Kindheit

Leonhard Frank

Endlich beschloß der Gymnasiast Jürgen Kolbenreiher: ‚Wenn noch ein Auto kommt, bevor die Turmuhr fünf schlägt, gehe ich hinein und kaufe mir die Broschüre . . . Ehrenwort?‘

„Ehrenwort!“ sagte er heftig zu sich selbst und las zum fünfzigsten Male den Titel der philosophischen Abhandlung. Das Geldstück in seiner Hand war naß. Der Blick zuckte fortwährend von der Broschüre zum Zifferblatt. Der Zeiger stand knapp vor fünf.

Da sauste das Auto um die Ecke, am Buchladen vorbei, und war weg. Die Uhr hatte noch nicht geschlagen. Jürgen wollte eintreten.

Und nahm seinen Schritt zögernd wieder zurück. ‚Was wird mein Vater sagen, wenn ich sie kaufe? . . . Und was würde er sagen, wenn er wüßte, daß ich sie kaufen will und dazu den Mut nicht habe? . . . Oder würde er wieder verächtlich lächeln, wenn ich jetzt kurz entschlossen in den Laden ginge?‘

Die Finger vor dem Leibe ineinander verkrampft, kämpfte er weiter, las den Titel, sah, wie der große Zeiger einen letzten Sprung machte. Und fühlte, während er sich „Feiger Schuft! feiger Schuft!“ schimpfte, daß sein Wille hinter der Stirn zu Nebel wurde. Das Phantom des Vaters stand neben ihm.

Das Werk rasselte und schlug. Der Nebel verschwand. Und Jürgen dachte: ‚Es ist übrigens ganz gleich; ich kanns auch jetzt noch tun. Aber sofort! . . . Hat der Buchhändler eben gelächelt? Über mich?‘

Der stand im Türrahmen und blickte gelangweilt über die gepflegte, sonnendurchwirkte Anlage weg, in der die kreisenden Rasenspritzen Regenbogen schlugen.

‚Solange er unter der Tür steht, kann ich ja nicht hinein.‘

Der Buchhändler gähnte, trat gähnend in seinen Laden zurück.

‚Jetzt! . . . Wenn ich den Mut jetzt nicht aufbringe, wird das Leben auch in Zukunft mit mir machen, was es will. Das ist klar.‘

Bei der Kirche erschien Karl Lenz, ein Mitschüler Jürgens.

‚Jetzt kann ich doch wieder nicht hinein‘, dachte Jürgen, ging mit Karl Lenz durch die Anlagen, sah abwesend eine Bonne an.

Die gestärkten Röcke strotzten, und der elegante Kinderwagen federte von selbst auf dem gewalzten Sandwege am Tulpenrondell vorüber.

Knapp hinter dem Kinderwagen, das frischbackige Gesicht stolz erhoben, ritt in verhaltenem Trab ein kleines Mädchen im Knieröckchen auf ihrem Steckenpferd, so daß die langen, schön gewölbten, nackten Schenkel sichtbar waren. Die Gruppe machte sofort halt, als der im Wagen strampelnde Säugling die Hand nach dem zu hoch hängenden Hampelmann ausstreckte.

Das Mädchen ritt, die Locken schüttelnd, in gezähmter Pferdeungeduld feurig an der Stelle weiter. Und sah, Brust vorgestreckt, über den abgerissenen, abgezehrten, blutleeren Proletarierjungen weg, der sich aus der Fabrikgegend in die Sonne verirrt hatte und, das Drama der Armut im Blick, offenen Mundes den Reichtum bestaunte.

Beim Erblicken des Jungen wurde Jürgen breitströmend durchzogen von einer ihm ganz neuartigen Empfindung, die alle andern Gefühle in ihm auffraß. ‚Wie darf das sein, daß solche Kinder in Schmutz und Not hineingeboren werden, während andere — wie jene ohne Verdienst und Schuld — im sonnigen Kinderzimmer eintreffen, wo alle Pflege, Hausarzt und Amme schon warten?‘

Mit einem Blick nagelte die Bonne den zögernd folgenden Jungen fest, der stehen blieb und zusah, wie das Mädchen geradeswegs ins Leben hineinritt.

Jürgen konnte die Augen nicht abwenden von dem Jungen, der seine Augen von dem glänzenden Mädchen erst losriß, als er sich beobachtet fühlte. Dunkel fragend sah er empor zu Jürgen, den mit Wucht die Empfindung traf, soeben Zeuge eines ungeheueren Menschheitsverbrechens geworden zu sein.

