Einleitung.[1]

Unser Dichter ist dahingegangen; wir betrachten sein mächtiges Leben; wir erforschen seine Spuren; wir sammeln was ihn betrifft, um der Geschichte die verklungenen Töne zu überweisen, aus denen sie die unvergängliche Sprache bildet, zur Erhebung und Belehrung der Menschen. Solchen Schätzen fügen wir hiemit eine Reihe eigenhändiger Briefe Goethe’s hinzu, vorzüglich aus der Periode des Werther, und begleiten sie mit einigen erläuternden Documenten.

In einer lieblichen Erscheinung der Wirklichkeit, in der wir die Elemente seines großen Gedichtes erkennen, erblicken wir Ihn, der seitdem ein halbes Jahrhundert die Ideen seiner Nation beherrscht hat, einem jungen Adler gleich, der seine Flügel zu schwingen beginnt, kaum ahnend, daß sie Ihn einst zur höchsten Sonne tragen werden, sehen Ihn, den Jüngling, den Freund, den Liebenden, mit unsern eigenen Augen im Leben wandelnd. Denn wenn Er uns später das Bild seines Lebens als „Wahrheit und Dichtung“[2] gab, so bekannte Er selbst seinen Zweifel, ob im Nebel der Vergangenheit Ihm das Geschehene oder die Idee des Dichters erscheine, ob seine bejahrten Augen an dem Jünglinge die Farben der Jugend noch zu erkennen vermöchten.

Goethe’s Verehrung einer wirklichen Lotte in Wetzlar war Vielen bekannt; denn schon als ein glänzender Jüngling war er vielfach von den Zeitgenossen besprochen und hochgeschätzt. Kurze Zeit, nachdem er die Stadt auf immer verlassen hatte, erschoß sich daselbst ein interessanter junger Mann, Wilhelm Jerusalem, Sohn des berühmten Theologen, des Abts Jerusalem in Braunschweig. Zwei Jahre darauf erschien der Roman: „Die Leiden des jungen Werther.“ Der erdichtete Selbstmord des erdichteten Werther, und die noch in frischem Andenken stehende Schreckensthat Jerusalems, die ebenfalls einer unglücklichen Liebe zugeschrieben und mit Goethe’s Aufenthalt in derselben Stadt fast gleichzeitig war, wirkten zusammen, um die vom Dichter durch den Roman so heftig bewegten Gemüther aufzuregen, und trieben zur Erforschung der Thatsachen, in denen man den Gegenstand so lebendiger Schilderung zu entdecken begierig war. Ein Gewirre von Erzählungen und Auslegungen überschwemmte Deutschland, in denen bald der todte Jerusalem, bald der lebende Goethe mit dem Werther vermengt und verflochten wurde. Solche Beziehungen konnten, wie wir sehen werden, größtentheils nur Goethe’s Seelenzustand treffen, das Faktische derselben aber war, zumal in so fern es die Katastrophe des Romans betrifft, schon deßwegen seiner Person fremd, weil er die Lotte schon in ihrem Brautstande auf immer verlassen hat, und niemals als junge Frau, sondern erst, als er 70, und sie 60 Jahre alt war, in Weimar, wo sie ihre Schwester besuchte, wieder gesehen hat, als sie die ehrwürdige Mutter von zwölf Kindern war, von denen der Verfasser dieser Einleitung der vierte Sohn ist. Unsere Briefe setzen dieses Alles ins Licht. Um jedoch das Bild jener Zeit vollständig aufzufassen, ist es wesentlich, die Personen der Freunde kennen zu lernen, mit denen Goethe gleichsam aus dem Leben in die Dichtung überging; und hiezu sind die nachstehenden Seiten bestimmt. Wenn in diesen historischen Erläuterungen der Sohn über seine Eltern so ausführlich redet, so glaubt er solches in Beziehung auf Goethe selbst nicht unterlassen zu dürfen, weil dadurch dessen innige Freundschaft für die Eltern erklärt und nur dadurch sein ganzes Verhältniß zu ihnen erklärlich wird.

Der nachmalige Hofrath Johann Christian Kestner in Hannover, in Goethe’s „Wahrheit und Dichtung“ (pag. 114 des 22. Bandes von Goethe’s sämmtl. Werken) mit dem Beinamen: „der Bräutigam,“ bezeichnet, kam, sechs und zwanzig Jahre alt, als Legationssecretär der kurfürstlich hannöverschen Gesandtschaft bei der Kammergerichtsvisitation, im Jahre 1767, nach Wetzlar. In Hannover (am 28. Aug. — auch Goethe’s Geburtstage, — 1741) geboren, hatte er in einem glücklichen Familienkreise und an der Hand eines Hauslehrers von ausgebreitetem Wissen und edlem Character eine auserlesene Erziehung gehabt. (S. Nr. 139 der Documente.) Viele Ehrenmänner, bekannte wie unbekannte, haben in vieljähriger Freundschaft mit ihm bezeugt, daß er ein ausgezeichneter Jüngling, später ein trefflicher Mann war: tüchtig, gerecht und menschenliebend, mit einem Verstande durch das Herz, einem Herzen durch den Verstand bereichert. Goethe, einer dieser Zeugen, sagt in einem seiner Briefe: „Ihr wart mir eine Art Ideal eines durch Genügsamkeit und Ordnung Glücklichen, und euer musterhaftes Leben mit Frau und Kindern war mir ein fröhliches und beruhigendes Bild.“ S. Nr. 127.)

