I.

In einem Kreise von Männern, denen es als ausgemacht gilt, daß die wesentlichsten Rätsel des Traumes durch die Bemühung des Verfassers(1) gelöst worden sind, erwachte eines Tages die Neugierde, sich um jene Träume zu kümmern, die überhaupt niemals geträumt worden, die von Dichtern geschaffen und erfundenen Personen im Zusammenhange einer Erzählung beigelegt werden. Der Vorschlag, diese Gattung von Träumen einer Untersuchung zu unterziehen, mochte müßig und befremdend erscheinen; von einer Seite her konnte man ihn als berechtigt hinstellen. Es wird ja keineswegs allgemein geglaubt, daß der Traum etwas Sinnvolles und Deutbares ist. Die Wissenschaft und die Mehrzahl der Gebildeten lächeln, wenn man ihnen die Aufgabe einer Traumdeutung stellt; nur das am Aberglauben hängende Volk, das hierin die Überzeugungen des Altertums fortsetzt, will von der Deutbarkeit der Träume nicht ablassen, und der Verfasser der Traumdeutung hat es gewagt, gegen den Einspruch der gestrengen Wissenschaft Partei für die Alten und für den Aberglauben zu nehmen. Er ist allerdings weit davon entfernt, im Traume eine Ankündigung der Zukunft anzuerkennen, nach deren Enthüllung der Mensch seit jeher mit allen unerlaubten Mitteln vergeblich strebt. Aber völlig konnte auch er nicht die Beziehung des Traumes zur Zukunft verwerfen, denn nach Vollendung einer mühseligen Übersetzungsarbeit erwies sich ihm der Traum als ein erfüllt dargestellter Wunsch des Träumers, und wer könnte bestreiten, daß Wünsche sich vorwiegend der Zukunft zuzuwenden pflegen.

Ich sagte eben: der Traum sei ein erfüllter Wunsch. Wer sich nicht scheut, ein schwieriges Buch durchzuarbeiten, wer nicht fordert, daß ein verwickeltes Problem zur Schonung seiner Bemühung und auf Kosten von Treue und Wahrheit ihm als leicht und einfach vorgehalten werde, der mag in der erwähnten »Traumdeutung« den weitläufigen Beweis für diesen Satz aufsuchen und bis dahin die ihm sicherlich aufsteigenden Einwendungen gegen die Gleichstellung von Traum und Wunscherfüllung zur Seite drängen.

Aber wir haben weit vorgegriffen. Es handelt sich noch gar nicht darum, festzustellen, ob der Sinn eines Traumes in jedem Falle durch einen erfüllten Wunsch wiederzugeben sei, oder nicht auch ebenso häufig durch eine ängstliche Erwartung, einen Vorsatz, eine Überlegung u. s. w. Vielmehr steht erst in Frage, ob der Traum überhaupt einen Sinn habe, ob man ihm den Wert eines seelischen Vorganges zugestehen solle. Die Wissenschaft antwortet mit Nein, sie erklärt das Träumen für einen bloß physiologischen Vorgang, hinter dem man also Sinn, Bedeutung, Absicht nicht zu suchen brauche. Körperliche Reize spielten während des Schlafes auf dem seelischen Instrument und brächten so bald diese, bald jene der alles seelischen Zusammenhaltes beraubten Vorstellungen zum Bewußtsein. Die Träume wären nur Zuckungen, nicht aber Ausdrucksbewegungen des Seelenlebens vergleichbar.

In diesem Streite über die Würdigung des Traumes scheinen nun die Dichter auf derselben Seite zu stehen wie die Alten, wie das abergläubische Volk und wie der Verfasser der »Traumdeutung«. Denn wenn sie die von ihrer Phantasie gestalteten Personen träumen lassen, so folgen sie der alltäglichen Erfahrung, daß das Denken und Fühlen der Menschen sich in den Schlaf hinein fortsetzt, und suchen nichts anderes, als die Seelenzustände ihrer Helden durch deren Träume zu schildern. Wertvolle Bundesgenossen sind aber die Dichter und ihr Zeugnis ist hoch anzuschlagen, denn sie pflegen eine Menge von Dingen zwischen Himmel und Erde zu wissen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen läßt. In der Seelenkunde gar sind sie uns Alltagsmenschen weit voraus, weil sie da aus Quellen schöpfen, welche wir noch nicht für die Wissenschaft erschlossen haben. Wäre diese Parteinahme der Dichter für die sinnvolle Natur der Träume nur unzweideutiger! Eine schärfere Kritik könnte ja einwenden, der Dichter nehme weder für noch gegen die psychische Bedeutung des einzelnen Traumes Partei; er begnüge sich zu zeigen, wie die schlafende Seele unter den Erregungen aufzuckt, die als Ausläufer des Wachlebens in ihr kräftig verblieben sind.

Unser Interesse für die Art, wie sich die Dichter des Traumes bedienen, ist indes auch durch diese Ernüchterung nicht gedämpft. Wenn uns die Untersuchung auch nichts Neues über das Wesen der Träume lehren sollte, vielleicht gestattet sie uns von diesem Winkel aus einen kleinen Einblick in die Natur der dichterischen Produktion. Die wirklichen Träume gelten zwar bereits als zügellose und regelfreie Bildungen, und nun erst die freien Nachbildungen solcher Träume! Aber es gibt viel weniger Freiheit und Willkür im Seelenleben, als wir geneigt sind anzunehmen; vielleicht überhaupt keine. Was wir in der Welt draußen Zufälligkeit heißen, löst sich bekanntermaßen in Gesetze auf; auch was wir im Seelischen Willkür heißen, ruht auf – derzeit erst dunkel geahnten – Gesetzen. Sehen wir also zu!

Es gäbe zwei Wege für diese Untersuchung. Der eine wäre die Vertiefung in einen Spezialfall, in die Traumschöpfungen eines Dichters in einem seiner Werke. Der andere bestünde im Zusammentragen und Gegeneinanderhalten all der Beispiele, die sich in den Werken verschiedener Dichter von der Verwendung der Träume finden lassen. Der zweite Weg scheint der bei weitem trefflichere zu sein, vielleicht der einzig berechtigte, denn er befreit uns sofort von den Schädigungen, die mit der Aufnahme des künstlichen Einheitsbegriffes »der Dichter« verbunden sind. Diese Einheit zerfällt bei der Untersuchung in die so sehr verschiedenwertigen Dichterindividuen, unter denen wir in einzelnen die tiefsten Kenner des menschlichen Seelenlebens zu verehren gewohnt sind. Dennoch aber werden diese Blätter von einer Untersuchung der ersten Art ausgefüllt sein. Es hatte sich in jenem Kreise von Männern, unter denen die Anregung auftauchte, so gefügt, daß jemand sich besann, in dem Dichtwerke, das zuletzt sein Wohlgefallen erweckt, wären mehrere Träume enthalten gewesen, die ihn gleichsam mit vertrauten Zügen angeblickt hätten und ihn einlüden, die Methode der »Traumdeutung« an ihnen zu versuchen. Er gestand zu, Stoff und Örtlichkeit der kleinen Dichtung wären wohl an der Entstehung seines Wohlgefallens hauptsächlich beteiligt gewesen, denn die Geschichte spiele auf dem Boden von Pompeji und handle von einem jungen Archäologen, der das Interesse für das Leben gegen das an den Resten der klassischen Vergangenheit hingegeben hätte und nun auf einem merkwürdigen, aber völlig korrekten Umwege ins Leben zurückgebracht werde. Während der Behandlung dieses echt poetischen Stoffes rege sich allerlei Verwandtes und dazu Stimmendes im Leser. Die Dichtung aber sei die kleine Novelle »Gradiva« von Wilhelm Jensen, vom Autor selbst als »pompejanisches Phantasiestück« bezeichnet.

Und nun müßte ich eigentlich alle meine Leser bitten, dieses Heft aus der Hand zu legen und es für eine ganze Weile durch die 1903 im Buchhandel erschienene »Gradiva« zu ersetzen, damit ich mich im weiteren auf Bekanntes beziehen kann. Denjenigen aber, welche die »Gradiva« bereits gelesen haben, will ich den Inhalt der Erzählung durch einen kurzen Auszug ins Gedächtnis zurückrufen, und rechne darauf, daß ihre Erinnerung allen dabei abgestreiften Reiz aus eigenem wiederherstellen wird.

Ein junger Archäologe, Norbert Hanold, hat in einer Antikensammlung Roms ein Reliefbild entdeckt, das ihn so ausnehmend angezogen, daß er sehr erfreut gewesen ist, einen vortrefflichen Gipsabguß davon erhalten zu können, den er in seiner Studierstube in einer deutschen Universitätsstadt aufhängen und mit Interesse studieren kann. Das Bild stellt ein reifes junges Mädchen im Schreiten dar, welches ihr reichfaltiges Gewand ein wenig aufgerafft hat, so daß die Füße in den Sandalen sichtbar werden. Der eine Fuß ruht ganz auf dem Boden, der andere hat sich zum Nachfolgen vom Boden abgehoben und berührt ihn nur mit den Zehenspitzen, während Sohle und Ferse sich fast senkrecht emporheben. Der hier dargestellte ungewöhnliche und besonders reizvolle Gang hatte wahrscheinlich die Aufmerksamkeit des Künstlers erregt und fesselt nach so viel Jahrhunderten nun den Blick unseres archäologischen Beschauers.

