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Die Verhältnisse in der Bank sind doch schwieriger, als es anfangs schien. Der Tag vergeht mit dem Einreihen der alten Briefe und Kopien, mit dem Ausfüllen einiger Drucksachen und dem Adressenschreiben auf ungezählten Umschlägen. Nachmittags zwischen vier und sieben, während die Post in der Direktion unterschrieben wird, ist in der Korrespondenz tote Zeit, die mit unzähligen Täßchen dicken schwarzen Kaffees, wie ihn die Diener im Keller kochen, mit Zigaretten und Zeitungen mühsam hingebracht wird. Gegen sieben Uhr aber, wenn alle anderen Kontore längst geschlossen sind, setzt für die Korrespondenz nochmals großer Betrieb ein. Die schwarzen Diener drehen die Briefe durch die Kopiermaschinen; dann sind die dazugehörigen Einlagen genau zu kontrollieren, ob jeder Scheck und Wechsel richtig ausgestellt und unterschrieben ist. Schließlich kommen Briefe und Einlagen in die bereitliegenden Umschläge, deren Gummirand die schwarzen Diener mit breiten Zungen gierig ablecken. Für die Burschen scheint das ein Abendessen? — Endlich werden die Briefe gesiegelt und mit Marken versehen. Auch die Marken werden von den Dienern abgeleckt und aufgepickt. Dann nimmt ein Diener den schweren Postsack und wandert damit zum Amt, von dem malerisch bewaffneten Kawassen begleitet. Das ist das Tagewerk. Es kann neun Uhr abends werden, bis es getan ist, vor den Abgangstagen der großen Dampfer auch später. Die eintönige Arbeit hinterläßt fade, unfrohe Abspannung. Dazu den Tag lang Monsieur de Bergasses spitze Sticheleien, und die stumpfe Heimtücke der beiden anderen, die sich in falschen Auskünften, hämischem Festnageln kleinster Fehler, Angeberei und Verleumdung äußert.

Popovich stammt aus einem Elendsviertel in Triest, ist als Kohlentrimmer nach Ägypten gekommen, um sein Glück zu suchen. Der Direktor hat ihn eines Nachts halb verhungert auf einer Bank im Ezbekiehgarten aufgelesen, hat ihn aus Mitleid aufgenommen und ihm im Keller der Bank ein kleines Zimmer eingeräumt. Dort säuft er nachts mit dem Kawassen und den Schwarzen. Auch das ein Europäer? — Aber er arbeitet wie ein Pferd, weiß sich und seine Leistungen gut ins Licht zu setzen und wacht eifersüchtig darüber, daß kein Brief von irgendwelcher Bedeutung etwa „dem Neuen“ zur Beantwortung überlassen wird. Der mag sich mit Drucksachen und der Expedition unterhalten; Dienerarbeit. Monsieur de Bergasse tut nichts dagegen. Der Triestiner nimmt ihm alle Arbeit ab, so daß ihm kaum mehr zu tun bleibt, als die Abteilung der Direktion gegenüber mit Würde zu vertreten. Auch kränkt es seine Eitelkeit empfindlich, daß der junge Deutsche den gleichen Gehalt bezieht, wie er selbst, der Sproß aus altem, königstreuem Adel.

Karamanian, der Armenier, ist ein Findelkind, von den Jesuiten erzogen. Er klebt vor Schmutz, hat ewig Schweißperlen auf der Stirn, und riecht frühmorgens schon nach Knoblauch. Ein Insekt.

In den anderen Abteilungen sieht es ähnlich aus. Wenige gutbezahlte Europäer, Deutsche, Österreicher, Franzosen, die öffentlich treues Zusammenhalten heucheln und sich insgeheim nach Kräften zu schädigen trachten, sich gegenseitig belauern und verleumden. Die Unterbeamten Levantiner, Griechen, Armenier. Dann noch ein Eingeborenen-Dienst, durchwegs mit Fellachen besetzt.

