ein wenig gereizt. »Denn die Wohltat geschah ja an mir, als es der Erfahrungen zu viele geworden waren und der Bogen hätte springen müssen, um mich dieses Vergleiches zu bedienen. Sie sind so jung,« fuhr sie fort, indem sie nachlässigerweise vergaß, ihn mit seinem Titel anzureden, »so unwissend in betreff des Elends und der Verworfenheit der Welt, daß Sie sich keinen Begriff davon machen können, was ich habe erdulden müssen. In Amerika hatte ich einen Prozeß, zu dem viele Generale erscheinen mußten. Dinge kamen an den Tag, denen mein Humor nicht gewachsen war. Sämtliche Kasernen habe ich putzen müssen, ohne daß es mir gelungen wäre, alle liederlichen Weiber hinauszubefördern. Sie versteckten sich in den Schränken, einige auch unter der Diele, und so kommt es, daß sie fortfahren, mich nachts über Gebühr zu martern. Ich würde mich ungesäumt auf meine Schlösser in Burgund zurückziehen, wenn es nicht von oben hineinregnete. Das wußten Spoelmanns, und darum war es so sehr entgegenkommend von ihnen, mich vorläufig bei sich aufzunehmen, wobei es meine einzige Aufgabe ist, die vollkommen unwissende Imma vor der Welt zu warnen. Nur leidet selbstverständlich meine Gesundheit darunter, daß die Weiber sich nachts auf meine Brust setzen und mich zwingen, ihren unanständigen Fratzen zuzusehen. Und dies ist der Grund, weshalb ich bitte, mich einfach Frau Meier zu nennen«, sagte sie flüsternd, indem sie sich vorbeugte und mit ihrer Hand Klaus Heinrichs Arm berührte. »Die Wände haben Ohren, und es ist unbedingt erforderlich, daß ich mein notgedrungen angenommenes Inkognito wahre, um mich vor den Nachstellungen der lasterhaften Geschöpfe zu schützen. Nicht wahr, Sie gehen auf meine Bitte ein? Nehmen Sie es doch als Scherz … als eine Spielerei, die niemandem weh tut … Warum nicht …«

Sie verstummte.

Klaus Heinrich saß aufrecht und ohne irgendwelche Lässigkeit auf seinem Korbstuhl ihr gegenüber und sah sie an. Er hatte, bevor er seine geradlinigen Stuben verließ, unter Beihilfe seines Kammerdieners Neumann mit all der Sorgfalt Toilette gemacht, die sein den Blicken ausgesetztes Dasein erheischte. Sein Scheitel lief, über dem linken Auge ansetzend, schräg über den Kopf hin genau durch den Wirbel, so daß dort oben weder Strähne noch Härchen sich erheben konnten, und rechts war sein Haar in einem festen Hügel aus der Stirn zurückgebürstet. In seinem Interimsuniformrock, dessen hoher Kragen und fester Sitz eine beherrschte Haltung begünstigte, saß er, den silbern geflochtenen Achselschmuck eines Majors auf seinen schmalen Schultern, leicht angelehnt, doch ohne sich bequeme Abspannung zu erlauben, geordnet, gesammelt, den einen Fuß ein wenig vor dem anderen, und bedeckte seine linke Hand auf dem Säbelgriff mit der rechten. Sein junges Gesicht war ein wenig müde von der Unsachlichkeit, der Einsamkeit, Strenge und Schwierigkeit seines Lebens; allein mit einem freundlichen, klaren und unbedingt gefaßten Ausdruck blickte er in das der Gräfin.

Sie verstummte. Ernüchterung und Gram ergriffen von ihren Zügen Besitz, und während es war, als ob in ihren übernächtigen grauen Augen etwas wie Haß gegen Klaus Heinrich aufzuckte, verfärbte sie sich auf eine ganz besondere und selten beobachtete Weise, indem nämlich die eine Hälfte ihres Gesichtes rot, die andere blaß wurde. Mit gesenkten Lidern antwortete sie: »Ich bin seit drei Jahren im Hause Spoelmann, Königliche Hoheit.«

Perceval schnellte empor. In einem tänzelnden, federnden, wedelnden Trabe begab er sich seiner Herrin entgegen – denn Imma Spoelmann war eingetreten –, richtete sich würdevoll auf und setzte ihr grüßend die Vorderpfoten auf die Brust. Sein Rachen war weit geöffnet, und zwischen seinen prachtvollen weißen Zähnen hing blutrot die Zunge hervor. Er glich einem Wappentier, wie er so aufrecht vor ihr stand.

Sie war wunderbar gekleidet: in ein Hausgewand aus ziegelfarbener Rohseide und mit offen herniederhängenden Ärmeln, dessen ganzes Bruststück aus einer schweren Goldstickerei bestand. An einer Perlenkette lag ein großer, eiförmiger Edelstein auf ihrem bloßen Halse, dessen Haut die Farbe angerauchten Meerschaums hatte. Ihr blauschwarzes, seitwärts gescheiteltes und schlicht geknotetes Haar zeigte eine Neigung, ihr in glatten Strähnen in Stirn und Schläfen zu fallen. Während sie Percevals Greifenkopf mit ihren beiden schmucklosen schmalen und schönen Kinderhänden umfaßt hielt, sagte sie in sein Gesicht hinein: »So … so … guten Tag, mein Freund. Welch ein Wiedersehen. Wir waren von Sehnsucht erfüllt, wir beiden, wir haben die Qualen der Trennung ausgekostet. Guten Tag. Du magst nun immerhin dein Lager wieder aufsuchen.« Und indem sie seine Füße von der Goldstickerei auf ihrer Brust löste und zur Seite trat, machte sie, daß er sich auf seine vier Beine niederließ.

»O Prinz«, sagte sie. »Willkommen in Delphinenort. Sie verabscheuen den Wortbruch, wie ich sehe. Ich setze mich zu Ihnen. Wir werden benachrichtigt, wenn wir Tee trinken können … Es ist zweifellos gegen alle Vorschrift, daß ich habe warten lassen. Aber mein Vater schickte nach mir – und dann hatten Sie ja Unterhaltung solange …« Ihre glänzenden Augen gingen ein wenig zweifelnd zwischen Klaus Heinrich und der Gräfin hin und her.

»Doch,« sagte er, »die hatte ich.« Und dann stellte er eine Frage nach Mister Spoelmanns Befinden, die leidlich zufriedenstellend beantwortet wurde. Herr Spoelmann werde beim Tee das Vergnügen haben, Klaus Heinrichs Bekanntschaft zu machen, er lasse sich entschuldigen bis dahin … Was das für ein hübsches Paar Pferde sei, das Klaus Heinrich vor seinem Coupé habe? Und nun sprachen sie von ihren Pferden, von Klaus Heinrichs gutmütigem Braunen Florian aus dem Hollerbrunner Hofgestüt, von Fräulein Spoelmanns arabischer Milchschimmelstute namens Fatme, die Herr Spoelmann von einem Fürsten aus dem Morgenlande zum Geschenk erhalten hatte, von ihren geschwinden ungarischen Füchsen, die sie als Four-in-hand-Gespann benutzte … »Kennen Sie die Umgegend?« fragte Klaus Heinrich. »Waren Sie beim Hofjäger? Im Fasaneriegarten? Es gibt hübsche Ausflüge.« Nein, Fräulein Spoelmann war hervorragend ungeschickt im Auffinden von neuen Wegen, und die Gräfin – nun, sie war ihrer ganzen Natur nach nicht unternehmungslustig. So ritten sie immer dieselben Wege im Stadtgarten. Das sei vielleicht langweilig, aber Fräulein Spoelmann sei im ganzen nicht mit Abwechslung und Abenteuern verwöhnt. Da sagte er denn, daß sie einmal zusammen reiten müßten, bei schönem Wetter, zum Hofjäger oder nach Schloß Fasanerie, worauf sie mit vorgeschobenen Lippen antwortete, daß man dergleichen ja immerhin in vorläufige Aussicht nehmen könne. Dann kam der Haushofmeister und meldete ernst, daß der Teetisch bereit sei.

Sie gingen durch die Teppichhalle mit dem Marmorkamin, geführt von dem pomphaft schreitenden Butler, begleitet von dem tänzelnden Percy, gefolgt von der Gräfin Löwenjoul.

»Hat die Gräfin vorhin ein bißchen geschwatzt?« fragte Imma im Gehen, ohne ihre Stimme sonderlich in acht zu nehmen.

Klaus Heinrich erschrak und blickte zu Boden. »Aber sie kann uns ja hören!« sagte er leise.

»Nein, sie hört uns nicht«, antwortete Imma. »Ich verstehe mich auf ihr Gesicht. Wenn sie den Kopf so schräg hält und mit den Augen blinzelt, so ist sie abwesend und tief in ihren Gedanken. Sie hat wohl ein bißchen geschwatzt vorhin?«

»Vorübergehend«, sagte Klaus Heinrich. »Ich hatte den Eindruck, daß die Frau Gräfin sich zeitweise gehen ließ.«

»Es ist ihr viel Schlimmes widerfahren.« Und Imma sah ihn an, so groß und dunkel forschend, wie sie es im Dorotheen-Spital auf Schritt und Tritt getan hatte. »Ich erzähle es ein andermal. Es ist eine Geschichte.«

»Ja«, sagte er. »Ein andermal. Das nächste Mal. Vielleicht unterwegs.«

»Unterwegs?«

»Ja, unterwegs zum Hofjäger oder zur Fasanerie.«

»Oh, ich vergaß Ihre Gewissenhaftigkeit, Prinz, was Verabredungen betrifft. Gut, also unterwegs. Hier geht es hinunter.«

Sie befanden sich an der Rückseite des Schlosses. Von einer mit großen Gemälden behangenen Galerie, die sie durchquerten, leiteten teppichbelegte Stufen in den weißgoldenen Gartensalon hinab, hinter dessen hoher Glastür die Terrasse lag. Alles, der große Kristallüster, der von der Mitte der hohen, weiß verschnörkelten Decke herabhing; die ebenmäßig aufgestellten Armstühle mit goldenen Rahmen und Wirkbildbezügen; die schwer herabfallenden, weißseidenen Vorhänge; die feierliche Stutzuhr und die Vasen und goldenen Leuchter auf der weißmarmornen Kaminplatte vor dem hohen Wandspiegel; die mächtigen löwenfüßigen, vergoldeten Kandelaber, die zu beiden Seiten der Eingangsstufen emporragten: alles erinnerte Klaus Heinrich an das Alte Schloß, an die Repräsentationsräume, in denen er von Kind auf Dienst zu tun gewohnt war – nur daß die Kerzen hier Scheinkerzen waren, mit goldig strahlenden Glühlampen an Stelle des Dochtes, und daß alles neu war und glänzend instand bei Spoelmanns auf Schloß Delphinenort. Ein schwanverbrämter Bedienter legte in einem Winkel des Zimmers die letzte Hand an den Teetisch; Klaus Heinrich betrachtete den elektrisch geheizten Kessel, von dem er im »Eilboten« gelesen hatte.

»Hat man Herrn Spoelmann benachrichtigt?« fragte die Tochter des Hauses … Der Butler verneigte sich. »Dann soll nichts uns hindern,« sagte sie in ihrer raschen und spöttisch redegewandten Art, »unsere Plätze einzunehmen und ohne ihn zu beginnen. Kommen Sie, Gräfin! Ich würde Ihnen empfehlen, Prinz, sich Ihrer Waffen zu entledigen, falls nicht Gründe, die sich meiner Einsicht entziehen, dagegen sprechen …«

»Danke«, sagte Klaus Heinrich. »Nein, es spricht gar nichts dagegen.« Und es schmerzte ihn, daß er zu ungeübten Geistes war, um eine behendere Antwort zu finden.

Der Bediente nahm seinen Säbel in Empfang und trug ihn durch die Galerie davon. Sie saßen am Teetisch nieder, unter Beistand des Butlers, der die Lehnen der Stühle hielt, die Stühle unter sie schob. Dann zog er sich auf die Höhe der Stufen zurück, wo er in schmuckhafter Weise stehenblieb.

»Sie müssen wissen, Prinz,« sagte Fräulein Spoelmann, die das Wasser aufgoß, »daß mein Vater keinen Tee trinkt, den ich nicht selbst bereitet habe. Er mißtraut jedem Tee, der fertig in Tassen herumgereicht wird. Das ist bei uns verpönt. Sie müssen sich dem anbequemen.«

»Oh, es ist schöner so,« sagte Klaus Heinrich, »viel behaglicher und ungezwungener so am Familientisch …« Er brach ab und bedachte, warum bei diesen Worten ein gehässiger Seitenblick aus den Augen der Gräfin Löwenjoul ihn getroffen hatte. »Und Ihr Studium,« fragte er, »gnädiges Fräulein? Darf ich mich erkundigen? Mathematik, wie ich weiß. Es strengt Sie nicht an? Ist es nicht furchtbar hart für den Kopf?«

»Gar nicht«, sagte sie. »Ich weiß nichts Hübscheres. Man spielt in den Lüften, sozusagen, oder schon außerhalb der Luft, in staubfreier Gegend jedenfalls. Man hat es so kühl wie in den Adirondacks …«

»Wie wo?«

»Den Adirondacks. Das ist Geographie, mein Prinz. Ein Bergwald drüben mit hübschen Seen. Wir haben ein Landhaus dort, für den Mai. Im Sommer waren wir immer am Meer.«

»Auf jeden Fall«, sagte er, »kann ich für Ihren Eifer in den Studien Zeugnis ablegen. Sie lassen sich nicht gern hindern, pünktlich in die Vorlesung zu kommen. Ich habe noch nie gefragt, ob Sie eigentlich neulich zur Zeit gekommen sind.«

»Neulich?«

»Ja, vor einigen Wochen. Nach dem Hindernis an der Hauptwache.«

»Großer Gott, Prinz, nun fangen auch Sie davon an. Diese Geschichte scheint im Palast wie in der Hütte verbreitet zu sein. Hätte ich gewußt, welch Aufhebens man davon machen würde, so wäre ich lieber dreimal um den Schloßplatz gegangen. Sogar in der Zeitung hat es gestanden, wie man mir sagt. Und nun hält natürlich die ganze Stadt mich für einen Teufel an Wildheit und Jähzorn. Aber ich bin das friedfertigste Geschöpf von der Welt und lasse mich nur nicht gern kommandieren. Bin ich ein Teufel, Gräfin? Ich verlange bündige Antwort.«

»Nein, Sie sind gut«, sagte die Gräfin Löwenjoul.

»Nun – gut, das ist wiederum zuviel gesagt, das geht zu weit nach der anderen Seite, Gräfin …«

»Nein,« sagte Klaus Heinrich, »nein, nicht zu weit. Ich glaube der Gräfin ganz fest …«

»Viel Ehre. Wie ist die Kunde von dem Abenteuer denn eigentlich zu Eurer Hoheit gedrungen? Durch die Zeitung?«

»Ich war Augenzeuge«, sagte Klaus Heinrich.

»Augenzeuge?«

»Ja, gnädiges Fräulein. Ich stand zufällig am Fenster der Offizierswachtstube und habe alles von Anfang bis zu Ende mit angesehen.«

Fräulein Spoelmann errötete. Es war kein Zweifel, daß die perlblasse Haut ihres fremdartigen Gesichtchens sich dunkler färbte.

»Nun, Prinz, ich nehme an,« sagte sie, »daß Sie im Augenblick nichts Besseres zu tun hatten.«

»Besseres?« rief er. »Aber es war ja so schön zu sehen! Ich gebe Ihnen mein Wort, gnädiges Fräulein, daß ich nie in meinem Leben …«

Perceval, der mit anmutig gekreuzten Vorderpfoten neben Fräulein Spoelmann lag, erhob das Haupt mit angespannt gesammelter Miene und schlug mit dem Schweif den Teppich. Im selben Augenblick setzte der Butler sich in Bewegung. Er lief, so schnell die Schwere seines Leibes es gestattete, die Stufen hinab zu der hohen Seitentür, die sich dem Teetisch gegenüber befand, und raffte heftig die weißseidene Portiere, indem er sein Doppelkinn mit machtvollem Ausdruck in die Lüfte erhob. Samuel Spoelmann, der Milliardär, trat ein.

Er war zierlich gebaut und von eigenartiger Physiognomie. Aus seinem glattrasierten Gesicht mit den hitzigen Wangen sprang die Nase ungewöhnlich wagerecht hervor, und darüber lagen nahe beieinander seine kleinen Rundaugen, die von metallisch unbestimmtem Blauschwarz waren, wie bei kleinen Kindern und Tieren, und zerstreut und ärgerlich blickten. Der obere Teil seines Schädels war kahl, aber am Hinterkopf und an den Schläfen besaß Herr Spoelmann reichliches graues Haar, das auf eine bei uns nicht übliche Art gehalten war. Er trug es weder kurz noch lang, sondern hochaufliegend, voll, nur im Nacken abgeschnitten und um die Ohren rasiert. Sein Mund war klein und fein geschnitten. Gekleidet in einen schwarzen Schoßrock mit samtener Weste, auf der eine lange, dünne, altmodische Uhrkette lag, und weiche Lederschuhe an seinen kurzen Füßchen, näherte er sich mit mißmutigem und beschäftigtem Gesichtsausdruck rasch dem Teetisch; aber seine Miene erhellte sich, sie gewann Weichheit und Freude, sobald er seiner Tochter ansichtig wurde. Imma war ihm entgegengegangen.

»Guten Tag, verehrungswürdiges Väterchen«, sagte sie; und ihre bräunlichen Kinderarme, von denen die offenen ziegelfarbenen Ärmel niederhingen, um seinen Nacken schlingend, küßte sie ihn auf die Glatze, die er ihr darbot, indem er den Kopf neigte.

»Dir dürfte nicht unbekannt sein,« fuhr sie fort, »daß Prinz Klaus Heinrich heute mit uns den Tee nimmt?«

»Nein, freut mich, freut mich«, sagte Herr Spoelmann gleichsam eilig und mit knarrender Stimme. »Bitte, sich nicht stören zu lassen!« sagte er ebenso. Und indem er mit dem Prinzen, der in geschlossener Haltung am Tische stand, einen Händedruck tauschte (Herrn Spoelmanns Hand war mager und von der ungestärkten weißen Manschette halb bedeckt), nickte er mehrmals irgendwohin nach der Seite. Dies war seine Art, Klaus Heinrich zu begrüßen. Er war fremd, krank und ein Sonderling an Reichtum. Er war entschuldigt und alles Weiteren entbunden – Klaus Heinrich sah es ein und bemühte sich redlich, seine innere Verstörung zu überwinden. »… Sind ja zu Hause hier, gewissermaßen«, sagte Herr Spoelmann noch, indem er die Anrede verschluckte, und vorübergehend erschien ein boshafter Ausdruck um seine rasierten Lippen. Dann veranlaßte er durch sein Beispiel alle, sich wieder zu setzen. Es war der Stuhl zwischen Imma und Klaus Heinrich, der Gräfin und der Verandatür gegenüber, den der Butler unter ihn schob.