‚Sollte nicht schon das allein jeden Menschen veranlassen, Rebell zu werden?‘ . . . „Wir geben ihm unser Taschengeld, Karl.“

„So einem Ferkel? . . . Von meinem Taschengeld habe ich überhaupt nichts mehr.“

Der Junge blickte seine kotverklebten, skrofulösen Beine an, beschämt empor zu Jürgen, der fühlte, wie in seinem Gehirn wieder die Entschlußfähigkeit unvermittelt erlosch, da der Schulkamerad ihn grinsend beobachtete. ‚Ein Ferkel, du hast recht‘, wollte er schon sagen.

Und legte, plötzlich durchstoßen von einem Kraftstrom und im Tiefsten berührt von der Ahnung, daß wilde Rechtlosigkeit das Leben der Armen bestimmte, sein Taschengeld in die Hand des Proletarierjungen.

Der gewaltige Vorgang in seinem Innern: seine erste bewußte Handlung der Liebe löste ein schmerzhaft schweres Glück aus. Ein mit Jubel geladener Schrei wollte aus seiner Brust heraus. So stürzte er davon, während Karl Lenz in den Konditorladen eintrat.

 

Es war drückend still im Hause. Unbeweglich saß Jürgen in seinem Zimmer vor dem blauen Schulheft und grübelte darüber nach, ob es einen Gott gäbe.

Plötzlich hingen in der Dämmerung die hellen Gesichter der Schulkameraden, grinsten höhnisch. Und die Tante sagt: ‚Nein, so einen unselbständigen Jungen, wie du einer bist, gibts nicht mehr. Ein Unglück für deinen Vater.‘

Preisgegeben ließ er sich von den Geistern der Verachtung weiterquälen, stellte ihnen entgegen: ‚Ich habe doch gestern zum Professor gesagt: Abraham, der seinen Sohn schlachten wollte, kann unmöglich ein guter Mensch gewesen sein. Ein furchtbarer Vater. Meiner Ansicht nach dürfte Gott so einen Befehl auch gar nicht geben.‘

Fragt die Tante sehr erstaunt: ‚Was, das hast du gewagt?‘

Und Jürgen läßt sich sofort vom Professor, der geantwortet hatte: ‚Wie kommen Sie zu dieser unerlaubten, sträflichen Ansicht!‘ bei der Tante in Schutz nehmen: ‚Ihr Neffe hat gar nicht so unrecht. Er hat öfters solche erstaunlich eigenwilligen Ansichten.‘

Sagt die Tante erfreut zum Vater: ‚Da ist er ja gar keine Schande für die Familie.‘

Und der Vater sagt: ‚Entschuldige, daß ich dich ein „schmähliches Etwas“ genannt habe . . . Wie konnte ich dich nur so verächtlich und gleichgültig behandeln. Unbegreiflich.‘ Jürgen lächelte bescheiden.

Die Tür des nebenan liegenden Bibliothekzimmers wurde nach dem Gange zu geöffnet. Und Jürgen hörte, wie der Vater, der krank im Lehnsessel saß, zu Herrn Philippi, einem alten Freund des Hauses, sagte: „Ich werde ihn in ein Bureau stecken. Er taugt zu nichts anderem. Tölpelhaft und feig ist er.“

Jürgen drehte, als stünde er vor dem Vater, Kopf und Schultern gedemütigt seitwärts und hob die Brauen, daß die Stirn Falten bekam.

„Niemand kennt die Möglichkeiten, die in einem so jungen Menschen liegen. Niemand kennt das Maß einer unfertigen Seele“, sagte Herr Philippi. Die Brillengläser in seinem vertrockneten Geiergesicht funkelten.

Auf dem Gange fing ihn die Tante ab. „Wie gehts ihm? Wie gehts meinem Bruder?“

„Schwermütig, meine Liebe.“ Herr Philippi wollte fortstelzen.

Sie erwischte ihn noch am Ärmel. „Daß dieser bedeutende Mann so einen Sohn haben muß. Wir schämen uns seiner . . . Heute sagte der Vater zu ihm: Du kommst in ein Bureau. Das ist das Beste für dich . . . Und das ist auch meine Meinung.“

Zornig blickte Herr Philippi in die harten Augen des alten Mädchens. „Dann erziehen wohl Sie ihn, falls Ihr Bruder sterben sollte? . . . Kann ich mit Jürgen sprechen?“

„Ja, ich erziehe ihn. Sprechen? Nein, jetzt nicht. Er schreibt gerade seinen deutschen Aufsatz: ‚Die Bedeutung der Tinte im Dienste des Kaufmanns‘ . . . Sprechen können Sie ihn jetzt nicht. Der Stundenplan muß streng eingehalten werden.“

„Da ist er also jetzt schon im Bureau?“ Herr Philippi deutete zur Wand: „Da fehlen nur noch die Regale.“

