Rom, den 27. Oktober 1787.

Ich bin in diesem Zauberkreise wieder angelangt und befinde mich gleich wieder wie bezaubert, zufrieden, stille hinarbeitend, vergessend alles, was außer mir ist, und die Gestalten meiner Freunde besuchen mich friedlich und freundlich. Diese ersten Tage hab' ich mit Briefschreiben zugebracht, habe die Zeichnungen, die ich auf dem Lande gemacht, ein wenig gemustert, die nächste Woche soll es an neue Arbeit gehn. Es ist zu schmeichelhaft, als daß ich es sagen dürfte, was mir Angelika für Hoffnungen über mein Landschaftszeichnen unter gewissen Bedingungen gibt. Ich will wenigstens fortfahren, um mich dem zu nähern, was ich wohl nie erreiche.

Ich erwarte mit Verlangen Nachricht, daß "Egmont" angelangt und wie ihr ihn aufgenommen. Ich habe doch schon geschrieben, daß Kayser herkommt? Ich erwarte ihn in einigen Tagen, mit der nun vollendeten Partitur unsrer Scapinereien. Du kannst denken, was das für ein Fest sein wird! Sogleich wird Hand an eine neue Oper gelegt, und "Claudine" mit "Erwin" in seiner Gegenwart, mit seinem Beirat verbessert.

Herders "Ideen" hab' ich nun durchgelesen und habe mich des Buches außerordentlich gefreut. Der Schluß ist herrlich, wahr und erquicklich, und er wird, wie das Buch selbst, erst mit der Zeit und vielleicht unter fremdem Namen den Menschen wohltun. Je mehr diese Vorstellungsart gewinnt, je glücklicher wird der nachdenkliche Mensch werden. Auch habe ich dieses Jahr unter fremden Menschen achtgegeben und gefunden, daß alle wirklich kluge Menschen mehr oder weniger, zärter oder gröber, darauf kommen und bestehen: daß der Moment alles ist, und daß nur der Vorzug eines vernünftigen Menschen darin bestehe: sich so zu betragen, daß sein Leben, insofern es von ihm abhängt, die möglichste Masse von vernünftigen, glücklichen Momenten enthalte.

Ich müßte wieder ein Buch schreiben, wenn ich sagen sollte, was ich bei dem und jenem Buch gedacht habe. Ich lese jetzt wieder Stellen, so wie ich sie aufschlage, um mich an jeder Seite zu ergötzen, denn es ist durchaus köstlich gedacht und geschrieben.

Besonders schön find' ich das griechische Zeitalter; daß ich am römischen, wenn ich mich so ausdrücken darf, etwas Körperlichkeit vermisse, kann man vielleicht denken, ohne daß ich es sage. Es ist auch natürlich. Gegenwärtig ruht in meinem Gemüt die Masse des, was der Staat war, an und für sich; mir ist er wie Vaterland etwas Ausschließendes. Und ihr müßtet im Verhältnis mit dem ungeheuern Weltganzen den Wert dieser einzelnen Existenz bestimmen, wo denn freilich vieles zusammenschrumpfte und in Rauch aufgehn mag.

So bleibt mir das Coliseo immer imposant, wenn ich gleich denke, zu welcher Zeit es gebaut worden, und daß das Volk, welches diesen ungeheuren Kreis ausfüllte, nicht mehr das altrömische Volk war.

Ein Buch über Malerei und Bildhauerkunst in Rom ist auch zu uns gekommen. Es ist ein deutsches Produkt und, was schlimmer ist, eines deutschen Kavaliers. Es scheint ein junger Mann zu sein, der Energie hat, aber voller Prätension steckt, der sich Mühe gegeben hat, herumzulaufen, zu notieren, zu hören, zu horchen, zu lesen. Er hat gewußt, dem Werke einen Anschein von Ganzheit zu geben, es ist darin viel Wahres und Gutes, gleich darneben Falsches und Albernes, Gedachtes und Nachgeschwätztes, Longueurs und Echappaden. Wer es auch in der Entfernung durchsieht, wird bald merken, welch monstroses Mittelding zwischen Kompilation und eigen gedachtem Werk dieses voluminose Opus geworden sei.

