Der freie Geist

Man tut das Wahrste, wenn man unter den jedes Mal vorhandenen Zielen das höchste verfolgt.

Burckhardt.

Man darf nicht alle Einfälle, die Nietzsche außerhalb systematischer Zusammenhänge veröffentlichte, im eigentlichen Sinne Aphorismen nennen. Nur die in einer ganz bestimmten ziselierten Kunstform sich darbietenden Gedanken, die ihre selbstherrliche Abrundung oder Zuspitzung gefunden haben, sind als solche zu bezeichnen. Der erste Teil von »Menschliches-Allzumenschliches«, in welchem hauptsächlich Einfälle, die Nietzsche ursprünglich unter dem Titel »Die Pflugschar« sammelte, eine fast systematisch zu nennende Zusammenstellung fanden, enthält viel weniger eigentliche Aphorismen als der zweite Teil, der zwei ursprünglich selbständige Sammlungen »Vermischte Meinungen und Sprüche« und »Der Wanderer und sein Schatten« umfaßt. Im ersten Teil begegnen wir einer Anordnung nach Hauptstücken, in die sich die einzelnen Ausführungen zwanglos einfügen, während die Aphorismen des zweiten Teils, obwohl sie vielfach parallel jener Einteilung des ersten zusammengestellt wurden, sich viel selbständiger geben und den Charakter von Sentenzen und Maximen tragen.

Sie zeigen uns Nietzsche vor allem als feinsinnigen Erforscher der menschlichen Triebe und Gefühle. Vielleicht hat die Psychologie seinen Anregungen weit mehr zu danken, als sie sich dessen bewußt ist. Erst durch Nietzsches Erkenntnis, wie sehr alles relativ gewertet sein will, wurde jene Atmosphäre geschaffen, in der sie sich zu ihrer heutigen Entwicklung zu entfalten vermochte. Der Psychoanalytiker begegnete bei Nietzsche bereits Aussprüchen, die ihm heute als Dogmen gelten. So wenn Nietzsche in dem Aphorismus: »Aus dem Traume [72] deuten« sagt: »Was man mitunter im Wachen nicht genau weiß und fühlt – ob man gegen eine Person ein gutes oder schlechtes Gewissen habe – darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum.«

Zur Prüfung des Tatsächlichen, wie sie die zweite Periode seines Schaffens aufweist, wurde Nietzsche jedenfalls in hohem Grade durch F. A. Langes »Geschichte des Materialismus« angeregt. Ihm verdankte er vielerlei. Voran die tiefere Einsicht in Kants Entdeckung unserer Anschauungsformen. Schon als Student faßte er, was ihm Lange hierüber sagte, in einem Briefe an von Gersdorff in drei Sätze zusammen. Die Sinnenwelt ist das Produkt unserer Organisation. Aber dies gilt auch von unseren Organen selbst. Unsere wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt wie die wirklichen Außendinge; denn wir haben stets nur das Produkt von beiden vor uns.

Diese Erkenntnis mußte mit der Zeit dazu führen, Schopenhauers Ansicht, das Selbstbewußtsein übermittle uns einen metaphysischen Aufschluß, zu verwerfen und Nietzsche auf die positivistische Prüfung der Organisation verweisen. Die Aufgabe, die er sich im »Menschlichen-Allzumenschlichen« stellte, ist daher so zu kennzeichnen: Es gilt, um zum Ursprung und der Entwicklung der Begriffe zu gelangen, die physischen und psychischen Voraussetzungen unserer Organisation zu prüfen, und zwar nur im Hinblick auf ihre Tatsächlichkeit, die Frage nach ihrem individuellen und sozialen Wert aber außer acht zu lassen.

Die Nennung F. A. Langes bietet uns Veranlassung, die umstrittene Frage zu prüfen: hatte Nietzsche Stirner gelesen, also dessen Hauptwerk »Der Einzige und sein Eigentum« gekannt? Erwähnt hat er Stirner weder in seinen Werken noch in seinen Briefen. Auch liegt kein gültiges Zeugnis vor, daß er je in Gesprächen seinen Namen nannte. Dagegen ermittelte Overbeck die Tatsache, daß er seinen Schüler Baumgartner auf Stirner[73] aufmerksam gemacht hat. Nietzsche wußte also doch von Stirner. Wahrscheinlich wohl durch Lange. Aus dessen Buch erfuhr er, daß Stirner »am rücksichtslosesten und konsequentesten den Egoismus gepredigt hat«, und weiterhin, daß Stirner nicht nur jede sittliche Idee verwarf, sondern alles, was sich als äußere Gewalt, als Glaube oder als bloßer Begriff über das Individuum und seine Willkür stellt. Das also wußte Nietzsche. Aber dieses Wissen um Stirners Existenz und seine Verherrlichung des Egoismus beweist noch nicht, daß Nietzsche auch das Werk Stirners selbst in Händen gehabt hat. Wir müssen also schon nach inneren Beweisgründen ausschauen. Vielleicht daß sie die Frage entscheiden.