„Hören Sie!“ Die Tante stellte sich zu einer langen Erzählung zurecht. „Jürgen war schon als ganz kleiner Junge so ängstlich, daß er nicht einmal zu sprechen wagte. Wir alle glaubten, er sei stumm geboren. Eines Tages — er war vier Jahre alt, es war auf dem Geflügelmarkt — sagte er plötzlich: ‚Hühnchen‘. Das war sein erstes Wort. Nicht etwa ‚Papa‘, wie bei andern Kindern. Bewahre! ‚Hühnchen‘, sagte er und lockte: ‚Bi bi bi bi bi‘, so mit Zeigefinger und Daumen. Sollte mans für möglich halten? Diese Unselbständigkeit!“ Sie sah erwartungsvoll zu ihm auf, weil er sie am gehäkelten Spitzenkragen gepackt hielt und noch immer nicht sprach. Da schüttelte er sie kräftig und sagte: „Bi bi bi bi bi! Adieu!“

Abweisend blickte sie ihm nach, horchte dann einige Minuten lang streng an Jürgens Tür.

Der saß glühend am Tisch und schrieb, da er anderes Papier nicht gleich gefunden hatte, eine lange Abhandlung mit vielen Beweisen, daß es einen Gott nicht geben könne, ins Schulheft. „Folglich bin ich Atheist.“ Dann erst quälte er sich den deutschen Aufsatz ab.

Und übergab das Heft am Montag dem Professor, der die Beweise für das Nichtexistieren Gottes fand und sie dem Religionslehrer schickte.

Das Ereignis wurde zu einer Professorenkonferenz und hatte nur deshalb keine schlimmen Folgen für Jürgen, weil die Tante plötzlich an der Stirnseite des Konferenztisches stand und die Lehrerrunde sprengte: „Herr Kolbenreiher hat sich soeben aus unbekannten Gründen erschossen . . . Mein Bruder war ein bedeutender Mann.“

Ihre Hand wanderte: wurde mitleidig geschüttelt. Der Schrecken der Professoren war ehrlich.

„Aber mit seinem Sohne müssen die Herren halt viel Geduld haben . . . Mit viel Geduld und Strenge gehts vielleicht.“

Daran solle es nicht fehlen. Vom Rektor wurde sie hinausbegleitet. „Jürgens schwankende Seele . . . Seine Unsicherheit“, vernahmen die Zurückbleibenden.

„Folglich bin ich Atheist.“ Der Religionslehrer riß die Augen auf. „Bin ich Atheist, schreibt der Junge. Und gestern diese Geschichte mit Abraham!“

Der Mathematikprofessor beruhigte ihn: „Das Leben wird dem Burschen diese Gedanken schon abschleifen . . . Gut und schnell auffassen tut er ja.“ Man rügte noch seine außerordentliche Faulheit und erklärte die Konferenz für geschlossen.

Der Rektor schüttelte schweigend die Hand der Tante. Furchtsam und unbeachtet stand Jürgen daneben. Und ging dann, vor Schuldgefühl vornüberhängend, mit der aufrechten Tante nach Hause, wo Weihrauchwolken standen.

Am Arm zog sie den willenlos Folgenden ins Sterbezimmer, in dem der Vater, bekränzt und kerzenumstanden, schon auf der Bahre lag, schlug das Kreuz und benutzte den Endschwung gleich dazu, auf des Toten Gesicht zu deuten: „An dir hat er keine Freude gehabt. Das kannst du jetzt in deinem ganzen Leben nicht mehr gutmachen . . . Bete! Drei Vaterunser! Und dann komm und iß.“

Das Gewicht des Hauses legte sich auf den gekrümmten Rücken. Die still brennenden Kerzen beleuchteten des Vaters Gesicht, das in Unzufriedenheit erstarrt war, als habe ihn auch der Tod ungeheuer betrogen.

Lange kämpfte Jürgen mit sich; endlich versuchte er, das wächserne Gesicht im Blick, die gefalteten, toten Hände zu berühren. Und wich zurück, als er das bekannte Lächeln der Verachtung zu sehen glaubte.

Ganz langsam kniete er nieder, um die befohlenen drei Vaterunser zu beten. Kein Wort fiel ihm ein. Seine flehende Hand wollte die äußerste Spitze des Leintuches berühren. Und sank kraftlos zurück.

Der Tote lag unberührbar, in ungeheuerer Macht.

Da drehte sich ein Stachelrad brennend schmerzhaft in Jürgens Kopf und schleuderte die Worte ab: „Na, du schmähliches Etwas!“

„Na, du schmähliches Etwas!“ wiederholte Jürgen verächtlich und wandte, irr blickend, Kopf und Schultern gedemütigt weg, weil er glaubte, nicht er, sondern der Tote habe gesagt: ‚Na, du schmähliches Etwas!‘

Die Macht des Toten vor sich, die Macht der Tante hinter sich, kniete er ausgeliefert und verloren, schief und tränenlos im Zimmer.