Dies Interesse des Helden der Erzählung für das geschilderte Reliefbild ist die psychologische Grundtatsache unserer Dichtung. Es ist nicht ohne weiteres erklärbar. »Doktor Norbert Hanold, Dozent der Archäologie, fand eigentlich für seine Wissenschaft an dem Relief nichts sonderlich Beachtenswertes.« (Gradiva p. 3.) »Er wußte sich nicht klarzustellen, was daran seine Aufmerksamkeit erregt habe, nur daß er von etwas angezogen worden und diese Wirkung sich seitdem unverändert forterhalten habe.« Aber seine Phantasie läßt nicht ab, sich mit dem Bilde zu beschäftigen. Er findet etwas »Heutiges« darin, als ob der Künstler den Anblick auf der Straße »nach dem Leben« festgehalten habe. Er verleiht dem im Schreiten dargestellten Mädchen einen Namen: »Gradiva«, die »Vorschreitende«; er fabuliert, sie sei gewiß die Tochter eines vornehmen Hauses, vielleicht »eines patrizischen Aedilis, der sein Amt im Namen der Ceres ausübte«, und befinde sich auf dem Wege zum Tempel der Göttin. Dann widerstrebt es ihm, ihre ruhige stille Art in das Getriebe einer Großstadt einzufügen, vielmehr erschafft er sich die Überzeugung, daß sie nach Pompeji zu versetzen sei und dort irgendwo auf den wieder ausgegrabenen eigentümlichen Trittsteinen schreite, die bei regnerischem Wetter einen trockenen Übergang von einer Seite der Straße zur anderen ermöglicht und doch auch Durchlaß für Wagenräder gestattet hatten. Ihr Gesichtsschnitt dünkt ihm griechischer Art, ihre hellenische Abstammung unzweifelhaft; seine ganze Altertumswissenschaft stellt sich allmählich in den Dienst dieser und anderer auf das Urbild des Reliefs bezüglichen Phantasien.

Dann aber drängt sich ihm ein angeblich wissenschaftliches Problem auf, das nach Erledigung verlangt. Es handelt sich für ihn um eine kritische Urteilsabgabe, »ob der Künstler den Vorgang des Ausschreitens bei der Gradiva dem Leben entsprechend wiedergegeben habe«. Er selbst vermag ihn an sich nicht hervorzurufen; bei der Suche nach der »Wirklichkeit« dieser Gangart gelangt er nun dazu, »zur Aufhellung der Sache selbst Beobachtungen nach dem Leben anzustellen«. (G. p. 9.) Das nötigt ihn allerdings zu einem ihm durchaus fremdartigen Tun. »Das weibliche Geschlecht war bisher für ihn nur ein Begriff aus Marmor oder Erzguß gewesen, und er hatte seinen zeitgenössischen Vertreterinnen desselben niemals die geringste Beachtung geschenkt.« Pflege der Gesellschaft war ihm immer nur als unabweisbare Plage erschienen; junge Damen, mit denen er dort zusammentraf, sah und hörte er so wenig, daß er bei einer nächsten Begegnung grußlos an ihnen vorüberging, was ihn natürlich in kein günstiges Licht bei ihnen brachte. Nun aber nötigte ihn die wissenschaftliche Aufgabe, die er sich gestellt, bei trockener, besonders aber bei nasser Witterung eifrig nach den sichtbar werdenden Füßen der Frauen und Mädchen auf der Straße zu schauen, welche Tätigkeit ihm manchen unmutigen und manchen ermutigenden Blick der so Beobachteten eintrug; »doch kam ihm das eine so wenig zum Verständnis wie das andere«. (G. p. 10.) Als Ergebnis dieser sorgfältigen Studien mußte er finden, daß die Gangart der Gradiva in der Wirklichkeit nicht nachzuweisen war, was ihn mit Bedauern und Verdruß erfüllte.

Bald nachher hatte er einen schreckvoll beängstigenden Traum, der ihn in das alte Pompeji am Tage des Vesuvausbruches versetzte und zum Zeugen des Unterganges der Stadt machte. »Wie er so am Rande des Forums neben dem Jupitertempel stand, sah er plötzlich in geringer Entfernung die Gradiva vor sich; bis dahin hatte ihn kein Gedanke an ihr Hiersein angerührt, jetzt aber ging ihm auf einmal und als natürlich auf, da sie ja eine Pompejanerin sei, lebe sie in ihrer Vaterstadt und, ohne daß er's geahnt habe, gleichzeitig mit ihm.« (G. p. 12.) Angst um das ihr bevorstehende Schicksal entlockte ihm einen Warnruf, auf den die gleichmütig fortschreitende Erscheinung ihm ihr Gesicht zuwendete. Sie setzte aber dann unbekümmert ihren Weg bis zum Portikus des Tempels fort, setzte sich dort auf eine Treppenstufe und legte langsam den Kopf auf diese nieder, während ihr Gesicht sich immer blasser färbte, als ob es sich zu weißem Marmor umwandle. Als er ihr nacheilte, fand er sie mit ruhigem Ausdruck wie schlafend auf der breiten Stufe hingestreckt, bis dann der Aschenregen ihre Gestalt begrub.

Als er erwachte, glaubte er noch das verworrene Geschrei der nach Rettung suchenden Bewohner Pompejis und die dumpf dröhnende Brandung der erregten See im Ohre zu haben. Aber auch nachdem die wiederkehrende Besinnung diese Geräusche als die weckenden Lebensäußerungen der lärmenden Großstadt erkannt hatte, behielt er für eine lange Zeit den Glauben an die Wirklichkeit des Geträumten; als er sich endlich von der Vorstellung frei gemacht, daß er selbst vor bald zwei Jahrtausenden dem Untergang Pompejis beigewohnt, verblieb ihm doch wie eine wahrhafte Überzeugung, daß die Gradiva in Pompeji gelebt und dort im Jahre 79 mit verschüttet worden sei. Solche Fortsetzung fanden seine Phantasien über die Gradiva durch die Nachwirkung dieses Traumes, daß er sie jetzt erst wie eine Verlorene betrauerte.

Während er, von diesen Gedanken befangen, aus dem Fenster lehnte, zog ein Kanarienvogel seine Aufmerksamkeit auf sich, der an einem offenstehenden Fenster des Hauses gegenüber im Käfig sein Lied schmetterte. Plötzlich durchfuhr etwas wie ein Ruck den, wie es scheint, noch nicht völlig aus seinem Traum Erwachten. Er glaubte, auf der Straße eine Gestalt wie die seiner Gradiva gesehen und selbst den für sie charakteristischen Gang erkannt zu haben, eilte unbedenklich auf die Straße, um sie einzuholen, und erst das Lachen und Spotten der Leute über seine unschickliche Morgenkleidung trieb ihn rasch wieder in seine Wohnung zurück. In seinem Zimmer war es wieder der singende Kanarienvogel im Käfig, der ihn beschäftigte und ihn zum Vergleiche mit seiner eigenen Person anregte. Auch er sitze wie im Käfig, fand er, doch habe er es leichter, seinen Käfig zu verlassen. Wie in weiterer Nachwirkung des Traumes, vielleicht auch unter dem Einflusse der linden Frühlingsluft gestaltete sich in ihm der Entschluß einer Frühjahrsreise nach Italien, für welche ein wissenschaftlicher Vorwand bald gefunden wurde, wenn auch »der Antrieb zu dieser Reise ihm aus einer unbenennbaren Empfindung entsprungen war«. (G. p. 24.)

Bei dieser merkwürdig locker motivierten Reise wollen wir einen Moment Halt machen und die Persönlichkeit wie das Treiben unseres Helden näher ins Auge fassen. Er erscheint uns noch unverständlich und töricht; wir ahnen nicht, auf welchem Wege seine besondere Torheit sich mit der Menschlichkeit verknüpfen wird, um unsere Teilnahme zu erzwingen. Es ist das Vorrecht des Dichters, uns in solcher Unsicherheit belassen zu dürfen; mit der Schönheit seiner Sprache, der Sinnigkeit seiner Einfälle lohnt er uns vorläufig das Vertrauen, das wir ihm schenken, und die Sympathie, die wir, noch unverdient, für seinen Helden bereithalten. Von diesem teilt er uns noch mit, daß er schon durch die Familientradition zum Altertumsforscher bestimmt, sich in seiner späteren Vereinsamung und Unabhängigkeit ganz in seine Wissenschaft versenkt und ganz vom Leben und seinen Genüssen abgewendet hat. Marmor und Bronze waren für sein Gefühl das einzig wirklich Lebendige, den Zweck und Wert des Menschenlebens zum Ausdruck Bringende. Doch hatte vielleicht in wohlmeinender Absicht die Natur ihm ein Korrektiv durchaus unwissenschaftlicher Art ins Blut gelegt, eine überaus lebhafte Phantasie, die sich nicht nur in Träumen, sondern auch oft im Wachen zur Geltung bringen konnte. Durch solche Absonderung der Phantasie vom Denkvermögen mußte er zum Dichter oder zum Neurotiker bestimmt sein, gehörte er jenen Menschen an, deren Reich nicht von dieser Welt ist. So konnte es sich ihm ereignen, daß er mit seinem Interesse an einem Reliefbild hängen blieb, welches ein eigentümlich schreitendes Mädchen darstellte, daß er dieses mit seinen Phantasien umspann, ihm Namen und Herkunft fabulierte, und die von ihm geschaffene Person in das vor mehr als 1800 Jahren verschüttete Pompeji versetzte, endlich nach einem merkwürdigen Angsttraum die Phantasie von der Existenz und dem Untergang des Gradiva genannten Mädchens zu einem Wahn erhob, der auf sein Handeln Einfluß gewann. Sonderbar und undurchsichtig würden uns diese Leistungen der Phantasie erscheinen, wenn wir ihnen bei einem wirklich Lebenden begegnen würden. Da unser Held Norbert Hanold ein Geschöpf des Dichters ist, möchten wir etwa an diesen die schüchterne Frage richten, ob seine Phantasie von anderen Mächten als von ihrer eigenen Willkür bestimmt worden ist.

Unseren Helden hatten wir verlassen, als er sich anscheinend durch das Singen eines Kanarienvogels zu einer Reise nach Italien bewegen ließ, deren Motiv ihm offenbar nicht klar war. Wir erfahren weiter, daß auch Ziel und Zweck dieser Reise ihm nicht feststand. Eine innere Unruhe und Unbefriedigung treibt ihn von Rom nach Neapel und von da weiter weg. Er gerät in den Schwarm der Hochzeitsreisenden und genötigt, sich mit den zärtlichen »August« und »Grete« zu beschäftigen, findet er sich ganz außer stande, das Tun und Treiben dieser Paare zu verstehen. Er kommt zu dem Ergebnis, unter allen Torheiten der Menschen »nehme jedenfalls das Heiraten, als die größte und unbegreiflichste, den obersten Rang ein, und ihre sinnlosen Hochzeitsreisen nach Italien setzten gewissermaßen dieser Narretei die Krone auf«. (G. p. 27.) In Rom durch die Nähe eines zärtlichen Paares in seinem Schlaf gestört, flieht er alsbald nach Neapel, nur um dort andere »August und Grete« wiederzufinden. Da er aus deren Gesprächen zu entnehmen glaubt, daß die Mehrheit dieser Vogelpaare nicht im Sinne habe, zwischen dem Schutt von Pompeji zu nisten, sondern den Flug nach Capri zu richten, beschließt er, das zu tun, was sie nicht täten, und befindet sich »wider Erwarten und Absicht« wenige Tage nach seiner Abreise in Pompeji.