Die Ankunft "Egmonts" erfreut und beruhigt mich, und ich verlange auf ein Wort darüber, das nun wohl unterwegs ist. Das Saffianexemplar ist angelangt, ich hab' es der Angelika gegeben. Mit Kaysers Oper wollen wir es klüger machen, als man uns geraten hat; euer Vorschlag ist sehr gut, wenn Kayser kommt, sollt ihr mehr hören.

Die Rezension ist recht im Stil des Alten, zuviel und zu wenig. Mir ist jetzt nur dran gelegen, zu machen, seitdem ich sehe, wie sich am Gemachten, wenn es auch nicht das Vollkommenste ist, Jahrtausende rezensieren, das heißt, etwas von seinem Dasein hererzählen läßt.

Jedermann verwundert sich, wie ich ohne Tribut durchgekommen bin; man weiß aber auch nicht, wie ich mich betragen habe. Unser Oktober war nicht der schönste, ob wir gleich himmlische Tage gehabt haben.

Es geht mit mir jetzt eine neue Epoche an. Mein Gemüt ist nun durch das viele Sehen und Erkennen so ausgeweitet, daß ich mich auf irgendeine Arbeit beschränken muß. Die Individualität eines Menschen ist ein wunderlich Ding, die meine hab' ich jetzt recht kennen lernen, da ich einerseits dieses Jahr bloß von mir selbst abgehangen habe und von der andern Seite mit völlig fremden Menschen umzugehen hatte.

Bericht

Oktober

Zu Anfang dieses Monats bei mildem, durchaus heiterem, herrlichem Wetter genossen wir eine förmliche Villeggiatur in Castel Gandolfo, wodurch wir uns denn in die Mitte dieser unvergleichlichen Gegend eingeweiht und eingebürgert sahen. Herr Jenkins, der wohlhabende englische Kunsthändler, bewohnte daselbst ein sehr stattliches Gebäude, den ehemaligen Wohnsitz des Jesuitergenerals, wo es einer Anzahl von Freunden weder an Zimmern zu bequemer Wohnung, noch an Sälen zu heiterem Beisammensein, noch an Bogengängen zu munterem Lustwandel fehlte.

Man kann sich von einem solchen Herbstaufenthalte den besten Begriff machen, wenn man sich ihn wie den Aufenthalt an einem Badorte gedenkt. Personen ohne den mindesten Bezug aufeinander werden durch Zufall augenblicklich in die unmittelbarste Nähe versetzt. Frühstück und Mittagessen, Spaziergänge, Lustpartien, ernst—und scherzhafte Unterhaltung bewirken schnell Bekanntschaft und Vertraulichkeit; da es denn ein Wunder wäre, wenn, besonders hier, wo nicht einmal Krankheit und Kur eine Art von Diversion macht, hier im vollkommensten Müßiggange, sich nicht die entschiedensten Wahlverwandtschaften zunächst hervortun sollten. Hofrat Reiffenstein hatte für gut befunden, und zwar mit Recht, daß wir zeitig hinausgehen sollten, um zu unseren Spaziergängen und sonstigen artistischen Wanderungen ins Gebirg die nötige Zeit zu finden, ehe noch der Schwall der Gesellschaft sich herandrängte und uns zur Teilnahme an gemeinschaftlicher Unterhaltung aufforderte. Wir waren die ersten und versäumten nicht, uns in der Gegend, nach Anleitung des erfahrenen Führers, zweckmäßig umzusehen, und ernteten davon die schönsten Genüsse und Belehrungen.