„Jetzt bist du eine Doppelwaise“, sagte die Tante am Abend zu ihm und ergriff seine Hand.

Tagsüber versuchte Jürgen gar nicht mehr, Ordnung in seine Gefühle zu bringen. In die Träume schickte die vergewaltigte Seele drohende Ungeheuer. Der Vater stand immer daneben.

Und wenn ihn der qualenerfüllte Schlaf entließ, empfing ihn die Tante, schüttelte verächtlich den Kopf und gab ihm Briefe mit an die Professoren, in denen sie für den seinem bedeutenden Vater leider nicht nachgeschlagenen Sohn um Nachsicht bat.

In diesem, von Familie und Schule gebildeten lückenlosen Kreis der Notzucht taumelte Jürgen so weltverloren herum, daß Herr Philippi sich veranlaßt sah, behutsam und energisch zu lügen.

In der schon gewohnheitsmäßigen Erwartung, wieder gedemütigt zu werden, drehte Jürgen Kopf und Schultern weg.

„. . . Da fällt mir ein: Sie glauben vermutlich immer noch, Ihr Vater habe nicht viel von Ihnen gehalten? Selbst wenn es so wäre, dürften Sie ihm das weiter nicht nachtragen. Er war ein alter, kranker Mann, der den Glauben an das Schöne und Gute eingebüßt hatte. So einer ist leicht blind und ungerecht.“

Als habe der Vater gesprochen, war der Knabenkopf immer tiefer gesunken.

‚Der Vater ist tot . . . Seine Autorität lebt‘, dachte Herr Philippi. Und log: „Ich habe Ihnen etwas von Ihrem Vater auszurichten. Kurz vor seinem Tode war ich bei ihm. Er saß im Sessel, Sie wissen ja, saß wie immer im Sessel und blickte zum Fenster hinaus auf einen vorüberfliegenden Vogelschwarm . . . Es waren Staren“, dichtete Herr Philippi. „Plötzlich sagte Ihr Vater nachdenklich: ‚Meinem Jürgen habe ich zeitlebens furchtbar unrecht getan. Warum eigentlich? Das ist mir ein Rätsel.‘ . . . Er wußte es nämlich tatsächlich selbst nicht . . . ‚Denn ich bin mir ja in Wirklichkeit ganz klar darüber, daß Jürgen ein‘ — wie sagte er doch — ‚ein ausgezeichneter und sogar sehr kluger Junge ist . . . Das muß man ihm bei Gelegenheit einmal sagen.‘“

Es gelang Herrn Philippi, wie ein Knabe zu lächeln, als er auch die Autorität der Tante zu erschlagen versuchte: „Und dieses alte Mädchen, Ihre Tante! Aus der brauchen Sie sich natürlich gar nichts zu machen. So eine vertrocknete Schachtel ist ja ganz ahnungslos! Das ist übrigens die volle Wahrheit . . . Besuchen Sie mich einmal.“

‚Diese geachteten Bürger sagen sich: Wir lassen unsere Kinder nicht hungern, nicht arbeiten; wir asphaltieren ihnen mit teueren Kleidern, mit reichlichem Essen und höherem Unterricht eine breite, glatte Straße ins Leben . . . Die psychischen Ungeheuer, die sie in die Seelen stoßen, zählen nicht. Da fallen die allerhand Autoritäten über so einen Jungen her, nehmen ihm, auch wenn er beim Spiel mit Sand mehr Phantasie und Geist offenbart als sie in ihrem ganzen Leben, seine Selbständigkeit und wundern sich dann über seine Unselbständigkeit‘, dachte der Alte auf der Straße,

während Jürgen vor der Tante stand. Sie blickte beim Sprechen ins Vorgärtchen hinaus, steil aufgerichtet. „Ich habe alles gehört. Du hast keine Zeit, diesen Herrn Philippi zu besuchen. Deine Schularbeiten sind wichtiger. In meinen Händen liegt deine Erziehung.“

Ein Automat sagte: „So eine vertrocknete Schachtel! Du bist ja vollkommen ahnungslos . . . Das ist übrigens die volle Wahrheit.“

Und die Tante schnellte entsetzt herum. Auch Jürgens Mund blieb in übergroßem Schrecken geöffnet. „Was hast du gesagt? Wiederhole, was du eben gesagt hast.“

„Das habe doch ich nicht gesagt.“ Sein Tonfall der Überzeugung riß der Tante die Empörung ins Gesicht. „Du leugnest, was ich mit meinen Ohren gehört habe?“

Jürgen, überzeugt diese Worte nicht gesprochen zu haben, bekam irrblickende Augen.

„Das werde ich morgen dem Herrn Rektor schriftlich mitteilen. Du übergibst ihm den Brief. Und jetzt . . . Pfui!“

Erst nachdem die Tante schon draußen war, fühlte Jürgen ein paar Tropfen auf seinem Gesichte kalt werden, und wußte, daß sie ihn angespuckt hatte.