Ohne aber dort die Ruhe zu finden, die er gesucht. Die Rolle, welche bis dahin die Hochzeitspaare gespielt, die sein Gemüt beunruhigt und seine Sinne belästigt hatten, wird jetzt von den Stubenfliegen übernommen, in denen er die Verkörperung des absolut Bösen und Überflüssigen zu erblicken geneigt wird. Beiderlei Quälgeister verschwimmen ihm zu einer Einheit; manche Fliegenpaare erinnern ihn an Hochzeitsreisende, reden sich vermutlich in ihrer Sprache auch »mein einziger August« und »meine süße Grete« an. Er kann endlich nicht umhin zu erkennen, »daß seine Unbefriedigung nicht allein durch das um ihn herum Befindliche verursacht werde, sondern etwas ihren Ursprung auch aus ihm selbst schöpfe«. (G. p. 42.) Er fühlt, »daß er mißmutig sei, weil ihm etwas fehle, ohne daß er sich aufhellen könne, was«.

Am nächsten Morgen begibt er sich durch den »Ingresso« nach Pompeji und durchstreift nach Verabschiedung des Führers planlos die Stadt, merkwürdigerweise ohne sich dabei zu erinnern, daß er vor einiger Zeit im Traume bei der Verschüttung Pompejis zugegen gewesen. Als dann in der »heißen, heiligen« Mittagsstunde, die ja den Alten als Geisterstunde galt, die anderen Besucher sich geflüchtet haben, und die Trümmerhaufen verödet und sonnenglanzübergossen vor ihm liegen, da regt sich in ihm die Fähigkeit, sich in das versunkene Leben zurückzuversetzen, aber nicht mit Hilfe der Wissenschaft. »Was diese lehrte, war eine leblose archäologische Anschauung, und was ihr vom Mund kam, eine tote, philologische Sprache. Die verhalfen zu keinem Begreifen mit der Seele, dem Gemüt, dem Herzen, wie man's nennen wollte, sondern wer danach Verlangen in sich trug, der mußte als einzig Lebendiger allein in der heißen Mittagsstille hier zwischen den Überresten der Vergangenheit stehen, um nicht mit den körperlichen Augen zu sehen und nicht mit den leiblichen Ohren zu hören. Dann .... wachten die Toten auf und Pompeji fing an, wieder zu leben.« (G. p. 55.)

Während er so die Vergangenheit mit seiner Phantasie belebt, sieht er plötzlich die unverkennbare Gradiva seines Reliefs aus einem Hause heraustreten und leichtbehend über die Lavatrittsteine zur anderen Seite der Straße schreiten, ganz so, wie er sie im Traume jener Nacht gesehen, als sie sich wie zum Schlafen auf die Stufen des Apollotempels hingelegt hatte. »Und mit dieser Erinnerung zusammen kommt ihm noch etwas anderes zum erstenmal zum Bewußtsein: Er sei, ohne selbst von dem Antrieb in seinem Innern zu wissen, deshalb nach Italien und ohne Aufenthalt von Rom und Neapel bis Pompeji weitergefahren, um danach zu suchen, ob er hier Spuren von ihr auffinden könne. Und zwar im wörtlichen Sinne, denn bei ihrer besonderen Gangart mußte sie in der Asche einen von allen übrigen sich unterscheidenden Abdruck der Zehen hinterlassen haben.« (G. p. 58.)

Die Spannung, in welcher der Dichter uns bisher erhalten hat, steigert sich hier an dieser Stelle für einen Augenblick zu peinlicher Verwirrung. Nicht nur, daß unser Held offenbar aus dem Gleichgewicht geraten ist, auch wir finden uns angesichts der Erscheinung der Gradiva, die bisher ein Stein- und dann ein Phantasiebild war, nicht zurecht. Ist's eine Halluzination unseres vom Wahn betörten Helden, ein »wirkliches« Gespenst oder eine leibhaftige Person? Nicht daß wir an Gespenster zu glauben brauchten, um diese Reihe aufzustellen. Der Dichter, der seine Erzählung ein »Phantasiestück« benannte, hat ja noch keinen Anlaß gefunden uns aufzuklären, ob er uns in unserer, als nüchtern verschrieenen, von den Gesetzen der Wissenschaft beherrschten Welt belassen oder in eine andere phantastische Welt führen will, in der Geistern und Gespenstern Wirklichkeit zugesprochen wird. Wie das Beispiel des Hamlet, des Macbeth, beweist, sind wir ohne Zögern bereit, ihm in eine solche zu folgen. Der Wahn des phantasievollen Archäologen wäre in diesem Falle an einem anderen Maßstabe zu messen. Ja, wenn wir bedenken, wie unwahrscheinlich die reale Existenz einer Person sein muß, die in ihrer Erscheinung jenes antike Steinbild getreulich wiederholt, so schrumpft unsere Reihe zu einer Alternative ein: Halluzination oder Mittagsgespenst. Ein kleiner Zug der Schilderung streicht dann bald die erstere Möglichkeit. Eine große Eidechse liegt bewegungslos im Sonnenlicht ausgestreckt, die aber vor dem herannahenden Fuß der Gradiva entflieht und sich über die Lavaplatten der Straße davonringelt. Also keine Halluzination, etwas außerhalb der Sinne unseres Träumers. Aber sollte die Wirklichkeit einer Rediviva eine Eidechse stören können?

Vor dem Hause des Meleager verschwindet die Gradiva. Wir verwundern uns nicht, daß Norbert Hanold seinen Wahn dahin fortsetzt, daß Pompeji in der Mittagsgeisterstunde rings um ihn her wieder zu leben begonnen habe, und so sei auch die Gradiva wieder aufgelebt und in das Haus gegangen, das sie vor dem verhängnisvollen Augusttage des Jahres 79 bewohnt hatte. Scharfsinnige Vermutungen über die Persönlichkeit des Eigentümers, nach dem dies Haus benannt sein mochte, und über die Beziehung der Gradiva zu ihm schießen durch seinen Kopf und beweisen, daß sich seine Wissenschaft nun völlig in den Dienst seiner Phantasie begeben hat. Ins Innere dieses Hauses eingetreten, entdeckt er die Erscheinung plötzlich wieder auf niedrigen Stufen zwischen zweien der gelben Säulen sitzend. »Auf ihren Knien lag etwas Weißes ausgebreitet, das sein Blick klar zu unterscheiden nicht fähig war; ein Papyrusblatt schien's zu sein ....« Unter den Voraussetzungen seiner letzten Kombination über ihre Herkunft spricht er sie griechisch an, mit Zagen die Entscheidung erwartend, ob ihr in ihrem Scheindasein wohl Sprachvermögen gegönnt sei. Da sie nicht antwortet, vertauscht er die Anrede mit einer lateinischen. Da klingt es von lächelnden Lippen: »Wenn Sie mit mir sprechen wollen, müssen Sie's auf Deutsch tun.«

Welche Beschämung für uns, die Leser! So hat der Dichter also auch unser gespottet und uns wie durch den Widerschein der Sonnenglut Pompejis in einen kleinen Wahn gelockt, damit wir den Armen, auf den die wirkliche Mittagssonne brennt, milder beurteilen müssen. Wir aber wissen jetzt, von kurzer Verwirrung geheilt, daß die Gradiva ein leibhaftiges deutsches Mädchen ist, was wir gerade als das Unwahrscheinlichste von uns weisen wollten. In ruhiger Überlegenheit dürfen wir nun zuwarten, bis wir erfahren, welche Beziehung zwischen dem Mädchen und ihrem Bild in Stein besteht, und wie unser junger Archäologe zu den Phantasien gelangt ist, die auf ihre reale Persönlichkeit hinweisen.

Nicht so rasch wie wir wird unser Held aus seinem Wahn gerissen, denn »wenn der Glaube selig machte«, sagt der Dichter, »nahm er überall eine erhebliche Summe von Unbegreiflichkeiten in den Kauf«, (G. p. 140) und überdies hat dieser Wahn wahrscheinlich Wurzeln in seinem Innern, von denen wir nichts wissen, und die bei uns nicht bestehen. Es bedarf wohl bei ihm einer eingreifenden Behandlung, um ihn zur Wirklichkeit zurückzuführen. Gegenwärtig kann er nicht anders, als den Wahn der eben gemachten wunderbaren Erfahrung anpassen. Die Gradiva, die bei der Verschüttung Pompejis mit untergegangen, kann nichts anderes sein als ein Mittagsgespenst, das für die kurze Geisterstunde ins Leben zurückkehrt. Aber warum entfährt ihm nach jener in deutscher Sprache gegebenen Antwort der Ausruf: »Ich wußte es, so klänge deine Stimme«? Nicht wir allein, auch das Mädchen selbst muß so fragen, und Hanold muß zugeben, daß er die Stimme noch nie gehört, aber sie zu hören erwartet, damals im Traum, als er sie anrief, während sie sich auf den Stufen des Tempels zum Schlafen hinlegte. Er bittet sie, es wieder zu tun wie damals, aber da erhebt sie sich, richtet ihm einen befremdenden Blick entgegen und verschwindet nach wenigen Schritten zwischen den Säulen des Hofes. Ein schöner Schmetterling hatte sie kurz vorher einigemal umflattert; in seiner Deutung war es ein Bote des Hades gewesen, der die Abgeschiedene an ihre Rückkehr mahnen sollte, da die Mittagsgeisterstunde abgelaufen. Den Ruf: »Kehrst du morgen in der Mittagsstunde wieder hieher?« kann Hanold der Verschwindenden noch nachsenden. Uns aber, die wir uns jetzt mehr nüchterner Deutungen getrauen, will es scheinen, als ob die junge Dame in der Aufforderung, die Hanold an sie gerichtet, etwas Ungehöriges erblickte und ihn darum beleidigt verließ, da sie doch von seinem Traum nichts wissen konnte. Sollte ihr Feingefühl nicht die erotische Natur des Verlangens herausgespürt haben, das sich für Hanold durch die Beziehung auf seinen Traum motivierte?

