106. Fragment eines Brief-Conzepts

von Kestner an Goethe nach Empfang des Werther.

(Aus Hannover, vom Ende Sept. oder Anfang Oct. 1774.)

Euer Werther würde mir großes Vergnügen machen können, da er mich an manche interessante Scene und Begebenheit erinnern könnte. So aber, wie er da ist, hat er mich, in gewissem Betracht, schlecht erbauet. Ihr wißt, ich rede gern wie es mir ist.

Ihr habt zwar in jede Person etwas Fremdes gewebt, oder mehrere in eine geschmolzen. Das ließ ich schon gelten. Aber wenn Ihr bey dem Verweben und Zusammenschmelzen euer Herz ein wenig mit rathen lassen; so würden die würcklichen Personen, von denen ihr Züge entlehnet, nicht dabey so prostituirt seyn. Ihr wolltet nach der Natur zeichnen, um Wahrheit in das Gemälde zu bringen; und doch habt Ihr so viel widersprechendes zusammengesetzt, daß Ihr gerade Euren Zweck verfehlt habt. Der Herr Autor wird sich hiergegen empören, aber ich halte mich an die Würklichkeit und an die Wahrheit selbst, wenn ich urtheile, daß der Maler gefehlt hat. Der würcklichen Lotte würde es in vielen Stücken leid seyn, wenn sie Eurer da gemalten Lotte gleich wäre. Ich weiß es wohl, daß es eine Composition seyn soll; allein die H....., welche Ihr zum Theil mit hineingewebt habt, war auch zu dem nicht fähig, was Ihr eurer Heldin beymesset. Es bedurfte aber des Aufwandes der Dichtung zu Eurem Zwecke und zur Natur und Wahrheit gar nicht, denn ohne das — eine Frau, eine mehr als gewöhnliche Frau immer entehrende Betragen Eurer Heldin — erschoß sich Jerusalem.

Die würckliche Lotte, deren Freund Ihr doch seyn wollt, ist in Eurem Gemälde, das zu viel von ihr enthält, um nicht auf sie starck zu deuten, ist, sag’ ich — doch nein, ich will es nicht sagen, es schmerzt mich schon zu sehr da ichs denke. Und Lottens Mann, Ihr nanntet ihn Euren Freund, und Gott weiß, daß er es war, ist mit ihr —

Und das elende Geschöpf von einem Albert! Mag es immer ein eignes nicht copirtes Gemählde seyn sollen, so hat es doch von einem Original wieder solche Züge (zwar nur von der Aussenseite, und Gott sey’s gedankt, nur von der Aussenseite) daß man leicht auf den würklichen fallen kann. Und wenn Ihr ihn so haben wolltet, mußtet ihr ihn zu so einem Klotze machen? damit ihr etwa auf ihn stolz hintreten und sagen könntet, seht was ich für ein Kerl bin!

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