Nach einiger Zeit sah ich eine gar hübsche römische Nachbarin, nicht weit von uns im Korso wohnend, mit ihrer Mutter heraufkommen. Sie hatten beide seit meiner Mylordschaft meine Begrüßungen freundlicher als sonst erwidert, doch hatte ich sie nicht angesprochen, ob ich gleich an ihnen, wenn sie abends vor der Tür saßen, öfters nah genug vorbeiging; denn ich war dem Gelübde, mich durch dergleichen Verhältnisse von meinem Hauptzwecke nicht abhalten zu lassen, vollkommen treu geblieben. Nun aber fanden wir uns auf einmal wie völlig alte Bekannte; jenes Konzert gab Stoff genug zur ersten Unterhaltung, und es ist wohl nichts angenehmer als eine Römerin der Art, die sich in natürlichem Gespräch heiter gehen läßt und ein lebhaftes, auf die reine Wirklichkeit gerichtetes Aufmerken, eine Teilnahme mit anmutigem Bezug auf sich selbst in der wohlklingenden römischen Sprache schnell, doch deutlich vorträgt; und zwar in einer edlen Mundart, die auch die mittlere Klasse über sich selbst erhebt und dem Allernatürlichsten, ja dem Gemeinen einen gewissen Adel verleiht. Diese Eigenschaften und Eigenheiten waren mir zwar bekannt, aber ich hatte sie noch nie in einer so einschmeichelnden Folge vernommen.

Zu gleicher Zeit stellten sie mich einer jungen Mailänderin vor, die sie mitgebracht hatten, der Schwester eines Kommis von Herrn Jenkins, eines jungen Mannes, der wegen Fertigkeit und Redlichkeit bei seinem Prinzipal in großer Gunst stand. Sie schienen genau miteinander verbunden und Freundinnen zu sein.

Diese beiden Schönen, denn schön durfte man sie wirklich nennen, standen in einem nicht schroffen, aber doch entschiedenen Gegensatz; dunkelbraune Haare die Römerin, hellbraune die Mailänderin; jene braun von Gesichtsfarbe, diese klar, von zarter Haut; diese zugleich mit fast blauen Augen, jene mit braunen; die Römerin einigermaßen ernst, zurückhaltend, die Mailänderin von einem offnen, nicht sowohl ansprechenden, als gleichsam anfragenden Wesen. Ich saß bei einer Art Lottospiel zwischen beiden Frauenzimmern und hatte mit der Römerin Kasse zusammen gemacht; im Laufe des Spiels fügte es sich nun, daß ich auch mit der Mailänderin mein Glück versuchte durch Wetten oder sonst. Genug, es entstand auch auf dieser Seite eine Art von Partnerschaft, wobei ich in meiner Unschuld nicht gleich bemerkte, daß ein solches geteiltes Interesse nicht gefiel, bis endlich nach aufgehobener Partie die Mutter, mich abseits findend, zwar höflich, aber mit wahrhaftem Matronenernst dem werten Fremden versicherte, daß, da er einmal mit ihrer Tochter in solche Teilnahme gekommen sei, es sich nicht wohl zieme, mit einer andern gleiche Verbindlichkeiten einzugehen; man halte es in einer Villeggiatur für Sitte, daß Personen, die sich einmal auf einen gewissen Grad verbunden, dabei in der Gesellschaft verharrten und eine unschuldig anmutige Wechselgefälligkeit durchführten. Ich entschuldigte mich aufs beste, jedoch mit der Wendung, daß es einem Fremden nicht wohl möglich sei, dergleichen Verpflichtungen anzuerkennen, indem es in unsern Landen herkömmlich sei, daß man den sämtlichen Damen der Gesellschaft, einer wie der andern, mit und nach der andern, sich dienstlich und höflich erweise, und daß dieses hier um desto mehr gelten werde, da von zwei so eng verbundenen Freundinnen die Rede sei.