Nach dem Verschwinden der Gradiva mustert unser Held sämtliche bei der Tafel anwesenden Gäste des Hotels Diomède und darauf ebenso die des Hotels Suisse und kann sich dann sagen, daß in keiner der beiden ihm allein bekannten Unterkunftsstätten Pompejis eine Person zu finden sei, die mit der Gradiva die entfernteste Ähnlichkeit besitze. Selbstverständlich hätte er die Erwartung als widersinnig abgewiesen, daß er die Gradiva wirklich in einer der beiden Wirtschaften antreffen könne. Der auf dem heißen Boden des Vesuvs gekelterte Wein hilft dann den Taumel verstärken, in dem er den Tag verbracht.

Vom nächsten Tage stand nur fest, daß Hanold wieder um die Mittagsstunde im Hause des Meleager sein müsse, und diese Zeit erwartend, dringt er auf einem nicht vorschriftsmäßigen Wege über die alte Stadtmauer in Pompeji ein. Ein mit weißen Glockenkelchen behängter Asphodelosschaft erscheint ihm als Blume der Unterwelt bedeutungsvoll genug, um ihn zu pflücken und mit sich zu tragen. Die gesamte Altertumswissenschaft aber dünkt ihm während seines Wartens das Zweckloseste und Gleichgültigste von der Welt, denn ein anderes Interesse hat sich seiner bemächtigt, das Problem: »von welcher Beschaffenheit die körperliche Erscheinung eines Wesens wie der Gradiva sei, das zugleich tot, und, wenn auch nur in der Mittagsgeisterstunde, lebendig war.« (G. p. 80.) Auch bangt er davor, die Gesuchte heute nicht anzutreffen, weil ihr vielleicht die Wiederkehr erst nach langen Zeiten verstattet sein könne, und hält ihre Erscheinung, als er ihrer wieder zwischen den Säulen gewahr wird, für ein Gaukelspiel seiner Phantasie, welches ihm den schmerzlichen Ausruf entlockt: »O, daß du noch wärest und lebtest!« Allein diesmal war er offenbar zu kritisch gewesen, denn die Erscheinung verfügt über eine Stimme, die ihn fragt, ob er ihr die weiße Blume bringen wolle, und zieht den wiederum Fassungslosen in ein langes Gespräch. Uns Lesern, welchen die Gradiva bereits als lebende Persönlichkeit interessant geworden ist, teilt der Dichter mit, daß das Unmutige und Zurückweisende, das sich tags zuvor in ihrem Blick geäußert, einem Ausdruck von suchender Neugier oder Wißbegierde gewichen war. Sie forscht ihn auch wirklich aus, verlangt die Aufklärung seiner Bemerkung vom vorigen Tag, wann er bei ihr gestanden, als sie sich zum Schlafen hingelegt, erfährt so vom Traum, in dem sie mit ihrer Vaterstadt untergegangen, dann vom Reliefbild und der Stellung des Fußes, die den Archäologen so angezogen. Nun läßt sie sich auch bereit finden, ihren Gang zu demonstrieren, wobei als einzige Abweichung vom Urbild der Gradiva der Ersatz der Sandalen durch sandfarbig helle Schuhe von feinem Leder festgestellt wird, den sie als Anpassung an die Gegenwart aufklärt. Offenbar geht sie auf seinen Wahn ein, dessen ganzen Umfang sie ihm entlockt, ohne je zu widersprechen. Ein einziges Mal scheint sie durch einen eigenen Affekt aus ihrer Rolle gerissen zu werden, als er, den Sinn auf ihr Reliefbild gerichtet, behauptet, daß er sie auf den ersten Blick erkannt habe. Da sie an dieser Stelle des Gespräches noch nichts von dem Relief weiß, muß ihr ein Mißverständnis der Worte Hanolds nahe liegen, aber alsbald hat sie sich wieder gefaßt, und nur uns will es scheinen, als ob manche ihrer Reden doppelsinnig klingen, außer ihrer Bedeutung im Zusammenhang des Wahnes auch etwas Wirkliches und Gegenwärtiges meinen, so z. B. wenn sie bedauert, daß ihm damals die Feststellung der Gradivagangart auf der Straße nicht gelungen sei. »Wie schade, du hättest vielleicht die weite Reise hieher nicht zu machen gebraucht.« (G. p. 89.) Sie erfährt auch, daß er ihr Reliefbild »Gradiva« benannt, und sagt ihm ihren wirklichen Namen Zoë. »Der Name steht dir schön an, aber er klingt mir als ein bitterer Hohn, denn Zoë heißt das Leben.« – »Man muß sich in das Unabänderliche fügen«, entgegnet sie, »und ich habe mich schon lange daran gewöhnt, tot zu sein.« Mit dem Versprechen, morgen um die Mittagsstunde wieder an demselben Orte zu sein, nimmt sie von ihm Abschied, nachdem sie sich noch die Asphodelosstaude von ihm erbeten. »Solchen, die besser daran sind, gibt man im Frühling Rosen, doch für mich ist die Blume der Vergessenheit aus deiner Hand die richtige.« (G. p. 90.) Wehmut schickt sich wohl für eine so lang Verstorbene, die nun auf kurze Stunden ins Leben zurückgekehrt ist.

Wir fangen nun an zu verstehen und eine Hoffnung zu fassen. Wenn die junge Dame, in deren Gestalt die Gradiva wieder aufgelebt ist, Hanolds Wahn so voll aufnimmt, so tut sie es wahrscheinlich, um ihn von ihm zu befreien. Es gibt keinen anderen Weg dazu; durch Widerspruch versperrte man sich die Möglichkeit. Auch die ernsthafte Behandlung eines wirklichen solchen Krankheitszustandes könnte nicht anders, als sich zunächst auf den Boden des Wahngebäudes stellen und dieses dann möglichst vollständig erforschen. Wenn Zoë die richtige Person dafür ist, werden wir wohl erfahren, wie man einen Wahn wie den unseres Helden heilt. Wir wollten auch gern wissen, wie ein solcher Wahn entsteht. Es träfe sich sonderbar und wäre doch nicht ohne Beispiel und Gegenstück, wenn Behandlung und Erforschung des Wahnes zusammenfielen und die Aufklärung der Entstehungsgeschichte desselben sich gerade während seiner Zersetzung ergäbe. Es ahnt uns freilich, daß unser Krankheitsfall dann in eine »gewöhnliche« Liebesgeschichte auslaufen könnte, aber man darf die Liebe als Heilpotenz gegen den Wahn nicht verachten, und war unseres Helden Eingenommensein von seinem Gradivabild nicht auch eine volle Verliebtheit, allerdings noch aufs Vergangene und Leblose gerichtet?

Nach dem Verschwinden der Gradiva schallt es nur noch einmal aus der Entfernung wie ein lachender Ruf eines über die Trümmerstadt hinfliegenden Vogels. Der Zurückgebliebene nimmt etwas Weißes auf, das die Gradiva zurückgelassen, kein Papyrusblatt, sondern ein Skizzenbuch mit Bleistiftzeichnungen verschiedener Motive aus Pompeji. Wir würden sagen, es sei ein Unterpfand ihrer Wiederkehr, daß sie das kleine Buch an dieser Stelle vergessen, denn wir behaupten, man vergißt nichts ohne geheimen Grund oder verborgenes Motiv.

Der Rest des Tages bringt unserem Hanold allerlei merkwürdige Entdeckungen und Feststellungen, die er zu einem Ganzen zusammenzufügen verabsäumt. In der Mauer des Portikus, wo die Gradiva verschwunden, nimmt er heute einen schmalen Spalt gewahr, der doch breit genug ist, um eine Person von ungewöhnlicher Schlankheit durchzulassen. Er erkennt, die Zoë-Gradiva brauche hier nicht in den Boden zu versinken, was auch so vernunftwidrig sei, daß er sich dieses nun abgelegten Glaubens schämt, sondern sie benütze diesen Weg, um sich in ihre Gruft zu begeben. Ein leichter Schatten scheint ihm am Ende der Gräberstraße vor der sogen. Villa des Diomedes zu zergehen. Im Taumel wie am Vortage und mit denselben Problemen beschäftigt, treibt er sich nun in der Umgebung Pompejis herum. Von welcher leiblichen Beschaffenheit wohl die Zoë-Gradiva sein möge, und ob man etwas verspüren würde, wenn man ihre Hand berührte. Ein eigentümlicher Drang trieb ihn zum Vorsatze, dieses Experiment zu unternehmen, und doch hielt ihn eine ebenso große Scheu auch in der Vorstellung davon zurück. An einem heißbesonnten Abhange traf er einen älteren Herrn, der nach seiner Ausrüstung ein Zoologe oder Botaniker sein mußte und mit einem Fange beschäftigt schien. Der wandte sich nach ihm um und sagte dann: »Interessieren Sie sich auch für die Faraglionensis? Das hätte ich kaum vermutet, aber mir ist es durchaus wahrscheinlich, daß sie sich nicht nur auf den Faraglionen bei Capri aufhält, sondern sich mit Ausdauer auch am Festland finden lassen muß. Das vom Kollegen Eimer angegebene Mittel ist wirklich gut; ich habe es schon mehrfach mit bestem Erfolge angewendet. Bitte, halten Sie sich ganz ruhig –.« (G. p. 96.) Der Sprecher brach dann ab und hielt eine aus einem langen Grashalm hergestellte Schlinge vor eine Felsritze, aus der das bläulich schillernde Köpfchen einer Eidechse hervorsah. Hanold verließ den Lacertenjäger mit der kritischen Idee, es sei kaum glaublich, was für närrisch merkwürdige Vorhaben Leute zu der weiten Fahrt nach Pompeji veranlassen konnten, in welche Kritik er sich und seine Absicht, in der Asche Pompejis nach den Fußabdrücken der Gradiva zu forschen, natürlich nicht einschloß. Das Gesicht des Herrn kam ihm übrigens bekannt vor, als hätte er es flüchtig in einem der beiden Gasthöfe bemerkt, auch war dessen Anrede wie an einen Bekannten gerichtet gewesen. Auf seiner weiteren Wanderung brachte ihn ein Seitenweg zu einem bisher von ihm nicht entdeckten Haus, welches sich als ein drittes Wirtshaus, der »Albergo del Sole« herausstellte. Der unbeschäftigte Wirt benützte die Gelegenheit, sein Haus und die darin enthaltenen ausgegrabenen Schätze bestens zu empfehlen. Er behauptete, daß er auch zugegen gewesen sei, als man in der Gegend des Forums das junge Liebespaar aufgefunden, das sich bei der Erkenntnis des unabwendbaren Unterganges fest mit den Armen umschlungen und so den Tod erwartet habe. Davon hatte Hanold schon früher gehört und darüber als über eine Fabelerfindung irgend eines phantasiereichen Erzählers die Achsel gezuckt, aber heute erweckten die Reden des Wirtes bei ihm eine Gläubigkeit, die sich auch weiter erstreckte, als dieser eine mit grüner Patina überzogene Metallspange herbeiholte, die in seiner Gegenwart neben den Überresten des Mädchens aus der Asche gesammelt worden sei. Er erwarb diese Spange ohne weitere kritische Bedenken, und als er beim Verlassen des Albergo an einem offenstehenden Fenster einen mit weißen Blüten besetzten Asphodelosschaft herabnicken sah, durchdrang ihn der Anblick der Gräberblume wie eine Beglaubigung für die Echtheit seines neuen Besitztums.