Da Herr Spoelmann keine Miene machte, sein Säumen zu entschuldigen, sagte Klaus Heinrich: »Ich höre mit Bedauern, daß Sie heute zu leiden hatten, Herr Spoelmann. Ich hoffe, es geht Ihnen besser?«

»Danke, besser, aber nicht gut«, antwortete Herr Spoelmann knarrend. »Wieviel Löffel hast du genommen?« fragte er seine Tochter. Er meinte damit, wieviel Tee sie in die Kanne geschüttet habe.

»Vier«, sagte sie. »Für jeden einen. Niemand soll sagen, daß ich mein greises Väterchen dem Mangel aussetze.«

»Ach was«, antwortete Herr Spoelmann. »Ich bin nicht greis. Man sollte dir die Zunge stutzen.« Und er nahm aus einer silbernen Büchse eine Art Zwieback, die eigens für ihn da zu sein schien, zerbrach das Gebäck und tauchte es ärgerlich in den goldfarbenen Tee, den er wie seine Tochter ohne Sahne und Zucker trank.

Klaus Heinrich begann von neuem: »Ich sehe mit großer Spannung der Besichtigung Ihrer Sammlung entgegen, Herr Spoelmann.«

»Richtig«, antwortete Herr Spoelmann. »Wollen meine Gläser ansehen. Sind Liebhaber? Vielleicht auch Sammler?«

»Nein,« sagte Klaus Heinrich, »zum Sammeln bin ich bei aller Vorliebe noch nicht gekommen.«

»Keine Zeit?« fragte Herr Spoelmann … »Ist der Offiziersdienst so zeitraubend?«

Klaus Heinrich antwortete: »Ich tue nicht mehr Dienst, Herr Spoelmann. Ich bin à la suite meines Regiments gestellt. Ich trage die Uniform, das ist alles.«

»Ach so, zum Schein«, sagte Herr Spoelmann knarrend. »Was tun denn den ganzen Tag?«

Klaus Heinrich hatte aufgehört, Tee zu trinken, hatte alles von sich geschoben bei diesem Gespräch, das seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Aufrecht saß er da und verantwortete sich, während er fühlte, daß Imma Spoelmanns Blick groß, schwarz und forschend auf ihm ruhte.

»Ich habe Pflichten bei Hofe, bei den Festen und Zeremonien. Ich habe auch auf militärischem Gebiet zu repräsentieren, bei Rekrutenvereidigungen und Fahnenweihen. Dann muß ich Empfänge abhalten, in Vertretung meines Bruders, des Großherzogs. Und dann gibt es kleine dienstliche Reisen, in die Ortschaften des Landes, zu Enthüllungen und Einweihungen und anderen öffentlichen Feierlichkeiten.«

»Ach so«, sagte Herr Spoelmann. »Zeremonien, Feierlichkeiten. So für die Gaffer. Na, dafür fehlt mir jedes Verständnis. Ich sage Ihnen once for all, daß ich nichts halte von Ihrem Beruf. That's my standpoint, sir.«

»Ich verstehe vollkommen«, sagte Klaus Heinrich. Er hielt sich aufrecht in seinem Majorsrock und lächelte schmerzlich.

»Nun, es will ja wohl auch das geübt sein,« fuhr Herr Spoelmann ein wenig sanfter fort, »geübt und gelernt, wie es scheint. Ich für meine Person werde meiner Lebtage nicht aufhören, mich zu ärgern, wenn ich das Wundertier abgeben muß …«

»Ich will hoffen,« sagte Klaus Heinrich, »daß unsere Bevölkerung es nicht an Rücksicht fehlen läßt …«

»Danke, es geht«, antwortete Herr Spoelmann. »Die Leute sind wenigstens gutmütig hier; es steht ihnen nicht gerade die Mordlust in den Augen geschrieben, wenn sie glotzen.«

»Überhaupt würde ich mich freuen, zu hören, Herr Spoelmann« – und Klaus Heinrich fühlte sich besser, seit das Gespräch sich gewandt hatte und das Fragen an ihm war –, »daß es Ihnen trotz den ungewohnten Verhältnissen dauernd bei uns gefällt.«

»Danke,« sagte Herr Spoelmann, »ich bin at ease. Und das Wasser ist ja nun mal das einzige, das mir ein bißchen hilft.«

»Es ist Ihnen nicht schwer geworden, Amerika zu verlassen?«

Ein Blick streifte Klaus Heinrich, ein rascher und mißtrauischer Blick von unten, den Klaus Heinrich nicht zu deuten wußte.

»Nein«, sagte Herr Spoelmann, scharf und knarrend. Das war alles, was er auf die Frage antwortete, ob ihm der Abschied von Amerika nicht schwer geworden sei.

Eine Pause trat ein. Die Gräfin Löwenjoul hielt ihren kleinen, glattgescheitelten Kopf zur Seite geneigt und lächelte abwesend und madonnenhaft. Fräulein Spoelmann betrachtete Klaus Heinrich unverwandt aus großen, schwarzglänzenden Augen, als prüfe sie die Wirkung, die ihres Vaters wunderliche Schroffheit auf den Gast hervorbringe – ja, Klaus Heinrich hatte den Eindruck, daß sie mit Ruhe und Verständnis seines Aufbruchs und Abschiedes auf Nimmerwiederkehren gewärtig sei. Er begegnete ihrem Blick und blieb. Herr Spoelmann seinerseits zog eine goldene Dose hervor und entnahm ihr eine breite Zigarette, die, nachdem er sie angezündet, einen köstlichen Duft verbreitete.

»Mögen rauchen?« fragte er dann … Und da Klaus Heinrich fand, daß es nicht mehr darauf ankomme, so bediente auch er sich, nach Herrn Spoelmann, aus der dargebotenen Dose.

Es war dann, bevor man zur Besichtigung der Gläser schritt, noch von verschiedenen Gegenständen die Rede – hauptsächlich zwischen Klaus Heinrich und Fräulein Spoelmann, denn die Gräfin war mit ihren Gedanken nicht gegenwärtig, und Herr Spoelmann warf nur dann und wann ein knarrendes Wort dazwischen –: vom hiesigen Hoftheater, von dem großen Schiff, auf welchem Spoelmanns die Reise nach Europa zurückgelegt. Nein, nicht ihre Jacht hatten sie dazu benutzt. Die hatte hauptsächlich dazu gedient, Herrn Spoelmann bei Sommershitze, wenn Imma und die Gräfin in Newport waren und ihn die Geschäfte an die Stadt fesselten, am Abend aufs Meer hinauszufahren, woselbst er auf Deck die Nächte verbracht hatte. Jetzt lag sie wieder in Venedig. Aber über den Ozean hatte ein Riesendampfer sie gebracht, ein schwimmendes Hotel mit Konzertsälen und Sportplätzen. Fünf Stockwerke, sagte Fräulein Spoelmann, habe er gehabt. »Von unten an gerechnet?« fragte Klaus Heinrich. Und sie antwortete unverzüglich: »Allerdings. Von oben hatte er sechs.« Er ließ sich verwirren, verstand gar nichts mehr und merkte lange nicht, daß er verspottet wurde. Dann suchte er, sich zu erklären, seine einfältige Frage zu rechtfertigen, darzutun, daß er gemeint habe, ob sie alles mitrechne, auch die Räume unter Wasser, sozusagen die Kellerräume – kurz, zu beweisen, daß es ihm keineswegs an Scharfsinn fehle, und stimmte schließlich in die Heiterkeit ein, die das Ergebnis dieses Unternehmens war. Was das Hofschauspiel betraf, so fand Fräulein Spoelmann, indem sie die Lippen rümpfte und ihr Köpfchen hin und her wandte, daß der Vertreterin des naiven Faches eine Kur in Marienbad, verbunden mit einem Kursus im Tanz- und Anstandsunterricht, nicht warm genug empfohlen werden könne, während dem Heldendarsteller zu bedeuten sei, daß man sich eines Organes von dem Wohllaut des seinen selbst im Privatleben nur mit äußerster Zurückhaltung bedienen sollte … unbeschadet ihrer, des Fräuleins Spoelmann hoher Achtung vor dem in Rede stehenden Kunstinstitut.

Klaus Heinrich lachte und staunte, ein kleines Weh im Herzen, über so viel Behendigkeit. Wie gut sie sprach, wie scharf und blinkend sie die Worte fügte! Man plauderte auch von Stücken, von Opern und Schauspielen, die diesen Winter in Szene gegangen, und Imma Spoelmann widersprach dem Urteil Klaus Heinrichs, widersprach ihm auf jeden Fall, gerade als schiene es ihr schimpflich, nicht zu widersprechen, setzte ihn matt im Handumdrehen mit der lustigen Übermacht ihrer Zunge, und ihre großen schwarzen Augen in dem perlblassen Gesichtchen schimmerten vor Freude am guten Wort, während Herr Spoelmann, schräg zurückgelehnt, die breite Zigarette zwischen den rasierten Lippen und blinzelnd vor ihrem Rauch, seine Tochter mit zärtlichem Wohlgefallen betrachtete.

Mehr als einmal empfand Klaus Heinrich in seinem Gesicht die kleine schmerzliche Verzerrung, die er damals in dem der guten Schwester-Oberin gesehen, und dennoch glaubte er deutlich zu erkennen, daß es nicht Imma Spoelmanns Meinung war, zu verletzen, daß sie den andern nicht als gedemütigt betrachtete, wenn er ihr nicht Widerpart zu halten vermochte, daß sie vielmehr seine armen Antworten gelten ließ, als sei sie der Ansicht, daß er die Wehr des Witzes nicht nötig habe – nur sie. Aber wie das und warum? Er mußte an Überbein denken bei manchen von ihren Scharfzüngigkeiten, an den wortgewandt rodomontierenden Doktor Überbein, der ein Malheur von Geburt war und unter Bedingungen aufgewachsen, die er die guten nannte. Eine elende Jugend, Einsamkeit und Ausgeschlossenheit vom Glücke, von der Bummelei des Glücks, man setzte kein Fett an dabei, man kannte kein Behagen und sah sich scharf und klar auf seine Fähigkeiten angewiesen, was sicher ein Vorteil vor denen war, die »es nicht nötig hatten«. Aber Imma Spoelmann saß weich in ihrem rotgoldenen Kleide am Tische im Saal, in lässiger Haltung, mit launisch verwöhnten Mienen, saß in üppiger Sicherheit, während ihre Rede scharf ging wie dort, wo es gilt, wo Helligkeit, Härte und wachsamer Witz zum Leben geboten sind. Warum doch? Klaus Heinrich bemühte sich innig, das zu ergründen, während man über Ozeandampfer und Theaterstücke sprach. Aufrecht, in unbedingt beherrschter Haltung und ohne sich bequeme Abspannung zu erlauben, saß er am Tisch, indem er seine linke Hand verbarg, und manchmal traf ihn ein schief gehässiger Blick aus den Augen der Gräfin Löwenjoul.

Ein Diener erschien und überreichte Herrn Spoelmann auf silberner Platte ein Telegramm. Herr Spoelmann riß es ärgerlich auf, durchlas es blinzelnd, den Rest einer Zigarette im Mundwinkel, und warf es auf die Platte zurück mit der kurzen Anordnung: »Mister Phlebs«. Hierauf zündete er sich verdrießlich eine neue Zigarette an. Fräulein Spoelmann sagte: »Das ist, trotz gemessener ärztlicher Vorschrift, die fünfte Zigarette, die du heute nachmittag rauchst. Ich verhehle dir nicht, daß die zügellose Leidenschaft, mit der du dich dem Laster überläßt, deinen grauen Haaren nicht wohlansteht.«

Man sah, daß Herr Spoelmann zu lachen versuchte, und dann sah man, daß es ihm nicht gelang, daß er den starken und scharfen Klang der Worte nicht ertrug und das Blut ihm zu Kopfe fuhr.

»Schweig!« knarrte er bitterböse. »Du denkst immer, daß im Scherze alles zu sagen erlaubt ist. Aber ich verbitte mir deine Keckheiten, du Schwätzerin!«

Klaus Heinrich blickte erschüttert auf Imma, die groß und erschreckt in ihres Vaters jähzorniges Antlitz sah und dann traurig das dunkle Köpfchen senkte. Gewiß, sie hatte sich ergötzt an den düster großen und fremden Worten, die sie spöttisch handhabte, hatte Heiterkeit zu erregen erwartet und war nun zufällig so übel angelaufen. »Väterchen, aber kleines Väterchen!« sagte sie bittend und ging hin, Herrn Spoelmann die hitzige Wange zu streicheln. »Ach was,« murrte er noch, »du bist auch nicht größer.« Aber dann ließ er sich schmeicheln, bot ihr die Glatze zum Kusse dar und gab sich zufrieden. Klaus Heinrich erinnerte an die Gläser, als der Friede hergestellt war, und so verließ man den Teetisch und begab sich hinüber in den anstoßenden Sammlungssaal, mit Ausnahme der Gräfin Löwenjoul, die sich mit tiefer Verbeugung zurückzog. Herr Spoelmann ließ nebenan die elektrischen Kerzen der Lüster erglühen.

Schöne Schränke im Geschmacke des ganzen Schlosses, bauchig und mit gewölbten Glastüren, umstanden abwechselnd mit seidenen Prunkstühlen das ganze Gemach, und sie enthielten Herrn Spoelmanns Kunstgläsersammlung. Ja, das war offenbar die lückenloseste Sammlung beider Welten, und das Glas, das Klaus Heinrich erworben, war freilich nur ein bescheidenes Beispielchen daraus. Sie begann in einem Winkel des Saales mit den frühesten Luxuserzeugnissen des Gewerbezweiges, mit heidnisch bemalten Funden aus den Kulturen der Urzeit, setzte sich fort über die Kunstprodukte des Morgen- und Abendlandes und aller Zeitabschnitte, wies umkränzte, verschnörkelte und reichgestaltete Vasen und Kelche aus den Bläsereien Venedigs und kostbare Stücke aus böhmischen Hütten auf, deutsche Humpen, bilderreiche Zunft- und Kurfürstengläser, untermischt mit fratzenhaften Tiergestaltungen und Scherzgebilden, große Kristallpokale, die an das Glück von Edenhall im Liede erinnerten, und in deren Schliffen das Licht sich prunkend brach, Rubingläser, die glühten gleich dem Heiligen Gral, und edelste Beispiele endlich für den neuesten Aufschwung der Kunst, überzarte Glasblüten auf unendlich gebrechlichen Stielen und Ziergläser im modischen Formengeschmack, die mittels des Dampfes verflüchtigter Edelmetalle mit schillerndem Farbenschmelz überzogen waren. Zu dritt und gefolgt von Perceval, der ebenfalls zuschaute, ging man langsam auf Teppichen um den Saal, und Herr Spoelmann erklärte mit knarrender Stimme die Herkunft einzelner Stücke, indem er sie mit seiner mageren, von der ungestärkten Manschette halbbedeckten Hand behutsam von den Sammetborden nahm und gegen das Glühlicht hielt.

Klaus Heinrich hatte Übung im Besichtigen, in Erkundigungen und höchst anerkennenden Äußerungen, und darum war er imstande, zu gleicher Zeit über Imma Spoelmanns Redeweise nachzudenken, ihre seltsame Redeweise, die ihn schmerzlich beschäftigte. Was sie nicht alles sagte mit ihren vorgeschobenen Lippen! Was für Worte sie leichthin im Munde führte! »Leidenschaft«, »Laster«, wie kam sie dazu, sie zu beherrschen und sich ihrer so keck zu bedienen? Hatte die Gräfin Löwenjoul, die auf verwirrte Art ebenfalls von solchen Dingen redete und offenbar schreckliche Einblicke getan hatte, sie nicht als vollkommen unwissend bezeichnet? Das war zweifellos zutreffend, denn war sie nicht ein Sonderfall von Geburt wie er, aufgewachsen in Reinheit und Feinheit, ausgeschlossen von dem Treiben der Leute und unteilhaft der wilden Dinge, die im wirklichen Leben jenen düster großen Wörtern entsprachen? Aber der Wörter hatte sie sich bemächtigt und führte sie in geschliffener Rede daher, indem sie sich darüber lustig machte. Ja, so war es: dies scharfe und süße Geschöpf in seinem rotgoldenen Kleide, es lebte in Redensarten, es kannte vom Leben nicht mehr als die Worte, es spielte mit den ernstesten und furchtbarsten wie mit bunten Steinen und begriff nicht, wenn es Ärgernis damit erregte! – Klaus Heinrichs Herz war voller Mitgefühl, während er dies bedachte.

Es war fast sieben Uhr, als er bat, nach seinem Wagen zu schicken – etwas beunruhigt über sein langes Verweilen in Hinsicht auf den Hof und das Publikum. Sein Aufbruch rief einen neuen furchtbaren Anfall Percevals, des Colliehundes, hervor. Jede Veränderung oder Unterbrechung eines Zustandes schien das edle Tier um sein seelisches Gleichgewicht zu bringen. Bebend, mit rasendem Gebell und jeder Beschwichtigung unzugänglich, stürmte er durch die Gemächer, die Vorhalle und die Treppe auf und nieder, so daß die Abschiedsworte im Lärm erstarben. Der Butler erwies dem Prinzen die Honneurs bis hinunter in den Flur mit den Götterbildern. Herr Spoelmann begleitete ihn keineswegs. Fräulein Spoelmann machte den Satz verständlich: »Ich halte mich versichert, daß der Aufenthalt im Schoße unserer Familie Sie mit Entzücken erfüllt hat, Prinz.« Und es war ungewiß, ob ihr Spott der Redensart »im Schoße unserer Familie« oder der Sache selber galt. Jedenfalls wußte Klaus Heinrich ihr fast nichts zu erwidern. In einen Winkel seines Coupés gelehnt, ein wenig wund und zerschlagen, aber auch erfrischt von der ungewohnten Behandlung, die ihm widerfahren, fuhr er heim, durch den dunklen Stadtgarten nach Eremitage, kehrte zurück in seine enthaltsamen Empirestuben, woselbst er mit den Herren von Schulenburg-Tressen und Braunbart-Schellendorf zu Abend speiste. Am folgenden Tage las er den Vermerk des »Eilboten«. Er lautete einfach dahin, daß gestern Seine Königliche Hoheit Prinz Klaus Heinrich auf Schloß Delphinenort den Tee genommen und die berühmte Kunstgläsersammlung des Herrn Spoelmann in Augenschein genommen habe.