Um einen Blick auch unmittelbar auf seine Person, als eine der Haupterscheinungen auf dem Boden, den Goethe in Wetzlar betrat, zu eröffnen, haben wir die Goethe’schen Briefe ebenfalls mit einigen Briefen Kestners an andere Freunde, insonderheit an seine Jugendfreunde, die bekannten Gebrüder v. Hennings, begleitet, welche zugleich Thatsachen von Erheblichkeit enthalten. Es wird in der Familie noch ein fernerer, gar liebenswürdiger Briefwechsel aus der Schulzeit und den Universitätsjahren dieser Freunde aufbewahrt. Alles darin ist gediegen und rein. Warm, gleich Liebenden, wahr und arglos wie Kinder, kaum ahnend, daß Schlechtes oder Unschönes in der Welt sei, durchdrungen von sittlichem Ernst, führen die Jünglinge in diesen Briefen alles was sie denken auf ihre Freundschaft zurück, und stärken ihren jugendlichen Sinn für das Gute und Schöne, durch Wissenschaft, Natur und Dichtkunst. Wenn gleich diese Briefe, einige wenige ausgenommen, die wir unsern Urkunden anschließen, den Umfang dieses Buches nicht erweitern sollen, so durfte der Inhalt derselben nicht unberührt bleiben, da die Seelenschönheit, welche aus denselben hervorleuchtet, zur Auffassung einer so reinen und hohen Freundschaft leitet, welche Kestner mit dem Vollgehalt seines dafür empfänglichen Herzens dem jungen Goethe entgegentrug, von diesem in seinem großen Seelenvermögen erwiedert wurde, und in beiden einen so seltenen Edelmuth entwickelte.

Kestner, an reichhaltigen Umgang gewöhnt, litt anfangs an dem Mangel desselben in der fremden Stadt, und tröstete seine Einsamkeit durch die Schönheiten des Lahnthales, das er, Inhalts seiner Tagebücher, zu Fuß und zu Pferde durchstrich. Doch gar bald fand er Ersatz für das, was er zu Hause verlassen, in der Familie des Deutschordens-Amtmanns Buff, die von manchen Zeugen als eine der auserlesensten jener Stadt, als ein Bild heiterer und unschuldiger Häuslichkeit geschildert ist. Der Vater, ein kräftiger Biedermann, die Mutter von höchster Vortrefflichkeit. Sie war in der Stadt die Mutter der schönen Kinder genannt.

Nicht lange hatte er diesen reichen Umgang genossen, als die Zweitgeborne der Töchter, Charlotte, das höchste Ziel seiner Wünsche wurde. Mit ihrer Liebe zugleich gewann er die besondere Gunst der Mutter. Die von solcher Mutter erzogene Lotte, verstand, auch voll Lebhaftigkeit und Muthwillen, wie sie war, ihren sanftmüthigen Bewerber in der Unschuld seines Gemüths und der Redlichkeit seines Charakters.

In dem Briefe an seinen Jugendlehrer (Nr. 139) und einigen an seinen Freund (Nr. 140 u. f.) lernen wir Mutter und Tochter näher kennen, und zugleich ihn selbst, der in seiner Freude an denen, die er schildert, vor uns steht. Im Werther, im letzten Briefe des ersten Buchs, hat Goethe dieser seltenen Frau, indem er die Tochter reden läßt, ein Denkmal der Verehrung gesetzt, eine Scene schildernd, die aus dem Leben genommen ist.

Im Jahr 1770 ward diese glückliche Familie der edlen Mutter beraubt, und Lotte, gleich als hätte eine Familienwahl es entschieden, erbte die mütterlichen Sorgen für zehn Kinder.

Vom Jahr 1768 bis 1772 hatte Kestner, als glücklicher Verlobter, den Frühling seines Lebens genossen, als er, durch Goethe’s Bekanntschaft, den Werth seiner Geliebten noch höher erkennen mußte. Goethe, der in Wetzlar den Proceß des Reichskammergerichts studiren sollte, und Kestner, der bei reichlichen Amtsgeschäften seine Welt in einem einzigen Hause gefunden, waren einander noch nicht begegnet, als Gotter, einer seiner Freunde, sie eines Tages in dem Dorfe Garbenheim, (im Werther Wahlheim genannt,) einem Vergnügungsorte unweit Wetzlar, zusammenführte. Dieser Begegnung verdanken wir die von Kestner hingeworfene Charakteristik Goethe’s (Nr. 1 unserer Documente).

Kurze Zeit darauf machte Goethe mit Lotten Bekanntschaft auf einem Ball, (welcher im Werther zur Schilderung der ersten Begegnung Werthers mit Lotten, im Briefe vom 16. Jun. pag. 21 des ersten Buches, den Stoff gegeben) und schon am andern Tage erfolgte sein erster Besuch ihrer Familie im deutschen Hause.[3]

In dieser reinen, durch den Segen der unlängst verstorbenen Mutter geheiligten Atmosphäre, fand Goethe vier Monate lang seine Lebensluft. Um Lottens willen hatte er zuerst Aufnahme in der Familie gesucht. Aber hier kamen die blühenden Kinder, eins schöner als das andere, um ihn her gesprungen, und nahmen ihn mit zwanzig Händen in Besitz, jubelnd über den schönen neuen Vetter oder Onkel, ihn, der nicht lieber die Odyssee lesen mochte, als ihnen Märchen erzählen, und auf dem Boden unter ihnen, von den wilden Buben sich zerzausen lassen. Von dem Amtmann wie ein Sohn, von den mehr herangewachsenen Geschwistern wie ein älterer Bruder geliebt, wurde er in kurzer Zeit Kestnern und Lotten innigst befreundet. Kestner stellte ihn in seinem Herzen seinem Jugendgefährten v. Hennings zunächst; — Goethen, dem Dichter, dessen Beruf das Schöne war, war es natürlich, hier wieder zu lieben, und beide junge Männer, während sie in jedem Augenblicke die größten Gefahren, denen die Freundschaft begegnen kann, überwanden, legten sich gegenseitig das Zeugniß der hohen Eigenschaften ab, die allein es möglich machten, einer so schweren Stellung sich würdig zu verhalten. Und hatte wohl Kestner Goethen zunächst nur seinen klaren Verstand, seine Wärme für das Gute und Schöne, und seine redliche Liebe zu geben, so waren sie in der glücklichen Jugendzeit, wo selbst wenigere Seelenbezüge, dafern sie nur wesentlich sind, Freundschaft und Brüderlichkeit begründen. In Lotten gedieh die jungfräuliche Würdigkeit, die aus dem Beispiel der Zucht edler Mütter in dem Wesen der Töchter emporwächst, noch zu höherem Adel durch ihre individuelle Natur und ihre Lage. Geschaffen für die Wirklichkeit des Lebens, und zwar dessen heiterste Seite, war durchaus kein sentimentales Element in ihrem Charakter, und wo die Lotte im Werther mit romanhaften Ideen beschäftigt, wo sie gar tändelnd dargestellt wird, waren die Züge nicht aus ihrem Leben genommen. Aber hätte auch, in Empfindungen zu leben, in ihrem Charakter gelegen, so hätte diese Neigung den mütterlichen Sorgen weichen müssen, die sie als achtzehnjähriges Mädchen sich auflud; denn zehn lebhafte Kinder tobten um sie her, den ganzen Tag. Das glückliche Zusammentreffen ihrer zufälligen Bestimmung mit ihren natürlichen Anlagen, erhob um so mehr ihre jugendliche Schwungkraft. Die häusliche Macht einer Mutter handhabend, war sie ein Mädchen an Frohsinn und Lebendigkeit. Die pflichtmäßige Miene der mütterlichen Strenge hatte den Schmelz der bräutlichen Heiterkeit. Dieses waren die Eigenschaften eines weiblichen Wesens, in welchem vom Kopf bis zu den Füßen, Alles Uebereinstimmung der rechten Maße, Alles Gemüth, Alles arglose Jugend war; in deren Anschauung Goethe’s edle Leidenschaft, zugleich mit seiner Hochachtung, täglichen Wachsthum erhielt.