Aber leider! indessen ich mich so auszureden suchte, empfand ich auf die wundersamste Weise, daß meine Neigung für die Mailänderin sich schon entschieden hatte, blitzschnell und eindringlich genug, wie es einem müßigen Herzen zu gehen pflegt, das in selbstgefälligem ruhigem Zutrauen nichts befürchtet, nichts wünscht, und das nun auf einmal dem Wünschenswertesten unmittelbar nahe kommt. Übersieht man doch in solchem Augenblicke die Gefahr nicht, die uns unter diesen schmeichelhaften Zügen bedroht.

Den nächsten Morgen fanden wir uns drei allein, und da vermehrte sich denn das übergewicht auf die Seite der Mailänderin. Sie hatte den großen Vorzug vor ihrer Freundin, daß in ihren äußerungen etwas Strebsames zu bemerken war. Sie beklagte sich nicht über vernachlässigte, aber allzu ängstliche Erziehung: "Man lehrt uns nicht schreiben", sagte sie, "weil man fürchtet, wir würden die Feder zu Liebesbriefen benutzen; man würde uns nicht lesen lassen, wenn wir uns nicht mit dem Gebetbuch beschäftigen müßten; uns in fremden Sprachen zu unterrichten, daran wird niemand denken; ich gäbe alles darum, Englisch zu können. Herrn Jenkins mit meinem Bruder, Mad. Angelika, Herrn Zucchi, die Herren Volpato und Camuccini hör' ich oft sich untereinander englisch unterhalten mit einem Gefühl, das dem Neid ähnlich ist: und die ellenlangen Zeitungen da liegen vor mir auf dem Tische, es stehen Nachrichten darin aus der ganzen Welt, wie ich sehe, und ich weiß nicht, was sie bringen."

"Es ist desto mehr schade", versetzte ich, "da das Englische sich so leicht lernen läßt; Sie müßten es in kurzer Zeit fassen und begreifen. Machen wir gleich einen Versuch", fuhr ich fort, indem ich eins der grenzenlosen englischen Blätter aufhob, die häufig umherlagen.

Ich blickte schnell hinein und fand einen Artikel, daß ein Frauenzimmer ins Wasser gefallen, glücklich aber gerettet und den Ihrigen wiedergegeben worden. Es fanden sich Umstände bei dem Falle, die ihn verwickelt und interessant machten, es blieb zweifelhaft, ob sie sich ins Wasser gestürzt, um den Tod zu suchen, sowie auch, welcher von ihren Verehrern, der Begünstigte oder Verschmähte, sich zu ihrer Rettung gewagt. Ich wies ihr die Stelle hin und bat sie, aufmerksam darauf zu schauen. Darauf übersetzt' ich ihr erst alle Substantiva und examinierte sie, ob sie auch ihre Bedeutung wohl behalten. Gar bald überschaute sie die Stellung dieser Haupt—und Grundworte und machte sich mit dem Platz bekannt, den sie im Perioden eingenommen hatten. Ich ging darauf zu den einwirkenden, bewegenden, bestimmenden Worten über und machte nunmehr, wie diese das Ganze belebten, auf das heiterste bemerklich und katechisierte sie so lange, bis sie mir endlich unaufgefordert die ganze Stelle, als stünde sie italienisch auf dem Papiere, vorlas, welches sie nicht ohne Bewegung ihres zierlichen Wesens leisten konnte. Ich habe nicht leicht eine so herzlichgeistige Freude gesehen, als sie ausdrückte, indem sie mir für den Einblick in dieses neue Feld einen allerliebsten Dank aussprach. Sie konnte sich kaum fassen, indem sie die Möglichkeit gewahrte, die Erfüllung ihres sehnlichsten Wunsches so nahe und schon versuchsweise erreicht zu sehen.