Und Klaus Heinrich fuhr fort, sein unsachliches Leben zu führen und seinen hohen Beruf zu üben. Er sprach seine gnädigen Worte, vollführte seine Handbewegungen, repräsentierte bei Hofe und auf dem Ballfest beim Konseilpräsidenten, erteilte Freiaudienzen, frühstückte in der Offiziersspeiseanstalt der Leibgrenadiere, zeigte sich im Hoftheater und schenkte dieser und jener Ortschaft des Landes seine festliche Anwesenheit. Lächelnd und mit geschlossenen Absätzen waltete er der Form und tat in unbedingt gefaßter Haltung seine schwierige Pflicht, obwohl er zu dieser Zeit über so manches nachzudenken hatte, über den hitzigen Herrn Spoelmann, die verwirrte Gräfin Löwenjoul, den tollen Percy und namentlich auch über Imma, die Tochter des Hauses. Manche Frage, die sein erster Besuch in »Delphinenort« ihm aufgegeben, war er jetzt noch nicht zu beantworten in der Lage, sondern erhielt die Lösung erst im weiteren Laufe des Verkehrs mit dem Hause Spoelmann, den er unter angespannter und schließlich fieberhafter Teilnahme der Öffentlichkeit aufrechterhielt, und der seine nächste Fortsetzung damit fand, daß der Prinz eines Tages in aller Morgenfrühe zum Erstaunen der Herrschaft, der Dienerschaft und seiner selbst, ja, gewissermaßen willenlos und wie vom Schicksal ergriffen, allein und zu Pferd auf »Delphinenort« erschien, um das Fräulein, das er obendrein in seinen mathematischen Studien störte, zu einem Spazierritt abzuholen.

Die Macht des Winters war früh gebrochen in diesem auf immer denkwürdigen Jahr. Nachdem der Januar mild vergangen, setzte schon Mitte Februar mit Vogelsang, Sonnengold und süßen Lüften ein Vorfrühling ein, und als Klaus Heinrich am Morgen des ersten von diesen hoffnungsvollen Tagen auf Schloß Eremitage in seinem alten und geräumigen Mahagonibett erwachte, von dessen einem Pfosten die kugelförmige Bekrönung abgebrochen und verlorengegangen war, fühlte er sich wie von starker Hand berührt und unwiderstehlich zu frischen Taten aufgefordert.

Er zog die Klingel nach Neumann (denn es gab nur Klingelzüge auf Eremitage) und erteilte Weisung, daß binnen einer Stunde Florian gesattelt sein möge. Ob auch für den Lakaien ein Pferd bereitgemacht werden solle? Nein, nicht nötig; Klaus Heinrich erklärte, allein reiten zu wollen. Dann gab er sich zur morgendlichen Herstellung in Neumanns gewissenhafte Hände, frühstückte drunten im Gartenzimmer mit Ungeduld und stieg am Fuße der kleinen Terrasse zu Pferde. Die gespornten Reitstiefel in den Steigbügeln, in der braun behandschuhten Rechten die gelbledernen Zügel und die Linke unter dem offenen Mantel in die Hüfte gestemmt, ritt er im Schritt durch den zarten Morgen, indem er über sich im noch nackten Gezweig die Vögel suchte, deren Zwitschern er hörte. Er ritt durch den öffentlichen Teil seines Parks, durch den Stadtgarten und den Grund von »Delphinenort«. Halb zehn Uhr kam er an. Die Überraschung war groß.

Am Hauptportal übergab er Florian einem englischen Stallknecht. Der Butler, der in Hausstandsgeschäften quer durch die Halle mit dem Mosaikfußboden kam, stand still und entgeistert, als er Klaus Heinrich gewahrte. Auf die Frage, die der Prinz mit heller und gleichsam übermütiger Stimme nach den Damen tat, antwortete er überhaupt nicht, sondern wandte sich ratlos der Marmortreppe zu, blickte stumm von Klaus Heinrich hinauf zu ihrer Höhe; denn dort stand Herr Spoelmann.

Wie es schien, so hatte er kürzlich sein Frühstück beendet und befand sich in behaglicher Laune. Er hielt die Hände in die Hosentaschen versenkt, wobei er den Hausflaus, den er trug, von der Sammetweste zurückraffte, und der bläuliche Rauch der Zigarette zwischen seinen Lippen machte ihn blinzeln. »Na, junger Prinz?« sagte er und schaute hinunter …

Klaus Heinrich eilte salutierend auf dem roten Läufer die Stufen hinan. Ihm war, als ob nur durch Schnelligkeit und sozusagen im Sturm das Ungeheuerliche der Lage zu bewältigen sei.

»Sie werden erstaunt sein, Herr Spoelmann,« sagte er – »zu dieser Stunde …« Er war außer Atem und erschrak sehr darüber: so wenig war er dieses Zustandes gewohnt.

Herr Spoelmann antwortete ihm durch Miene und Schultergebärde, daß er sich zu fassen wisse, immerhin aber auf eine Erklärung begierig sei.

»Es handelt sich um eine Verabredung …« sagte Klaus Heinrich. Er stand zwei Stufen unter dem Milliardär und sprach zu ihm hinauf. »Eine Verabredung zum Spazierritt zwischen Fräulein Imma und mir … Ich habe versprochen, den Damen die Fasanerie oder den Hofjäger zu zeigen … Fräulein Imma kennt fast nichts von der Umgegend, wie sie mir gesagt hat. Am ersten schönen Tage war vereinbart … Nun ist es so schön heute … Es ist natürlich Ihre Zustimmung erforderlich …«

Herr Spoelmann hob die Schultern und machte einen Mund dazu, als wollte er sagen: »Zustimmung – wieso?«

»Meine Tochter ist erwachsen«, sagte er. »Ich pflege ihr nicht dreinzureden. Reitet sie, so reitet sie. Aber ich glaube, sie hat keine Zeit. Müssen sich selbst erkundigen. Da drinnen sitzt sie.« Und Herr Spoelmann wies, indem er beiseitetrat, mit dem Kinn nach der Teppichtür, durch die Klaus Heinrich schon einmal geschritten war.

»Danke!« sagte Klaus Heinrich. »Ja, dann gehe ich selbst.« Und er erstieg vollends die Treppe, schlug mit entschlossener Bewegung den gewirkten Vorhang auseinander und stieg die Stufen hinab in den durchsonnten, von Pflanzenduft erfüllten Wintergarten.

Vor dem rieselnden Brunnen und dem Wasserbecken mit den künstlich gefiederten Enten saß Imma Spoelmann, indem sie dem Eintretenden fast völlig den Rücken zuwandte, über ein Tischchen gebeugt. Ihr Haar war aufgelöst. Blauschwarz und glänzend floß es zu beiden Seiten von ihrem Scheitel hinab, verhüllte ihren Oberkörper und ließ nichts erkennen, als einen Schatten von dem stumpfen und kindlichen Viertelsprofil ihres Gesichtchens, das bleich wie Elfenbein gegen die Finsternis des Haares erschien. So eingehüllt gab sie sich ihren Studien hin, bearbeitete die Aufzeichnungen eines neben ihr liegenden Kollegheftes, indem sie die Lippen auf den schmalen Rücken ihrer Linken gesenkt hielt und mit durchgedrücktem Zeigefinger den Füllfederhalter führte.

Auch die Gräfin war anwesend, ebenfalls mit Schreiben beschäftigt. Sie saß in einiger Entfernung unter der Palmengruppe, wo Klaus Heinrich zuerst mit ihr geplaudert, und schrieb aufrecht, mit zur Seite geneigtem Kopfe, auf Briefbogen, von denen ein Häuflein, dicht bekritzelt, neben ihr lag. Das Klirren von Klaus Heinrichs Sporen ließ sie aufsehen. Sie blickte ihn zwei Sekunden lang, den langen, spindelförmigen Federhalter in der Hand, mit gekniffenen Augen an; dann erhob sie sich zur Verbeugung. »Imma«, sagte sie. »Seine Königliche Hoheit Prinz Klaus Heinrich ist da.«

Fräulein Spoelmann wandte sich rasch auf ihrem Korbsessel, schüttelte ihr Haar zurück und sah den Eindringling mit großen, erschrockenen Augen an, ohne zu sprechen, bis Klaus Heinrich mit militärischem Gruß den Damen einen guten Morgen geboten hatte. Dann sagte sie mit ihrer gebrochenen Stimme: »Auch Ihnen guten Morgen, Prinz. Sie kommen aber zu spät zum ersten Frühstück. Wir sind längst fertig.«

Klaus Heinrich lachte.

»Nun, es ist gut,« sagte er, »daß beide Teile gefrühstückt haben. Denn so können wir ja ungesäumt reiten.«

»Reiten?«

»Ja, unserer Verabredung gemäß.«

»Unserer Verabredung?«

»Nein, Sie dürfen das nicht vergessen haben!« sagte er bittend. »Habe ich nicht versprochen, Ihnen die Umgegend zu zeigen? Wollten wir nicht zusammen reiten bei schönem Wetter? Nun, der Tag ist herrlich. Sehen Sie hinaus …«

»Der Tag ist nicht übel,« sagte sie, »aber Sie finde ich stürmisch, Prinz. Ich kann mich erinnern, daß etwas von Reiten in Aussicht genommen wurde – aber doch nicht in so nahe? Wie wäre es denn wenigstens mit einer kleinen Benachrichtigung, einer Anfrage gewesen, wenn Euere Hoheit das Wort genehmigen? Sie werden mir einräumen, daß ich so nicht wohl in die Umgegend reiten kann.«

Und sie stand auf, um ihr Morgenkleid zu zeigen, das aus einem taillenlosen Fluß von schillernder Seide und einem offenen grünsamtenen Jäckchen bestand.

»Nein,« sagte er, »leider, das können Sie leider nicht. Aber ich warte hier, während die Damen sich umkleiden. Es ist ja früh …«

»Ausnehmend früh. Aber zweitens ging ich eben ein wenig meiner harmlosen Beschäftigung nach, wie Sie sahen. Ich habe um elf Uhr Kolleg.«

»Nein,« rief er, »heute dürfen Sie keine Algebra treiben, Fräulein Imma, oder im luftleeren Raume spielen, wie Sie es nennen! Sehen Sie doch die Sonne!… Darf ich …?« Und er trat zum Tischchen und nahm das Kollegheft zur Hand.

Was er sah, war sinnverwirrend. In einer krausen, kindlich dick aufgetragenen Schrift, die Imma Spoelmanns besondere Federhaltung erkennen ließ, bedeckte ein phantastischer Hokuspokus, ein Hexensabbat verschränkter Runen die Seiten. Griechische Schriftzeichen waren mit lateinischen und mit Ziffern in verschiedener Höhe verkoppelt, mit Kreuzen und Strichen durchsetzt, ober- und unterhalb wagrechter Linien bruchartig aufgereiht, durch andere Linien zeltartig überdacht, durch Doppelstrichelchen gleichgewertet, durch runde Klammern zu großen Formelmassen vereinigt. Einzelne Buchstaben, wie Schildwachen vorgeschoben, waren rechts oberhalb der umklammerten Gruppen ausgesetzt. Kabbalistische Male, vollständig unverständlich dem Laiensinn, umfaßten mit ihren Armen Buchstaben und Zahlen, während Zahlenbrüche ihnen voranstanden und Zahlen und Buchstaben ihnen zu Häupten und Füßen schwebten. Sonderbare Silben, Abkürzungen geheimnisvoller Worte, waren überall eingestreut, und zwischen den nekromantischen Kolonnen standen geschriebene Sätze und Bemerkungen in täglicher Sprache, deren Sinn gleichwohl so hoch über allen menschlichen Dingen war, daß man sie lesen konnte, ohne mehr davon zu verstehen als von einem Zaubergemurmel.

Klaus Heinrich sah auf zu der kleinen Gestalt, die in schillerndem Kleide, behangen von den schwarzen Gardinen ihres Haares, neben ihm stand und in deren fremdartigem Köpfchen dies alles Sinn und hohes, spielendes Leben hatte. Er sagte: »Und über diesen gottlosen Künsten wollen Sie den schönen Vormittag versäumen?«

Sie blickte ihn eine Weile befremdet, mit großen, redenden Augen an. Dann erwiderte sie mit vorgeschobenen Lippen: »Es scheint, daß Euere Hoheit sich schadlos halten will für den Mangel an Verständnis, der hier neulich in Hinsicht auf Ihren eigenen Beruf zum Ausdruck kam.«

»Nein,« sagte er, »nein, nicht so! Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich Ihrem Studium die höchste Ehrfurcht entgegenbringe. Es ängstigt mich, das gebe ich zu, ich habe niemals etwas davon begriffen. Und auch das gebe ich zu, daß ich es heute ein wenig verabscheue, weil es uns soll hindern dürfen, zu reiten …«

»Oh, ich bin es nicht allein, die Sie aus ihrer Tätigkeit reißen, Prinz! Da ist drittens die Gräfin. Sie schrieb. Sie zeichnet ihre Lebenserinnerungen auf, nicht für die Welt, aber für den engeren Gebrauch, und ich will mich verbürgen, daß ein Werk daraus wird, woraus sowohl Sie, Prinz, wie ich, viel Neues werden lernen können.«

»Ich bin dessen ganz sicher. Aber ebenso sicher bin ich, daß die Frau Gräfin nicht fähig ist, Ihnen, Fräulein Imma, eine Bitte abzuschlagen.«

»Und mein Vater? Wir sind beim vierten Bedenken. Sie kennen den Tigersinn meines Vaters. Wird er seine Einwilligung geben?«

»Er hat sie gegeben. ›Reitet sie, so reitet sie‹, das sind seine Worte …«

»Sie haben sich seiner im voraus versichert? Nun fange ich an, Ihre Umsicht zu bewundern, Prinz. Sie sind wie ein Feldherr vorgegangen, obgleich Sie nicht wirklich Soldat sind, sondern nur zum Schein, wie Sie uns neulich erzählten. Aber es ist noch ein fünfter Gegenstand da, und der ist ausschlaggebend. Es wird regnen.«

»Nein, das ist hinfällig, was Sie da sagen. Der Himmel strahlt …«

»Es wird regnen. Die Luft ist viel zu weich. Ich habe es festgestellt, als wir vorm Frühstück im Quellengarten waren. Kommen Sie zum Barometer, wenn Sie mir nicht glauben. In der Halle hängt es …«

Wirklich traten sie hinaus in die Teppichhalle, wo neben dem Marmorkamin ein großes Wetterglas hing. Auch die Gräfin schloß sich an. Klaus Heinrich sagte: »Es ist gestiegen.«

»Euere Hoheit belieben sich zu irren«, antwortete Fräulein Spoelmann. »Die Parallaxe täuscht Sie.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Die Parallaxe führt Sie irre.«

»Ich weiß nicht, was das ist, Fräulein Imma. Es ist wie mit den Adirondacks. Ich habe nicht viel gelernt, das hängt mit meiner Art von Dasein zusammen. Sie müssen Nachsicht haben.«

»Oh, ich bitte um gnädigste Entschuldigung. Ich hätte mich erinnern müssen, daß man volkstümlich mit Euerer Hoheit zu reden hat. Sie stehen schief vor dem Zeiger, darum scheint er Ihnen gestiegen. Wenn Sie sich entschließen würden, genau davor zu treten, so würden Sie sehen, daß der schwarze keineswegs über den goldenen hinausgegangen, sondern sogar ein bißchen zurückgewichen ist …«

»Ich glaube wahrhaftig, Sie haben recht«, sagte Klaus Heinrich betrübt. »Und also ist der Luftdruck doch höher, als ich dachte!«

»Er ist niedriger, als Sie dachten.«

»Wenn das Quecksilber gefallen ist?«

»Das Quecksilber fällt bei niedrigem Druck und nicht bei hohem, Königliche Hoheit.«

»Nun verstehe ich gar nichts mehr.«

»Ich glaube, Prinz, Sie übertreiben Ihre Unwissenheit in scherzhafter Weise, um die Grenzen derselben zu verwischen. Aber da der Luftdruck so hoch ist, daß das Quecksilber fällt, was freilich auf eine schwere Verirrung der Natur deutet, so wollen wir denn reiten, Gräfin – was meinen Sie? Ich will es nicht verantworten, den Prinzen wieder heimzuschicken, da er einmal gekommen ist. Er möge sich da drinnen gedulden, bis wir fertig sind …«

Als Imma Spoelmann und die Gräfin in den Wintergarten zurückkehrten, waren sie zum Reiten gekleidet, Imma in ein geschlossenes schwarzes Wollkleid mit Brusttaschen und einem Dreispitz aus schwarzem Filz dazu, die Gräfin in schwarzes Tuch mit einem gestärkten Herren-Vorhemd und hohem Hut. Sie gingen miteinander die Treppe hinunter, durch die Mosaikhalle, und traten ins Freie hinaus, wo zwischen dem Säulenportal und dem großen Bassin zwei Stallknechte mit den Pferden warteten. Sie saßen aber noch nicht im Sattel, als mit einem hohen und jaulenden Geheul, das der Ausdruck seiner äußersten Leidenschaft war, Perceval, der Colliehund, geifernd und an wütender Schnellkraft einer Windsbraut gleich, aus dem Schlosse brauste und um die Pferde, die unruhig die Köpfe warfen, einen tobenden Drehtanz zu vollführen begann.

»Da haben wir's«, sagte Imma im Lärm und klopfte der scheuenden Fatme den Hals. »Es war ihm nicht zu verheimlichen. Im letzten Augenblick hat er alles entdeckt. Nun kommt er mit, und zwar nicht ohne Aufhebens von der Sache zu machen. Stehen wir ab von unserem Beginnen, Prinz?«

Aber obgleich Klaus Heinrich verstand, daß man ebensogut den Bedienten mit einer silbernen Drommete sich hätte können voranreiten lassen, damit er durch sein Getön die Teilnahme der Öffentlichkeit an diesem Ausritt erzwinge, so sagte er doch trotzig und froh, daß Perceval nur mitkommen möge; er gehöre dazu und müsse auch seinerseits die Umgegend kennenlernen.

»Wohin nun also?« fragte Imma, als es im Schritt durch die breite Kastanienzufahrt ging. Sie ritt zwischen Klaus Heinrich und der Gräfin. Perceval lärmte voran.

Der englische Reitknecht, mit Rosettenhut und gelben Stulpen, folgte in gemessener Entfernung.