Mit diesen Seelenzuständen der trefflichsten Art, in welche Goethe sich hineinlebte, übereinstimmend, sahen die Verlobten in seinem stets offenen Herzen, daß es edel war. In solchem, von ihnen Allen getheilten Selbstgefühl konnte es unter solchen Menschen geschehen, daß er das Bekenntniß jeder seiner Empfindungen zum Gegenstand des freiesten Verkehres mit beiden Verlobten machte. Unter ihnen gab es keine argwöhnische Eifersucht, die den Nebenbuhler ängstlich bewacht, und ihm die Thür der Geliebten versperrt; unter ihnen keinen Stolz des Siegers, keinen Groll des minder Begünstigten, keine Eitelkeit der Angebeteten, die in ihrem Triumphe sich gefiele. Denn kein Gedanke war von einem dieser drei redlichen Freunde gedacht, keine Empfindung gefühlt, die nicht das gemeinschaftliche Eigenthum aller drei war, eine Harmonie, zuvor von zweien, jetzt von dreien gebildet, ein Verhältniß, wovon wohl selten ein ähnliches Beispiel in der Geschichte der Menschheit erscheinen mögte. Was wir hier entwickelten, ist die Auslegung des in Goethe’s „Wahrheit und Dichtung“ S. 115 und 117 des 22. Bandes seiner sämmtl. Werke, mit anmuthiger Ausführlichkeit entworfenen Bildes von Lotten und von seinen Verhältnissen mit den beiden Verlobten. „Leicht aufgebaut, nett gebildet“ nennt er Lottens Gestalt, „rein und gesund ihre Natur.“ Sein Leben mit ihnen nennt er „eine ächt deutsche Idylle, wozu das fruchtbare Land die Prosa, und eine reine Neigung die Poesie gab;“ indem alle drei, in wechselseitig inniger Zuneigung und Großmuth, „sich an einander gewöhnt hatten, ohne es zu wollen, und nicht wußten, wie sie dazu kamen, sich nicht entbehren zu können.“

War auch jene Zeit, von welcher er hier schrieb, weit zurück, so daß in seinen Erzählungen von Einzelheiten manche Erinnerung verloschen, auch das Frühere und Spätere oft vermengt ist; so sehen wir doch sein Herz liebesjung sich lebhaft der Vergangenheit erinnern, wenn er, in dem Rückblick darauf, mit dem wehmüthigen Gefühl, sie jetzt nicht mehr genügend darstellen zu können, sagt: „Es würde der Dichter jetzt die verdüsterten Seelenkräfte vergebens anrufen, umsonst von ihnen fordern, daß sie jene lieblichen Verhältnisse vergegenwärtigen mögten, welche ihm den Aufenthalt im Lahnthale so hoch verschönten“; sich aber tröstend hinzufügt: „Glücklicherweise hatte der Genius schon früher dafür gesorgt, und ihn angetrieben, in vermögender Jugendzeit das nächst Vergangene festzuhalten, zu schildern und kühn genug zur günstigen Stunde öffentlich aufzustellen. Daß hier das Büchlein Werther gemeint sei, bedarf wohl keiner nähern Bezeichnung.“ — (S. 114 des 22. Bandes von Goethe’s sämmtl. Werken.) Wenn er dann das allbelebende Jugendvermögen der Geliebten beschreibt, so versichert er kindlich, daß damals „alle seine Tage Festtage zu sein schienen, und der ganze Kalender hätte müssen roth gedruckt werden.“

So wie nun seine Leidenschaft, so wuchs der Freunde auf Bewunderung gegründete Freundschaft für den, der bald wie ein Riese neben ihnen stand, bald ihr jugendliches Treiben in harmloser Kindlichkeit mit ihnen theilte, und den sie den größten Theil seines Selbst der Ehrfurcht vor ihrem Glücke opfern sahen. Auch der Schmerz, der ihn niederdrückte, wurde, so wie alles unter ihnen gemeinschaftlich war, ein von drei Freunden gemeinschaftlich getragener Schmerz.

Aber Goethe litt zu sehr, und nachdem er einige Zeit umsonst gekämpft hatte, faßte er den schweren und schönen Entschluß, von Wetzlar nach Frankfurt zurückzukehren. Am 11. September 1772 reiste er ab. Wie tief die Trennung die Freunde betrübte, erscheint mit den lebhaftesten Farben, in drei zusammentreffenden schriftlichen Denkmälern jener Zeit. Diese hier zusammenzustellen ist uns ein anziehendes Geschäft, bei welchem wir einen Augenblick verweilen.

Goethe hat seinen Trennungsschmerz in den Blättern niedergelegt, die er den beiden Verlobten am 11. September 1772 zurückließ, und die von den untenstehenden Briefen des abwesenden Goethe den Anfang machen. Dem Roman „Werther“ alsdann, hat er, wie wir sogleich zeigen werden, von diesem bedeutenden Lebensmoment, ein dauerndes Denkmal in einem der schönsten Briefe eingedrückt. In welcher Betrübniß er die beiden Verlobten und das ganze väterliche Haus Lottens zurückließ, sehen wir endlich aus einem Tagebuchsblatte Kestners, dessen getreuer Inhalt folgender ist:

September 10. 1772.