Die Gesellschaft hatte sich vermehrt, auch Angelika war angekommen; an einer großen gedeckten Tafel hatte man ihr mich rechter Hand gesetzt, meine Schülerin stand an der entgegengesetzten Seite des Tisches und besann sich keinen Augenblick, als die übrigen sich um die Tafelplätze komplimentierten, um den Tisch herumzugehen und sich neben mir niederzulassen. Meine ernste Nachbarin schien dies mit einiger Verwunderung zu bemerken, und es bedurfte nicht des Blicks einer klugen Frau, um zu gewahren, daß hier was vorgegangen sein müsse und daß ein zeither bis zur trockenen Unhöflichkeit von den Frauen sich entfernender Freund wohl selbst sich endlich zahm und gefangen überrascht gesehen habe.

Ich hielt zwar äußerlich noch ziemlich gut stand, eine innere Bewegung aber gab sich wohl eher kund durch eine gewisse Verlegenheit, in der ich mein Gespräch zwischen den Nachbarinnen teilte, indem ich die ältere zarte, diesmal schweigsame Freundin belebend zu unterhalten und jene, die sich immer noch in der fremden Sprache zu ergehen schien und sich in dem Zustande befand desjenigen, der mit einem Mal, von dem erwünscht aufgehenden Lichte geblendet, sich nicht gleich in der Umgebung zu finden weiß, durch eine freundlich ruhige, eher ablehnende Teilnahme zu beschwichtigen suchte.

Dieser aufgeregte Zustand jedoch hatte sogleich die Epoche einer merkwürdigen Umwälzung zu erleben. Gegen Abend die jungen Frauenzimmer aufsuchend, fand ich die älteren Frauen in einem Pavillon, wo die herrlichste der Aussichten sich darbot; ich schweifte mit meinem Blick in die Runde, aber es ging vor meinen Augen etwas anders vor als das Landschaftlich-Malerische; es hatte sich ein Ton über die Gegend gezogen, der weder dem Untergang der Sonne noch den Lüften des Abends allein zuzuschreiben war. Die glühende Beleuchtung der hohen Stellen, die kühlende blaue Beschattung der Tiefe schien herrlicher als jemals in öl oder Aquarell; ich konnte nicht genug hinsehen, doch fühlte ich, daß ich den Platz zu verlassen Lust hatte, um in teilnehmender kleiner Gesellschaft dem letzten Blick der Sonne zu huldigen.

Doch hatte ich leider der Einladung der Mutter und Nachbarinnen nicht absagen können, mich bei ihnen niederzulassen, besonders da sie mir an dem Fenster der schönsten Aussicht Raum gemacht hatten. Als ich auf ihre Reden merkte, konnt' ich vernehmen, daß von Ausstattung die Rede sei, einem immer wiederkehrenden und nie zu erschöpfenden Gegenstande. Die Erfordernisse aller Art wurden gemustert, Zahl und Beschaffenheit der verschiedenen Gaben, Grundgeschenke der Familie, vielfache Beiträge von Freunden und Freundinnen, teilweise noch ein Geheimnis, und was nicht alles in genauer Hererzählung die schöne Zeit hinnahm, mußte von mir geduldig angehört werden, weil die Damen mich zu einem späteren Spaziergang festgenommen hatten.

Endlich gelangte denn das Gespräch zu den Verdiensten des Bräutigams, man schilderte ihn günstig genug, wollte sich aber seine Mängel nicht verbergen, in getroster Hoffnung, daß diese zu mildern und zu bessern die Anmut, der Verstand, die Liebenswürdigkeit seiner Braut im künftigen Ehstande hinreichen werde.

Ungeduldig zuletzt, als eben die Sonne sich in das entfernte Meer niedersenkte und einen unschätzbaren Blick durch die langen Schatten und die zwar gedämpften, doch mächtigen Streiflichter gewährte, fragt' ich auf das bescheidenste, wer denn aber die Braut sei. Mit Verwunderung erwiderte man mir, ob ich denn das allgemein Bekannte nicht wisse; und nun erst fiel es ihnen ein, daß ich kein Hausgenosse, sondern ein Fremder sei.