»Der Hofjäger ist hübsch,« antwortete Klaus Heinrich, »aber zur Fasanerie ist es ein bißchen weiter, und wir haben ja Zeit bis zum Frühstück. Ich würde den Damen das Schloß gern zeigen. Ich habe da als Knabe drei Jahre verlebt. Es war ein Konvikt, wissen Sie, mit Lehrern und Mitschülern. Ich habe dort meinen Freund Überbein kennengelernt, Doktor Überbein, meinen liebsten Lehrer.«

»Sie haben einen Freund?« fragte Fräulein Spoelmann gewissermaßen erstaunt und sah ihn an. »Von dem müssen Sie mir einmal erzählen«, fügte sie hinzu. »Und auf Schloß Fasanerie sind Sie erzogen worden? Dann müssen wir es sehen, denn das ist offenbar auch Ihre Überzeugung. Trab!« sagte sie, da man in einen erdigen Reitweg eingelenkt war. »Da liegt Ihre Einsiedelei, mein Prinz … Entenfutter ist auf Ihrem Teiche in hinlänglichen Mengen vorhanden … Ich denke, wir lassen den Quellengarten hübsch seitwärts liegen, wenn es sich machen läßt.«

Klaus Heinrich war es zufrieden, und so verließen sie die Parkgegend und trabten querfeldein, um die Landstraße zu gewinnen, die in nordwestlicher Richtung zu dem gesetzten Ziele führte. Im Stadtgarten waren sie von einigen Spaziergängern begrüßt und bestaunt worden, wofür Klaus Heinrich, die Hand am Mützenschirme, Imma Spoelmann mit ernsthaften und ein wenig befangenen Neigungen ihres schwarzbleichen Köpfchens im Dreispitz gedankt hatte. Nun waren sie im Freien und brauchten keiner Begegnungen mehr gewärtig zu sein. Auf der Chaussee zog dann und wann ein bäuerliches Fuhrwerk dahin, oder ein Radfahrer arbeitete sich gebückt des Weges. Aber sie hielten sich zuseiten der Straße im Wiesengelände, wo es sich sanfter und freier ritt. Perceval tänzelte rückwärts vor den Pferden her, beständig in Unrast und fiebriger Erwartung, beständig in drehender, trippelnder, wedelnder Bewegung – sein Atem flog, seine Zunge hing lang aus dem geifernden Rachen, und manchmal löste die unvernünftige Qual seiner Nerven sich in kurzen, seufzerartigen Schreien. Später toste er im Weiten, verfolgte mit aufgerichteten Ohren in hohen und kurzen Sprüngen irgendein Lebewesen am Boden und setzte in wilder Jagd einem flüchtigen Hasen nach, während sein ausgelassenes Gebell unter dem offenen Himmel verhallte.

Man sprach von Fatme, die Klaus Heinrich zum erstenmal aus solcher Nähe sah und herzlich bewunderte. Auf ihrem langen, muskulösen Hals trug Fatme hoffärtig nickend einen kleinen Kopf mit feurig schielenden Augen; sie hatte die zierlichen Beine des arabischen Typs und einen wallenden Silberschweif. Weiß wie der Mondstrahl, war sie weiß gesattelt und gegürtet und mit weißem Leder gezäumt. Florian, ein etwas schläfriger Brauner mit kurzem Rücken, gestutzter Mähne und gelben Fesselbinden, erschien hausbacken wie ein Esel neben der vornehmen Fremden, obgleich er sorgfältig gehalten war. Die Gräfin Löwenjoul ritt eine große Falbe namens Isabeau. Sie saß vortrefflich zu Pferde, unterstützt von ihrer hohen und straffen Gestalt; aber ihren kleinen Kopf im Herrenhut hielt sie zur Seite geneigt, und ihre Lider waren zwinkernd zusammengezogen. Klaus Heinrich richtete hinter Fräulein Spoelmanns Rücken das Wort an sie, indem er sich im Sattel rückwärts bog; aber sie antwortete nicht, fuhr vielmehr fort, mit halbgeschlossenen Augen und einem madonnenhaften Ausdruck kurz vor sich hinzublicken, und Imma sagte: »Lassen wir die Gräfin, Prinz, sie ist zerstreut.«

»Ich will nicht hoffen,« sagte er, »daß die Frau Gräfin sich uns widerwillig angeschlossen hat.« Und er war aufrichtig bestürzt, als Imma Spoelmann gelassen antwortete: »Die Wahrheit zu sagen, das könnte sein.«

»Ihrer Aufzeichnungen wegen?« fragte er.

»Ach, die Aufzeichnungen. Die sind so dringlich nicht und mehr ein Zeitvertreib – obgleich ich mir unterderhand manches Lehrreiche davon verspreche. Aber ich will Ihnen nicht verschweigen, Prinz, daß die Gräfin nicht sonderlich gut auf Sie zu sprechen ist. Sie hat sich mir gegenüber in diesem Sinne geäußert. Sie seien hart und streng, sagte sie, und hätten erkältend auf sie gewirkt.«

Klaus Heinrich war errötet.

»Ich weiß wohl,« sagte er leise, indem er auf seine Zügel niederblickte, »daß ich nicht erwärmend wirke, Fräulein Imma, oder doch höchstens von weitem … Auch das hängt mit meiner Art von Dasein zusammen, wie ich sagte. Aber ich bin mir nicht bewußt, gegen die Gräfin hart und streng gewesen zu sein.«

»Nicht mit Worten wahrscheinlich«, erwiderte sie. »Aber Sie haben ihr nicht erlaubt, sich ein bißchen gehen zu lassen, haben ihr nicht die Wohltat gegönnt, ein wenig zu schwatzen, – darum ist sie Ihnen gram –, und ich weiß auch wohl, wie Sie das gemacht haben, wie Sie es der Armen schwer gemacht und sie erkältet haben – sehr wohl«, wiederholte sie und wandte sich ab.

Klaus Heinrich schwieg. Er hielt seine linke Hand in die Hüfte gestemmt, und seine Augen waren müde.

»Sie wissen es?« sagte er dann. »Und also wirke ich wohl auch auf Sie erkältend, Fräulein Imma?«

»Ich ermahne Sie,« antwortete sie, ohne sich zu besinnen, mit ihrer gebrochenen Stimme und wandte mit vorgeschobenen Lippen ihr Köpfchen hin und her, »die Wirkung, die Sie auf mich ausüben, auf keine Weise zu überschätzen, Prinz.« Und plötzlich ließ sie Fatme zum Galopp ansetzen und flog in solcher Geschwindigkeit über das Blachfeld dahin und der dunklen Masse des fernen Kiefernwaldes entgegen, daß weder die Gräfin noch Klaus Heinrich sich bei ihr zu halten vermochten. Erst am Rande des Gehölzes, durch welches auch die Landstraße lief, machte sie halt und wandte ihr Tier, um den Nachsetzenden mit spöttischer Miene entgegenzusehen.

Gräfin Löwenjoul auf der großen Isabeau war die erste, die sich zu der Flüchtigen fand. Dann kam Florian, schnaubend und tief verdutzt über die ungewohnte Zumutung. Man lachte und atmete rasch, während man in den hallenden Wald hineinritt. Die Gräfin war wach geworden und plauderte lebhaft, mit frischen, vornehmen Bewegungen und ihre weißen Zähne zeigend. Scherzend redete sie auf Perceval hinab, dessen Inneres durch den Gewaltritt aufs neue zerrissen war und der sich wütend vor den Pferden zwischen den Stämmen drehte.

»Königliche Hoheit«, sagte sie, »sollten ihn springen sehen … voltigieren … Er nimmt Gräben und Bäche von sechs Meter Breite, und zwar mit einer Schönheit und Leichtigkeit, daß es entzückend ist. Aber nur eigenwillig, wohlgemerkt, aus freien Stücken, denn eher, glaube ich, ließe er sich totschlagen, als daß er sich irgendwelcher Dressur unterzöge und befohlene Kunststücke ausführte. Er hat, möchte ich sagen, die Dressur und Zucht in sich selbst, von Geburt, und wenn er ungebärdig ist, so ist er doch niemals roh. Das ist ein Freiherr, ein Edelmann, wohlgeboren und vom strengsten Charakter. Oh, er ist stolz, er scheint wohl toll, aber er weiß sich zu beherrschen. Niemand hat ihn im Schmerze je schreien hören, sei es bei Verletzungen oder bei Züchtigungen. Auch nimmt er nur Nahrung, wenn er Hunger hat, und verschmäht im anderen Falle die leckersten Bissen. Morgens erhält er Rahm … man muß ihn nähren. Er verzehrt sich von innen, er ist mager unter seinem seidenen Fell, daß man alle Rippen fühlt, und man muß leider gewärtigen, daß er nicht alt werden, sondern frühzeitig der Schwindsucht zum Opfer fallen wird … Das Gesindel verfolgt ihn, es drängt sich an ihn und hat es auf ihn abgesehen auf allen Gassen; aber wild und ohne sich gemein zu machen, entspringt er, und nur wenn man zu Feindseligkeiten übergeht, so teilt er mit seinen prächtigen Zähnen Bisse aus, an die der Pöbel sich erinnern mag. Soviel Ritterlichkeit im Bunde mit soviel Reinheit ist liebenswert.«

Imma stimmte dem zu mit Worten, die das Wirklichste und zweifellos Ernsteste waren, was Klaus Heinrich bisher aus ihrem Munde vernommen.

»Ja,« sagte sie, »Percy, du bist mein guter Freund, ich werde immer zu dir halten. Jemand, ein Kundiger, hat ihn für geisteskrank erklärt, das komme bei edlen Hunden nicht selten vor, und hat uns geraten, ihn töten zu lassen, weil er unmöglich sei und uns jeden Tag zur Verzweiflung bringen werde. Aber ich lasse mir meinen Percy nicht nehmen. Er ist unmöglich, ja, und manches Mal schwer zu ertragen; aber bei alledem ist er rührend und brav und hat meine volle Zuneigung.«

Hierauf sprach auch die Gräfin noch dies und das über des Collies Natur, aber es wurde bald wirr und sonderbar, was sie sagte, ging in ein Selbstgespräch mit lebhaftem und elegantem Gestenspiel über; und nachdem sie zuletzt einen gekniffenen Blick zu Klaus Heinrich hinübergesandt, verfiel sie aufs neue in Abwesenheit.

Klaus Heinrich fühlte sich froh und getröstet, sei es durch den scharfen Ritt – bei dem er sich übrigens weidlich hatte zusammennehmen müssen, da er zwar gut und ansprechend zu Pferde saß, aber eigentlich, schon seiner linken Hand wegen, kein sehr sicherer Reiter war –, sei es aus anderem Grunde. Als sie das Nadelgehölz verlassen hatten und auf der stillen Landstraße zwischen Wiesen und gefurchten Äckern hin und dann und wann an einem Bauerngehöft, einer ländlichen Wirtschaft vorüber, im Schritt der nächsten Waldung entgegenritten, fragte er gedämpft: »Wollen Sie nicht Ihr Versprechen einlösen und mir von der Gräfin erzählen, Fräulein Imma? Wie ist sie Ihre Gesellschaftsdame geworden?«

»Sie ist meine Freundin,« antwortete sie, »und in gewisser Weise auch meine Lehrerin, obgleich sie erst zu uns kam, als ich schon erwachsen war. Das war vor drei Jahren, in Neuyork, und die Gräfin war damals in schrecklicher Lebenslage. Sie war am Verhungern«, sagte Imma Spoelmann, und indem sie es sagte, richtete sie ihre großen, schwarzen Augen mit einem forschenden und entsetzten Ausdruck auf Klaus Heinrich.

»Wirklich am Verhungern?« fragte er und erwiderte ihren Blick … »Bitte, erzählen Sie weiter!«

»Ja, das sagte ich auch, damals, als sie zu uns kam, und obgleich ich natürlich wohl sah, daß ihr Verstand nicht in Ordnung war, so machte sie doch so großen Eindruck auf mich, daß ich meinen Vater veranlaßte, sie mir zur Gesellschaft zu geben.«

»Wie kam sie nach Amerika? – Ist sie Gräfin von Geburt?« fragte Klaus Heinrich.

»Nicht Gräfin, aber von Adel und in guten und sanften Verhältnissen aufgewachsen, behütet und geschützt vor allen Winden, wie sie mir erzählte, schon weil sie von Kind auf innerlich zart und verletzlich und schonungsbedürftig gewesen sei. Aber dann ging sie ihre Ehe ein mit dem Grafen Löwenjoul, Offizier, Reiterhauptmann – und das war ein etwas eigenartiger Aristokrat, ihren Erzählungen nach – nicht ganz mustergültig, um mich gelinde auszudrücken.«

»Wie mag er gewesen sein …« fragte Klaus Heinrich.

»Ja, Prinz, genau kann ich es Ihnen nicht sagen. Sie müssen in Erwägung ziehen, daß die Gräfin eine etwas dunkle Art zu erzählen hat. Aber ihren Andeutungen nach zu urteilen, muß er ein so wilder und schamloser Mensch gewesen sein, wie man es sich nur schwerlich vorzustellen vermag, so ein Wüstling, wissen Sie …«

»Ja, ich weiß«, sagte Klaus Heinrich; »was man einen Bruder Liederlich nennt, einen lockeren Zeisig oder Lebemann, von dieser Art.«

»Gut, sagen wir Lebemann – aber in der ausschweifendsten und grenzenlosesten Bedeutung, denn nach den Andeutungen der Gräfin zu schließen, gibt es überhaupt keine Grenzen in dieser Richtung …«

»Nein, den Eindruck habe ich auch«, sagte Klaus Heinrich. »Ich habe mehrere Leute dieses Schlages gekannt – verfluchte Kerle, wie man wohl sagt. Von einem ist mir zu Ohren gekommen, daß er in seinem Automobil, und zwar in voller Fahrt, Liebesverhältnisse anzuknüpfen pflegt.«

»Haben Sie das von Ihrem Freunde Überbein?«

»Nein, von anderer Seite. Überbein würde es nicht für passend halten, mich solche Einblicke tun zu lassen.«

»Dann muß er ein unnützer Freund sein, Prinz.«

»Wenn ich Ihnen mehr von ihm erzähle, Fräulein Imma, so werden Sie ihn schätzen lernen. Aber bitte, fahren Sie fort!«

»Nun, ich weiß nicht, ob Löwenjoul es machte wie Ihr Lebemann. Jedenfalls trieb er es arg …«

»Ich kann mir denken, daß er spielte und trank.«

»Allerdings, das ist anzunehmen. Und außerdem knüpfte er natürlich auch Liebesverhältnisse an, wie Sie sagen, betrog die Gräfin mit lasterhaften Weibern, von denen es überall sehr viele gibt – anfangs hinter ihrem Rücken und dann nicht einmal mehr hinter ihrem Rücken, sondern frech und offen und ohne Mitleid mit ihrem Kummer.«

»Sagen Sie mir aber: warum war sie die Ehe mit ihm eingegangen?«

»Das hatte sie gegen den Willen ihrer Eltern getan, weil sie verliebt in ihn war, wie sie mir sagte. Denn erstens war er ein schöner Mann, als sie ihn kennenlernte – später verkam er auch äußerlich. Aber zweitens ging ihm der Ruf eines Lebemannes voraus, und das muß, ihren Äußerungen nach, eine gewisse, unwiderstehliche Anziehung auf sie ausgeübt haben, denn obgleich sie so behütet und geschützt gewesen war, ist sie in dem Entschlusse, das Leben mit ihm zu teilen, nicht zu erschüttern gewesen. Wenn man darüber nachdenkt, so kann man es verstehen.«

»Ja,« sagte er, »ich kann es verstehen. Sie wollte gleichsam stöbern, wollte alles kennenlernen. Und da wehte ihr nun tüchtig der Wind um die Nase.«

»So kann man sagen. Wiewohl der Ausdruck mir etwas zu lustig scheint für das, was sie kennenlernte. Ihr Mann mißhandelte sie.«

»Wollen Sie sagen, daß er sie schlug?«

»Ja, er mißhandelte sie körperlich. Aber nun kommt etwas, Prinz, wovon auch Sie noch nicht gehört haben werden. Sie hat mir zu verstehen gegeben, daß er sie nicht nur im Zorn mißhandelte, nicht nur in Wut und Streit, sondern auch ohne solche Veranlassung, lediglich zu seinem Vergnügen, das heißt dergestalt, daß die Mißhandlungen abscheulichen Liebkosungen gleichkamen.«

Klaus Heinrich schwieg. Sie waren beide sehr ernst. Endlich fragte er: »Hatte die Gräfin Kinder?«

»Ja, zwei. Sie starben ganz früh, beide in den ersten Wochen, und das ist wohl das Schwerste gewesen, was die Gräfin erlebte. Ihren Andeutungen zufolge ist es nämlich die Schuld der lasterhaften Weiber gewesen, mit denen ihr Mann sie betrog, daß die Kinder gleich wieder sterben mußten.«

Sie schwiegen wieder, mit grübelnden Augen.

»Nebenbei«, fuhr Imma Spoelmann fort, »vergeudete er im Spiel und mit den Weibern ihre Mitgift, die ansehnlich gewesen war, und nach dem Tode ihrer Eltern auch ihr ganzes Erbe. Verwandte von ihr halfen ihm noch einmal aus, als er nahe daran war, seiner Schulden wegen den Dienst quittieren zu müssen. Aber dann kam eine Geschichte, etwas ganz Ausschreitendes und Anstößiges, worein er verwickelt war und was ihn vollends aus dem Sattel hob.«

»Was mag das gewesen sein?« fragte Klaus Heinrich.