.... „Mittags aß Dr. Goethe bey mir im Garten; ich wußte nicht, daß es das letzte Mal war..... Abends kam Dr. Goethe nach dem deutschen Hause. Er, Lottchen und ich hatten ein merkwürdiges Gespräch von dem Zustande nach diesem Leben, vom Weggehen und Wiederkommen &c. &c., welches nicht er, sondern Lottchen anfing. Wir machten mit einander aus, wer zuerst von uns stürbe, sollte, wenn er könnte, den Lebenden Nachricht von dem Zustande jenes Lebens geben; Goethe wurde ganz niedergeschlagen, denn er wußte, daß er am andern Morgen weggehen wollte.“

September 11. 1772.

„Morgens um 7 Uhr ist Goethe weggereiset, ohne Abschied zu nehmen. Er schickte mir ein Billet nebst Büchern. Er hatte es längst gesagt, daß er um diese Zeit nach Coblenz, wo der Kriegszahlmeister Merk ihn erwarte, eine Reise machen, und er keinen Abschied nehmen, sondern plötzlich abreisen würde. Ich hatte es also erwartet. Aber, daß ich dennoch nicht darauf vorbereitet war, das habe ich gefühlt, tief in meiner Seele gefühlt. Ich kam den Morgen von der Dictatur zu Hause. „„Herr Doctor Goethe hat dieses um 10 Uhr geschickt.““ — Ich sah die Bücher und das Billet, und dachte was dieses mir sagte: „„Er ist fort!““ und war ganz niedergeschlagen. Bald hernach kam Hans zu mir, mich zu fragen ob er gewiß weg sey? Die Geheime Räthin Langen hatte bei Gelegenheit durch eine Magd sagen lassen: „„Es wäre doch sehr ungezogen, daß Doctor Goethe so ohne Abschied zu nehmen, weggereist sey.““ Lottchen ließ wieder sagen: „„Warum sie ihren Neveu nicht besser erzogen hätte?““ Lottchen schickte, um gewiß zu seyn, einen Kasten, den sie von Goethen hatte, nach seinem Hause. Er war nicht mehr da. Um Mittag hatte die Geheime Räthin Langen wieder sagen lassen: „„Aber sie wolle es des Doctor Goethe Mutter schreiben, wie er sich aufgeführt hätte.““ — Unter den Kindern im deutschen Hause, sagte jedes: „„Doctor Goethe ist fort!““ — Mittags sprach ich mit Herrn v. Born, der ihn zu Pferde bis gegen Braunfels begleitet hatte. Goethe hatte von unserm gestrigen Abendgespräch ihm erzählt. Goethe war sehr niedergeschlagen weggereist. Nachmittags brachte ich die Billets von Goethe an Lottchen. Sie war betrübt über seine Abreise; es kamen ihr die Thränen beim Lesen in die Augen. Doch war es ihr lieb, daß er fort war, da sie ihm das nicht geben konnte, was er wünschte. Wir sprachen nur von ihm; ich konnte auch nichts anders als an ihn denken, vertheidigte die Art seiner Abreise, welche von einem Unverständigen getadelt wurde; ich that es mit vieler Heftigkeit. Nachher schrieb ich ihm, was seit seiner Abreise vorgegangen war.“[4]

Der 10. September also war, wie wir hieraus sehen, der Vorabend dieser merkwürdigen Trennung. Schlagen wir nun den „Werther“ auf, und wir sehen, daß der 10. September ebenfalls das Datum des Briefes ist, der am Ende des ersten Buchs dieses Romans den Vorabend eben dieser Trennung darstellt. Kestners Tagebuch, dessen Thatbestand des verlebten Tages dieser Brief zu einem Bilde erhebt, erläutert uns, warum aus jedem Worte desselben die Wärme einer wirklich empfundenen Freundschaft und die Gluth einer wirklich empfundenen Liebe spricht; denn es war der von dem Dichter selbst erlebte, entscheidende Moment, den im Gemälde seiner Liebe zu verewigen, ihm so sehr am Herzen lag, daß er selbst das Datum dieses in seinem Jugendleben entscheidenden Tages heilig gehalten hat.

Dieser Moment, womit das erste Buch des „Werther“ schließt, ist denn auch der, wo in dem Roman Wahrheit und Dichtung sich gänzlich scheiden. Im zweiten Buche borgt Goethe von Jerusalem einige Begebenheiten, besonders die schließliche Katastrophe; an Lottens und Kestners Stellen erscheinen neue Personen, jenen eben so fern stehend, wie ihre erdichteten Erlebnisse. Die Wirklichkeit beschränkt sich allein auf den nunmehr eintretenden Briefwechsel mit den entfernten Freunden.

Der Flucht Goethe’s, welche ihn an jenem Tage von ihnen, einen kurzen Besuch ausgenommen,[5] auf immer getrennt hat, verdanken wir diese Briefe, die wie jugendliche Zeugen zu uns reden, über einen Charakter, über Gesinnungen, die Goethe — wir erkennen es in seiner Biographie, — später kaum noch an sich gekannt hat.

Um so mehr muß uns erfreuen, die Biographie durch diese seine eigenen Zeugnisse wesentlich ergänzt und von dem Jünglinge wieder gewonnen zu sehen, was er im Alter bei der Schilderung seiner schönsten Lebensperiode, obgleich ihr manche Silberblicke nicht fehlen, sich selbst an Ruhm entzogen hat. Wer aber auch in Goethe’s späterer Zeit den Dichter, den Menschen von dem Weltmanne beeinträchtigt finden wollte, erkennt doch immer in unsern Eröffnungen den angebornen edlen Menschenstoff, der durch seine Werke fließt.