Mit dieser Spange hatte aber ein neuer Wahn von ihm Besitz ergriffen oder vielmehr der alte ein Stückchen Fortsetzung getrieben, anscheinend kein gutes Vorzeichen für die eingeleitete Therapie. Unweit des Forums hatte man ein junges Liebespaar in solcher Umschlingung ausgegraben, und er hatte im Traume die Gradiva in eben dieser Gegend beim Apollotempel sich zum Schlafe niederlegen gesehen. Wäre es nicht möglich, daß sie in Wirklichkeit vom Forum noch weiter gegangen sei, um mit jemand zusammenzutreffen, mit dem sie dann gemeinsam gestorben? Ein quälendes Gefühl, das wir vielleicht der Eifersucht gleichstellen können, entsprang aus dieser Vermutung. Er beschwichtigte es durch den Hinweis auf die Unsicherheit der Kombination und brachte sich wieder so weit zurecht, daß er die Abendmahlzeit im Hotel Diomède einnehmen konnte. Zwei neueingetroffene Gäste, ein Er und eine Sie, die er nach einer gewissen Ähnlichkeit für Geschwister halten mußte, – trotz ihrer verschiedenen Haarfärbung, – zogen dort seine Aufmerksamkeit auf sich. Die Beiden waren die ersten ihm auf seiner Reise Begegnenden, von denen er einen sympathischen Eindruck empfing. Eine rote Sorrentiner Rose, die das junge Mädchen trug, weckte irgend eine Erinnerung in ihm, er konnte sich nicht besinnen, welche. Endlich ging er zu Bett und träumte; es war merkwürdig unsinniges Zeug, aber offenbar aus den Erlebnissen des Tages zusammengebraut. »Irgendwo in der Sonne saß die Gradiva, machte aus einem Grashalm eine Schlinge, um eine Eidechse drin zu fangen und sagte dazu: ›Bitte, halte dich ganz ruhig – die Kollegin hat recht, das Mittel ist wirklich gut und sie hat es mit bestem Erfolge angewendet.‹« Gegen diesen Traum wehrte er sich noch im Schlafe mit der Kritik, das sei ja vollständige Verrücktheit, und es gelang ihm, den Traum loszuwerden mit Hilfe eines unsichtbaren Vogels, der einen kurzen lachenden Ruf ausstieß und die Eidechse im Schnabel forttrug.

Trotz all dieses Spuks erwachte er eher geklärt und gefestigt. Ein Rosenstrauch, der Blumen von jener Art trug, wie er sie gestern an der Brust der jungen Dame bemerkt hatte, brachte ihm ins Gedächtnis zurück, daß in der Nacht jemand gesagt hatte, im Frühling gäbe man Rosen. Er pflückte unwillkürlich einige der Rosen ab, und an diese mußte sich etwas knüpfen, was eine lösende Wirkung in seinem Kopf ausübte. Seiner Menschenscheu erledigt, begab er sich auf dem gewöhnlichen Wege nach Pompeji, mit den Rosen, der Metallspange und dem Skizzenbuch beschwert und mit verschiedenen Problemen, welche die Gradiva betrafen, beschäftigt. Der alte Wahn war rissig geworden, er zweifelte bereits, ob sie sich nur in der Mittagsstunde, nicht auch zu anderen Zeiten in Pompeji aufhalten dürfe. Der Akzent hatte sich dafür auf das zuletzt angefügte Stück verschoben, und die an diesem hängende Eifersucht quälte ihn in allerlei Verkleidungen. Beinahe hätte er gewünscht, daß die Erscheinung nur seinen Augen sichtbar bleibe und sich der Wahrnehmung anderer entziehe; so dürfte er sie doch als sein ausschließliches Eigentum betrachten. Während seiner Streifungen im Erwarten der Mittagsstunde hatte er eine überraschende Begegnung. In der Casa del fauno traf er auf zwei Gestalten, die sich in einem Winkel unentdeckbar glauben mochten, denn sie hielten sich mit den Armen umschlungen und ihre Lippen zusammengeschlossen. Mit Verwunderung erkannte er in ihnen das sympathische Paar von gestern abend. Aber für zwei Geschwister bedünkten ihn ihr gegenwärtiges Verhalten, die Umarmung und der Kuß von zu langer Andauer; also war es doch ein Liebes- und vermutlich junges Hochzeitspaar, auch ein August und eine Grete. Merkwürdigerweise erregte dieser Anblick jetzt nichts anderes als Wohlgefallen in ihm, und scheu, als hätte er eine geheime Andachtsübung gestört, zog er sich ungesehen zurück. Ein Respekt, der ihm lange gefehlt hatte, war in ihm wiederhergestellt.

Vor dem Hause des Meleager angekommen, überfiel ihn die Angst, die Gradiva in Gesellschaft eines Anderen anzutreffen, noch einmal so heftig, daß er für ihre Erscheinung keine andere Begrüßung fand, als die Frage: Bist du allein? Mit Schwierigkeit läßt er sich von ihr zum Bewußtsein bringen, daß er die Rosen für sie gepflückt, beichtet ihr den letzten Wahn, daß sie das Mädchen gewesen, das man am Forum in Liebesumarmung gefunden, und dem die grüne Spange gehört hatte. Nicht ohne Spott fragt sie, ob er das Stück etwa in der Sonne gefunden. Diese – hier Sole genannt – bringe allerlei derart zu stande. Zur Heilung des Schwindels im Kopfe, den er zugesteht, schlägt sie ihm vor, ihre kleine Mahlzeit mit ihr zu teilen, und bietet ihm die eine Hälfte eines in Seidenpapier eingewickelten Weißbrotes an, dessen andere sie selbst mit sichtlichem Appetit verzehrt. Dabei blitzen ihre tadellosen Zähne zwischen den Lippen auf und verursachen beim Durchbeißen der Rinde einen leicht krachenden Ton. Auf ihre Rede: »Mir ist's, als hätten wir schon vor zweitausend Jahren einmal so zusammen unser Brot gegessen. Kannst du dich nicht darauf besinnen?« (G. p. 118) wußte er keine Antwort, aber die Stärkung seines Kopfes durch das Nährmittel und all die Zeichen von Gegenwärtigkeit, die sie gab, verfehlten ihre Wirkung auf ihn nicht. Die Vernunft erhob sich in ihm und zog den ganzen Wahn, daß die Gradiva nur ein Mittagsgespenst sei, in Zweifel; dagegen ließ sich freilich einwenden, daß sie soeben selbst gesagt, sie habe schon vor zweitausend Jahren die Mahlzeit mit ihm geteilt. In solchem Konflikt bot sich ein Experiment als Mittel der Entscheidung, das er mit Schlauheit und wiedergefundenem Mute ausführte. Ihre linke Hand lag mit den schmalen Fingern ruhig auf ihren Knien, und eine der Stubenfliegen, über deren Frechheit und Nutzlosigkeit er sich früher so entrüstet hatte, ließ sich auf dieser Hand nieder. Plötzlich fuhr Hanolds Hand in die Höh' und klatschte mit einem keineswegs gelinden Schlag auf die Fliege und die Hand der Gradiva herunter.

Zweierlei Erfolg trug ihm dieser kühne Versuch ein, zunächst die freudige Überzeugung, daß er eine unzweifelhaft wirkliche, lebendige und warme Menschenhand berührt, dann aber einen Verweis, vor dem er erschrocken von seinem Sitz auf der Stufe aufflog. Denn von den Lippen der Gradiva tönte es, nachdem sie sich von ihrer Verblüffung erholt hatte: »Du bist doch offenbar verrückt, Norbert Hanold.«

Der Ruf beim eigenen Namen ist bekanntlich das beste Mittel, einen Schläfer oder Nachtwandler aufzuwecken. Welche Folgen die Nennung seines Namens, von dem er niemand in Pompeji Mitteilung gemacht, durch die Gradiva für Norbert Hanold mit sich gebracht hatte, ließ sich leider nicht beobachten. Denn in diesem kritischen Augenblick tauchte das sympathische Liebespaar aus der Casa di fauno auf, und die junge Dame rief mit einem Ton fröhlicher Überraschung: »Zoë! du auch hier? Und auch auf der Hochzeitsreise? Davon hast du mir ja kein Wort geschrieben!« Vor diesem neuen Beweis der Lebenswirklichkeit der Gradiva ergriff Hanold die Flucht.

