VII

Damals lernte auch Jehuda Halevi die Schriften Gazzâlîs kennen. Das wurde ihm Ereignis. Was alle damals bewegte, mußte auch ihn bewegen. Ja, mußte ihn tiefer bewegen als alle, weil er Jude war und doppeltes Leid trug. Mit dem Eindringen der Almoraviden in Spanien hatte für die Juden eine schlimme Zeit begonnen. Während ihre Edlen früher an den heiteren Höfen von Malaga, Sevilla und Cordova hohe Stellungen einnahmen, und das Volk unter ihrem Schutze ein freies Leben führen durfte, so daß auch in seiner Mitte Kunst und Wissenschaft blühten, lösten jetzt Verfolgungen, Erpressungen und fanatische Bekehrungsversuche einander ab. Jehuda Halevi litt entsetzlich. Der von König Jussuf an den Juden Lucenas geübte Gewaltstreich (1107), der vielfache Frauenraub berberischer Horden, die Ermordung seines Freundes Salomo ibn Farusal (1108), warfen dunkle Schatten in sein Gemüt. Dazu kam sein damals auf den Gipfel gestiegenes persönliches Elend: Hunger, vielfach erfahrener Undank, das Bewußtsein, andere minder Befähigte erfolgreich, sich selbst aber immer „in des Lebens letzter Reihe“ zu sehen, all das wirkte zusammen, seine Lebensanschauung bestimmend zu gestalten. Was war ihm das Leben? – Ewige Versagung. Was war ihm die Welt? – Eitel Schaum.

So kam er zu Stunden tiefster Verzweiflung, die ihn an sein Leben mit der letzten Frage herantreten ließen. Ein ergreifendes Zeugnis solcher Stunden blieb uns in jenem herrlichen Gedicht aufbewahrt, in dem er im Traume die tröstenden Freunde zu sich kommen sieht. Was soll ihm ihr Trost? Muß er nicht bei ihnen volle Garben und bei sich die ewig dürren Halme sehen?

Ich von allen meinen Lieben

Bin allein in meiner Kammer

Heimgesucht von allem Jammer,

Aller Nöte Kind geblieben.

Was noch kann die Zeit mir geben?

Such’ ich, was ich nie erworben? –

Ach, ich bin schon längst gestorben,

Und ich hab’ kein Recht zu leben!

Daß der junge Dichter solchen Stimmungen anheimfallen konnte, zeugt von der tiefen seelischen Not, die ihn oftmals gedrückt haben muß. Diese Not muß um so tiefer vorgestellt werden, als er von Natur eine glückhelle Seele war. Der geringste Sonnenstrahl, der in sein Elend fiel, half ihm über ewige Nächte hinweg. Wie leicht wäre er zufrieden gewesen! Er war kein Weltfeind, und nichts war ihm fremder als Menschenmäkelei. Gern hätte er mit der Welt in Frieden gelebt. Aber immer wieder mußte er ihr Dirnentum erkennen:

Wenn ein Mann schon mit ihr leben will,

Sie zur Gattin sich erheben will,

Muß er sich mit einer Dirne plagen.

So kam er schließlich dahin, daß er sich vollständig zu verlieren drohte und an das Glück nicht einmal zu glauben vermochte, wenn es an seinem Halse lag. Es kamen frohe Stunden, Stunden der Liebe, der Freundschaft, der Anerkennung, der materiellen Sicherheit. Da wußte er sie nicht zu genießen: „Nur wenn es mir schlecht geht, bin ich stark,“ so klagt er, „und zittere, wenn mir das Glück lächelt; denn morgen wird es nicht mehr sein.“ Oft war er nahe daran, seinen Jammer zu vergessen und sich des Heute zu freuen, das so schön war und so voll Trostes, da traf es ihn plötzlich wie ein Stich in die Brust: Alles Lüge, alles Lüge! „Die Welt will mich einlullen, ihr Elend zu vergessen. Fast gelingt es ihr. Aber ich kenne ihr schlimmes Tun, ich kenne es.“ Sein ursprünglich heiteres Gemüt war verdunkelt. Seine Seele war müde geworden.