»Ich kann es Ihnen nicht mit Bestimmtheit sagen, Prinz. Aber nach allem, was die Gräfin darüber verlauten läßt, war es ein Ärgernis der äußersten Art – wir kamen ja schon überein, daß es überhaupt keine Grenzen gibt in dieser Richtung.«

»Und da ging er nach Amerika?«

»Erraten, Prinz. Ich kann nicht umhin, Ihren Scharfsinn zu bewundern.«

»Ach, Fräulein Imma, erzählen Sie weiter! Ich habe nie so etwas gehört wie die Geschichte der Gräfin …«

»Das hatte ich auch nicht; und darum können Sie sich denken, welchen Eindruck sie auf mich machte, als sie zu uns kam. Graf Löwenjoul also, dem die Polizei auf den Fersen war, ward flüchtig nach Amerika, unter Hinterlassung bedeutender Schulden natürlich. Und die Gräfin begleitete ihn.«

»Sie ging mit ihm? Warum?«

»Weil sie ihm immer noch anhing, trotz allem – sie tut es heute noch –, und weil sie auf alle Fälle an seinem Leben teilhaben wollte. Er aber nahm sie wohl mit, weil er eher auf Unterstützung von seiten ihrer Verwandten zu rechnen hatte, solange sie bei ihm war. Die Verwandten schickten ihnen denn auch einmal noch eine Summe Geldes über den Ozean, aber dann nie mehr – sie zogen endgültig die Hand von ihnen; und als Graf Löwenjoul sah, daß seine Frau ihm nichts mehr nütze war, da verließ er sie dennoch – ließ sie vollständig allein im Elend zurück und machte sich fort.«

»Ich wußte es,« sagte Klaus Heinrich, »ich habe es mir gedacht. So geht es zu.« Imma Spoelmann aber fuhr fort: »Da saß sie denn nun, von allen Mitteln entblößt und ohne Hilfe, und da sie nicht gelernt hatte, sich ihren Unterhalt zu verdienen, so war sie ohne Erbarmen der Not und dem Hunger überantwortet. Nun soll aber das Leben dort drüben noch um vieles härter und schnöder sein als hier bei Ihnen, und andererseits ist in Betracht zu ziehen, wie zart und verletzlich sie immer gewesen und wie schonungslos ihr viele Jahre hindurch mitgespielt worden war. Kurzum, sie war den Eindrücken, die sie fortwährend vom Leben empfing, in keiner Weise gewachsen. Und da geschah die Wohltat an ihr.«

»Ja! Welche Wohltat? Sie hat auch zu mir davon gesprochen. Was war es mit der Wohltat, Fräulein Imma?«

»Die Wohltat bestand darin, daß sich ihr Geist verwirrte, daß im äußersten Jammer etwas in ihr übersprang – diesen Ausdruck hat sie mir gegenüber verwendet –, daß sie sich nicht mehr mit klarem und nüchternem Verstande aufrecht zu halten und dem Leben Widerpart zu leisten brauchte, sondern sozusagen die Erlaubnis erhielt, sich gehen zu lassen, sich einige Abspannung zu gönnen und ein bißchen zu schwatzen. Mit einem Worte, die Wohltat war, daß sie wunderlich wurde.«

»Ich hatte allerdings den Eindruck,« sagte Klaus Heinrich, »daß die Frau Gräfin sich gehen ließ, als sie schwatzte.«

»So verhält es sich, Prinz. Sie weiß es ganz gut, wenn sie schwatzt, und lächelt wohl zwischendurch oder läßt einfließen, daß sie ja niemandem weh damit tue. Die Wunderlichkeit ist eine wohltuende Verwirrung, deren sie gewissermaßen Herr ist, und die sie sich erlaubt. Es ist, wenn Sie wollen, ein Mangel an …«

»An Haltung«, sagte Klaus Heinrich und blickte auf seine Zügel nieder.

»Gut, an Haltung«, wiederholte sie und sah ihn an. »Es scheint, daß besagter Mangel nicht Ihre Billigung findet, Prinz.«

»Ich bin allerdings der Meinung,« antwortete er leise, »daß es nicht erlaubt ist, sich gehen zu lassen und es sich bequem zu machen, sondern daß es unter allen Umständen geboten ist, Haltung zu wahren.«

»Euere Hoheit«, erwiderte sie, »bekunden eine löbliche Sittenstrenge.« Damit schob sie die Lippen vor, und indem sie ihr schwarzbleiches Köpfchen im Dreispitz hin und her wandte, fügte sie mit ihrer gebrochenen Stimme hinzu: »Jetzt werde ich Euerer Hoheit etwas sagen, und ich bitte, es wohl zu beachten. Wenn Euere Erhabenheit nicht gesonnen sind, ein wenig Mitleid und Nachsicht und Milde zu üben, so werde ich mich des Vergnügens Ihrer erlauchten Gesellschaft ein für allemal entschlagen müssen.«

Er senkte den Kopf, und sie ritten eine Weile schweigend.

»Wollen Sie nicht weiter erzählen, wie die Gräfin zu Ihnen kam?« fragte er endlich.

»Nein, das will ich nicht«, sagte sie und blickte geradeaus. Aber da er so herzlich bat, beendete sie ihre Erzählung und sagte: »Nun, das war einfach genug. Die Gräfin kam und meldete sich in der Fünften Avenue, da sie gehört hatte, daß man eine deutsche Gesellschaftsdame für mich suchte. Und obgleich sich noch fünfzig andere Damen meldeten, so fiel doch meine Wahl – denn ich hatte zu wählen – sofort auf sie, so sehr war ich nach unserer ersten Unterredung für sie eingenommen. Sie war wunderlich, das sah ich wohl; aber sie war es lediglich aus überguter Kenntnis des Elends und der Schlechtigkeit, das ging aus jedem ihrer Worte hervor, und was mich betrifft, so war ich von jeher ein wenig allein und abgesondert gewesen und vollständig ununterrichtet geblieben, wenn ich von meinen Universitätsstudien absehe …«

»Nicht wahr, Sie waren von jeher ein wenig allein und abgesondert?« wiederholte Klaus Heinrich, und Freude klang aus seiner Stimme.

»So sagte ich. Es war ein einigermaßen langweiliges und einfältiges Leben, das ich führte und eigentlich noch führe, denn es hat sich ja nicht vieles geändert und ist im ganzen überall dasselbe. Es gab Gesellschaften mit Kunststernen und Bälle, und manchmal ging es sehr rasch im geschlossenen Automobil zum Opernhaus, woselbst ich in einer der kleinen flachen Logen über dem Parterre saß, um so recht in ganzer Figur gesehen werden zu können, for show, wie man drüben sagt. Das brachte meine Stellung so mit sich.«

»For show?«

»Ja, for show, das ist die Verpflichtung, sich zur Schau zu stellen, keine Mauern gegen die Leute zu ziehen, sondern sie in die Gärten und über den Rasen und auf die Terrasse sehen zu lassen, wo man sitzt und Tee trinkt. Meinem Vater, Mister Spoelmann, war es im höchsten Grade zuwider. Aber unsere Stellung brachte es mit sich.«

»Und wie lebten Sie sonst, Fräulein Imma?«

»Nun, im Frühjahr ging man in die Adirondacks auf das Schloß und im Sommer auf das Schloß in Newport an der See. Es fanden natürlich Gartenpartien und Blumenkorsos und Tennisturniere statt, und man ritt spazieren und fuhr Four in hand oder im Automobil, und die Leute blieben stehen und gafften, weil man Samuel Spoelmanns Tochter war. Und manche schimpften auch hinter mir drein.«

»Sie schimpften?!«

»Ja, sie hatten wohl ihre Beweggründe dazu. Jedenfalls war es ein etwas vorgeschobenes und der Erörterung ausgesetztes Dasein, das wir führten.«

»Und zwischendurch«, sagte er, »spielten Sie in den Lüften, nicht wahr, oder schon außerhalb der Luft, in staubfreier Gegend …«

»So tat ich. Euere Hoheit erfreuen sich eines überaus offenen Kopfes. Aber nach alldem können Sie sich nun denken, wie außerordentlich willkommen mir die Gräfin war, als sie sich in der Fünften Avenue vorstellte. Sie äußerte sich nicht eben sehr deutlich, sondern vielmehr auf geheimnisvolle Weise, und die Grenze, wo sie zu schwatzen beginnt, ist nicht immer ganz klar ersichtlich. Aber das scheint mir eben recht und lehrreich, denn es gibt eine gute Vorstellung von der Grenzenlosigkeit des Elends und der Schlechtigkeit in der Welt. Nicht wahr, Sie beneiden mich um die Gräfin?«

»Nun, beneiden … Sie scheinen anzunehmen, Fräulein Imma, daß ich niemals irgendeinen Einblick getan habe.«

»Haben Sie Einblicke getan?«

»Vielleicht doch den einen oder den andern. Zum Beispiel sind mir von unseren Lakaien Dinge zu Ohren gekommen, von denen Sie sich schwerlich etwas träumen lassen.«

»Sind die Lakaien so schlimm?«

»Schlimm? Nichtswürdig sind sie, das ist das Wort für sie. Erstens treiben sie Durchstecherei und schleichendes Wesen und lassen sich von den Lieferanten bezahlen …«

»Nun, Prinz, das ist vergleichsweise harmlos.«

»Ja, ja, mit den Einblicken der Gräfin kann es sich wohl nicht messen …«

Sie fielen in Trab, verließen beim Wegweiser die gemächlich steigende und fallende Landstraße, die sie zwischen Nadelwäldern hin verfolgt hatten, und lenkten in den sandigen, ein wenig hohlen und auf seinen erhöhten Rändern von Brombeersträuchern eingefaßten Richtweg ein, der in das buschige Wiesengelände von Schloß Fasanerie mündete. Klaus Heinrich war zu Hause in diesem Gebiet; er streckte den Arm darüber hin, den rechten, um seinen Begleiterinnen alles zu zeigen, obgleich nicht viel Sehenswürdiges vorhanden war. Dort lag das Schloß, verschlossen und stumm, mit seinem Schindeldach und seinen Blitzableitern am Rande des Waldes. Dort abseits war das Fasanengehege, nach welchem das Ganze seinen Namen hatte, und hier Stavenüters Wirtsgarten, wo er zuweilen mit Raoul Überbein gesessen hatte. Über den feuchten Wiesen schien mild die Vorfrühlingssonne und tauchte die fernen umgrenzenden Wälder in zarten Schmelz.

Sie hielten nebeneinander auf ihren Tieren vorm Wirtsgarten, und Imma Spoelmann prüfte das Schloß mit den Augen, dies nüchterne Landhaus, das Schloß Fasanerie benannt war.

»Von sinnverwirrendem Prunk«, sagte sie mit gerümpften Lippen, »scheint Ihre Jugend nicht umgeben gewesen zu sein.«

»Nein,« lachte er, »an dem Schloß ist nichts zu sehen. Innen ist es wie außen. Kein Vergleich mit Delphinenort, selbst bevor Sie es wiederherstellten …«

»Nun wollen wir einkehren«, sagte sie. »Nicht wahr, Gräfin, auf einem Ausflug muß man einkehren. Abgesessen, Prinz! Ich habe Durst und will sehen, was Ihr Stavenüter zu trinken hat.«

Da stand Herr Stavenüter, in grüner Latzschürze und die Hosen in Schmierstiefeln, verbeugte sich, indem er sein gesticktes Käppchen mit beiden Händen an die Brust drückte, und lachte vor Bewegung, so daß man sein vollständig nacktes Zahnfleisch sah.

»Königliche Hoheit!« sagte er, Glück in der Stimme, »tun Königliche Hoheit mir auch einmal wieder die Ehre an? Und das gnädige Fräulein!« setzte er mit andächtiger Stimme hinzu; denn er kannte Samuel Spoelmanns Tochter sehr wohl und hatte so eifrig wie einer im Großherzogtum die Zeitungsnotizen gelesen, die Prinz Klaus Heinrichs und Immas Namen zusammen nannten. Er war der Gräfin beim Absteigen behilflich, da Klaus Heinrich, zuerst aus dem Sattel, sich dem Fräulein widmete, und rief nach einem Knecht, der zusammen mit dem Spoelmannschen Livrierten die Pferde besorgte. Aber hierauf hielt Klaus Heinrich Begrüßung und Empfang, wie er es gewohnt war. In geschlossener Haltung richtete er einige formelhafte Fragen an den dienernden Herrn Stavenüter, erkundigte sich auf gewinnende Art nach seiner Gesundheit, nach dem Stande seiner Geschäfte und nahm die Antworten mit dem lebhaften Kopfnicken scheinbar sachlicher Beteiligung entgegen. Imma Spoelmann, ihre Reitgerte mit beiden Händen hin und her biegend, sah diesem kunstreichen und kalten Auftritt mit ernsten und glänzend forschenden Augen zu. »Ich erlaube mir, in Erinnerung zu bringen, daß ich Durst leide«, sagte sie endlich scharf und verstimmt, und so trat man denn in den Garten und beratschlagte, ob man das Wirtszimmer aufsuchen müsse. Es sei noch zu feucht unter den Bäumen, meinte Klaus Heinrich; aber Imma bestand darauf, im Freien zu sitzen, und wählte selber einen der schmalen und langen Trinktische mit Bänken zu beiden Seiten, den Herr Stavenüter mit einem weißen Tuche zu decken sich beeilte.

»Limonade!« sagte er. »Das ist das Beste für den Durst und reine Ware! Kein Gesudel, Königliche Hoheit und Sie, meine Damen, sondern gezuckerte Natursäfte und das Bekömmlichste von allem!«

Man mußte den Glaskugelpfropfen durch den Flaschenhals stoßen; und während die hohen Gäste das Getränk kosteten, verweilte Herr Stavenüter sich noch ein wenig am Tische, um ihnen mit Plaudern aufzuwarten. Er war längst Witwer, und seine drei Kinder, die ehemals hier unter den Blättern das Lied vom gemeinsamen Menschentum gesungen und sich dabei mit den Fingern geschneuzt hatten, waren nun ebenfalls außer Hause, der Sohn als Soldat in der Stadt und von den Töchtern die eine verheiratet mit einem benachbarten Ökonomen, die andere als Magd in städtischem Hause, weil es sie zum Höheren gezogen hatte. So schaltete Herr Stavenüter allein in dieser Abgeschiedenheit, und zwar in dreifacher Eigenschaft, als Pächter der Schloßwirtschaft, Kastellan und Fasanenmeister, zufrieden mit seinem Lose. Bald, wenn die Witterung sich ferner so anließ, kam wieder die Zeit der Radfahrer und Spaziergänger, die Sonntags den Garten füllten. Dann blühte das Geschäft. Und ob die hohen Herrschaften denn nicht vielleicht die Fasanerie in Augenschein nehmen wollten?

Ja, das wollten sie, später, und so zog Herr Stavenüter sich vorläufig mit Anstand zurück, nachdem er eine Schale mit Milch für Perceval neben den Tisch gestellt.

Der Collie war unterwegs in sumpfiges Wasser geraten und sah aus wie der Teufel. Seine Beine waren dünn vor Nässe – und die weißen Teile seines zerzausten Felles beschmutzt. Sein geifernd geöffnetes Maul, mit dem er die Erde nach Feldmäusen durchwühlt, war geschwärzt bis in den Schlund, und schwarzrot, an der Spitze sich dreieckig verbreiternd, hing seine triefende Greifenzunge daraus hervor. Hastig erquickte er sich aus der Schale und ließ sich hierauf mit flackernd arbeitenden Flanken neben seiner Herrin zu Boden fallen, flach auf die Seite, den Kopf mit ruhelechzendem Ausdruck zurückgeworfen.

Klaus Heinrich nannte es unverantwortbar, daß Imma hier nach dem Ritt so ohne Umhüllung sich der trügerischen Frühlingsluft preisgäbe. »Nehmen Sie meinen Mantel!« sagte er. »Bei Gott, ich brauche ihn nicht. Mir ist warm, und mein Rock ist über der Brust wattiert!« Sie wollte nichts wissen von seinem Vorschlag; aber da er fortfuhr, sie inständig zu bitten, so willigte sie ein und ließ sich seinen grauen Militärmantel mit den Schulterabzeichen eines Majors um die Schultern legen. So eingehüllt stützte sie ihr schwarzbleiches, mit dem Dreispitz bedecktes Köpfchen in die hohle Hand und sah ihm zu, wie er den Arm nach dem Schlosse ausstreckte und von dem Leben erzählte, das er hier einst geführt.

Dort zu ebener Erde, wo man die hohen Fenster sah, war das Speisezimmer gewesen, dort der Schulsaal und dort oben Klaus Heinrichs Zimmer mit dem Gipstorso auf dem Kachelofen. Und er berichtete von Professor Kürtchen und seinem taktvollen Meldesystem beim Unterricht, von der Hauptmännin Amelung, den adeligen »Fasanen«, die alles für »Schweinerei« erklärt hatten, und namentlich von Raoul Überbein, seinem Freunde, auf welchen zurückzukommen Imma Spoelmann ihn mehrmals ermunterte.

Er sprach von des Doktors dunkler Herkunft und von der Abfindungssumme; von dem Kinde im Moor oder Sumpf und der Rettungsmedaille; von Überbeins tapferer und ehrgeiziger Laufbahn, zurückgelegt unter jenen harten und streng auf die Leistung weisenden Bedingungen, die er die guten zu nennen pflegte, und von seinem Bündnis mit Doktor Sammet, den Imma kannte. Er schilderte sein wenig einnehmendes Äußeres und begründete mit frohen Worten die Neigung, die ihn dennoch von Anbeginn zu diesem Lehrer gezogen, indem er sein Verhalten gegen ihn, Klaus Heinrich, beschrieb – diese väterliche und herzlich schwadronierende Kameradschaftlichkeit, die sich von dem Gehaben aller übrigen Leute so strikt unterschieden hatte –, ließ auch, so gut es ihm gelingen wollte, dies und das von Überbeins Lebensaspekten einfließen und gab schließlich seinem Kummer darüber Ausdruck, daß der Doktor bei seinen Mitbürgern sich keiner wahren Beliebtheit zu erfreuen scheine.

»Das glaube ich«, sagte Imma.

Er war erstaunt und fragte, warum sie es glaube.

»Weil ich gewiß bin,« antwortete sie und wandte ihr Köpfchen hin und her, »daß dieser Überbein mit all seinen aufgeräumten Redereien ein unseliger Mensch ist. Er steht wohl da und prahlt; aber er hat gar keinen Rückhalt, Prinz, und darum wird er ein schlechtes Ende nehmen.«

Klaus Heinrich blieb eine Weile bestürzt und nachdenklich über diese Worte. Dann wandte er sich der Gräfin zu, die lächelnd aus einer Abwesenheit zu sich kam, und sagte ihr eine Artigkeit über ihre Reitkunst, wofür sie mit frischen und ritterlichen Worten dankte. Er äußerte, man merke wohl, daß sie beizeiten auf einem Pferderücken zu sitzen gelernt habe, und sie bestätigte, daß allerdings die Stunden in der Reitbahn einen wesentlichen Bestandteil ihrer Erziehung ausgemacht hätten. Sie sprach klar und munter; aber allmählich, fast unmerklich, schweifte sie vom gangbaren Wege ab, erzählte etwas Sonderbares von kühnen Ritten, die sie als Leutnant im letzten Feldzuge ausgeführt, und kam völlig unvermutet auf die unbeschreiblich liederliche Frau eines Feldwebels bei den Leibgrenadieren zu sprechen, die diese Nacht in ihrem Zimmer gewesen, ihr in der erbarmungslosesten Weise die Brust zerkratzt und Reden dazu geführt habe, welche wiederzugeben sie ablehnen müsse. Klaus Heinrich fragte leise, ob denn nicht Tür und Fenster verschlossen gewesen wären. »Allerdings, aber die Scheibe ist ja da!« antwortete sie hastig. Und da sie bei dieser Entgegnung auf der einen Seite ihres Gesichtes blaß, auf der anderen rot wurde, so willigte er nickend und mit sanften Worten darein. Ja, indem er die Augen niederschlug, bot er ihr an, sie einstweilen ein wenig »Frau Meier« zu nennen, ein Vorschlag, den sie mit Eifer und Eile annahm, nicht ohne ein vertrauliches Lächeln übrigens, einen Seitenblick ins Ungewisse, der etwas seltsam Lockendes hatte. Sie brachen auf zur Besichtigung der Fasanerie, nachdem Klaus Heinrich seinen Mantel zurückerhalten; und als sie den Garten verließen, sagte Imma Spoelmann: »So war es recht, Prinz. Sie machen Fortschritte.« Ein Lob, das ihm die Wangen färbte, ja, ihm ohne Vergleich mehr Freude bereitete als der schönste Zeitungsbericht über die erhebende Wirkung seiner festlichen Person, den Geheimrat Schustermann ihm hätte vorlegen können.