Vollständig, so weit die Briefe vorhanden — denn unverkennbar sind mehrere Lücken in der Correspondenz — und, wie sich von selbst versteht, mit Weglassung des Wenigen, was Lebende verletzen kann, sind diese Briefe unten abgedruckt. Daß nichts Wesentliches weggelassen, und bei dem Gegebenen die strengste Wahrhaftigkeit beobachtet sei, können zahlreiche Freunde und Bekannte bezeugen, denen die Briefe in ihren Originalen stets bereitwillig vorgelegt sind. So viele Zeichen der Originalität man aber in einem gedruckten Buche geben mag, ihre Reliquienanmuth kann nur beim Anblick der Originale empfunden werden: wie in Goethe’s schlanken, oft den Charakter wechselnden Schriftzügen die ganze Mannigfaltigkeit seiner wechselnden Stimmungen sich abzuspiegeln scheint. Manche derselben sind unansehnliche Blätter, groß oder klein, fein oder grob, so wie sie seiner sorglosen Hand auf dem Schreibtische, unter Entwürfen von Gedichten und Journalartikeln, oder unter dem Abfall von Briefcouverten begegnen mochten. Mit aller dieser Nichtachtung des äußerlich Herkömmlichen ermangeln dennoch wenige dieser Blätter einer gewissen Anmuth der Form, welche seine Hand im Ebenmaß der Zeilen und Räume unbewußt ihnen mittheilte. Und hatte er ein herkömmlich regelmäßiges Briefblatt genommen, so war das Couvert und die Besiegelung stets mit Sorgfalt und Zierlichkeit vollbracht. Geschlossen waren die meisten der Briefe mit rothem Siegellack. Sein früheres Siegel war meistens ein G mit Verschlingungen in dem Style der damaligen Zeit; zuweilen ein offenstehender Käficht, aus dem ein Vogel entfliegt. Nach seiner Reise in Italien hat er zuweilen mit Gemmen gesiegelt, mit einem Sokrateskopfe, einer Minerva, einem Löwen u.a.m. Auffallend sind die Abweichungen von der allgemein üblichen Orthographie, wie die untenstehenden Briefe, die genau nach den Originalen abgedruckt sind, uns zeigen. Eigenthümlich, auch in den geringsten seiner Handlungen, oder, wie er von sich selbst sagte, „grillenhaft,“ gab er nichts darum, den Bau der Worte mit anderen gemein zu haben. Auch in den grammatischen Formen hat er unbekümmert sich der im gemeinen Leben üblichen bedient. Manches hierin ist auch erst nach jener Zeit allgemeine Regel geworden. Nach und nach sehen wir ihn später dem allgemeinen Gebrauch sich bequemen.

Jene unbefangene Freiheit eines durchlebten Verhältnisses, in welcher er, nach wechselnder Stimmung des Augenblicks, sich dem wechselnden Ausdruck hingab, hat auch die Mannigfaltigkeit der Formen erzeugt, unter denen er in den Briefen sich selbst Kestnern gegenüber stellte; bald nennt er ihn „Sie,“ bald „Du,“ bald „Ihr“ und den Primaner, Hans, Lottens jüngeren Bruder, im Style jener Zeit, oft sogar „Er.“ Auch hat Kestner es vollkommen natürlich gefunden, daß Goethe, in den wenigen an Lotte selbst gerichteten Briefen, sich eine Freiheit erlaubte, die, nach den damaligen Begriffen der Schicklichkeit, Kestner selbst sich nicht nehmen konnte, sie zuweilen „Du“ zu nennen; daß er, der ungewöhnlich, seltsam, kühn in allem, was er that und sprach, der Aller Liebling war, den Namen, der ihm ein Gedicht, den in dem Tone der Natur zu nennen, er als den einzigen Ersatz für unaussprechlichen Mangel ergriff, nicht in der absurdesten Form conventionellen Respekts der Societät aussprach. Und im Schreiben, wissen wir, gibt es kein Erröthen und keine Verlegenheitsmienen.

So sehr nun Kestner, den Schmerz des Freundes ehrend, sich auch in seinen überhäuften Geschäften, den Briefwechsel mit ihm aufs eifrigste angelegen sein ließ, während Lotte, die zum Schreiben damals nicht Zeit hatte, ihm durch Kestnern erbetene Gedächtnißgaben sandte, waren diese Mittheilungen doch nie genügend für den Abwesenden. In jedem Augenblicke wollte er des ununterbrochenen Verkehrs mit der Familie bewußt sein, und so sehr bedurfte er es zu seiner Ruhe, mit allen Gliedern der Familie im besten Vernehmen zu bleiben, daß es ihn sogar drückte, von Lottens jüngerer Schwester, Sophie, einem Kinde, über ein kleines Mißverständniß, welches eine völlige Kinderei war, noch keine Verzeihung erhalten zu haben (Nr. 16).

Fast alle diese Briefe würden der Bestimmung des Datums ermangeln, hätte nicht Kestner, der Geschäftsmann, den Tag des Empfangs meistens darauf bemerkt. Die Briefe, denen solche Bezeichnungen fehlen, wie insonderheit die Briefe an Hans, sind nach Wahrscheinlichkeit in die chronologische Reihe geordnet, und hiezu gab die edle Offenheit des Schreibenden, nach der Natur einer fortschreitenden Leidenschaft, den sichersten Maßstab: wie wir ihn anfangs, sich selbst verkennend, unstät von Ort zu Ort umhergetrieben sehen, so daß er es den Freunden in Friedberg zum Verdienste anrechnen konnte, ihn, „den Elenden,“ freundlich aufgenommen zu haben; wie ihm das literarische Treiben und Recensiren nicht hinreichte, und er die Besorgung von Kleinigkeiten für Freundinnen, zum Ableiter des unabweislich tyrannischen Gedankens, sich erbittet, und dabei mit kindlicher Sorgsamkeit ins Detail geht; wie wir den Scherz, der in großen Seelen, um dem Verdrusse Rast zu geben, nahe dem Unmuth, am nächsten der Verzweiflung ist, in seine trübste Stimmung zuweilen einen Sonnenstrahl werfen sehen; wie er dann, erheiternde Zerstreuung suchend, „liebesbedürftig,“ wie er es nennt, nach Träumen hascht, für den, der ihn betrogen hatte, und in jungen Mädchen seiner Bekanntschaft sich an Aehnlichkeiten mit der Entbehrten zu erholen sucht; wie ihm endlich, gleich allen tüchtigen Naturen, aus eigenen Mitteln die Arznei seiner Krankheit wird, und sein Genie nicht litt, daß die Leidenschaft, wenn gleich seine Existenz bedrohend, ihm zerstörend werden konnte, da er stets von neuen Schöpfungen von Innen sich bestürmt sah, bis er in dem großen Gedichte von seiner schönen Last sich vollends befreite.