Hier ist es freilich nun nicht nötig auszusprechen, welch Entsetzen mich ergriff, als ich vernahm, es sei eben die kurz erst so liebgewonnene Schülerin. Die Sonne ging unter, und ich wußte mich unter irgendeinem Vorwand von der Gesellschaft loszumachen, die, ohne es zu wissen, mich auf eine so grausame Weise belehrt hatte.

Daß Neigungen, denen man eine Zeitlang unvorsichtig nachgegeben, endlich aus dem Traume geweckt, in die schmerzlichsten Zustände sich umwandeln, ist herkömmlich und bekannt, aber vielleicht interessiert dieser Fall durch das Seltsame, daß ein lebhaftes wechselseitiges Wohlwollen in dem Augenblicke des Keimens zerstört wird und damit die Vorahnung alles des Glücks, das ein solches Gefühl sich in künftiger Entwickelung unbegrenzt vorspiegelt. Ich kam spät nach Hause, und des andern Morgens früh machte ich, meine Mappe unter dem Arm, einen weiteren Weg mit der Entschuldigung, nicht zur Tafel zu kommen.

Ich hatte Jahre und Erfahrungen hinreichend, um mich, obwohl schmerzhaft, doch auf der Stelle zusammenzunehmen. "Es wäre wunderbar genug", rief ich aus, "wenn ein wertherähnliches Schicksal dich in Rom aufgesucht hätte, um dir so bedeutende, bisher wohlbewahrte Zustände zu verderben."

Ich wendete mich abermals rasch zu der inzwischen vernachlässigten landschaftlichen Natur und suchte sie so treu als möglich nachzubilden, mehr aber gelang mir, sie besser zu sehen. Das wenige Technische, was ich besaß, reichte kaum zu dem unscheinbarsten Umriß hin, aber die Fülle der Körperlichkeit, die uns jene Gegend in Felsen und Bäumen, Aufund Abstiegen, stillen Seen, belebten Bächen entgegenbringt, war meinem Auge beinahe fühlbarer als sonst, und ich konnte dem Schmerz nicht feind werden, der mir den innern und äußern Sinn in dem Grade zu schärfen geeignet war.

Von nun an aber hab' ich mich kurz zu fassen; die Menge von Besuchenden füllte das Haus und die Häuser der Nachbarschaft, man konnte sich ohne Affektation vermeiden, und eine wohlempfundene Höflichkeit, zu der uns eine solche Neigung stimmt, ist in der Gesellschaft überall gut aufgenommen. Mein Betragen gefiel, und ich hatte keine Unannehmlichkeiten, keinen Zwist außer ein einziges Mal mit dem Wirt, Herrn Jenkins. Ich hatte nämlich von einer weiten Berg—und Waldtour die appetitlichsten Pilze mitgebracht und sie dem Koch übergeben, der, über eine zwar seltene, aber in jenen Gegenden sehr berühmte Speise höchst vergnügt, sie aufs schmackhafteste zubereitet auf die Tafel gab. Sie schmeckten jedermann ganz herrlich, nur als zu meinen Ehren verraten wurde, daß ich sie aus der Wildnis mitgebracht, ergrimmte unser englischer Wirt, obgleich nur im verborgenen, darüber, daß ein Fremder eine Speise zum Gastmahl beigetragen habe, von welcher der Hausherr nichts wisse, die er nicht befohlen und angeordnet; es zieme sich nicht wohl, jemanden an seiner eignen Tafel zu überraschen, Speisen aufzusetzen, von denen er nicht Rechenschaft geben könne. Dies alles mußte mir Rat Reiffenstein nach Tafel diplomatisch eröffnen, wogegen ich, der ich an ganz anderm Weh, als das sich von Schwämmen herleiten kann, innerlichst zu dulden hatte, bescheidentlich erwiderte, ich hätte vorausgesetzt, der Koch würde das dem Herrn melden, und versicherte, wenn mir wieder dergleichen Edulien unterwegs in die Hände kämen, solche unserm trefflichen Wirte selbst zur Prüfung und Genehmigung vorzulegen. Denn wenn man billig sein will, muß man gestehen, sein Verdruß entsprang daher, daß diese überhaupt zweideutige Speise ohne gehörige Untersuchung auf die Tafel gekommen war. Der Koch freilich hatte mir versichert und brachte auch dem Herrn ins Gedächtnis, daß dergleichen zwar nicht oft, aber doch immer, als besondere Rarität, mit großem Beifall in dieser Jahrszeit vorgesetzt worden.