Herr Stavenüter geleitete seine Gäste in das von Palisaden umfriedigte Gehege, wo in Wiese und Busch die sechs oder sieben Fasanenfamilien ein versorgtes und bürgerliches Leben führten, und sie sahen dem Benehmen der bunten, rotäugigen und steifgeschwänzten Vögel zu, besichtigten das Bruthäuschen und wohnten einer Fütterung bei, die Herr Stavenüter am Fuß einer schönen, einzeln stehenden Fichte zu ihrem Vergnügen vornahm, worauf Klaus Heinrich ihm seine vollste Anerkennung des Gesehenen zum Ausdruck brachte. Imma Spoelmann betrachtete ihn mit großen und dunkel forschenden Augen bei Erledigung dieser Förmlichkeit. Dann stieg man vorm Wirtsgarten zu Pferde und trat, während Perceval sich vor den Pferden mit rasendem Geheul um sich selber schwang, den Heimweg an.

Auf diesem Heimwege aber sollte Klaus Heinrich gesprächsweise noch einen nicht unbedeutsamen Fingerzeig über Imma Spoelmanns Natur und Charakter erhalten, eine mittelbare Erläuterung gewisser Seiten ihrer Persönlichkeit, die ihm Stoff zu anhaltendem Nachdenken gab.

Bald nämlich, nachdem man den brombeerbewachsenen Hohlweg verlassen hatte und wieder auf der sanft gewellten Landstraße dahinritt, kam Klaus Heinrich auf einen Punkt zurück, der bei seinem ersten Besuch auf »Delphinenort« in der Unterhaltung am Teetisch seltsam kurz berührt worden war und nicht aufgehört hatte, ihn unbestimmt zu beunruhigen.

»Lassen Sie mich übrigens«, sagte er, »eine Frage tun, Fräulein Imma. Sie brauchen sie nicht zu beantworten, wenn es Ihnen nicht gefällig ist.«

»Wir werden sehen«, antwortete sie.

»Vor vier Wochen,« fing er an, »als ich zum erstenmal das Vergnügen hatte, mit Herrn Spoelmann, Ihrem Vater, zu plaudern, richtete ich eine Frage an ihn, die er so kurz und abbrechend beantwortete, daß ich fürchten muß, einen Mißgriff oder falschen Schritt damit getan zu haben.«

»Was fragten Sie?«

»Ich fragte, ob es ihm nicht schwer geworden sei, Amerika zu verlassen.«

»Ja, sehen Sie, Prinz, das war nun wieder so recht eine Frage, die Ihnen ähnlich sieht, eine ausgemachte Prinzenfrage. Wären Sie auf dem Gebiete der Denklehre ein wenig beschlagener, so hätten Sie sich wohl stillschweigend mit dem Vernunftbeschluß begnügt, daß, wenn mein Vater Amerika nicht leicht und gern verlassen hätte, er es schlechterdings überhaupt nicht verlassen hätte.«

»Das mag wahr sein, Fräulein Imma, verzeihen Sie, ich denke nicht sehr genau. Aber wenn ich mit meiner Frage mich keines andern Fehltritts als nur eines Denkfehlers schuldig gemacht habe, so will ich wahrhaftig zufrieden sein. Können Sie mich soweit beruhigen?«

»Nun denn, Prinz, nein, nicht einmal soweit«, sagte sie und sah ihn plötzlich mit ihren großen, schwarzglänzenden Augen an.

»Sehen Sie? Sehen Sie? Aber was für eine Bewandtnis hat es damit, Fräulein Imma? Lassen Sie mich nun wissen, was hier zu wissen ist. Sie sind es unserer Freundschaft schuldig!«

»Sind wir Freunde?«

»Ich dachte«, sagte er bittend …

»Nun, nun, Geduld! Ich wußte es nicht. Ich lasse mich gern belehren. Um aber auf meinen Vater zurückzukommen, so hat er sich in der Tat über Ihre Frage geärgert – er ärgert sich leicht und hatte Gelegenheit, sich ungewöhnliche Übung in dieser Gemütsbewegung zu erwerben. Die Sache ist die, daß die öffentliche Stimmung und Meinung uns nicht sonderlich günstig war in Amerika. Umtriebe sind da im Gange … ich bemerke, daß ich über die Einzelheiten nicht unterrichtet bin, aber eine eifrige politische Tätigkeit findet statt zu dem Zwecke, die große Menge, wissen Sie, die vielen Leute, die es nicht getroffen hat, gegen uns aufzuwiegeln, und daraus sind gesetzliche Anfeindungen und beständige Widerwärtigkeiten entstanden, die meinem Vater das Leben dort drüben verleidet haben. Sie wissen wohl, Prinz, daß nicht er es war, der unsere Lage geschaffen hat, sondern mein garstiger Großvater mit seinem Paradise-Nugget und seiner Blockhead-Farm. Mein Vater kann gar nichts dafür, er hat sein Schicksal geerbt und hat nicht leicht daran getragen, denn er ist eher scheu und zart von Natur und hätte am liebsten immer nur Orgel gespielt und Gläser gesammelt, ja, ich glaube, daß der Haß, in dem wir schließlich infolge der Umtriebe lebten, so daß zuweilen das Volk hinter mir drein schimpfte, wenn ich im Automobil vorüberfuhr – daß der Haß ihm ganz eigentlich seine Nierensteine eingebracht hat, das ist sehr möglich.«

»Ich bin Ihrem Herrn Vater von Herzen zugetan«, sagte Klaus Heinrich mit Nachdruck.

»Das möchte ich mir ausgebeten haben, Prinz, im Falle, daß wir Freunde sein wollen. Aber dann kam noch ein anderes hinzu, das alles verschärfte und unsere Stellung dort drüben ein wenig schwierig machte, und das hing mit unserer Abstammung zusammen.«

»Mit Ihrer Abstammung?«

»Ja, Prinz, wir sind keine adeligen Fasanen, wir stammen leider weder von Washington noch von den ersten Einwanderern ab …«

»Nein, denn Sie sind ja Deutsche.«

»O ja, aber da ist trotzdem nicht alles in Ordnung. Haben Sie doch die Herablassung, mich einmal genau zu betrachten. Finden Sie es etwa ehrenhaft, so blauschwarzes, strähniges Haar zu haben, das immer fällt, wohin es nicht soll?«

»Gott weiß, daß Sie wunderschönes Haar haben, Fräulein Imma!« sagte Klaus Heinrich. »Auch ist mir wohlbekannt, daß Sie zum Teile südlicher Abstammung sind, denn Ihr Herr Großvater hat sich ja in Bolivia vermählt oder in dieser Gegend, wie ich gelesen habe.«

»Das tat er. Aber hier liegt der Haken, Prinz. Ich bin eine Quinterone.«

»Was sind Sie?«

»Eine Quinterone.«

»Das gehört zu den Adirondacks und der Parallaxe, Fräulein Imma. Ich weiß nicht, was es ist. Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich nicht viel gelernt habe.«

»Nun, das war so. Mein Großvater, unbedenklich wie er in allen Stücken war, heiratete dort unten eine Dame mit indianischem Blut.«

»Mit indianischem?«

»Jawohl. Besagte Dame nämlich stammte im dritten Gliede von Indianern ab, sie war die Tochter eines Weißen und einer Halbindianerin und also Terzerone, wie man es nennt – oh, sie soll erstaunlich schön gewesen sein! –, und sie wurde meine Großmutter. Die Enkel solcher Großmütter aber werden Quinteronen genannt. So liegen die Dinge.«

»Ja, das ist merkwürdig. Aber sagten Sie nicht, daß es auf das Verhalten der Leute Ihnen gegenüber von Einfluß gewesen sei?«

»Ach, Prinz, Sie wissen gar nichts. Sie müssen aber wissen, daß indianisches Blut dort drüben einen schweren Makel bedeutet – einen solchen Makel, daß Freundschaften und Liebesbündnisse mit Schimpf und Schande auseinandergehen, wenn eine derartige Abstammung des einen Teiles ans Licht der Sonnen kommt. Nun steht es ja so arg nicht mit uns, denn bei Quarteronen – in Gottes Namen, da ist der Schade nicht mehr so groß, und ein Quinterone gehört im ganzen schon fast zu den Makellosen. Aber mit uns, die wir so sehr dem Gerede ausgesetzt waren, war es natürlich etwas anderes, und mehrmals, wenn hinter mir drein geschimpft wurde, habe ich zu hören bekommen, daß ich eine Farbige sei. Kurz, es blieb eine Beeinträchtigung, eine Erschwerung, und sonderte uns selbst von den wenigen ab, die sich übrigens ungefähr in der gleichen Lebenslage befanden – blieb immer etwas, was zu verstecken oder zu vertreten war. Mein Großvater hatte es vertreten, er war der Mann dazu und hatte gewußt, was er tat; auch war er ja reinen Bluts, und nur seine schöne Frau trug den Makel. Aber mein Vater war ihr Sohn, und ärgerlich und leicht gereizt, wie er ist, hat er es von Jugend auf nur schwer ertragen, bestaunt und gehaßt und verachtet zu gleicher Zeit zu sein, halb Weltwunder und halb infam, wie er zu sagen pflegte, und hatte Amerika in jeder Beziehung satt. Das ist die Geschichte, Prinz,« sagte Imma Spoelmann, »und nun wissen Sie es, warum mein Vater sich ärgerte über Ihre scharfsinnige Frage.«

Klaus Heinrich sagte ihr Dank für die Aufklärung, ja, noch vor dem Portal von »Delphinenort«, als er sich – es war Lunchzeit geworden –, die Hand an der Mütze, von den Damen verabschiedete, wiederholte er seinen Dank für das, was sie ihm gesagt, und ritt dann schrittweise heim, um über die Ergebnisse des Vormittags nachzudenken.

Imma Spoelmann saß weich in ihrem rotgoldenen Kleide am Tische im Saal, in lässiger Haltung, mit launisch verwöhnten Mienen, saß in üppiger Sicherheit, während ihre Rede scharf ging wie dort, wo es gilt, wo Helligkeit, Härte und wachsamer Witz zum Leben geboten sind. Warum doch? Klaus Heinrich begriff es nun, und Tag für Tag war er beschäftigt, es besser in seinem Herzen zu begreifen. Bestaunt, gehaßt und verachtet zu gleicher Zeit, halb Weltwunder und halb infam, so hatte sie gelebt, und das hatte die Dornen in ihre Rede gebracht, jene Schärfe und spöttische Helligkeit, die Abwehr war, wenn sie Angriff schien, und die eine schmerzliche Verzerrung auf den Gesichtern derer hervorrief, welche die Wehr des Witzes nicht nötig gehabt hatten. Sie hatte ihn zu Mitleid und Milde angehalten gegenüber der armen Gräfin, wenn sie sich gehen ließ; aber ihr selbst tat Mitleid und Milderung not, weil sie einsam war und es schwer hatte – gleich ihm. Eine Erinnerung beschäftigte ihn zu gleicher Zeit mit diesen Erwägungen, eine alte, peinvolle Erinnerung, die den Büfettraum des »Bürgergartens« zum Schauplatz hatte und mit einem Bowlendeckel endigte … »Kleine Schwester!« sagte er bei sich selbst, indem er sich hastig ab davon wandte. »Kleine Schwester!« – Hauptsächlich aber sann er darauf, wie das Zusammensein mit Imma Spoelmann in kürzester Frist zu erneuern sei.

Das geschah bald und wiederholt unter verschiedenen Umständen. Der Februar ging zu Ende, es kamen der ahnungsvolle März, der wetterwendische April, der zärtliche Mai. Und all diese Zeit verkehrte Klaus Heinrich auf Schloß Delphinenort, wohl wöchentlich einmal, vormittags oder nachmittags, und eigentlich beständig in dem unverantwortlichen Zustande, in welchem er an jenem Februarmorgen bei Spoelmanns erschienen war, willenlos sozusagen und wie vom Schicksal ergriffen. Die benachbarte Lage der Schlösser begünstigte den Verkehr, die kurze Parkstrecke von »Eremitage« nach »Delphinenort« war zu Pferd oder mit dem Dogcart ohne bedeutendes Aufsehen zurückzulegen; und wenn bei vorschreitender Jahreszeit infolge größerer Belebtheit der Umgebung es schwerer und schwerer wurde, ohne Aufmerken des Publikums miteinander spazierenzureiten, so ist des Prinzen innere Verfassung während dieses Zeitabschnittes als eine vollkommene Gleichgültigkeit und blinde Rücksichtslosigkeit in bezug auf die Welt, auf Hof, Stadt und Land zu denken. Die Teilnahme der Öffentlichkeit begann erst später in seinem Sinnen und Trachten eine – dann freilich wichtige und beglückende Rolle zu spielen.

Er hatte nach dem ersten Ritt sich nicht von den Damen verabschiedet, ohne einen neuen Ausflug ins Auge zu fassen, wogegen Imma Spoelmann, indem sie mit vorgeschobenen Lippen ihr Köpfchen hin und her gewandt, nichts Ernstliches einzuwenden gehabt hatte. So kehrte er wieder, und man ritt zum »Hofjäger«, einer am nördlichen Rande des Stadtgartens gelegenen Waldwirtschaft, kehrte er abermals wieder, und man ritt zu einem dritten Ausflugsziel, das ebenfalls ohne Berührung der Stadt zu erreichen war. Dann, als der Frühling die Residenzler ins Freie lockte und die Wirtsgarten sich füllten, bevorzugte man einen abgelegenen und eigenartigen Weg, der eigentlich kein Weg, sondern ein Damm oder Wiesenrand mit blumiger Böschung war, der zur Seite eines geschwind strömenden Wasserarmes sich langhin in nördlicher Richtung erstreckte. Man gelangte am ungestörtesten dahin, indem man die Rückseite des Parkes von Schloß »Eremitage« entlang und über die Flußaue am Rande des nördlichen Stadtgartens bis zur Höhe des »Hofjägers« ritt, dann aber nicht – bei der Schleuse – auf der hölzernen Brücke den Flußarm überschritt, sondern diesseits seinem Laufe folgte. Rechts blieb das Gehöft der Wirtschaft zurück, und Mittelholz zog sich hin, soweit sie kamen. Links dehnten sich Wiesen aus, die weiß und bunt waren von Schierling und Pustblumen, von Butter- und Glockenblumen, Klee, Margueriten und auch Vergißmeinnicht; der Kirchturm eines Dorfes ragte zwischen Äckern hervor, und fern lief die Landstraße mit ihrem Verkehr, vor dem sie in Sicherheit waren. Später aber traten auch linker Hand Weiden und Haselnußstauden der Böschung nahe, die Aussicht verhindernd, und nun ritten sie, vollends geschützt und abgeschieden, zu zweien meistens und gefolgt von der Gräfin, weil der Weg schmal war, ritten plaudernd und schweigend, während Perceval mit angezogenen Vorderbeinen hin und her über das Wasser setzte oder drunten ein Bad nahm und mit hastigem Schlappen seinen Durst stillte. Sie kehrten auf demselben Wege zurück, auf dem sie gekommen.

Wenn aber vermöge des niedrigen Luftdrucks das Quecksilber fiel, wenn es folglich regnete und Klaus Heinrich dennoch ein Wiedersehen mit Imma Spoelmann für notwendig erachtete, so stellte er sich auf seinem Dogcart um die Teestunde in Delphinenort ein, und man blieb im Schlosse. Nur zwei- oder dreimal erschien auch Herr Spoelmann am Teetisch. Sein Leiden nahm zu in dieser Zeit, und manchen Tag war er genötigt, mit warmen Breiumschlägen im Bette zu liegen. Kam er, so sagte er: »Na, junger Prinz«, tauchte mit seiner mageren, von der weichen Manschette halb bedeckten Hand einen Krankenzwieback in seinen Tee, warf hier und da ein knarrendes Wort in die Unterhaltung ein und bot schließlich dem Gast seine goldene Zigarettendose dar, worauf er mit Doktor Watercloose, der stumm und lächelnd am Tische gesessen hatte, den Gartensaal wieder verließ. Übrigens geschah es auch bei sonnigem Wetter, daß man es vorzog, sich auf den Park zu beschränken und auf dem wohlgeebneten und von einem Netz durchquerten Platze unterhalb der Terrasse sich mit dem Ballspiel zu unterhalten. Ja, einmal wurde sogar eine rasche Fahrt in einem der Spoelmannschen Automobile weit über Schloß Fasanerie hinaus unternommen.

Eines Tages fragte Klaus Heinrich: »Ist es wahr, Fräulein Imma, was ich gelesen habe, daß Ihr Herr Vater täglich so entsetzlich viele Briefe und Bittgesuche bekommt?«

Da erzählte sie ihm von den Kollekten und Subskriptionslisten, die ohne Unterlaß in »Delphinenort« einliefen und auch nach Möglichkeit Berücksichtigung fänden, von den Stößen von Bettelschreiben aus Europa und Amerika, die mit jeder Post eingeliefert, durch die Herren Phlebs und Slippers gesichtet und Herrn Spoelmann in einer Auswahl vorgelegt würden. Zuweilen, sagte sie, mache sie sich das Vergnügen, die Stöße durchzusehen und die Adressen zu lesen, denn diese seien nicht selten phantastischer Art. Die bedürftigen oder spekulativen Absender nämlich suchten einander schon auf den Umschlägen in Kurialien und Wohldienerei zu überbieten, und alle erdenklichen Titulaturen und Rangesbezeichnungen seien in seltsamen Mischungen auf den Briefen zu finden. Ein Bittsteller aber habe kürzlich jeden Wettbewerb geschlagen, indem er seinem Schreiben die Aufschrift gegeben habe: »Seiner Königlichen Hoheit Herrn Samuel Spoelmann«. Übrigens habe er nicht mehr erhalten als die anderen …

Ein andermal kam er mit gesenkter Stimme auf die »Eulenkammer« im Alten Schlosse zu sprechen und vertraute ihr an, daß neuerdings wieder Lärm darin beobachtet worden sei, was auf entscheidende Ereignisse in seiner, Klaus Heinrichs, Familie deute. Da lachte Imma Spoelmann und klärte ihn wissenschaftlich auf, indem sie mit vorgeschobenen Lippen ihr Köpfchen hin und her wandte, wie sie ihn über die Geheimnisse des Barometers aufgeklärt hatte. Das sei Unsinn, sagte sie, und es möge sich etwa so verhalten, daß ein Teil der Polterkammer ellipsoidenartig geformt sei, und eine zweite Ellipsoidenfläche von ähnlicher Krümmung und mit einer Lärmquelle im Brennpunkt sich irgendwo draußen befände, woher es dann komme, daß innerhalb des Spukzimmers Rumoren hörbar sei, das in der nächsten Umgebung nicht vernommen werden könne. Klaus Heinrich war ziemlich niedergeschlagen über diese Auslegung und wollte von dem allgemeinen Glauben an den Zusammenhang zwischen dem Gepolter und den Schicksalen seines Hauses nur ungern lassen.