Die Zoë-Gradiva war durch den unvorhergesehenen Besuch, der sie in einer, wie es scheint, wichtigen Arbeit störte, auch nicht aufs angenehmste überrascht. Aber bald gefaßt, beantwortet sie die Frage mit einer geläufigen Antwortsrede, in der sie der Freundin, aber mehr noch uns, Auskünfte über die Situation gibt, und mittels welcher sie sich des jungen Paares zu entledigen weiß. Sie gratuliert, aber sie ist nicht auf der Hochzeitsreise. »Der junge Herr, der eben fortging, laboriert auch an einem merkwürdigen Hirngespinst, mir scheint, er glaubt, daß ihm eine Fliege im Kopfe summt; nun, irgend eine Kerbtierart hat wohl Jeder drin. Pflichtmäßig verstehe ich mich etwas auf Entomologie und kann deshalb bei solchen Zuständen ein bißchen von Nutzen sein. Mein Vater und ich wohnen im Sole, er bekam auch einen plötzlichen Anfall und dazu den guten Einfall, mich mit hieher zu nehmen, wenn ich mich auf meine eigene Hand in Pompeji unterhalten und an ihn keinerlei Anforderungen stellen wollte. Ich sagte mir, irgend etwas Interessantes würde ich wohl schon allein hier ausgraben. Freilich, auf den Fund, den ich gemacht, – ich meine das Glück, dich zu treffen, Gisa, hatte ich mit keinem Gedanken gerechnet.« (G. p. 124.) Aber nun muß sie eilig fort, ihrem Vater am Sonnentisch Gesellschaft leisten. Und so entfernt sie sich, nachdem sie sich uns als die Tochter des Zoologen und Eidechsenfängers vorgestellt und in allerlei doppelsinnigen Reden sich zur Absicht der Therapie und zu anderen geheimen Absichten bekannt hat. Die Richtung, die sie einschlug, war aber nicht die des Gasthofes zur Sonne, in dem ihr Vater sie erwartete, sondern auch ihr wollte scheinen, als ob in der Umgegend der Villa des Diomedes eine Schattengestalt ihren Tumulus aufsuche und unter einem der Gräberdenkmäler verschwinde, und darum richtete sie ihre Schritte mit dem jedesmal beinahe senkrecht aufgestellten Fuß nach der Gräberstraße. Dorthin hatte sich in seiner Beschämung und Verwirrung Hanold geflüchtet und wanderte im Portikus des Gartenraumes unablässig auf und ab, beschäftigt, den Rest seines Problems durch Denkanstrengung zu erledigen. Eines war ihm unanfechtbar klar geworden, daß er völlig ohne Sinn und Verstand gewesen zu glauben, daß er mit einer mehr oder weniger leiblich wieder lebendig gewordenen jungen Pompejanerin verkehrt habe, und diese deutliche Einsicht seiner Verrücktheit bildete unstreitig einen wesentlichen Fortschritt auf dem Rückweg zur gesunden Vernunft. Aber anderseits war diese Lebende, mit der auch Andere wie mit einer ihnen gleichartigen Leibhaftigkeit verkehrten, die Gradiva, und sie wußte seinen Namen, und dieses Rätsel zu lösen, war seine kaum erwachte Vernunft nicht stark genug. Auch war er im Gefühl kaum ruhig genug, um sich solcher schwierigen Aufgabe gewachsen zu zeigen, denn am liebsten wäre er vor zweitausend Jahren in der Villa des Diomedes mitverschüttet worden, um nur sicher zu sein, der Zoë-Gradiva nicht wieder zu begegnen.

Eine heftige Sehnsucht, sie wiederzusehen, stritt indessen gegen den Rest von Neigung zur Flucht, der sich in ihm erhalten hatte.

Um eine der vier Ecken des Pfeilerganges biegend, prallte er plötzlich zurück. Auf einem abgebrochenen Mauerstücke saß da eines der Mädchen, die hier in der Villa des Diomedes ihren Tod gefunden hatten. Aber das war ein bald abgewiesener letzter Versuch, in das Reich des Wahnsinns zu flüchten; nein, die Gradiva war es, die offenbar gekommen war, ihm das letzte Stück ihrer Behandlung zu schenken. Sie deutete seine erste instinktive Bewegung ganz richtig als einen Versuch, den Raum zu verlassen, und bewies ihm, daß er nicht entrinnen könne, denn draußen hatte ein fürchterlicher Wassersturz zu rauschen begonnen. Die Unbarmherzige begann das Examen mit der Frage, was er mit der Fliege auf ihrer Hand gewollt. Er fand nicht den Mut, sich eines bestimmten Pronomens zu bedienen, wohl aber den wertvolleren, die entscheidende Frage zu stellen:

»Ich war – wie jemand sagte – etwas verwirrt im Kopf und bitte um Verzeihung, daß ich die Hand derartig – wie ich so sinnlos sein konnte, ist mir nicht begreiflich – aber ich bin auch nicht im stande, zu begreifen, wie ihre Besitzerin mir meine – meine Unvernunft mit meinem Namen vorhalten konnte.« (G. p. 134.)

»So weit ist dein Begreifen also noch nicht vorgeschritten, Norbert Hanold. Wunder nehmen kann's mich allerdings nicht, da du mich lange daran gewöhnt hast. Um die Erfahrung wieder zu machen, hätte ich nicht nach Pompeji zu kommen gebraucht, und du hättest sie mir um gut hundert Meilen näher bestätigen können.«

»Um hundert Meilen näher; deiner Wohnung schräg gegenüber, in dem Eckhaus; an meinem Fenster steht ein Käfig mit einem Kanarienvogel,« eröffnet sie jetzt dem noch immer Verständnislosen.

Dies letzte Wort berührt den Hörer wie eine Erinnerung aus einer weiten Ferne. Das ist doch derselbe Vogel, dessen Gesang ihm den Entschluß zur Reise nach Italien eingegeben.

»In dem Hause wohnt mein Vater, der Professor der Zoologie Richard Bertgang.«

Als seine Nachbarin kannte sie also seine Person und seinen Namen. Uns droht es wie eine Enttäuschung durch eine seichte Lösung, die unserer Erwartungen nicht würdig ist.

Norbert Hanold zeigt noch keine wiedergewonnene Selbständigkeit des Denkens, wenn er wiederholt: »Dann sind Sie – sind Sie Fräulein Zoë Bertgang? Die sah aber doch ganz anders aus ....«

Die Antwort des Fräuleins Bertgang zeigt dann, daß doch noch andere Beziehungen als die der Nachbarschaft zwischen den beiden bestanden hatten. Sie weiß für das trauliche »du« einzutreten, das er dem Mittagsgespenst natürlich geboten, vor der Lebenden wieder zurückgezogen hatte, auf das sie aber alte Rechte geltend macht. »Wenn du die Anrede passender zwischen uns findest, kann ich sie ja auch anwenden, mir lag nur die andere natürlicher auf der Zunge. Ich weiß nicht mehr, ob ich früher, als wir täglich freundschaftlich miteinander herumliefen, gelegentlich uns zur Abwechslung auch knufften und pufften, anders ausgesehen habe. Aber wenn Sie in den letzten Jahren einmal mit einem Blick auf mich Acht gegeben hätten, wäre Ihren Augen vielleicht aufgegangen, daß ich schon seit längerer Zeit so aussehe.«

Eine Kinderfreundschaft hatte also zwischen den beiden bestanden, vielleicht eine Kinderliebe, aus der das »Du« seine Berechtigung ableitete. Ist diese Lösung nicht vielleicht ebenso seicht wie die erst vermutete? Es trägt aber doch wesentlich zur Vertiefung bei, daß uns einfällt, dies Kinderverhältnis erkläre in unvermuteter Weise so manche Einzelheit von dem, was während ihres jetzigen Verkehrs zwischen den Beiden vorgefallen. Jener Schlag auf die Hand der Zoë-Gradiva, den sich Norbert Hanold so vortrefflich mit dem Bedürfnis motiviert, durch eine experimentelle Entscheidung die Frage nach der Leiblichkeit der Erscheinung zu lösen, sieht er nicht anderseits einem Wiederaufleben des Impulses zum »Knuffen und Puffen« merkwürdig ähnlich, dessen Herrschaft in der Kindheit uns die Worte Zoës bezeugt haben? Und wenn die Gradiva an den Archäologen die Frage gerichtet, ob ihm nicht vorkomme, daß sie schon einmal vor zweitausend Jahren so die Mahlzeit miteinander geteilt hätten, wird diese unverständliche Frage nicht plötzlich sinnvoll, wenn wir anstatt jener geschichtlichen Vergangenheit die persönliche einsetzen, die Kinderzeit wiederum, deren Erinnerungen bei dem Mädchen lebhaft erhalten, bei dem jungen Manne aber vergessen zu sein scheinen? Dämmert uns nicht plötzlich die Einsicht, daß die Phantasien des jungen Archäologen über seine Gradiva ein Nachklang dieser vergessenen Kindheitserinnerungen sein könnten? Dann wären sie also keine willkürlichen Produktionen seiner Phantasie, sondern bestimmt, ohne daß er darum wüßte, durch das von ihm vergessene, aber noch wirksam in ihm vorhandene Material von Kindheitseindrücken. Wir müßten diese Abkunft der Phantasien im einzelnen nachweisen können, wenn auch nur durch Vermutungen. Wenn z. B. die Gradiva durchaus griechischer Abkunft sein muß, die Tochter eines angesehenen Mannes, vielleicht eines Priesters der Ceres, so stimmte das nicht übel zu einer Nachwirkung der Kenntnis ihres griechischen Namens Zoë und ihrer Zugehörigkeit zur Familie eines Professors der Zoologie. Sind aber die Phantasien Hanolds umgewandelte Erinnerungen, so dürfen wir erwarten, in den Mitteilungen der Zoë Bertgang den Hinweis auf die Quellen dieser Phantasien zu finden. Horchen wir auf; sie erzählte uns von einer intimen Freundschaft der Kinderjahre, wir werden nun erfahren, welche weitere Entwicklung diese Kinderbeziehung bei den Beiden genommen hat.