In diesem allgemeinen, wie es uns scheint nothwendigen Gange seiner Stimmungen, haben wir die Briefe geordnet. In den gegen den Sommer 1773 geschriebenen begegnen wir einem wieder wachsenden Unmuth, so daß er, unter anderen, sich vorwirft „seine Zeit zu verderben,“ und hatte doch den Götz von Berlichingen schon geschrieben, und ging ohne Zweifel mit Plänen zum Werther um! Denn die Hochzeit der Freunde nahte heran, und ihre Abreise in die weite Ferne, die letzte Entwickelung dieser wichtigen Epoche seines Lebens. Doppelt reizbar in dieser Aufregung, glaubt er zum erstenmale Eifersucht in einem Briefe Kestners zu erblicken, und antwortet in einem Zorn, welcher die schönen Eindrücke unserer Briefe einen Augenblick unterbrechen könnte, wenn nicht die Beweise wechselseitig treuer Gesinnungen, die wir bei diesen Anlässen hervorgerufen sehen, uns sogleich wieder beruhigten. Der Zornbrief (Nr. 68), so feindlich einige Worte desselben lauten, reicht allein hin, um sowohl Goethe’s Verhältniß zu dem Brautpaar, als seine durch einen vorübergehenden Ausbruch von Unmuth, den die Umstände wohl entschuldigen konnten, durchscheinenden wahren Gesinnungen zu erkennen. Er, der dem jungen Gatten mit Bitterkeit vorwarf, nach der Heirath von der Freundschaft abgefallen zu seyn, zeigt ihm, mitten unter den heftigsten Ausdrücken des Unwillens, im Tone der Erkenntlichkeit an, daß er durch Annchen, die Freundin, Lottens Brautstrauß erhalten, und sich damit geschmückt habe. Tief betrübt bei der letzten Entscheidung, trägt er so das Pfand seines Verlustes am Hute, für ihn eine Zier heroischer Tugend, und erläutert diesen Akt durch die noch edleren Worte: „Ich höre, Lotte soll noch schöner, lieber und besser seyn, als sonst.“ So sehr also erfüllt ihn die reinste Freundschaft, daß er seinen Schmerz vergißt über die Freude an ihrer Vortrefflichkeit, daß er ohne Haß seine Augen weidet an ihrem hohen Werthe, in demselben Moment, wo es zur Gewißheit wird, daß er sie entbehren soll. Gerührt hierdurch, eilte Kestner in zwei Briefen die Wunden des tobenden Freundes zu heilen. Diese Freunde konnten ihr gegenseitiges Wohlwollen nicht entbehren, und Goethe’s Erwiederung zeigt, daß das Mißverständniß nur sechs Tage gewährt hat.

Liebenswürdiger waren zwei andere Momente seines Unwillens (Nr. 59 und 67), welche in diese Zeit fallen: das einemal betrübt es ihn, daß die Brautleute einen Anderen als ihn mit der Besorgung der Trauringe beauftragt, das anderemal, daß die Neuvermählten nicht auf seine Einladung nach Frankfurt kamen. Er traute sich zu, den Freund im Vollgenusse des Glücks sehen zu können, das er bitter entbehrte, während diesem sein Triumph, der den Freund schmerzte, nicht lieb war.

Am Palmsonntage 1773 ist die Hochzeit gewesen, und von dem Briefe Nr. 76, und weiter, gehen die Briefe an Kestner nach Hannover. Die Schlußzeilen dieses Briefes scheinen die psychologische Erfahrung zu bestätigen, daß die Einbildungskraft von dem geliebtesten Abwesenden nur vereinzelte Theile gibt, während sie von weniger theuren Menschen, und besonders von den Gleichgültigen, freigebig das ganze Bild vollendet vor die Augen führt.

Ueber ein Jahr später als diese Periode war es, als ein ernstlicheres Mißverständniß über den Werther entstand, welches den Gegenstand mehrerer Briefe ausmacht. Ein wunderbarer Zufall wollte, daß Kestner, den es drückte, sich und seine Lotte durch einen Anschein ihrer Personen in dieses Gedicht verflochten zu finden, gleichwohl selbst, ohne etwas zu ahnen, an dem Roman mit hat schreiben müssen. Jerusalem hatte bei einem der wenigen Besuche, die er jemals Kestner gemacht, ein Paar Pistolen an der Wand hängen sehen und diese zu seinem Selbstmorde von ihm geliehen, wovon die Folge war, daß Kestner, doppelt bestürzt durch die schreckliche That, als das Gerücht durch die Stadt lief, zu Jerusalems Hause hineilte, und nicht allein Zeuge der letzten Qualen des Unglücklichen war, sondern auch angeregt wurde, alle Thatsachen, die denselben betrafen, zu sammeln, und niedergeschrieben an Goethe zu schicken, wie die Freunde es wechselseitig gewohnt waren, seit Goethe’s Flucht sich die Vorfälle des Tages in ununterbrochenem Briefwechsel mitzutheilen. Das Billet Jerusalems, fast wörtlich im Werther copirt, ist noch eben so urschriftlich vorhanden, wie es bei Nr. 28 als Fac simile sich in unsern Documenten befindet, und zwar, wie in der Abschrift durch eine Linie angedeutet, in zwei Theile gerissen, vermuthlich weil es im Augenblick des Empfangs den weggeworfenen Papieren hinzugefügt, erst nach dem schrecklichen Ereigniß, dem Empfänger merkwürdig geworden war. Gleichfalls noch jetzt in Urschrift vorhanden, sind Kestners „Nachrichten über den Tod Jerusalems“ (Nr. 28), welche er gegen Ende Novembers 1772 Goethen nach Frankfurt schickte, und von diesem mit dem Briefe Nr. 47 gegen den 20. Januar 1773 zurückgeschickt wurden. Goethe irrt also, wenn er zu dieser frühen Zeit seines Lebens zurückblickend (Wahrheit und Dichtung, pag. 168 des 22. Bandes seiner sämmtlichen Werke) glaubt, er habe die Beschreibung von Jerusalems Tode erst später nach seiner Trennung von den Freunden erhalten. Seine selbstmörderischen Gedanken kommen auch nur in den früheren unserer Briefe vor, nicht aber in der Zeit der Herausgabe des Werther.