Dieses kulinarische Abenteuer gab mir Anlaß, in stillem Humor zu
bedenken, daß ich selbst, von einem ganz eignen Gifte angesteckt, in
Verdacht gekommen sei, durch gleiche Unvorsichtigkeit eine ganze
Gesellschaft zu vergiften.

Es war leicht, meinen gefaßten Vorsatz fortzuführen. Ich suchte sogleich den englischen Studien auszuweichen, indem ich mich morgens entfernte und meiner heimlich geliebten Schülerin niemals anders als im Zusammentritt von mehrern Personen zu nähern wußte.

Gar bald legte sich auch dieses Verhältnis in meinem so viel beschäftigten Gemüte wieder zurechte, und zwar auf eine sehr anmutige Weise; denn indem ich sie als Braut, als künftige Gattin ansah, erhob sie sich vor meinen Augen aus dem trivialen Mädchenzustande, und indem ich ihr nun eben dieselbe Neigung, aber in einem höhern uneigennützigen Begriff zuwendete, so war ich als einer, der ohnehin nicht mehr einem leichtsinnigen Jüngling glich, gar bald gegen sie in dem freundlichsten Behagen. Mein Dienst, wenn man eine freie Aufmerksamkeit so nennen darf, bezeichnete sich durchaus ohne Zudringlichkeit und beim Begegnen eher mit einer Art von Ehrfurcht. Sie aber, welche nun auch wohl wußte, daß ihr Verhältnis mir bekannt geworden, konnte mit meinem Benehmen vollkommen zufrieden sein. Die übrige Welt aber, weil ich mich mit jedermann unterhielt, merkte nichts oder hatte kein Arges daran, und so gingen Tage und Stunden einen ruhigen behaglichen Gang.

Von der mannigfaltigsten Unterhaltung wäre viel zu sagen. Genug, es war auch ein Theater daselbst, wo der von uns so oft im Karneval beklatschte Pulcinell, welcher die übrige Zeit sein Schusterhandwerk trieb und auch übrigens hier als ein anständiger kleiner Bürger erschien, uns mit seinen pantomimisch-mimisch-lakonischen Absurditäten aufs beste zu vergnügen und uns in die so höchst behagliche Nullität des Daseins zu versetzen wußte.

Briefe von Haus hatten mich indessen bemerken lassen, daß meine nach Italien so lang projektierte, immer verschobene und endlich so rasch unternommene Reise bei den Zurückgelassenen einige Unruhe und Ungeduld erregt, ja sogar den Wunsch, mir nachzufolgen und das gleiche Glück zu genießen, von dem meine heitern, auch wohl unterrichtenden Briefe den günstigsten Begriff gaben. Freilich in dem geistreichen und kunstliebenden Kreise unserer Herzogin Amalie war es herkömmlich, daß Italien jederzeit als das neue Jerusalem wahrer Gebildeten betrachtet wurde und ein lebhaftes Streben dahin, wie es nur Mignon ausdrücken konnte, sich immer in Herz und Sinn erhielt. Der Damm war endlich gebrochen, und es ergab sich nach und nach ganz deutlich, daß Herzogin Amalie mit ihrer Umgebung von einer, Herder und der jüngere Dalberg von der andern Seite über die Alpen zu gehen ernstliche Anstalt machten. Mein Rat war, sie möchten den Winter vorübergehen lassen, in der mittleren Jahreszeit bis Rom gelangen und sodann weiter nach und nach alles des Guten genießen, was die Umgegend der alten Weltstadt u. s. w., der untere Teil von Italien darbieten könnte.