Hitze und Kälte wechselten einige Male schnell in seinem Körper. Er trat ans Fenster, sah ins Gärtchen hinaus. Die farbigen Glaskugeln steckten still und öde auf den grünen Stangen. Aus dem Nachbarsgarten klangen Sonntagnachmittagsgeräusche herüber. Abgerissene Worte. Jemand spielte Ziehharmonika.

Ein wilder Schrei saß Jürgen im Halse. Er hob die linke Schulter, die rechte, rhythmisch die Beine. Die Bewegungen wurden zu einem gedrückten Tanz.

Am andern Morgen schlich er, eine Stunde früher als gewöhnlich, ohne Brief, geduckt aus dem Hause, begann plötzlich zu laufen, rannte, galoppierte weit aus der Stadt hinaus, quer über Schollenäcker, Hügel an und ab, bis vor das schwarze Tunnelloch im Berg und glotzte blöd hinein, kehrte um und kam, verschwitzt und keuchend, noch rechtzeitig im Schulzimmer an, wo der Professor eben mit dem steilgestellten Bleistift auf den Katheder klopfte.

Die Blicke der sechzig Augenpaare trafen beim Bleistift zusammen, der in dieser Stellung immer etwas Außergewöhnliches bedeutete. Der Professor zog die Stille hinaus. Jeder lauerte: ‚Wen trifft es?‘

„Leo Seidel! . . . Sie wissen, daß Ihr Vater Sie leider aus dem Gymnasium herausnehmen muß. Umstände halber . . . Euer bisheriger Schulkamerad verläßt euch heute. Er muß verdienen . . . Leo Seidel, Armut ist keine Schande.“

Der Sohn des Briefträgers starrte beschämt ins Tintenfaß.

„Auch ein Hausdiener kann sich heraufarbeiten . . . In Amerika, zum Beispiel, soll das öfters vorkommen“, sagte der Professor und lächelte. „Diesen Vormittag bleiben Sie noch in unserer Mitte“, zeigte er mit einer Handbewegung über die ganze Klasse weg. Und deutete mit dem Daumen zur Tür: „Dann treten Sie in Ihren neuen Pflichtenkreis ein.“

Kreisende Rasenspritzen. Sonne. Hinter dem eleganten Kinderwagen reitet das Mädchen auf dem Steckenpferd in gezähmter Ungeduld durch das Klassenzimmer. Offenen Mundes starrte er den abgezehrten Proletarierjungen an.

„Wollen Sie etwas sagen, Kolbenreiher? . . . Nun? Heraus damit!“

Die übergroße Erregung fraß Jürgens ganze Kraft auf. Seine gelähmten Lippen stammelten: „Ich wollte sagen, daß . . . ich nichts sagen wollte.“

„Karl Lenz! . . . Sie haben vorhin Fingerhakeln geübt; erklären Sie uns jetzt den Flaschenzug.“ Auf dem Katheder stand ein kleines Modell. „Nichts? . . . Setzen Sie sich. Und lassen Sie sichs von Leo Seidel erklären.“

Während hinten das Duell der Fingerhakelnden ausgetragen wurde und der Professor mit den kleinen Bleigewichten des Modells spielte, erklärte die einsame Stimme Leo Seidels das Gesetz des Flaschenzuges.

Und Jürgen, mit Wucht getroffen von dem Gefühle, daß die Menschheit hier einen Menschen geschändet hatte, litt unerträglich unter der Feigheit, seine Meinung nicht geäußert zu haben, brüllte in Gedanken: ‚Nur weil Seidels Vater arm ist? Das ist gemein. Gemein! . . . Alles ist gemein.‘ Glotzte besinnungslos den Professor an,

bis der ihm zurief: „Kolbenreiher, wo werden Flaschenzüge gebraucht?“

„. . . Flaschenzüge?“

„Aber gewiß, Flaschenzüge! Nun? . . . Leo Seidel, sagen Sie es ihm.“

„Zum Beispiel am Neubau. Da kann ein einzelner Arbeiter mit einem Flaschenzug . . .“

„Mit Hilfe!“

„. . . mit Hilfe eines Flaschenzuges Lasten in die Höhe winden, die zehnmal schwerer als der Arbeiter sind. Infolge der Übersetzung!“

„Infolge der Übersetzung“, sollte Jürgen wiederholen, hatte aber „Überrumpelung“ gesagt.

Die ganze Klasse durfte lachen. Lachte noch auf dem Nachhausewege, wo alle sich von Leo Seidel, der vielleicht schon morgen einen Handwagen durch die Stadt schieben mußte, abgesondert hielten.