So unterhielten sie sich, und auch die Gräfin nahm teil, auf verständige und auch auf verwirrte Art, da Klaus Heinrich sich redlich Mühe gab, sie nicht durch sein Wesen zu ernüchtern und zu erkälten, sondern sie »Frau Meier« nannte, sobald sie dessen zu ihrer Sicherheit vor den Nachstellungen der lasterhaften Weiber zu bedürfen glaubte. Er erzählte den Damen von seinem unsachlichen Leben, von den schönen Trinksitzungen der Korpsbrüder, den militärischen Liebesmählern und seiner Bildungsreise, von seinen Angehörigen, seiner ehemals so herrlichen Mutter, die er dann und wann in »Segenhaus« besuchte, wo sie traurigen Hof hielt, von Albrecht und Ditlinde; Imma Spoelmann erwiderte mit einigen Nachträgen über ihre prachtvolle und sonderbare Jugend, und die Gräfin ließ manchmal ein dunkles Wort über die Schrecken und Geheimnisse des Lebens einfließen, worauf die beiden mit ernsten, ja andächtigen Mienen horchten.

Eine Art Spiel trieben sie gern: es war das Erraten von Daseinsformen, das ungefähre Einschätzen der Menschen, die sie etwa sahen, in die Abteilungen der bürgerlichen Welt, soweit ihre Wissenschaft reichte – eine fremde und begierige Beobachtung der Passanten aus der Entfernung, vom Pferde herab oder von der Spoelmannschen Terrasse. Was für junge Leute mochten wohl diese sein? Was mochten sie treiben? Wohin gehören? Es waren wohl keine Handelsschüler, sondern vielleicht der Technik Beflossene oder angehende Forstmänner, gewissen Merkmalen nach, auch wohl von der landwirtschaftlichen Hochschule, ein wenig rauhe, aber tüchtige Burschen jedenfalls, die ihren redlichen Weg schon machen würden. Aber die Kleine, Unordentliche, die hier vorüberschlenderte, war wohl so etwas wie eine Fabrikarbeiterin oder Nähmamsell. Solche Mädchen pflegten einen Liebhaber aus ähnlicher Sphäre zu haben, der sie Sonntags in einen Kaffeegarten führte. Und sie teilten einander mit, was sie sonst etwa noch von den Leuten wußten, sprachen mit Anerkennung davon und fühlten sich mehr als durch Laufen und Ballschlagen erwärmt durch diesen Zeitvertreib.

Was die rasche Automobilfahrt betraf, so erklärte Imma Spoelmann im Laufe derselben, daß sie Klaus Heinrich eigentlich nur dazu eingeladen habe, um ihm den Chauffeur zu zeigen, der sie fuhr, einen jungen, in braunes Leder gehüllten Amerikaner, von dem sie behauptete, daß er dem Prinzen ähnlich sähe. Klaus Heinrich versetzte lachend, daß die Rückansicht des Fahrers ihn nicht befähige, hierüber zu urteilen, und forderte die Gräfin auf, ihre Stimme abzugeben. Diese, nachdem sie die Ähnlichkeit eine Zeitlang mit höfischer Entrüstung geleugnet, ließ sich, von Imma gedrängt, schließlich mit einem gekniffenen Seitenblick auf Klaus Heinrich herbei, sie zu bejahen. Dann erzählte Fräulein Spoelmann, der ernste, nüchterne und geschickte junge Mann sei ursprünglich im persönlichen Dienste ihres Vaters gestanden, den er täglich von der Fünften Avenue zum Broadway und andere Wege gefahren habe. Herr Spoelmann aber habe auf außerordentliche Fahrgeschwindigkeit, die fast der eines Eilzuges gleichgekommen sei, gehalten, und der ungeheuren Anspannung, die solcherweise bei dem Getümmel von Neuyork von dem Wagenlenker gefordert worden, sei dieser auf die Dauer nicht gewachsen gewesen. Zwar habe sich niemals ein Unfall ereignet; der junge Mann habe durchgehalten und mit gewaltiger Aufmerksamkeit seine todesgefährliche Pflicht getan. Endlich aber sei es wiederholt geschehen, daß man ihn am Ziele der Fahrt ohnmächtig vom Sitz habe heben müssen, und da habe es sich gezeigt, in welcher übermäßigen Anstrengung er täglich gelebt habe. Um ihn nicht entlassen zu müssen, habe Herr Spoelmann ihn zum Leibchauffeur seiner Tochter ernannt, welchen leichteren Dienst er auch an dem neuen Aufenthaltsort zu versehen fortfahre. Die Ähnlichkeit zwischen Klaus Heinrich und ihm habe Imma festgestellt, als sie den Prinzen zum ersten Male gesehen. Es sei natürlich keine Ähnlichkeit der Züge, wohl aber eine solche des Ausdrucks. Die Gräfin habe sie zugegeben … Klaus Heinrich sagte, daß er durchaus nichts gegen die Ähnlichkeit einzuwenden habe, da der heldenmütige junge Mann seine volle Sympathie besitze. Sie sprachen dann noch mehreres von dem schweren und angespannten Dasein eines Chauffeurs, ohne daß die Gräfin Löwenjoul sich weiter an diesem Gespräche beteiligte. Sie schwatzte nicht auf dieser Fahrt, sondern sagte später mit frischen Bewegungen einige richtige und klare Dinge.

Übrigens schien Herrn Spoelmanns Schnelligkeitsbedürfnis in gewissem Grade auf seine Tochter übergegangen zu sein, denn jenen ausgelassenen Galopp des ersten gemeinsamen Ausflugs wiederholte sie bei jeder neuen Gelegenheit; und da Klaus Heinrich, durch ihren Spott erhitzt, dem verstörten und von Mißbilligung erfüllten Florian das Äußerste zumutete, um nicht zurückzubleiben, so erhielten diese Gewaltritte jedesmal einen kampfartigen Charakter, wurden zu Wettrennen, die Imma Spoelmann stets auf unvermutete und launenhafte Weise vom Zaune brach. Mehrere dieser Kämpfe entspannen sich an jener einsamen, am Wasser hinlaufenden Wiesenböschung, und einer besonders war langwierig und erbittert. Er schloß sich an ein kurzes Gespräch über Klaus Heinrichs Popularität, das von Imma Spoelmann ebenso unvermittelt eröffnet wie abgebrochen wurde. Sie fragte plötzlich: »Habe ich recht gehört, Prinz, daß Sie so ungemein beliebt sind bei der Bevölkerung? Daß alle Herzen Ihnen zuschlagen?«

Er antwortete: »Man sagt so. Irgendwelche Eigenschaften, die keine Vorzüge zu sein brauchen, mögen der Grund sein. Übrigens weiß ich durchaus nicht, ob ich es glauben oder mich gar darüber freuen soll. Ich zweifle, ob es für mich spräche. Mein Bruder, der Großherzog, meint geradezu, die Popularität sei eine Schweinerei.«

»Ja, der Großherzog muß ein stolzer Mann sein; ich achte ihn sehr. Da stehen Sie dann im Dunst, und alles liebt Sie … go on!« rief sie plötzlich, ein scharfer Schlag mit der weißledernen Gerte traf Fatme, die aufzuckte, und die Jagd begann.

Sie dauerte lange. Noch nie hatten sie den Wasserlauf so weithin verfolgt. Links hatte sich längst die Aussicht geschlossen. Erdklumpen und Grasbüschel stoben unter den Hufen auf. Die Gräfin war bald zurückgeblieben. Als sie endlich die Pferde zügelten, zitterte Florian, der sein Letztes getan hatte, und sie selbst waren bleich und atmeten schwer. Der Rückweg verlief schweigsam. –

Am Nachmittag vor seinem diesjährigen Geburtstag sah Klaus Heinrich Raoul Überbein bei sich auf »Eremitage«. Der Doktor kam, um seine Gratulation darzubringen, da er morgen durch Arbeit verhindert sein würde. Sie gingen auf den Kieswegen im rückwärtigen Teil des Parkes umher, der Oberlehrer in Gehrock und weißer Binde, Klaus Heinrich in seiner Litewka. Das Gras stand reif zur Mahd unter der schrägen Nachmittagssonne, die Linden blühten. In einem Winkel, dicht an der Hecke, die den Grund von unschönen Vorstadtwiesen trennte, war ein kleiner, morscher Borkentempel gelegen.

Klaus Heinrich sprach von seinem Verkehr auf »Delphinenort«, da dieser Gegenstand ihm am nächsten lag; er erzählte anschaulich davon, ohne dem Doktor tatsächliche Neuigkeiten mitteilen zu können, denn dieser zeigte sich auf dem laufenden. Woher er das sei? – Oh, aus verschiedenen Quellen. Überbein habe nichts vor anderen voraus. – Und also kümmere man sich in der Residenz um diese Dinge? – »Nein, behüte, Klaus Heinrich, niemand denkt daran. Weder an die Ritte, noch an die Teevisiten, noch an die Automobilfahrt. Dergleichen vermag natürlich keine Zunge in Bewegung zu setzen.« – »Aber wir sind so vorsichtig!« – »Wir ist prächtig, Klaus Heinrich, und das mit der Vorsicht auch. – Übrigens läßt Exzellenz von Knobelsdorff sich genau über Ihre Taten Bericht erstatten.« – »Knobelsdorff? – Knobelsdorff?« Klaus Heinrich schwieg. – »Und wie stellt sich Baron Knobelsdorff zu den Berichten?« fragte er dann. Nun, der alte Herr habe ja noch nicht Veranlassung genommen, in die Entwicklung der Dinge einzugreifen. – Aber die Öffentlichkeit? Die Leute? – Ja, die Leute hielten natürlich den Atem an. – »Und Sie, Sie selbst, lieber Doktor Überbein?!« – »Ich warte auf den Bowlendeckel«, erwiderte der Doktor.

»Nein!« rief Klaus Heinrich mit freudiger Stimme. »Nein, es wird nichts aus dem Bowlendeckel, Doktor Überbein, denn ich bin glücklich, glücklich, was da auch kommen möge – verstehen Sie das? Sie haben mich gelehrt, daß das Glück nicht meine Sache sei, und haben mich bei den Ohren wieder zu mir selbst gebracht, als ich es dennoch damit versuchte, und ich war Ihnen unaussprechlich dankbar dafür, denn es war schrecklich, schrecklich, und ich vergesse es nicht. Aber dies hier ist kein Ausflug in den Tanzsaal des Bürgergartens, wovon man gedemütigt und Übelkeit im Herzen zurückkehrt, es ist keine Verirrung und Entgleisung und Erniedrigung. Sehen Sie denn nicht, daß die, von der wir reden, daß sie weder in den Bürgergarten gehört, noch zu den adeligen Fasanen, noch irgendwohin sonst in der Welt als zu mir – daß sie eine Prinzessin ist, Doktor Überbein, und meinesgleichen, und daß also von Bowlendeckeln gar nicht die Rede sein kann? Sie haben mich gelehrt, daß es liederlich sei, zu behaupten, daß wir alle nur Menschen seien, und innerlich hoffnungslos für mich, so zu tun, als ob es so sei, und ein verbotenes Glück, das mit Schande enden müsse. Aber dies hier ist nicht das liederliche und verbotene Glück. Es ist zum ersten Male das erlaubte und innerlich hoffnungsvolle und glückselige Glück, Doktor Überbein, dem ich mich guten Muts überlassen darf, was da auch kommen mag …«

»Adieu, Prinz Klaus Heinrich«, sagte Doktor Überbein, ohne übrigens schon aufzubrechen. Vielmehr fuhr er fort, die Hände auf dem Rücken und den roten Bart auf die Brust gesenkt, an Klaus Heinrichs linker Seite dahinzuwandeln.

»Nein«, sagte Klaus Heinrich. »Nein, nicht adieu, Doktor Überbein – das ist es ja eben! Ich will Ihr Freund bleiben, der Sie es immer so schwer gehabt haben und so stolz auf Schicksal und Strammheit halten und mich ebenfalls stolz machten dadurch, daß Sie mich als Kameraden behandelten. Ich will nun, wo ich das Glück gefunden habe, nicht bequemeren Sinnes werden, sondern Ihnen treu bleiben und mir und meinem hohen Beruf …«

»Wird nicht gegeben«, sagte Doktor Überbein auf lateinisch und schüttelte seinen häßlichen Kopf mit den abstehenden, spitz zulaufenden Ohren.

»Doch, Doktor Überbein, ich bin nun ganz sicher, daß es das gibt, beides zusammen. Und Sie, Sie sollten nicht so kaltsinnig und abweisend neben mir hergehen, wo ich so glücklich bin und obendrein der Vorabend meines Geburtstags ist. Sagen Sie mir … Sie haben so viele Einblicke getan und sich in jeder Weise den Wind um die Nase wehen lassen – aber haben Sie denn niemals Erfahrungen gemacht in dieser Richtung … Sie wissen schon … Sind Sie gar niemals ergriffen worden, wie ich es nun bin?«

»Hm«, sagte Doktor Überbein und kniff die Lippen zusammen, daß sein roter Bart sich hob und Muskelballen sich an seinen Wangen bildeten. »Das könnte wohl dennoch so unterderhand sich einmal ereignet haben.«

»Sehen Sie? Sehen Sie? Und nun erzählen Sie mir's, Doktor Überbein! Heute müssen Sie mir's erzählen!«

Und da es eine ernste und still besonnte, auch vom Dufte der Lindenblüten erfüllte Stunde war, so gab Raoul Überbein Auskunft über einen Zwischenfall seiner Laufbahn, dessen er in früheren Berichten niemals erwähnt hatte, und der gleichwohl vielleicht von entscheidender Bedeutung für sein Leben gewesen war. Er hatte sich abgespielt zu jener frühen Zeit, als Überbein die kleinen Strolche unterrichtet und nebenbei für sich selbst gearbeitet, sich den Leibgurt enger gezogen und fetten Bürgerkindern Privatstunden erteilt hatte, um sich Bücher kaufen zu können. Immer die Hände auf dem Rücken und den Bart auf der Brust, erzählte der Doktor in kurz angebundenem und scharfem Tone davon, indem er zwischen den einzelnen Sätzen fest die Lippen zusammenpreßte.

Damals hatte das Schicksal ihn unaussprechlich fest mit einem Weibe verbunden, einer schönen, weißen Frau, welche die Gattin eines edelsinnigen und achtenswerten Mannes und Mutter dreier Kinder war. Er war als Präzeptor der Kinder in das Haus gekommen, war aber später häufiger Tischgast und Hausfreund geworden, und auch mit dem Manne hatte er herzliche Empfindungen getauscht. Das zwischen dem jungen Lehrer und der weißen Frau war lange unbewußt und länger noch stumm und unterhalb aller Worte geblieben; aber es war im Schweigen erstarkt und übermächtig geworden, und in einer Abendstunde, als der Gatte sich in Geschäften verweilt hatte, einer heißen, süßen, gefährlichen Stunde, da war es in Flammen ausgebrochen und hätte sie fast betäubt. So hatte denn nun ihr Verlangen geschrien nach dem Glück, dem gewaltigen Glück ihrer Vereinigung; allein hie und da, bemerkte Doktor Überbein, kamen in der Welt anständige Handlungen vor. Sie waren sich zu schade gewesen, sagte er, um den gemeinen und lächerlichen Weg des Betruges einzuschlagen; und vor den arglosen Gatten »hinzutreten«, wie man wohl sagt, und sein Leben zu zerstören, indem sie mit dem Rechte der Leidenschaft die Freiheit von ihm forderten, war gleichfalls nicht ganz nach ihrem Geschmack gewesen. Kurz, um der Kinder, um des guten und edlen Mannes willen, den sie hochschätzten, hatten sie Verzicht geleistet und einander entsagt. Ja, dergleichen kam vor, aber es war natürlich erforderlich, ein bißchen die Zähne zusammenzubeißen. Überbein kam noch immer zuweilen in das Haus der weißen Frau. Er speiste dort zu Abend, wenn seine Zeit es erlaubte, spielte eine Partie Kasino mit den Freunden, küßte der Hausfrau die Hand und sagte gute Nacht!… Aber nachdem er dies erzählt hatte, sagte er das letzte, sagte es noch kürzer und schärfer als das vorige, während sich noch öfter die Muskelballen an seinen Mundwinkeln bildeten. Damals nämlich, als er und die weiße Frau Verzicht geleistet hatten, damals hatte Überbein dem Glücke, der »Bummelei des Glücks«, wie er es seitdem nannte, endgültig und auf immer Valet gesagt. Da er die weiße Frau nicht gewinnen konnte oder wollte, hatte er sich zugeschworen, ihr Ehre zu machen und dem, was ihn mit ihr verband, indem er es weit brachte und sich groß machte auf dem Felde der Arbeit – hatte sein Leben auf die Leistung gestellt, auf sie allein, und war geworden, wie er war. – Das war das Geheimnis, war wenigstens ein Beitrag zur Lösung des Rätsels von Überbeins Ungemütlichkeit, Überheblichkeit und Streberei. Klaus Heinrich sah mit Bangen, wie außerordentlich grün sein Gesicht war, als er sich mit tiefer Verbeugung verabschiedete und dabei sagte: »Grüßen Sie die kleine Imma, Klaus Heinrich!«

Am nächsten Morgen nahm der Prinz im Gelben Zimmer die Glückwünsche des Schloßpersonals und später diejenigen der Herren von Braunbart-Schellendorf und von Schulenburg-Tressen entgegen. Im Laufe des Vormittags fuhren die Mitglieder des großherzoglichen Hauses zur Gratulation auf »Eremitage« vor, und um ein Uhr begab sich Klaus Heinrich in seiner Chaise zum Familienfrühstück bei dem Fürsten und der Fürstin zu Ried-Hohenried, unterwegs vom Publikum ungewöhnlich beifällig begrüßt. Die Grimmburger waren vollzählig versammelt in dem zierlichen Palais an der Albrechtsstraße. Auch der Großherzog kam im Gehrock, grüßte alle mit dem schmalen Haupt, indem er mit der Unterlippe leicht an der oberen sog, und trank Milch mit Mineralwasser vermischt zu den Speisen. Fast unmittelbar nach beendetem Frühstück zog er sich zurück. Prinz Lambert war ohne seine Gemahlin erschienen. Der alte Ballettfreund war gefärbt, ausgehöhlt, schlottricht und besaß eine Grabesstimme. Er wurde von den Verwandten bis zu einem gewissen Grade übersehen.