»Damals, so bis um die Zeit, in der man uns, ich weiß nicht weshalb, Backfische tituliert, hatte ich mir eigentlich eine merkwürdige Anhänglichkeit an Sie angewöhnt und glaubte, ich könnte nie einen mir angenehmeren Freund auf der Welt finden. Mutter und Schwester oder Bruder hatte ich ja nicht, meinem Vater war eine Blindschleiche in Spiritus bedeutend interessanter als ich, und etwas muß man, wozu ich auch ein Mädchen rechne, wohl haben, womit man seine Gedanken und was sonst mit ihnen zusammenhängt, beschäftigen kann. Das waren also Sie damals; doch als die Altertumswissenschaft über Sie gekommen war, machte ich die Entdeckung, daß aus dir – entschuldigen Sie, aber Ihre schickliche Neuerung klingt mir doch zu abgeschmackt und paßt auch nicht zu dem, was ich ausdrücken will – ich wollte sagen, da stellte sich heraus, daß aus dir ein unausstehlicher Mensch geworden war, der, wenigstens für mich, keine Augen mehr im Kopf, keine Zunge mehr im Mund und keine Erinnerung mehr da hatte, wo sie mir an unsere Kinderfreundschaft sitzen geblieben war. Darum sah ich wohl anders aus als früher, denn wenn ich ab und zu in einer Gesellschaft mit dir zusammenkam, noch im letzten Winter einmal, sahst du mich nicht, und noch weniger bekam ich deine Stimme zu hören, worin übrigens keine Auszeichnung für mich lag, weil du's mit allen Andern ebenso machtest. Ich war Luft für dich, und du warst, mit deinem blonden Haarschopf, an dem ich dich früher oft gezaust, so langweilig, vertrocknet und mundfaul wie ein ausgestopfter Kakadu und dabei so großartig wie ein – Archäopteryx heißt das ausgegrabene vorsintflutliche Vogelungetüm ja wohl. Nur daß dein Kopf eine ebenfalls so großartige Phantasie beherbergte, hier in Pompeji mich auch für etwas Ausgegrabenes und wieder lebendig Gewordenes anzusehen, – das hatte ich nicht bei dir vermutet, und als du auf einmal ganz unerwartet vor mir standest, kostete es mich zuerst ziemliche Mühe, dahinter zu kommen, was für ein unglaubliches Hirngespinst deine Einbildung sich zurechtgearbeitet hatte. Dann machte mir's Spaß und gefiel mir auch trotz seiner Tollhäusigkeit nicht so übel. Denn, wie gesagt, das hatte ich bei dir nicht vermutet.«

So sagt sie uns also deutlich genug, was aus der Kinderfreundschaft mit den Jahren bei ihnen Beiden geworden war. Bei ihr steigerte sich dieselbe zu einer herzlichen Verliebtheit, denn etwas muß man ja haben, woran man als Mädchen sein Herz hängt. Fräulein Zoë, die Verkörperung der Klugheit und Klarheit, macht uns auch ihr Seelenleben ganz durchsichtig. Wenn es schon allgemeine Regel für das normal geartete Mädchen ist, daß sie ihre Neigung zunächst dem Vater zuwende, so war sie ganz besonders dazu bereit, die keine andere Person als den Vater in ihrer Familie fand. Dieser Vater aber hatte für sie nichts übrig, die Objekte seiner Wissenschaft hatten all sein Interesse mit Beschlag belegt. So mußte sie nach einer anderen Person Umschau halten und hing sich mit besonderer Innigkeit an ihren Jugendgespielen. Als auch dieser keine Augen mehr für sie hatte, störte es ihre Liebe nicht, steigerte sie vielmehr, denn er war ihrem Vater gleich geworden, wie dieser von der Wissenschaft absorbiert und durch sie vom Leben und von Zoë ferngehalten. So war es ihr gestattet, in der Untreue noch treu zu sein, im Geliebten den Vater wiederzufinden, mit dem gleichen Gefühl die Beiden zu umfassen oder, wie wir sagen können, die Beiden in ihrem Fühlen zu identifizieren. Woher nehmen wir die Berechtigung zu dieser kleinen psychologischen Analyse, die leicht als selbstherrlich erscheinen könnte? In einem einzigen, aber höchst charakteristischen Detail hat sie der Dichter uns gegeben. Wenn Zoë die für sie so betrübende Verwandlung ihres Jugendgespielen schildert, so beschimpft sie ihn durch einen Vergleich mit dem Archäopteryx, jenem Vogelungetüm, das der Archäologie der Zoologie angehört. So hat sie für die Identifizierung der beiden Personen einen einzigen konkreten Ausdruck gefunden; ihr Groll trifft den Geliebten wie den Vater mit demselben Worte. Der Archäopteryx ist sozusagen die Kompromiß- oder Mittelvorstellung, in welcher der Gedanke an die Torheit ihres Geliebten mit dem an die analoge ihres Vaters zusammenkommt.

Anders hatte es sich bei dem jungen Manne gewendet. Die Altertumswissenschaft kam über ihn und ließ ihm nur Interesse für Weiber aus Stein und Bronze übrig. Die Kinderfreundschaft ging unter, anstatt sich zu einer Leidenschaft zu verstärken, und die Erinnerungen an sie gerieten in so tiefe Vergessenheit, daß er seine Jugendgenossin nicht erkannte und nicht beachtete, wenn er sie in der Gesellschaft traf. Zwar, wenn wir das weitere überblicken, dürfen wir in Zweifel ziehen, ob »Vergessenheit« die richtige psychologische Bezeichnung für das Schicksal dieser Erinnerungen bei unserem Archäologen ist. Es gibt eine Art von Vergessen, welche sich durch die Schwierigkeit auszeichnet, mit welcher die Erinnerung auch durch starke äußere Anrufungen erweckt wird, als ob ein innerer Widerstand sich gegen deren Wiederbelebung sträubte. Solches Vergessen hat den Namen »Verdrängung« in der Psychopathologie erhalten; der Fall, den unser Dichter uns vorgeführt, scheint ein solches Beispiel von Verdrängung zu sein. Nun wissen wir ganz allgemein nicht, ob das Vergessen eines Eindruckes mit dem Untergang von dessen Erinnerungsspur im Seelenleben verbunden ist; von der »Verdrängung« können wir aber mit Bestimmtheit behaupten, daß sie nicht mit dem Untergang, dem Auslöschen der Erinnerung zusammenfällt. Das Verdrängte kann zwar in der Regel sich nicht ohne weiteres als Erinnerung durchsetzen, aber es bleibt leistungs- und wirkungsfähig, es läßt eines Tages unter dem Einfluß einer äußeren Einwirkung psychische Abfolgen entstehen, die man als Verwandlungsprodukte und Abkömmlinge der vergessenen Erinnerung auffassen kann, und die unverständlich bleiben, wenn man sie nicht so auffaßt. In den Phantasien Norbert Hanolds über die Gradiva glaubten wir bereits die Abkömmlinge seiner verdrängten Erinnerungen an seine Kinderfreundschaft mit der Zoë Bertgang zu erkennen. Mit besonderer Gesetzmäßigkeit darf man eine derartige Wiederkehr des Verdrängten erwarten, wenn an den verdrängten Eindrücken das erotische Fühlen eines Menschen haftet, wenn sein Liebesleben von der Verdrängung betroffen worden ist. Dann behält der alte lateinische Spruch recht, der vielleicht ursprünglich auf Austreibung durch äußere Einflüsse, nicht auf innere Konflikte gemünzt ist: Naturam furca expellas, semper redibit. Aber er sagt nicht alles, kündigt nur die Tatsache der Wiederkehr des Stückes verdrängter Natur an, und beschreibt nicht die höchst merkwürdige Art dieser Wiederkehr, die sich wie durch einen tückischen Verrat vollzieht. Gerade dasjenige, was zum Mittel der Verdrängung gewählt worden ist – wie die »furca« des Spruches –, wird der Träger des Wiederkehrenden; in und hinter dem Verdrängenden macht sich endlich siegreich das Verdrängte geltend. Eine bekannte Radierung von Félicien Rops illustriert diese wenig beachtete und der Würdigung so sehr bedürftige Tatsache eindrucksvoller, als viele Erläuterungen es vermöchten, und zwar an dem vorbildlichen Falle der Verdrängung im Leben der Heiligen und Büßer. Ein asketischer Mönch hat sich – gewiß vor den Versuchungen der Welt – zum Bild des gekreuzigten Erlösers geflüchtet. Da sinkt dieses Kreuz schattenhaft nieder und strahlend erhebt sich an seiner Stelle, zu seinem Ersatze, das Bild eines üppigen nackten Weibes in der gleichen Situation der Kreuzigung. Andere Maler von geringerem psychologischen Scharfblick haben in solchen Darstellungen der Versuchung die Sünde frech und triumphierend an irgend eine Stelle neben dem Erlöser am Kreuze gewiesen. Rops allein hat sie den Platz des Erlösers selbst am Kreuze einnehmen lassen; er scheint gewußt zu haben, daß das Verdrängte bei seiner Wiederkehr aus dem Verdrängenden selbst hervortritt.

Es ist des Verweilens wert, sich in Krankheitsfällen zu überzeugen, wie feinfühlig im Zustande der Verdrängung das Seelenleben eines Menschen für die Annäherung des Verdrängten wird, und wie leise und geringfügige Ähnlichkeiten genügen, damit dasselbe hinter dem Verdrängenden und durch dieses zur Wirkung gelange. Ich hatte einmal Anlaß, mich ärztlich um einen jungen Mann, fast noch Knaben, zu kümmern, der nach der ersten unerwünschten Kenntnisnahme von den sexuellen Vorgängen die Flucht vor allen in ihm aufsteigenden Gelüsten ergriffen hatte und sich verschiedener Mittel der Verdrängung dazu bediente, seinen Lerneifer steigerte, die kindliche Anhänglichkeit an die Mutter übertrieb und im ganzen ein kindisches Wesen annahm. Ich will hier nicht ausführen, wie gerade im Verhältnis zur Mutter die verdrängte Sexualität wieder durchdrang, sondern den selteneren und fremdartigeren Fall beschreiben, wie ein anderes seiner Bollwerke bei einem kaum als zureichend zu erkennenden Anlasse zusammenbrach. Als Ablenkung vom Sexuellen genießt die Mathematik den größten Ruf; schon J. J. Rousseau hatte sich von einer Dame, die mit ihm unzufrieden war, raten lassen müssen: Lascia le donne e studia la matematica. So warf sich auch unser Flüchtling mit besonderem Eifer auf die in der Schule gelehrte Mathematik und Geometrie, bis seine Fassungskraft eines Tages plötzlich vor einigen scheinbar harmlosen Aufgaben erlahmte. Von zweien dieser Aufgaben ließ sich noch der Wortlaut feststellen: Zwei Körper stoßen aufeinander, der eine mit der Geschwindigkeit ... u. s. w. – Und: Einem Zylinder vom Durchmesser der Grundfläche m ist ein Kegel einzuschreiben u. s. w. Bei diesen für einen anderen gewiß nicht auffälligen Anspielungen an das sexuelle Geschehen fand er sich auch von der Mathematik verraten und ergriff auch vor ihr die Flucht.