Dieser mein Rat, redlich und sachgemäß, wie er war, bezog sich denn doch auch auf meinen eigenen Vorteil. Merkwürdige Tage meines Lebens hatte ich bisher in dem fremdesten Zustande mit ganz fremden Menschen gelebt und mich eigentlich wieder frisch des humanen Zustands erfreut, dessen ich in zwar zufälligen, aber doch natürlichen Bezügen seit langer Zeit erst wieder gewahr wurde, da ein geschlossener heimatlicher Kreis, ein Leben unter völlig bekannten und verwandten Personen uns am Ende in die wunderlichste Lage versetzt. Hier ist es, wo durch ein wechselseitiges Dulden und Tragen, Teilnehmen und Entbehren ein gewisses Mittelgefühl von Resignation entsteht, daß Schmerz und Freude, Verdruß und Behagen sich in herkömmlicher Gewohnheit wechselseitig vernichten. Es erzeugt sich gleichsam eine Mittelzahl, die den Charakter der einzelnen Ergebnisse durchaus aufhebt, so daß man zuletzt im Streben nach Bequemlichkeit weder dem Schmerz noch der Freude sich mit freier Seele hingeben kann.

Ergriffen von diesen Gefühlen und Ahnungen, fühlte ich mich ganz entschieden, die Ankunft der Freunde in Italien nicht abzuwarten. Denn daß meine Art, die Dinge zu sehen, nicht sogleich die ihrige sein würde, konnte ich um so deutlicher wissen, als ich mich selbst seit einem Jahre jenen kimmerischen Vorstellungen und Denkweisen des Nordens zu entziehen gesucht und unter einem himmelblauen Gewölbe mich freier umzuschauen und zu atmen gewöhnt hatte. In der mittlern Zeit waren mir aus Deutschland kommende Reisende immerfort höchst beschwerlich; sie suchten das auf, was sie vergessen sollten, und konnten das, was sie schon lange gewünscht hatten, nicht erkennen, wenn es ihnen vor Augen lag. Ich selbst fand es noch immer mühsam genug, durch Denken und Tun mich auf dem Wege zu erhalten, den ich als den rechten anzuerkennen mich entschieden hatte.

Fremde Deutsche konnt' ich vermeiden, so nah verbundene, verehrte, geliebte Personen aber hätten mich durch eignes Irren und Halbgewahrwerden, ja, selbst durch Eingehen in meine Denkweise gestört und gehindert. Der nordische Reisende glaubt, er komme nach Rom, um ein Supplement seines Daseins zu finden, auszufüllen, was ihm fehlt; allein er wird erst nach und nach mit großer Unbehaglichkeit gewahr, daß er ganz den Sinn ändern und von vorn anfangen müsse.

So deutlich nun auch ein solches Verhältnis mir erschien, so erhielt ich mich doch über Tag und Stunde weislich im ungewissen und fuhr unablässig fort in der sorgfältigsten Benutzung der Zeit. Unabhängiges Nachdenken, Anhören von andern, Beschauen künstlerischen Bestrebens, eigene praktische Versuche wechselten unaufhörlich oder griffen vielmehr wechselseitig ineinander ein.

Hiebei förderte mich besonders die Teilnahme Heinrich Meyers von Zürich, dessen Unterhaltung mir, obgleich seltener, günstig zustatten kam, indem er als ein fleißiger und gegen sich selbst strenger Künstler die Zeit besser anzuwenden wußte als der Kreis von jüngeren, die einen ernsten Fortschritt in Begriffen und Technik mit einem raschen lustigen Leben leichtmütig zu verbinden glaubten.

November

Korrespondenz

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