Und doch sollte die Verzweiflung ihn nicht haben. In seiner schlimmsten Zeit scheint es gewesen zu sein, als ihm die Persönlichkeit Gazzâlîs entgegentrat und ihm den Rückweg zu sich selber zeigte. Hier war einer, der all das für verachtenswert erklärte, was ihm selbst, Jehuda Halevi, versagt war, all das für ewigen Reichtum, was er bei sich trug. Einer, der die Eitelkeit alles Irdischen, die Hohlheit des Lebens, die Nichtigkeit des Denkens an sich selber erlebt hatte. Und dem aus dem Chaos der Triebe, Wünsche, Sehnsuchten, aus den Trümmern, die er, selbst geschlagen, nur ein einziges Wertvolles sich gesondert hatte, ein Diamant unter den Scherben seines Lebens: Die Seele. Die Seele, die aus Gott kam, zu Gott will, in Gott ist. Jehuda Halevi fand sich in Gazzâlî wieder. Der brachte ihm den Sieg über sich selbst, die Begründung seiner Religion fürs ganze Leben. Der Einfluß ist unverkennbar. Jene geheimnisvollen Lieder Jehuda Halevis an die Seele sind ein tiefgehender Beweis. Es ist dieselbe vibrierende Stimme, die aus ihnen und dem religiösen Bekenntnis des arabischen Meisters spricht. Das Leben ein Traum, ein Erwachen der Tod, aber die hingegebene Seele findet den Weg zu ihm schon vor dem Tode, vermag sich selbst die Pforten aufzubrechen, den Kelch sich zu füllen aus dem Brunnen der Ewigkeiten. O Seele, du liegst im Sarge deiner Sinne, du moderst bei Lebzeiten, wenn du die Welt nicht zu verachten vermagst. Wirf hin, was du hast, so hast du ewigen Reichtum. Laß hinter dir die Erde, steig empor zu ihm, zu seinem Throne, siehe, er kommt dir entgegen, sein Geheimstes vermagst du zu schauen:

Wer kündet uns das Weben,

Das alle Wolken treibt,

Das tief verhüllte Leben,

Das ewig droben bleibt?

Und doch will er sich neigen

Dem Kinde dieser Welt

Und läßt sein Leuchten steigen

Hinab aufs Erdenzelt.

Und läßt vor Seheraugen

Sein ganzes Bild erstehn;

Sonst mochte nie ihm taugen

Daß Menschen ihn ersehn.

Was nie sich wollt’ gestalten,

Sein Bildnis oder Maß, –

In königlichem Walten

Prophetenauge sah’s.

Das ist echt Gazzâlîsche Inbrunst. Es verkennen, hieße blind sein. Daraus folgt aber gleichzeitig, daß all diese zahlreichen Lieder aus der Zeit nach 1108 stammen, in welchem Jahre ungefähr die Werke Gazzâlîs in Spanien bekannt wurden. Wahrscheinlich sogar wurden sie erst nach 1120 gedichtet. Die religiöse Reife, die aus ihnen spricht, beweist, daß unser Dichter die Jahre seines Irrens hinter sich hat, daß er mit sich selbst im Reinen ist, daß er weiß, wo die Wurzeln seiner Kraft liegen. Gazzâlî war Jehuda Halevis Wegführer geworden und blieb es bis an sein Lebensende. Al Chazârî, das philosophische Werk Halevis, mit dem er sein Leben beschloß, zeigt denselben Haß gegen die Spekulation, dieselbe Verachtung plappernder Gottesverehrung, denselben Glauben an die prophetische Schau des „inneren Auges“, wie Gazzâlî ihn gelehrt hatte. –

Aber noch eines war es, was Jehuda Halevi über Wasser hielt: Das war das naive Selbstbewußtsein, die köstliche Gabe des Genies. Er fühlte sich als „Siegelring seiner Zeit“ berufen, ihr den Stempel aufzudrücken. Zwar hatte sie ihn fortgeworfen, aber er blieb doch das Siegel. Er war „der Riese, der sich unter Zwerge beugen muß“, aber doch Riese blieb. Er war „der Löwe unter den Dichtern“, den es ekelt zu dichten, weil im Weinberg der Poesie „sich die Füchse breit machen“.