Auch Jürgen, gelähmt, wagte nicht, ihn zu begleiten. Nur in Gedanken trat er mit kühner Ritterlichkeit zu ihm. ‚Ich fürchte die Meinung der andern nicht.‘ Ließ sich von Seidel verehren.

Beim Mittagessen beachtete ihn die gefährlich schweigende Tante nicht. Schickte das Dienstmädchen, mit dem Befehl, Jürgen habe den Brief am nächsten Morgen dem Herrn Professor zu übergeben.

Erst nachmittags konnte Jürgen so viel Entschlußkraft finden, Seidel zu besuchen. In der Kellerstube stand der Armeleutegeruch, der das Vorhaben des schwindsüchtigen Briefträgers, den Sohn studieren zu lassen, als schwer ausführbar erscheinen ließ. Seidel saß still am Fenster und sah hinaus in seiner Kindheit stinkenden Hof, in dem nie etwas schön gewesen war, außer einem Büschel Löwenzahn, der jedes Jahr kümmerlich und zäh in der gepflasterten Ecke blühte. Qual und Scham drehten Seidels Kopf und Schultern zur Seite, so daß er plötzlich Jürgen glich,

der sich im selben Moment zum erstenmal in seinem Leben frei fühlte. Er reichte Seidel eine in Leder gebundene Weltgeschichte, konnte scherzen: „In der biblischen Geschichte steht zwar: Gehe hin, verkaufe alles, was du hast, und . . . Aber deshalb gebe ich dir das Buch nicht. Denn ich glaube ja gar nicht an Gott.“

Die fahle Mutter lag im Bett. Der Säugling, wegen dessen unerwünschter Ankunft der Vater den Sohn aus dem Gymnasium hatte nehmen müssen, begann zu schreien. Die Bettlade knackte. Vier Kinder, in verschiedenen Größen, bleich und blutleer, standen reglos da, mit großen Augen.

„Hast eine schöne Weltgeschichte. Zum Andenken an mich. Hast eine Freude . . . mit hundertsiebenunddreißig Illustrationen.“

Ohne den Blick zu erheben, sagte Seidel, daß er voraussichtlich bald der Klassenfünfte geworden wäre.

Und Jürgen rief: „Also nur deshalb, weil dein Vater kein Geld hat, mußt du Hausdiener werden, anstatt vielleicht . . . Minister. Das ist ja! Alles was recht ist.“

„Mein Gott, was redet ihr Buben.“ Die Wöchnerin spuckte in den Napf. „Was ihr redet.“

Jürgen hatte das fließende Gefühl, endlich lieben zu dürfen. Allmählich redete er sich in Zorn hinein. „Absolut! Das ist maßlos ungerecht. Gemein ist das. Einfach hundsgemein! Wahrhaftig, das sage ich jedem, ders hören will.“ Auch Seidel hatte rotgefleckte Wangen bekommen.

Die Mutter beruhigte den Säugling. Und zu den Knaben: „Mein Gott, das sind ja lauter Dummheiten.“

Auf der Straße: ‚Herr Philippi könnte Seidel den weiteren Besuch des Gymnasiums leicht ermöglichen. Er ist reich.‘

„Nehmen wir an,“ sagte Herr Philippi, „es sei schon von vornherein eine Dummheit gewesen von dem schwindsüchtigen Briefträger mit der großen Familie, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken.“

„Wenn Leo Seidel doch gescheit ist! . . . Postdirektor werden kann. Wer kanns wissen?“

„Ganz recht, wer kanns wissen. Man muß sich schon überlegen, ob man Hoffnungen wecken soll, denen von vornherein die Armut schwer im Wege liegt . . . Da eröffnen sich verschiedenerlei wüste Perspektiven.“

„Ich würde Seidel aber doch helfen, wenn ich Sie wäre“ sagte Jürgen ganz langsam.

Und alt lächelnd Herr Philippi: „Und ich, ich habe nicht den Mut dazu.“

‚Hilf doch, sonst bin ich verloren‘, schrie eine Stimme verzweifelt in Jürgen. „Sie würden auch mir . . . Es wäre auch für mich gut.“

‚Weiß schon, um was es sich handelt‘, dachte der Alte und schickte Jürgen barsch fort, rief ihn noch einmal zurück. Zwischen Abweisung und Güte schwankend: „Du gehst jetzt nach Hause, verstehst du, nach Hause . . . und hältsts aus. Hältst alles aus! Verschwinde!“

Die Tante ging selbst zum Briefträger, holte die Weltgeschichte zurück. Und einen Tag später stand die ganze Begebenheit auf den Gesichtern der Mitschüler. Die Lücke, die Seidel hinterlassen hatte, war durch Vorrücken ausgefüllt worden.

„Jetzt trägt er Backsteine an einem Neubau.“ Karl Lenz machte das Backsteintragen vor, krümmte den Rücken, ächzte.