Wenn wir in unsern Papieren erkennen, wie hoch Lotte, Kestner und Goethe über den Personen stehen, die im Werther mit ihnen in Vergleich kommen, so tritt uns auf eine merkwürdige Weise das Verhältniß des Dichters zum Menschen vor Augen. Goethe fand, durch seine Stellung unter ihnen, noch höhern Anlaß, als jene, seinen Werth als Mensch erkennen zu lassen. Denn, daß ein Mädchen von dem glücklichsten Naturell und gediegener Erziehung, dem würdigsten Mann die seit Jahren befestigte Treue bewahrt; daß dieser Mann, mit der Unschuld seines Charakters, in die Redlichkeit seiner Braut sowohl, als eines Freundes, dessen Freundschaft er sicher war, unbeschränktes Vertrauen setzt, sind die gewöhnlichsten Dinge, im Vergleich mit einer Liebe, die so groß, so stark, und so schön ist, daß sie ihm zur redlichsten und heldenmäßigsten Entsagung die Kraft gab, und ihn, der Verzweiflung nahe, vom Liebenden in den reinsten Freund verwandelte. Diese schöne Erscheinung ist fremd dem Romane. Die Welt hat entschieden, das Gedicht sey das schönste seiner Art. Noch schöner aber, sehen wir, als die Dichtung war das Leben; ja in so hohem Grade schöner, daß Goethe, die unwahrscheinliche Wahrheit zurücklassend, ein Anderes erfinden mußte, damit die Dichtung als Wahrheit erscheine. Wie räthselhaft können die Grenzen des Guten und Schönen sich in einander verschlingen! Der Dichter mußte von der moralischen Höhe herabsteigen, um sich auf dem poetischen Gipfel zu befinden, der ihn zum höchsten Dichterruhme geführt hat. Der Gegenstand seiner Liebe wurde in seinem Gedichte durch die Idee verherrlicht, daß ohne den Besitz der Geliebten zu leben unmöglich sey. Er aber war zu groß, um in der Verzweiflung unterzugehen; aus seinem Charakter konnte die zügellose Scene nicht entwickelt werden, die den Entschluß zum Selbstmorde im Werther zur Reife brachte; daher mußte er die Züge, welche dem Romane, wie er gedacht war, die Entwickelung verliehen, aus einem minder starken Manne borgen. Das Faktische hierzu, wie das Studium zu einem Gemälde, hat Kestner in seiner Skizze von Jerusalems Tode ihm in die Hand gearbeitet. Manche Stellen dieses Aufsatzes finden wir wörtlich im Werther. Mit Goethen mußten auch Lotte und ihr Gemahl, in ihren erborgten Gestalten, dem Roman zu Gunsten tiefer gestellt werden. Hätte Werthers Lotte nicht in der Entwicklungsscene gegen den Albert gefehlt, worauf sie Werther von sich wies, das Motiv zum Selbstmorde würde gefehlt haben. Und hätte das Schicksal, minder grausam, den Werther um eines Würdigeren willen, als Albert gedacht ist, untergehen lassen, dem Untergange des Helden würden weniger Thränen geflossen seyn.

Die jungen Eheleute, noch voll von der reichen Zeit, die sie so eben in steten Bezügen mit Goethen warm durchlebt hatten, mußte es um so mehr schmerzen, von eben diesem Freunde eben dieses Verhältniß rücksichtslos angewandt zu sehen, um daraus Bestandtheile eines Romans zu schöpfen, der Mißdeutungen erregen und sie persönlich in ein falsches Licht stellen konnte. Kestner mußte, in dem Gefühl, seine Gattin sich gleichsam zum Theil entrissen zu sehen, seine Lotte durch die Lotte des Gedichts, da Goethe’s Liebe zu ihr bekannt war, beleidigt fühlen, sich selbst aber durch seine Entstellung in dem gedichteten Albert. Nach Empfang des Buchs daher schrieb er an Goethe einen Brief voller Vorwürfe, von welchem ein Fragment, in seinem Nachlasse gefunden, unsern Documenten unter Nr. 106 hinzugefügt ist.

Goethe, der Freund, verkannte nicht das Gewicht dieser Vorwürfe. Eine Lotte hatte er offen gepriesen. Eine Lotte erschien in dem Gedichte, in welchem zwischen Dichtung und Wahrheit keine Grenze sichtbar ist, und das in allen seinen Theilen, den erfundenen und wahren, die glühenden Farben einer zwischen Wunsch und Entbehrung erlebten Wirklichkeit an sich trägt. Im Gefühl seines Fehls hatte er daher auf die Vorwürfe nichts anderes zu erwiedern, als in den Briefen Nr. 107 und 109 die rührendsten Bitten um Verzeihung, wobei er im Rausche des Ruhms, der ihn selbst überraschte, — denn ganz Deutschland war schon von Bewunderung des Werthers entflammt — dem Freunde die verherrlichenden Ausdrücke entgegen rief, die von allen Seiten ihm entgegen tönten.