Wenn Norbert Hanold eine aus dem Leben geholte Persönlichkeit wäre, die so die Liebe und die Erinnerung an seine Kinderfreundschaft durch die Archäologie vertrieben hätte, so wäre es nur gesetzmäßig und korrekt, daß gerade ein antikes Relief die vergessene Erinnerung an die mit kindlichen Gefühlen Geliebte in ihm erweckt; es wäre sein wohlverdientes Schicksal, daß er sich in das Steinbild der Gradiva verliebt, hinter welchem vermöge einer nicht aufgeklärten Ähnlichkeit die lebende und von ihm vernachlässigte Zoë zur Wirkung kommt.

Fräulein Zoë scheint selbst unsere Auffassung von dem Wahn des jungen Archäologen zu teilen, denn das Wohlgefallen, dem sie am Ende ihrer »rückhaltlosen, ausführlichen und lehrreichen Strafrede« Ausdruck gegeben, läßt sich kaum anders als durch die Bereitwilligkeit begründen, sein Interesse für die Gradiva von allem Anfang an auf ihre Person zu beziehen. Dieses war es eben, was sie ihm nicht zugetraut hatte, und was sie trotz aller Wahnverkleidung doch als solches erkannte. An ihm aber hatte nun die psychische Behandlung von ihrer Seite ihre wohltätige Wirkung vollbracht; er fühlte sich frei, da nun der Wahn durch dasjenige ersetzt war, wovon er doch nur eine entstellte und ungenügende Abbildung sein konnte. Er zögerte jetzt auch nicht, sich zu erinnern und sie als seine gute, fröhliche, klugsinnige Kameradin zu erkennen, die sich im Grunde gar nicht verändert habe. Aber etwas anderes fand er höchst sonderbar –

»Daß jemand erst sterben muß, um lebendig zu werden«, meinte das Mädchen. »Aber für die Archäologen ist das wohl notwendig.« (G. p. 141.) Sie hatte ihm offenbar den Umweg noch nicht verziehen, den er von der Kinderfreundschaft bis zu dem neu sich knüpfenden Verhältnis über die Altertumswissenschaft eingeschlagen hatte.

»Nein, ich meine dein Name ... Weil Bertgang mit Gradiva gleichbedeutend ist und ›die im Schreiten Glänzende‹ bezeichnet.« (G. p. 142.)

Darauf waren nun auch wir nicht vorbereitet. Unser Held beginnt sich aus seiner Demütigung zu erheben und eine aktive Rolle zu spielen. Er ist offenbar von seinem Wahn völlig geheilt, über ihn erhoben, und beweist dies, indem er die letzten Fäden des Wahngespinstes selbständig zerreißt. Genau so benehmen sich auch die Kranken, denen man den Zwang ihrer wahnhaften Gedanken durch Aufdeckung des dahintersteckenden Verdrängten gelockert hat. Haben sie begriffen, so bringen sie für die letzten und bedeutsamsten Rätsel ihres sonderbaren Zustandes selbst die Lösungen in plötzlich auftauchenden Einfällen. Wir hatten ja bereits vermutet, daß die griechische Abkunft der fabelhaften Gradiva eine dunkle Nachwirkung des griechischen Namens Zoë sei, aber an den Namen »Gradiva« selbst hatten wir uns nicht herangewagt, ihn hatten wir als freie Schöpfung der Phantasie Norbert Hanolds gelten lassen. Und siehe da, gerade dieser Name erweist sich nun als Abkomme, ja eigentlich als Übersetzung des verdrängten Familiennamens der angeblich vergessenen Kindergeliebten!

Die Herleitung und die Auflösung des Wahnes sind nun vollendet. Was noch beim Dichter folgt, darf wohl dem harmonischen Abschluß der Erzählung dienen. Es kann uns im Hinblick auf Zukünftiges nur wohltuend berühren, wenn die Rehabilitierung des Mannes, der früher eine so klägliche Rolle als Heilungsbedürftiger spielen mußte, weiterschreitet und es ihm nun gelingt, etwas von den Affekten, die er bisher erduldet, bei ihr zu erwecken. So trifft es sich, daß er sie eifersüchtig macht durch die Erwähnung der sympathischen jungen Dame, die vorhin ihr Beisammensein im Hause des Meleager gestört, und durch das Geständnis, daß diese die erste gewesen, die ihm vortrefflich gefallen hat. Wenn Zoë dann einen kühlen Abschied mit der Bemerkung nehmen will: jetzt sei ja alles wieder zur Vernunft gekommen, sie selbst nicht am wenigsten; er könne Gisa Hartleben, oder wie sie jetzt heiße, wieder aufsuchen, um ihr bei dem Zweck ihres Aufenthaltes in Pompeji wissenschaftlich behilflich zu sein; sie aber müsse jetzt in den Albergo del Sole, wo der Vater mit dem Mittagessen auf sie wartet; vielleicht sähen sie sich beide noch einmal in einer Gesellschaft in Deutschland oder auf dem Monde: so mag er wieder die lästige Fliege zum Vorwand nehmen, um sich zuerst ihrer Wange und dann ihrer Lippen zu bemächtigen und die Aggression, die nun einmal Pflicht des Mannes im Liebesspiel ist, ins Werk zu setzen. Ein einziges Mal noch scheint ein Schatten auf ihr Glück zu fallen, als Zoë mahnt, jetzt müsse sie aber wirklich zu ihrem Vater, der sonst im Sole verhungert. »Dein Vater – was wird der –?« (G. p. 147.) Aber das kluge Mädchen weiß die Sorge rasch zu beschwichtigen: »Wahrscheinlich wird er nichts, ich bin kein unentbehrliches Stück in seiner zoologischen Sammlung; wär' ich das, hätte sich mein Herz vielleicht nicht so unklug an dich gehängt.« Sollte der Vater aber ausnahmsweise anderer Meinung sein wollen als sie, so gäbe es ein sicheres Mittel. Hanold brauchte nur nach Capri hinüberzufahren, dort eine Lacerta faraglionensis zu fangen, wofür er die Technik an ihrem kleinen Finger einüben könne, das Tier dann hier freizulassen, vor den Augen des Zoologen wieder einzufangen und ihm die Wahl zu lassen zwischen der Faraglionensis auf dem Festlande und der Tochter. Ein Vorschlag, in dem der Spott, wie man leicht merkt, mit Bitterkeit vermengt ist, eine Mahnung gleichsam an den Bräutigam, sich nicht allzu getreu an das Vorbild zu halten, nach dem ihn die Geliebte ausgewählt hat. Norbert Hanold beruhigt uns auch hierüber, indem er die große Umwandlung, die mit ihm vorgefallen ist, in allerlei scheinbar kleinen Anzeichen zum Ausdruck bringt. Er spricht den Vorsatz aus, die Hochzeitsreise mit seiner Zoë nach Italien und nach Pompeji zu machen, als hätte er sich niemals über die Hochzeitsreisenden August und Grete entrüstet. Es ist ihm ganz aus dem Gedächtnis geschwunden, was er gegen diese glücklichen Paare gefühlt, die sich so überflüssigerweise mehr als hundert Meilen von ihrer deutschen Heimat entfernt haben. Gewiß hat der Dichter recht, wenn er solche Gedächtnisschwächung als das wertvollste Zeichen einer Sinnesänderung aufführt. Zoë erwidert auf den kundgegebenen Reisezielwunsch ihres »gewissermaßen gleichfalls aus der Verschüttung wieder ausgegrabenen Kindheitsfreundes« (G. p. 150), sie fühle sich zu solcher geographischen Entscheidung doch noch nicht völlig lebendig genug.

Die schöne Wirklichkeit hat nun den Wahn besiegt, doch harrt des letzteren, ehe die Beiden Pompeji verlassen, noch eine Ehrung. An dem Herkulestor angekommen, wo am Anfang der Strada consolare alte Trittsteine die Straße überkreuzen, hält Norbert Hanold an und bittet das Mädchen voranzugehen. Sie versteht ihn, »und mit der Linken das Kleid ein wenig raffend, schreitet die Gradiva rediviva Zoë Bertgang von ihm mit traumhaft dreinblickenden Augen umfaßt, in ihrer ruhig-behenden Gangart durch den Sonnenglanz über die Trittsteine zur anderen Straßenseite hinüber«. Mit dem Triumph der Erotik kommt jetzt zur Anerkennung, was auch am Wahne schön und wertvoll war.

Mit dem letzten Gleichnis von dem »aus der Verschüttung ausgegrabenen Kindheitsfreunde« hat uns aber der Dichter den Schlüssel zur Symbolik in die Hand gegeben, dessen sich der Wahn des Helden bei der Verkleidung der verdrängten Erinnerung bediente. Es gibt wirklich keine bessere Analogie für die Verdrängung, die etwas Seelisches zugleich unzugänglich macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji zum Schicksal geworden ist, und aus der die Stadt durch die Arbeit des Spatens wieder erstehen konnte. Darum mußte der junge Archäologe das Urbild des Reliefs, welches ihn an seine vergessene Jugendgeliebte mahnte, in der Phantasie nach Pompeji versetzen. Der Dichter aber hatte ein gutes Recht, bei der wertvollen Ähnlichkeit zu verweilen, die sein feiner Sinn zwischen einem Stück des seelischen Geschehens beim Einzelnen und einem vereinzelten historischen Vorgang in der Geschichte der Menschheit aufgespürt.

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