In den ersten Tagen denkt Fritz stündlich mit Wehmut an Mailand zurück. Ein begeisterter Brief der Schwester erfüllt ihn mit Bitterkeit: Was wissen die ...! Das Leben ist teuer, mit dem angeblich so großen Gehalt läßt sich hier weniger anfangen, als mit dem Drittel davon in Mailand. Und das Land ist so unerbittlich fremd. Nicht nur die Mohammedanerinnen tragen Schleier vor dem Gesicht; vor dem ganzen Leben des Eingeborenenviertels steht das gleiche dunkle Fragezeichen. Und was sich im Europäerviertel, in Bars und Hotels breitmacht, das sind oft fragwürdige Gesichter, die wohl wissen mögen, warum sie der heimischen Ordnung den Rücken gekehrt haben. So unerbittlich fremd alles und gefahrdrohend. Und die langen, öden Tage in dem stinkenden Affenkäfig ...

Das Hotel ist mit einer Pension vertauscht, die er sich auf gut Glück selbst gesucht hat. Nur keine Landsleute fragen! — Der Stil ist steif englisch, vornehm, das Essen schlecht. „Wenn ich nun heikel wäre, müßte ich verhungern,“ denkt Fritz. Und die Stimme des Vaters klingt ihm ins Ohr: „Was auf den Tisch kommt, wird gegessen!“ War das so unvernünftig hart? — Na ja, der arme Alte — an Kairo hat der sicher nicht gedacht! —

In der Buchhaltung sitzt ein Herr Fleischmann, ein Wiener, der sich mit schwärmerischer Liebenswürdigkeit an Fritz heranschlängelt. Er trägt sich streng englisch, läßt sich den Mund von wuchtiger Stummelpfeife schief ziehen und scheint nicht zu ahnen, wie lächerlich seine jüdische Beweglichkeit immer wieder die steife Maske durchbricht. Fritz bleibt kühl und mißtrauisch. Marinetti der zweite! Als ihn aber der freundliche Fremde für den ersten Sonntag zu einem Ritt vor die Stadt auffordert, bringt er es nicht über sich, abzuschlagen. Es konnten ja Wochen, Monate vergehen, bis er allein dazu kam, den Schritt in die Fellachenviertel oder gar darüber hinaus zu wagen! —

Herr Fleischmann holt Fritz zu dem Ausflug ab. Er trägt Tropenhelm, enge Reithosen mit Ledergamaschen, hat einen Revolver umgeschnallt und schwingt eine wüste Sklavenhändlerpeitsche aus Nilpferdhaut. Fritz kommt sich neben soviel kriegerischer Pracht dürftig und wehrlos vor. „Ich kann nicht reiten,“ sagt er schüchtern. — „Das lernen Sie schon, ich zeig’ es Ihnen,“ meint Herr Fleischmann großartig.

Da ist der Platz, der an jenem ersten Abend dumpfe Ehrfurcht weckte: Atabet-el-Khadr steht weiß auf blauer Tafel, arabische Schnörkel darunter. Und da der Haufe der Mietesel. Künstliche Muster ins graue, weiße, braune Fell eingeschoren, mit Messingzieraten und Glasperlen behängt, unter roten, dickgepolsterten Tuchsätteln stehen sie da, nicken mit den übergroßen Köpfen, schwenken die Langohren und sehen stumpf und harmlos aus. Ab und zu schürzt ein Hengst die Oberlippe, daß die langen gelben Zähne sichtbar werden, streckt den Kopf sehnsüchtig vor und bricht in schallendes Geschrei aus, das in heiserem Röcheln verklingt. Zwei, drei andere antworten, suchen ihn an Künstlichkeit und Ausdauer zu übertreffen. Wie gut fügt sich dieser Schrei wilder Brunst, aufreizend und klagend, in das bunte Gesamtbild der Stadt, die von stürmischem Lebensdrang überquillt! —