Unter Tafel drehte sich das Gespräch eine Weile um höfische Angelegenheiten, dann um das Gedeihen der kleinen Prinzessin Philippine und später fast ausschließlich um die großgewerblichen Unternehmungen des Fürsten Philipp. Der zarte kleine Herr erzählte von seinen Brauereien, Fabriken und Mühlen und namentlich von seinen Torfstechereien, er schilderte Verbesserungen in den Betrieben, sprach in Ziffern von Anlagen und Erträgnissen, und seine Wangen röteten sich, während die Verwandten seiner Frau ihm mit neugierigen, wohlwollenden oder spöttischen Mienen lauschten.

Als in dem großen Blumensalon der Kaffee genommen wurde, trat die Fürstin mit ihrem vergoldeten Täßchen an ihren Bruder heran und sagte: »Du hast uns aber vernachlässigt in letzter Zeit, Klaus Heinrich.«

Ditlindens herzförmiges Gesicht mit den Grimmburger Wangenknochen war nicht ganz so durchsichtig mehr, es hatte ein wenig mehr Farbe gewonnen seit der Geburt ihres Töchterchens, und ihr Haupt schien weniger schwer an der Last ihrer aschblonden Flechten zu tragen.

»Habe ich euch vernachlässigt?« fragte er. »Ja, verzeih, Ditlinde, es mag wohl sein. Aber ich war so sehr in Anspruch genommen, und dann wußte ich ja, daß auch du es bist, denn nun hast du ja nicht mehr nur deine Blumen zu warten.«

»Ja, die Blumen sind aus der Herrschaft verdrängt, sie machen mir nicht viele Gedanken mehr. Es ist nun ein schöneres Leben und Blühen, das mir zu schaffen macht, und ich glaube, ich habe so rote Backen davon bekommen wie mein guter Philipp von seinem Torf (von dem er während des ganzen Frühstücks gesprochen hat, was ich nicht loben will, aber es ist seine Leidenschaft). Und da ich so wohlbeschäftigt und ausgefüllt war, so bin ich dir auch nicht gram gewesen, daß du dich nicht sehen ließest und deine eigenen Wege gingst, wenn sie mir auch ein bißchen verwunderlich waren …«

»Kennst du denn meine Wege, Ditlind?«

»Ja, leider nicht von dir. Aber Jettchen Isenschnibbe hat mich auf dem laufenden gehalten – du weißt, sie ist stets unterrichtet –, und anfangs war ich heftig erschrocken, das leugne ich nicht. Aber schließlich wohnen sie ja auf ›Delphinenort‹, und er hat einen Leibarzt, und Philipp meint auch, in ihrer Art seien sie ebenbürtig. Ich glaube, ich habe mich früher absprechend über sie geäußert, Klaus Heinrich, habe etwas von ›Vogel Roch‹ gesagt, wenn ich mich recht erinnere, und einen Scherz mit dem Worte ›Steuersubjekt‹ gemacht. Aber wenn du die Leute deiner Freundschaft wert achtest, so habe ich mich eben geirrt und nehme diese Äußerungen natürlich zurück und will versuchen, fortan anders über sie zu denken, das verspreche ich dir … Du hast immer gern gestöbert,« fuhr sie fort, als er ihr lächelnd die Hand geküßt hatte, »und ich mußte mit, und mein Kleid (weißt du noch? das rotsamtne), das hatte die Kosten zu tragen. Nun stöberst du allein, und Gott gebe, daß du nichts Häßliches dabei erfährst, Klaus Heinrich.«

»Ach, Ditlind, ich glaube eigentlich, daß es immer schön ist, was man erfährt, ob gut, ob schlimm, aber es ist gut, was ich erfahre …«

Um halb fünf Uhr verließ der Prinz aufs neue Schloß »Eremitage«, und zwar auf seinem Dogcart, den er selbst kutschierte, Rücken an Rücken mit einem Lakaien. Es war warm, und Klaus Heinrich trug weiße Beinkleider zum zweireihigen Überrock. Nach beiden Seiten grüßend, fuhr er abermals zur Stadt, genauer zum Alten Schloß, ließ aber das Albrechtstor liegen und nahm seine Einfahrt in den Komplex durch einen Nebentorweg, legte zwei Höfe zurück und hielt in demjenigen mit dem Rosenstock.

Alles war still und steinern hier; die Treppentürme mit ihren schrägen Fenstern, schmiedeeisernen Balustraden und schönen Skulpturen ragten in den Ecken empor, und in Licht und Schatten stand das verschiedenartige Bauwerk umher, teils grau und verwittert, teils neueren Ansehens, mit Giebeln und kastenartigen Ausladungen, mit offenen Loggien, Einblicken durch weite Bogenfenster in gewölbte Hallen und gedrungenen Säulengängen. In der Mitte aber, in seinem umgitterten Beet, stand der Rosenstock und blühte, so sehr hatte das Jahr ihn begünstigt.

Klaus Heinrich gab die Zügel dem Diener, ging hin und betrachtete die dunkelroten Rosen. Sie waren außerordentlich schön – voll und sammetähnlich, edel gebildet und wahre Kunstwerke der Natur. Mehrere waren schon ganz erschlossen.

»Bitte, rufen Sie Hesekiel«, sagte Klaus Heinrich zu einem schnurrbärtigen Türhüter, der, die Hand am Dreispitz, herangetreten war.

Hesekiel kam, der Hüter des Rosenstocks. Es war ein Greis von siebzig Jahren, in einer Gärtnerschürze, mit Triefaugen und gebeugtem Rücken.

»Haben Sie eine Schere bei sich, Hesekiel?« fragte Klaus Heinrich laut. »Ich möchte eine Rose haben.« Und Hesekiel zog eine Gartenschere aus der beutelartigen Tasche seiner Schürze.

»Die hier,« sagte Klaus Heinrich, »das ist die schönste.« Und mit zitternden Händen durchschnitt der Alte den dornigen Stengel.

»Ich will sie besprengen, Königliche Hoheit«, sagte er und begab sich mit schlürfenden Schritten in einen Winkel des Hofes zum Wasserhahn. Schimmernde Tropfen hafteten, als er zurückkehrte, auf den Blättern der Rose wie auf dem Gefieder von Wasservögeln.

»Danke, Hesekiel«, sagte Klaus Heinrich und nahm die Rose. »Immer bei Kräften? Hier!« Und er gab dem Greise ein Geldstück und bestieg den Dogcart, fuhr, die Rose neben sich auf dem Sitz, über die Höfe und kehrte nach der Meinung aller, die ihn sahen, vom Alten Schloß, wo er wahrscheinlich eine Unterredung mit dem Großherzog gehabt hatte, nach »Eremitage« zurück.

Er fuhr aber von dort durch den Stadtgarten nach »Delphinenort«. Der Himmel hatte sich verdunkelt, große Tropfen fielen schon auf die Blätter nieder, und in der Ferne donnerte es.

Die Damen saßen beim Tee, als Klaus Heinrich, von dem bauchigen Butler geführt, in der Galerie erschien und die Stufen zum Gartensalon hinabschritt. Herr Spoelmann war, wie gewöhnlich in letzter Zeit, nicht anwesend. Er lag mit Breiumschlägen. Perceval, der in schneckenförmiger Pose neben Immas Stuhle lag, schlug mehrmals grüßend mit dem Schweif auf den Teppich. Die Vergoldung der Möbel war stumpf, denn hinter der Glastür lag der Park im Wetterschatten.

Klaus Heinrich tauschte einen Händedruck mit der Tochter des Hauses und küßte der Gräfin die Hand, indem er sie gleichzeitig sanft aus der höfischen Verbeugung emporhob, in die sie ihrer Gewohnheit nach versunken war. »Da ist es nun Sommer«, sagte er zu Imma Spoelmann und bot ihr die Rose. Er hatte ihr noch niemals Blumen gebracht.

»Welche Ritterlichkeit!« sagte sie. »Danke, Prinz! Und sie ist schön!« fuhr sie in aufrichtiger Bewunderung fort (während sie sonst nie etwas lobte) und umfing das herrliche Blumenhaupt, dessen tauige Blätter an den Rändern köstlich gerollt waren, mit ihren schmalen und schmucklosen Händen. »Gibt es so schöne Rosen hier? Woher haben Sie sie?« Und sie neigte durstig ihr schwarzbleiches Köpfchen darüber.

Ihre Augen waren voller Schrecken, als sie es wieder hob. –

»Sie duftet nicht!« sagte sie, und ein Ausdruck von Ekel erschien um ihren Mund. »Warten Sie … Doch, sie riecht nach Moder!« sagte sie. »Was bringen Sie mir, Prinz?« Und ihre übergroßen schwarzen Augen in dem perlblassen Gesichtchen schienen vor fragendem Entsetzen zu glühen.

»Ja,« sagte er, »verzeihen Sie, das ist unsere Art von Rosen. Sie ist von dem Stock in einem der Höfe des Alten Schlosses. Haben Sie niemals davon gehört? Es hat seine Bewandtnis damit. Das Volk sagt, daß sie eines Tages aufs lieblichste zu duften beginnen werden.«

Sie schien ihm nicht zuzuhören. »Es ist, als hätte sie keine Seele«, sagte sie und betrachtete die Rose. »Aber sie ist vollkommen schön, das muß man ihr lassen … Nun, das ist ein fragwürdiges Naturspiel, Prinz. Aber haben Sie jedenfalls Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Und wenn sie aus dem Schloß Ihrer Väter stammt, so muß man ihr Reverenz erweisen.«

Sie stellte die Rose in ein Wasserglas neben ihr Gedeck. Ein Schwanverbrämter brachte dem Prinzen Tasse und Teller. Und sie plauderten beim Tee über den verwunschenen Rosenstock und dann über gewohnte Gegenstände, über das Hoftheater, über ihre Pferde, über allerlei nichtige Streitfragen, in welchen Imma Spoelmann ihm widersprach, geschliffene Redensarten in Anführungsstrichen daherführte, indem sie sich über sie lustig machte, ihn mattsetzte in erlesener Schriftrede, die sie mit ihrer gebrochenen Stimme hervorsprudelte, während sie launisch ihr Köpfchen dabei drehte. Später wurde ein gewichtiger, in weißes Papier verpackter Ballen gebracht, eine Sendung des Buchbinders für Fräulein Spoelmann, enthaltend eine Anzahl von Werken, die sie in schöne und dauerhafte Gewänder hatte kleiden lassen. Sie öffnete das Paket, und alle drei sahen nach, ob der Handwerker gute Arbeit getan habe.

Es waren fast lauter gelehrte Bücher, entweder solche, die inwendig so zauberhaft aussahen wie Imma Spoelmanns Kollegheft, oder solche, die sich mit wissenschaftlicher Seelenkunde, scharfsinnigen Zergliederungen der inneren Vorgänge befaßten; und sie waren aufs kostbarste ausgestattet, mit Pergament und gepreßtem Leder, mit Golddruck, ausgesuchten Papieren und seidenen Bandzeichen. Imma Spoelmann zeigte sich leidlich zufrieden mit der Lieferung, aber Klaus Heinrich, der niemals so reiche Bände gesehen hatte, war des Lobes voll.

»Nun werden sie also aufgestellt?« fragte er … »Zu den anderen oben? Sie haben wohl viele Bücher? Und sind alle so schön wie diese? Lassen Sie mich zusehen, wie Sie sie einreihen! Ich kann nicht fahren, das Wetter steht immer noch da und droht meinen weißen Hosen. Ich weiß überhaupt nicht, wie Sie wohnen auf Delphinenort, ich war nie in Ihrem Studio. Wollen Sie mir Ihre Bücher zeigen?«

»Das hängt von der Gräfin ab«, sagte sie und war damit beschäftigt, die neuen Bände aufeinanderzustapeln. »Gräfin, der Prinz wünscht meine Bücher zu sehen. Darf ich Sie bitten, sich hierzu zu äußern?«

Gräfin Löwenjoul saß in Abwesenheit. Den kleinen Kopf zur Schulter geneigt, betrachtete sie Klaus Heinrich mit einem scharf gekniffenen, ja boshaften Blick und ließ dann ihre Augen zu Imma Spoelmann hinübergleiten, während ihre Miene sich veränderte und ein weicher, mitleidiger und besorgter Ausdruck davon Besitz ergriff. Lächelnd kam sie zu sich und nestelte eine kleine Uhr aus ihrem braunen, enganschließenden Kleide hervor.

»Um sieben Uhr«, sagte sie frisch, »erwartet Mister Spoelmann Sie, Imma, damit Sie ihm vorlesen. Sie haben eine halbe Stunde, um den Wunsch Seiner Königlichen Hoheit zu erfüllen.«

»Nun, so kommen Sie, Prinz, und besichtigen Sie mein Studio!« sagte Imma. »Auch mögen Sie sich immerhin an der Überführung der Bücher beteiligen, sofern Ihre Hoheit es zuläßt. Ich nehme die Hälfte …«

Aber Klaus Heinrich nahm alle Bücher. Er umfaßte sie mit beiden Armen, obgleich der linke ihm wenig nütze war, und der Stapel reichte ihm über das Kinn. So, rückwärts gebeugt und behutsam, um nichts zu verlieren, folgte er der führenden Imma hinüber in den nach der Auffahrtsallee gelegenen Flügel, in dessen Hauptgeschoß die Wohnungen Fräulein Spoelmanns und der Gräfin Löwenjoul lagen.

In dem großen und wohnlichen Zimmer, das sie durch eine schwere Tür betraten, ließ er seine Last auf die sechseckige Platte eines Ebenholztisches nieder, der vor einem massigen, mit golddurchwirktem Stoff überkleideten Sofa stand. Imma Spoelmanns Studio war nicht in dem geschichtlichen Stile des Schlosses, sondern in neuerem Geschmack und übrigens ohne alle Zierlichkeit, vielmehr mit großzügigem, herrenhaftem und zweckmäßigem Luxus hergerichtet. Mit edlem Holze getäfelt bis hoch hinauf und geschmückt mit alten Tonwaren, die rings unter der Decke auf den Gesimsen schimmerten, war es ausgestattet mit morgenländischen Teppichen, einem Kamin mit schwarzmarmornem Mantel, auf dessen Platte schöngeformte Vasen und eine goldene Stutzuhr standen, breiten, bordierten Sammetstühlen und Vorhängen aus dem gewirkten Stoff des Sofabezuges. Der geräumige Schreibtisch stand vor dem Bogenfenster, welches die Aussicht auf das große Brunnenbassin vorm Schlosse bot. Eine Wand war mit Büchern bedeckt, aber die Hauptbibliothek befand sich in dem anstoßenden, kleineren und ebenfalls mit Teppichen belegten Raum, in den eine offene Schiebetür Einblick gewährte, und dessen Wände durchaus und bis zur Decke hinauf mit Bücherborden umstellt waren.

»Nun, Prinz, dies ist meine Eremitage«, sagte Imma Spoelmann. »Sie gefällt Ihnen, wie ich hoffe?«

»Doch, sie ist herrlich«, sagte er. Übrigens sah er sich gar nicht um, sondern blickte unverwandt auf sie, die bei dem sechseckigen Tisch an dem Seitenpolster des Sofas lehnte. Sie trug eines ihrer schönen Hauskleider, ein sommerliches heute, aus einem blütenweißen, gefalteten Stoff, mit offenen Ärmeln und einer gelben Stickerei auf der Brust. Die Haut ihrer Arme und ihres Halses erschien bräunlich wie angerauchter Meerschaum gegen die Weiße des Kleides, ihre übergroßen und glänzend ernsten Augen in dem seltsamen Kindergesichtchen redeten eine fließende und unaufhaltsame Sprache, und eine glatte Strähne ihres blauschwarzen Haares fiel seitwärts in ihre Stirn. Sie hatte Klaus Heinrichs Rose in der Hand.

»Doch, sie ist herrlich«, sagte er, der vor ihr stand, und wußte nicht, was er meinte. Seine blauen Augen, von den volkstümlichen Wangenknochen bedrängt, waren trüb wie von Schmerz. »Sie haben so viele Bücher,« fügte er hinzu, »wie meine Schwester Ditlinde Blumen hat.«

»Hat die Fürstin so viele Blumen?«

»Ja, aber neuerdings sind sie ihr weniger wert.«

»Nun wollen wir einräumen«, sagte sie und griff nach den Büchern.

»Nein, warten Sie«, sagte er mit schwerer Brust. »Ich habe Ihnen so viel zu sagen, und unsere Zeit ist so kurz. Sie müssen wissen, daß heute mein Geburtstag ist – darum kam ich und brachte Ihnen die Rose.«

»Oh,« sagte sie, »das ist bemerkenswert! Es ist Ihr Geburtstag heute? Nun, ich bin sicher, daß Sie alle Glückwünsche mit dem Ihnen eigenen Anstand entgegengenommen haben. Nehmen Sie auch den meinen! Es war hübsch, daß Sie mir heute die Rose brachten, obgleich sie ihr Bedenkliches hat …« Und sie versuchte noch einmal mit furchtsamem Ausdruck den Moderduft. »Wie alt werden Sie heute, Prinz?«

»Siebenundzwanzig«, antwortete er. »Vor siebenundzwanzig Jahren wurde ich auf der Grimmburg geboren. Ich habe es immer recht streng und einsam seitdem gehabt.«

Sie schwieg. Und plötzlich sah er, wie ihr Blick, unter leicht verfinsterten Brauen, an seiner Seite suchte – ja, obwohl er, seiner Übung nach, ein wenig schräg vor ihr stand und ihr die rechte Schulter zuwandte, konnte er nicht verhindern, daß ihre Augen sich mit stillem Forschen auf seinen linken Arm, auf die Hand hefteten, die er weit rückwärts in die Hüfte gestemmt hatte.

»Haben Sie das da seit Ihrer Geburt?« fragte sie leise.

Er erbleichte. Aber mit einem Laut, der wie ein Laut der Erlösung klang, sank er vor ihr nieder, indem er die seltsame Gestalt mit beiden Armen umschlang. Da lag er in seinen weißen Hosen und seinem blau und roten Rock mit den Majorsraupen auf den schmalen Schultern.

»Kleine Schwester …«, sagte er. »Kleine Schwester …«

Sie antwortete mit vorgeschobenen Lippen: »Haltung, Prinz. Ich bin der Meinung, daß es nicht erlaubt ist, sich gehen zu lassen, sondern daß man unter allen Umständen Haltung bewahren muß.«

Aber hingegeben und mit blinden Augen, das Gesicht zu ihr emporgewandt, sagte er nichts als: »Imma … kleine Imma …«

Da nahm sie seine Hand, die linke, verkümmerte, das Gebrechen, die Hemmung bei seinem hohen Beruf, die er von Jugend auf mit Kunst und Wachsinn zu verbergen gewöhnt war – nahm sie und küßte sie.

Share on Twitter Share on Facebook