„Und so las er Roßbollen auf.“ Ein anderer tat, als habe er einen Besen in der Hand, und log: „Ich sah, wie Seidel die Straße kehrte . . . Die frischen Roßbollen kehrte er zusammen.“

Vorsichtig und ängstlich näherte Jürgen sich dem Gelächter, stimmte ein, ohne zu wissen, weshalb die andern lachten.

„Braucht Seidel zum Sammeln der Roßbollen eine Weltgeschichte?“ Alle sahen Jürgen erwartungsvoll an, hielten das Lachen noch zurück.

Da erlachte Jürgen sich die Hochachtung seiner Mitschüler: „Zum Roßbollen . . . sammeln braucht man, weiß Gott, keine Weltgeschichte.“

Sie waren zufrieden, nahmen ihn auf. Jürgen sagte noch: „Zu Hause bei ihm . . .“ Er hielt sich die Nase zu. „Und jetzt dazu noch Roßbollen.“ Alle hielten sich die Nase zu.

Plötzlich wich aller Druck von ihm, bei dem Gefühl, nicht mehr allein zu stehen. Und Jürgen nahm sich vor, von nun an immer und in allem so zu sein wie die andern. Das würde das Leben leicht machen.

Am andern Morgen saß Leo Seidel wieder an seinem Platz, in einem neuen Anzug, das Gesicht verschlossen.

„Warum, warum habe ich das getan?“ Unablässig fragte sich Jürgen, weshalb er seine guten Gefühle selbst hingerichtet hatte. Er saß wie ein Verunglückter in einer furchtbaren Blutlache, aus der sich zu erheben ihm unmöglich zu sein schien. Gleich eingesperrten Tieren versuchten seine guten Gefühle auszubrechen und sanken geschlagen in die endlose Tiefe seiner Seele zurück. So bewegte sich sein Körper selbsttätig nach Hause, ins Wohnzimmer.

„Erst lies mir aus der Zeitung vor. Dann gehst du an deine Schularbeiten.“ Die Tante stickte weiter am Stramintischläufer: ‚An Gottes Segen ist alles gelegen‘. Mit dem Schnabel hielt diese, von Rosengirlanden durchzogene Wortkette ein Papagei, der noch unfertig in der Mitte saß.

Der Satz — im Reichstag sei wieder ein Antrag zur Einführung einer hohen Vermögenssteuer gestellt worden — kam automatisch aus Jürgens Mund. ‚Ich allein habe zu Seidel gehalten, habe mit Herrn Philippi gesprochen. Jetzt darf er das Gymnasium weiter besuchen. Ich! Ich habe das veranlaßt. Hilfe! Ich!‘

‚Jawohl, Jürgen ist der Beste von euch allen. Hat zu mir gehalten. Der hat Mut. Hat mich gerettet. Ihr habt mich verraten.‘

‚Und ich? . . . Ich auch!‘ Jürgen sah die Tante irr an. „Wie schrecklich.“

„Was denn? Das ist doch einstweilen nur ein Antrag. Lies weiter. Zuerst die Todesanzeigen!“

„Man muß gut sein . . . So lange gut sein, bis man etwas Schlechtes gar nicht mehr zu tun vermag.“

„Merke dir das“, sagte die Tante und zog dem Papagei einen grünen Faden durch das Auge.

‚Weshalb hat Herr Philippi mir nicht gesagt, daß er Seidel helfen werde? Dann wäre ich vielleicht nicht so furchtbar gemein gewesen . . . Jetzt ist alles verloren.‘

Jürgen bemerkte nicht, daß die Tante vom Dienstmädchen gerufen wurde; er überschrie noch eine Weile seine qualvolle Ohnmacht mit den Worten: „Gott dem Allmächtigen hat es gefallen . . .“, blickte die Nadel an, die im Papageienauge steckte, den Faden, der lang und grün herunterhing, umklammerte in Gedanken mit beiden Händen ein Messer und drückte es langsam in seine Brust.

Entwurzelt taumelte er beim Unterricht mit, mußte schon nach einigen Wochen Leo Seidel weichen, der sich bald zum Primus in die Höhe arbeitete und, da er vorsichtig und schwer angreifbar strebte, von der ganzen Klasse gefürchtet wurde.

Nur das eine Ziel im Kopfe, sein Studium zu beenden, ertrug Seidel stoisch die Demütigungen der Armut und verachtete kein Mittel, wenn es ihm dazu verhalf, Klassenerster zu bleiben. Wer sein eigentlicher Retter war, erfuhr er nie. Auch dann nicht, als er sich vorübergehend mit der ganzen Klasse gegen Jürgen verband und von der Weltgeschichte sprach, die er bei sich zu Hause absolut nicht finden könne.

