4.

Im Jahre 1863 hat ein Engländer W. Watkiss Lloyd dem Moses von Michelangelo ein kleines Büchlein gewidmet[11]. Als es mir gelang, dieser Schrift von 46 Seiten habhaft zu werden, nahm ich ihren Inhalt mit gemischten Empfindungen zur Kenntnis. Es war eine Gelegenheit, wieder an der eigenen Person zu erfahren, was für unwürdige infantile Motive zu unserer Arbeit im Dienste einer großen Sache beizutragen pflegen. Ich bedauerte, daß Lloyd so vieles vorweg genommen hatte, was mir als Ergebnis meiner eigenen Bemühung wertvoll war, und erst in zweiter Instanz konnte ich mich über die unerwartete Bestätigung freuen. An einem entscheidenden Punkte trennen sich allerdings unsere Wege.

Lloyd hat zuerst bemerkt, daß die gewöhnlichen Beschreibungen der Figur unrichtig sind, daß Moses nicht im Begriffe ist, aufzustehen[12], daß die rechte Hand nicht in den Bart greift, daß nur deren Zeigefinger noch auf dem Barte ruht[13]. Er hat auch, was weit mehr besagen will, eingesehen, daß die dargestellte Haltung der Gestalt nur durch die Rückbeziehung auf einen früheren, nicht dargestellten, Moment aufgeklärt werden kann, und daß das Herüberziehen der linken Bartstränge nach rechts andeuten solle, die rechte Hand und die linke Hälfte des Bartes seien vorher in inniger, natürlich vermittelter Beziehung gewesen. Aber er schlägt einen anderen Weg ein, um diese mit Notwendigkeit erschlossene Nachbarschaft wieder herzustellen, er läßt nicht die Hand in den Bart gefahren, sondern den Bart bei der Hand gewesen sein. Er erklärt, man müsse sich vorstellen, »der Kopf der Statue sei einen Moment vor der plötzlichen Störung voll nach rechts gewendet gewesen über der Hand, welche damals wie jetzt die Gesetztafeln hält«. Der Druck auf die Hohlhand (durch die Tafeln) läßt deren Finger sich natürlich unter den herabwallenden Locken öffnen, und die plötzliche Wendung des Kopfes nach der anderen Seite hat zur Folge, daß ein Teil der Haarstränge für einen Augenblick von der nicht bewegten Hand zurückgehalten wird und jene Haarguirlande bildet, die als Wegspur (»wake«) verstanden werden soll.

Von der anderen Möglichkeit einer früheren Annäherung von rechter Hand und linker Barthälfte läßt sich Lloyd durch eine Erwägung zurückhalten, welche beweist, wie nahe er an unserer Deutung vorbeigegangen ist. Es sei nicht möglich, daß der Prophet, selbst nicht in höchster Erregung, die Hand vorgestreckt haben könne, um seinen Bart so beiseite zu ziehen. In dem Falle wäre die Haltung der Finger eine ganz andere geworden, und überdies hätten infolge dieser Bewegung die Tafeln herabfallen müssen, welche nur vom Druck der rechten Hand gehalten werden, es sei denn, man mute der Gestalt, um die Tafeln auch dann noch zu erhalten, eine sehr ungeschickte Bewegung zu, deren Vorstellung eigentlich eine Entwürdigung enthalte. (»Unless clutched by a gesture so awkward, that to imagine it is profanation.«)

Es ist leicht zu sehen, worin die Versäumnis des Autors liegt. Er hat die Auffälligkeiten des Bartes richtig als Anzeichen einer abgelaufenen Bewegung gedeutet, es aber dann unterlassen, denselben Schluß auf die nicht weniger gezwungenen Einzelheiten in der Stellung der Tafeln anzuwenden. Er verwertet nur die Anzeichen vom Bart, nicht auch die von den Tafeln, deren Stellung er als die ursprüngliche hinnimmt. So verlegt er sich den Weg zu einer Auffassung wie die unsrige, welche durch die Wertung gewisser unscheinbarer Details zu einer überraschenden Deutung der ganzen Figur und ihrer Absichten gelangt.

Wie nun aber, wenn wir uns beide auf einem Irrwege befänden? Wenn wir Einzelheiten schwer und bedeutungsvoll aufnehmen würden, die dem Künstler gleichgiltig waren, die er rein willkürlich oder auf gewisse formale Anlässe hin nur eben so gestaltet hätte, wie sie sind, ohne etwas Geheimes in sie hineinzulegen? Wenn wir dem Los so vieler Interpreten verfallen wären, die deutlich zu sehen glauben, was der Künstler weder bewußt noch unbewußt schaffen gewollt hat? Darüber kann ich nicht entscheiden. Ich weiß nicht zu sagen, ob es angeht, einem Künstler wie Michelangelo, in dessen Werken soviel Gedankeninhalt nach Ausdruck ringt, eine solche naive Unbestimmtheit zuzutrauen, und ob dies gerade für die auffälligen und sonderbaren Züge der Mosesstatue annehmbar ist. Endlich darf man noch in aller Schüchternheit hinzufügen, daß sich in die Verschuldung dieser Unsicherheit der Künstler mit dem Interpreten zu teilen habe. Michelangelo ist oft genug in seinen Schöpfungen bis an die äußerste Grenze dessen, was die Kunst ausdrücken kann, gegangen; vielleicht ist es ihm auch beim Moses nicht völlig geglückt, wenn es seine Absicht war, den Sturm heftiger Erregung aus den Anzeichen erraten zu lassen, die nach seinem Ablauf in der Ruhe zurückbleiben.

[2] Vielleicht 1602 zuerst gespielt.

[3] Nach Henry Thode ist die Statue in den Jahren 1512 bis 1516 ausgeführt worden.

[4] Henry Thode, Michelangelo, Kritische Untersuchungen über seine Werke, I. Bd., 1908.

[5] Thode, l. c., p. 197.

[6] Vom Grabdenkmal des Papstes nämlich.

[7] Es ist zu bemerken, daß die sorgfältige Anordnung des Mantels um die Beine der sitzenden Gestalt dieses erste Stück der Auslegung Justis unhaltbar macht. Man müßte vielmehr annehmen, es sei dargestellt, wie Moses im ruhigen erwartungslosen Dasitzen durch eine plötzliche Wahrnehmung aufgeschreckt werde.

[8] Obwohl der linke Fuß des ruhig sitzenden Giuliano in der Medicikapelle ähnlich abgehoben ist.

[9] Siehe die Beilage.

[10] Siehe das Detail Figur D.

[11] W. Watkiss Lloyd, The Moses of Michelangelo. London, Williams and Norgate, 1863.

[12] »But he is not rising or preparing to rise; the bust is fully upright, not thrown forward for the alteration of balance preparatory for such a movement; ...« (p. 10).

[13] »Such a description is altogether erroneous; the fillets of the beard are detained by the right hand, but they are not held, nor grasped, enclosed or taken hold of. They are even detained but momentarily – momentarily engaged, they are on the point of being free for disengagement.« (p. 11).

*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER MOSES DES MICHELANGELO ***

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