Und was war ihm sein Dichten? Nicht ein Beruf, aber eine Berufung. Er dichtete nicht, wie der Schuster schustert. Er glaubte an die Intuition alles dichterischen Schaffens. Ihm war das Höchste „der Tropfen, der vom Eimer rann“. Der Schaum über dem Meere. Das Meer der Weisheit krönt sich mit dem Schaum der Poesie. Es spricht durch den Schaum, und ihm war es prophetische Sprache. Oft klagt er, „daß er keine Vision erfassen könne“, ein anderes Mal überwältigen ihn die Verse, „ohne daß der Gedanke sie rief“. Dann wieder redet er sie an: „Wie seid ihr müde, ihr Verse, ihr meiner Gedanken Flügel wie so lahm? Zur falschen Stunde seid ihr immer gekommen, jetzt zur rechten schweiget ihr.“ Als er einst mit den Freunden beim Gastmahle saß, forderten sie ihn auf, zu improvisieren. Er aber weigerte sich. Da wurden die Freunde immer fröhlicher, tranken und jauchzten ihm zu, bis er, vom Weine bezwungen, begeistert aufsprang und zu deklamieren begann: – ein echt orientalisches Bild: Hafis in der Schenke. Jehuda Halevi dichtete, wenn er nicht anders konnte. Die Verse waren ihm unbändige Füllen, die sich oft „in seinen Zaum nicht schicken wollten“, manchmal aber plötzlich in seinem Zügel waren und den Taumelnden mit sich rissen. Er war ein echter Prophet der Dichterwelt. Und als Prophet fühlte er sich. In seinem Werke Al Chazârî spottet er derer, welche der Dialektik bedürfen, um ins Innere der Natur zu dringen. Sie sind ihm wie Dichter, die Silben zählen. „Der Schwachkopf braucht Dialektik, dem von der Natur zur Gottesschau Begnadeten fällt eines frommen Wortes Funken ins Herz, und schon steht seine Seele im Licht.“

Wenn Jehuda Halevi so sprach, sprach er von sich selbst. Dieses Selbstbewußtsein aber lehrte ihn schätzen, was er hatte, und verachten, was ihm versagt war. Sein war der bessere Teil: –

Und sie fragen: Kannst du leben

Ohne Bruder freudevoll? –

Ja, ich kann’s: aus eigner Seele

Stets mir meine Freude quoll!

Und ebenso lernte er den Pöbel hassen, den gebildeten Pöbel vor allem, lernte es, „seine Perlen zu vergraben“, zu sorgen, daß „seines Goldes kein Ring in den Rüssel eines Schweines komme“. Dieser Haß gegen die Welt blieb ihm bis an sein Lebensende. Er hat seiner Zeit nie ganz vergeben können, was sie an ihm gesündigt hat. Noch in seinen letzten Tagen klagte er über die Menschen, die gerade die Besten immer leiden lassen, über die Fürsten, die mit ihrem Golde sein Gottesgnadentum anzutasten wagten.

Trotzdem entwand er sich von Jahr zu Jahr mehr der Verbitterung, die seine jungen Tage vergällt hatte. Seine frohe Religiosität blieb Siegerin. Er hörte auf, zu hoffen auf das, was die Menschen Glück nannten, und nichts blieb als der triumphierende Stolz des Dichters auf sein gnadenreiches Leben. Was waren alle Schätze der Erde neben seinem Reichtum, alle Pfeile des Neides und Hasses gegenüber seiner göttlich gefeiten Brust:

Sprechet nur zur Welt, zur schlimmen:

Mag sie tun, was ihr gefällt,

Härter doch als ihre Dornen,

Stärker ist mein starkes Herz.

Darf ich ihre Weine kosten,

Will ich auch die Hefen nippen,

Besseres verlang’ ich nicht;

Denn erprobt ist meine Seele:

Alle gift’gen Bitternisse

Werden. Honig meinen Lippen.

Das ist der ganze Jehuda Halevi. Was konnten Hunger, Verkennung, Neid, Haß, Erniedrigung ihm anhaben?

Immer an der Morgenröte

Laß ich meine Wimper hängen:

Seelen, die sich selbst erheben,

Seelen, die in Hoffnung leben,

Gott wird ihre Tore sprengen! –

So endete sein Selbstbewußtsein dennoch wieder dort, wo seine Demut endete: – In Gott.

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