 

Als das Nervenfieber lebensgefährlich zu werden drohte, mußte der Hausarzt die Behandlung dem Spezialisten überlassen, dem es auch nicht gelang, mit Eisbeuteln Jürgens vergewaltigte Seele zu heilen: das Gespenst des Vaters zu vertreiben, die Macht der Professoren und der Tante zu brechen.

Erst nach Wochen war des Kranken Gefühlskathedrale wieder so weit in Ordnung, daß er eines Morgens beim Erwachen sich allen Eindrücken, bösen und guten, weich darbieten konnte.

Die Tante schob die auf dem Nachtkästchen stehenden Medizinflaschen zur Seite, schlug ihr Haushaltungsbuch auf, in das sie des toten Vaters „Letztwillige Verfügungen über Jürgen“ geschrieben hatte, und begann das viele Seiten lange Erziehungsprogramm abzulesen.

Die Worte tropften glühend in den Ausgelieferten hinein.

„. . . Und deshalb nehme ich mir das heilige Versprechen ab, den Sohn, Jürgen Kolbenreiher, nach dem Willen seines unvergessenen Vaters zu erziehen und ihn Subalternbeamter werden zu lassen, da er, nach meines seligen Bruders Meinung, die Fähigkeit zu etwas Größerem nicht hat . . . So ists, Jürgen, siehst du. Nun werde mir bald wieder gesund . . . Wenn du auch nicht so bist, wie du sein könntest, ich habe dich doch lieb.“ Sie sah ihn freundlich an, streichelte seine nassen Haare und rief erschrocken: „Du hast ja wieder Fieber.“

Wangen und Augen glühten. Die rechte Gesichtshälfte lachte.

Die Ärzte wurden geholt. Eisbeutel aufgelegt. Der Rückfall war kurz und heftig.

Jürgen verließ das Bett als verschlossener Jüngling, dessen früherer Wille, sich durch die Wirrnisse der Jugend durchzufressen, unterbunden war. Die Tante äußerte oft ihre Zufriedenheit. Denn nur wenn sie ihn etwas fragte, antwortete er, je nach Wunsch „Ja“ oder „Nein“. Niemals Nein, wenn ein Ja erwartet wurde.

Seine grenzenlose Nachgiebigkeit lieferte ihn allen, selbst viel jüngeren Schülern, aus. Körperlich wuchs er gleichsam über sich selbst hinaus, wurde sehr lang und stark.

Das Lernen für das bevorstehende Examen verschob er von Tag zu Tag, fuhr Schlittschuh, flußaufwärts.

Die eisbrechenden Schiffer schimpften ihm wütend nach, da hier das Schlittschuhlaufen äußerst lebensgefährlich war, der vielen, großen, quadratischen Wasserlöcher wegen.

In dem Gefühle, durch eine körperliche Kraftleistung, durch große Schnelligkeit seine seelische Gebundenheit lösen zu können, sauste Jürgen an den unverhofft sich auftuenden grünen Wasserlöchern vorbei, bis die Nacht ihn überraschte.

Schnurgerade führte die Landstraße zur Stadt zurück; der Fluß dagegen zog einen mächtigen Bogen, so daß Jürgen zu Fuß schneller nach Hause gekommen wäre, als auf dem Eise.

Der geheime Todeswunsch, der ihm das imaginäre Messer in die Hand gegeben hatte, veranlaßte ihn auch jetzt, blind in die Gefahr hineinzurennen.

Die Fischer waren schon lange nach Hanse gegangen. Jürgen stand dunkel in der unwirklichen Helligkeit, die das Eis ausstrahlte. Zehn Schritte von ihm entfernt war tiefschwarze Nacht. Das Eis knackte leise. Tierische Laute stieß Jürgen aus, während er als schwarzer rechter Winkel stadtwärts sauste.

War er knapp an einem Wasserloch vorbeigeglitten, dann klang sein wilder Schrei der Genugtuung in die Einsamkeit.

Näher der Stadt mehrten sich die Wasserlöcher, links und rechts von ihm, manchmal unerwartet dicht vor ihm.

Angespannt und stumm geworden, zog er seine Bogen um den Tod herum.

Blickte zur Stadt, die sich wie eine ferne Verheißung lichtglitzernd vor ihm auftat.

Und glitschte glatt ins weiche Wasserloch: unter die Eisdecke.

Der Vater, die Tante, die Professoren drückten und schoben ihn immer tiefer hinunter. ‚Eifrig und eigentlich gutmütig‘, dachte Jürgen. ‚Das sollten sie aber nicht tun . . . Zum Steckenpferd müßten sie auch Luft geben . . . Haben aber selbst keine Luft.‘

Hundert grüne Väter, wellig verzogen, schlingerten vom Grunde empor, um Jürgen herum. ‚Auch ertrunken? So oft ertrunken?‘ dachte er noch. ‚. . . Luft!‘

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