102. Goethe an Lotte.

(27. Aug. 1774.)

Ich habe gestern den 26 einen Brief an dich angefangen, hier sitz ich nun in Langen zwischen Franckfurt und Darmstadt, erwarte Merken, den ich hierher beschieden habe, und mir ist im Sinn an dich zu schreiben. Heut vor zwey Jahren sas ich bey dir fast den ganzen Tag da wurden Bohnen geschnitten biss um Mitternacht, und der 28te [27] feyerlich mit Thee und freundlichen Gesichtern begonnen. O Lotte, und du versicherst mich mit all der Offenheit und Leichtigkeit der Seele, die mir so werth immer war an dir, dass ihr mich noch liebt, denn sieh es wäre gar traurig wenn auch über uns der Zeiten Lauf das Uebergewicht nehmen sollte. Ich werde dir ehestens ein Gebetbuch, Schatzkästchen oder wie du’s nennen magst schicken, um dich Morgends und Abends zu stärken in guten Errinnerungen der Freundschaft und Liebe. Morgen denkt ihr gewiss an mich. Morgen bin ich bey euch, und die liebe Meyern hat versprochen mir ihr Geistgen zu schicken mich abzuhohlen. Ein herrlicher Morgen ists, der erste lang ersehnte Regen nach einer Dürre über vier Wochen, der mich erquickt wie das Land, und dass ich ihn auch eben auf dem Land geniesse! Vorgestern war Gotter da, er geht mit zwey Schwestern nach Lyon, dort eine Schwester zu besuchen, ist immer gut, und sehr krank, doch munter, es ward unser altes Leben rekapitulirt, er grüsste herzlich dein Schattenbild, ich schwäzt ihm allerley vor &c. und so ging er wieder. Darin hab ichs gut, wenn meine Freunde halbweg reisen so müssen sie zu mir, bey mir vorbey und zollen.

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