In dem Briefe Nr. 107 spricht er beruhigend zu den Herzen der Freunde: „Und, meine Lieben, wenn Euch der Unmuth übermannt, denkt nur, denkt, daß der alte, Euer Goethe, immer neuer und neuer, und jetzt mehr, als jemals, der Eurige ist.“ Auf ihre Theilnahme an seinem Triumph vertrauend, sucht er sie in dem Briefe Nr. 109 zu trösten, indem er schreibt: „Könntet Ihr den tausendsten Theil fühlen, was Werther tausend Herzen ist, Ihr würdet die Unkosten nicht berechnen, die Ihr dazu hergebt.“ An Kestner besonders richtet er die gewichtigen Trostesworte: „Wenn ich noch lebe, so bist Du’s, dem ichs danke, bist also nicht Albert — Und also —“. Zwar sprach er in demselben Briefe unter den Beruhigungsgründen auch die Zusage aus, binnen einem Jahre alle etwaigen Mißdeutungen des Publikums „auf die lieblichste, einzigste, innigste Weise auszulöschen.“ Allein dieses, wenigstens in der Maße, wie es in der ersten Aufregung ertheilt war, übereilte Versprechen, ist, bis auf verschiedene in den folgenden Ausgaben des Werther vorgenommene Abänderungen, unerfüllt geblieben. Später kamen beide Freunde, laut der Documente Nr. 121 und 122, noch einmal auf diesen Gegenstand zurück; aber weiter reichende Aenderungen zeigten sich als unmöglich, je mehr das bewunderte Gedicht die Gemüther ergriff, und zuerst von der deutschen, dann von den andern Nationen Besitz nahm: jeder Gedanke war Eigenthum der Völker geworden, das der Geber selbst nicht zurückfordern konnte. Auch Kestner wird dieses erkannt haben und hat sich um so eher dabei beruhigen können, als das Geheimniß des Romans in dem weiten Kreise seiner Freunde und Bekannten bald hinreichend aufgeklärt war, und schon die Persönlichkeit der Ehegatten sie vor jeder falschen Beurtheilung schützte.

Das schöne Verhältniß der Freunde überhaupt, und insbesondere Kestners zugleich würdige und liebevolle Stellung zu dem minder besonnenen Jüngling, kann treffender nicht hervortreten, als durch die Lösung des von Goethe verschuldeten Mißverständnisses selbst. Seine große Indiscretion würde unverzeihlich gewesen sein, wenn er deren Gewicht hätte beurtheilen und die Wirkungen auf die davon betroffenen Freunde voraussehen können. Allein ihm waren die Schranken des gewöhnlichen Lebens gänzlich unbekannt und eben so unbekannt die Rücksichten darauf, welche den Freunden gebührt hätten. Weit entfernt daher von aller Besorgniß deßhalb, hat er vielmehr in den Briefen Nr. 97 bis 100, welche mehr oder weniger dunkle Andeutungen der künftigen Erscheinung enthalten, so wie noch zuletzt in den das übersandte Exemplar des Romans begleitenden Zetteln, Nr. 104 und 105, mit arglosester Unbefangenheit vorausgesetzt, daß die Empfänger ebenfalls sich daran erfreuen würden. Nur in dem einen Briefe Nr. 98 denkt er an die Möglichkeit eines Anstoßes und warnt sie scherzend davor. Kestner, obgleich schwer gekränkt, auch anfänglich nicht ohne Besorgniß vor den möglichen Nachtheilen für ihn und seine Gattin, spricht seinen Tadel gegen Goethe offen und kräftig, doch fern von Erbitterung aus (Nr. 106). Mit welcher Milde und Nachsicht er aber im Innern seines wohlwollenden Herzens Goethe’s, des feurigen Dichters, Verfahren betrachtet, entschuldigt und verzeiht, sprechen seine Briefe Nr. 108 und 110 an v. Hennings vertraulich auf eine Weise aus, die den tiefsten Blick in seinen Charakter eröffnet. Diese Briefe, die zugleich interessante Aufschlüsse über das Verhältniß der Ehegatten zu Goethe und seinem Roman enthalten, bedürfen keines Commentars.

Damit war denn das Mißverständniß schon sogleich bei seiner Entstehung, ohne Unterbrechung des gegenseitigen Wohlwollens, gehoben, und der gewohnte Briefwechsel zwischen Goethe und Kestner dauerte bis zu des Letzteren am 24. Mai 1800 erfolgten Tode fort. Goethe’s letzter vorhandener Brief an Kestner, Nr. 137, ist vom 16. Juli 1798. Wahrscheinlich sind einige andere Briefe, durch Kestners in seinen letzten Lebensjahren eingetretene große Kränklichkeit, verloren gegangen. Eben diese Kränklichkeit, neben überhäuften Dienstgeschäften, hat auch die Correspondenz von Kestners Seite in späterer Zeit beschränkt, wie Goethe in seinen Briefen ihm verschiedentlich freundlich vorgeworfen hat.

Um die gegenwärtigen Mittheilungen zu vervollständigen, wäre zu wünschen gewesen, daß ihnen Kestners Briefe an Goethe, worauf mehrere von Goethe’s Briefen sich beziehen, hätten hinzugefügt werden können. Allein der verstorbene Geheime Rath Kanzler v. Müller in Weimar, Goethe’s Testamentsvollstrecker, hat sie nicht in dessen Nachlaß gefunden, wahrscheinlich weil Goethe sie mit einer großen Masse älterer Briefschaften einst cassirt hat. Dagegen hatte der Geheime Rath die Gefälligkeit einen Brief Lottens an Goethe aus Wetzlar, wohin sie sich auf Veranlassung der französischen Occupation Hannovers auf einige Zeit zurückgezogen, von 1803, und einige Billets von ihr an Goethe, während eines Besuchs ihrer Schwester in Weimar, von 1816, abschriftlich mitzutheilen. Diese, nebst verschiedenen dazu gehörigen Briefen Goethe’s an Lotte und an einen ihrer Söhne, liegen aber außer dem Kreise der Documente, welchen der Titel dieser Mittheilungen bezeichnet. Wir glauben daher nur folgende Zeilen aus einem Schreiben Goethe’s vom 23. November 1803, weil sie dieselben Erinnerungen aus seiner Jugendzeit mit ähnlichen Worten, wie in „Wahrheit und Dichtung“ aussprechen, anführen zu dürfen: „Wie gern versetze ich mich wieder an Ihre Seite zur schönen Lahn und wie sehr bedaure ich zugleich, daß Sie durch eine so harte Nothwendigkeit dahin versetzt worden; doch richtet mich Ihr eigenes Schreiben wieder auf, aus dem Ihr thätiger Geist lebhaft hervorblickt.“

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