Kaum haben die Eseltreiber, die in müßigen Gruppen herumhocken, die beiden Fremden erblickt, als der übliche wütende Wettstreit unter ihnen ausbricht. In fanatischen Riesensätzen springen sie heran, die jäh aufgeschreckten Tiere wild hinter sich herzerrend. Mit höchster Lungenkraft werden unverdaute Brocken fremder Sprachen hervorgegellt: „Wontju donky reid — dat’s wery gud donky, Sorr!“ Herr Fleischmann mimt marmorne Überlegenheit. Doch mit einem Blick beseligten Stolzes flüstert er dem Begleiter zu: „Ich wurde allgemein für einen Engländer gehalten!“ Dann trifft er umständlich seine Wahl, schwingt sich in den Sattel; die Treiber nehmen die langen Hemdenkleider hoch, daß die nackten, dürren Beine in kurzen Pluderhosen sichtbar werden, keuchen tiefe Kehllaute: „Chcha Chcha!“ knallen die breiten Pantoffel bedrohlich aufs Pflaster und lassen die langen Rohrstäbe in blitzraschen Doppelhieben auf dem Hinterviertel der Esel tanzen, daß die in vollem Galopp davonspritzen. Fritz ist atemlos verwirrt von dem jähen Aufbruch, schwankt im Sattel. Doch sieht er zu seiner Beruhigung, daß auch Herr Fleischmann sein steinernes Gleichgewicht vermissen läßt und sich mit einer Hand an den dicken Sattelknauf klammert, während die andere nach rückwärts den Treibern abwinkt. Kaum sind die hetzenden Kehllaute, das Pantoffelknallen verstummt, so fallen die Tiere in kurzen, fördernden Zuckeltrab, der den leise geschüttelten Reitern ein wenig Blick für die Umgebung läßt.

Da trägt einer eine Holzplatte von reichlich einem Meter Durchmesser auf dem Kopf, mit zahllosen Schüsselchen beladen; ein abgerissener Sudanese winkt ihm — sofort wird ein kleiner Dreifuß aus Holz aufgeklappt, die Platte vorsichtig daraufgesetzt, und der Gast kann unter zwanzigerlei Gerichten wählen: Brotfladen, Gemüse, gekocht oder als Salat, oder in Fett gebraten. Das bißchen Staub und Straßenschmutz, das überall haftet, wird von nachsichtigen Fingern weggewischt. Dort ein Wasserverkäufer, den prallgefüllten Schlauch aus Ziegenhaut über der Schulter; dunkelgebräunte Bauern neben kleinen Eseln, die unter Riesenlasten von Melonen oder Kürbissen verschwinden. Reiche Kaufleute, die weibisch zierlich die feinen Tuchgewänder raffen, während sie über Unrathaufen steigen. Engbrüstige Häuser zu beiden Seiten, künstlich gedrechselte Holzgitter vor den Fenstern, wie Schutzbrillen. Und enge Seitengäßchen, von rissiger Leinwand überdacht. Da mag heute noch das Märchen wohnen, Sindbad, oder Ali Baba ...

„Furchtbare Schweine sind die Eingeborenen,“ näselt Herr Fleischmann. Und Fritz haßt ihn plötzlich, ihn und den dummen Europäer-Hochmut, der mit Schnellzügen, Maschinengewehren, mit läppischem Warenhauskram in diese farbige Welt eingebrochen ist, sie tausendmal im Tage schändet und im maßlosen Dünkel des Kulturbringers noch Dank ernten will, wo er Verachtung und Unverstand gesät hat.

Die Straße weitet sich, das schlüpfrige Pflaster hört auf, harter Sandboden beginnt. Ein sanfter Hügel wird erklommen — dann füllt den Sehkreis ein wildes Meer glühender Farben: die Wüste!

Den weiten Talboden deckt feiner Pulversand, vom grellsten Weißgelb bis zum sattesten Orange abgetönt. Am jenseitigen Rande springen jähe Felshügel auf, die in tausend Schattierungen von Rot, Lila, Violett, bis zum Schwarz hinab, dunkel glühen. Über ihrem zackigen Kamm tanzen flimmernde Luftbänder wie über Feueressen. Kleine Inseln grünen Buchwerks da und dort eingestreut. Ginster grüßt mit gelben Blüten. Und ein Himmel darüber, von dröhnendem Blau, und goldene Sonne. Dies sind keine Farben mehr, mit denen das Auge allein fertig werden könnte. Wie schwingender Glockenton teilen sie sich dem Ohr mit, jagen wollüstige Schauer über die Haut, füllen alle Poren mit bebenden Wellen, wie ein laues Bad. Fritz erliegt seufzend dem stürmischen Eindruck, läßt sich hingegeben überfluten. Das Meer? Wie kalt und fremd! Hier, hier pulst glühendes Leben!

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