Stirner und Nietzsche sind die bedeutendsten bewußten Förderer geistiger Unabhängigkeit. Es besteht zwischen ihnen eine typische Geistesverwandtschaft. Sie allein haben die äußersten Konsequenzen ihrer Ideen über die Selbstherrlichkeit des Individuums gezogen. Es ergeben sich daher viele Berührungspunkte. Trotzdem ist nirgends ein Ausspruch Nietzsches zu finden, der auf eine Vaterschaft Stirners verwiese. Aber nicht nur die geistigen Übereinstimmungen, sondern auch die Gegensätzlichkeiten sind augenfällig. Stirner läßt durchaus nur den Einzelnen als Wirklichkeit gelten. Kein Mensch ist einem anderen gleich. Jeder ist einzig. Jedem steht von Natur das Recht zu, die Welt als sein Eigentum anzusehen und mit ihr und allen anderen Menschen gemäß seiner Natur und seinem Ermessen zu verfahren. Mag jeder sich dagegen wehren, so gut er es eben vermag. Nietzsche geht von einer ganz anderen Überzeugung aus. Der Mensch ist von Ursprung an sozial veranlagt. Erst durch die Kultur entwickelt er sich zu einer selbstherrlichen Persönlichkeit. Für Nietzsche gilt somit das, was Stirner als natürliche Voraussetzung annimmt, nicht als Voraussetzung, sondern als kulturelles Ziel. Das ergibt einen großen Unterschied. Stirner verwirft den Staat mit[74] radikaler, aber durchaus einseitiger Konsequenz für jeden Menschen, ohne die Frage nach der Fähigkeit zur Selbstbeherrschung und Selbstbestimmung zu stellen. Wie anders Nietzsche. Dieser weist gerade dem Staate die Aufgabe zu, das Tier im Menschen zu bändigen, damit der Mensch im Menschen sich zu entfalten vermag. Nietzsche ist es um Rangunterscheidungen zu tun, bestimmt durch den Persönlichkeitswert des Einzelnen und den typischen Wert der Klassen; Stirner dagegen anerkennt keinerlei Rangordnung. Stirner gelangte auf seinem Wege zu einer hochgesinnten Verherrlichung der Anarchie. Nietzsche gelangte zu einer ebenso hochgesinnten Verherrlichung des Herren- und Herrschertums, das berufen ist, die Zügellosigkeit ungebändigter Naturen niederzuhalten.

In ihren Negationen begegnen sie sich zuweilen. So wenn Stirner schreibt: »Nenne die Menschen nicht Sünder: du, der du die Menschen zu lieben wähnst, du gerade wirfst sie in den Kot der Sünde … Ich aber sage dir, du hast niemals einen Sünder gesehen, du hast ihn nur … geträumt.« So dachte auch Nietzsche. Aber bei dem Vergleich ihrer positiven Forderungen ergibt sich nicht nur keinerlei Übereinstimmung, sondern eine entschiedene Gegensätzlichkeit. In keinem Falle aber lassen sich Belege dafür finden, Nietzsche müsse Stirner gelesen haben.

Vielleicht gelingt es uns aber, einen Indizienbeweis für die gegenteilige Behauptung zu führen. Immer hat Nietzsche sich die Größten als würdige Feinde erkoren. Nicht Hinz oder Kunz hat er als Bildungsphilister gebrandmarkt, sondern David Friedrich Strauß; nicht irgendeinen beliebigen Universitätsprofessor hat er angegriffen, um den Rationalismus zu treffen, sondern Sokrates, und als es ihm darauf ankam, sein Hellenentum gegen das Christentum auf dem Gebiete der Kunst ins Feld zu führen, da hat er mit blutendem Herzen sich Wagner zum Gegner umgewertet.

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Und dieses typische Verlangen Nietzsches nach einem würdigen Gegner sollte in diesem einen Falle sich in das Gegenteil verkehrt haben? Als Nietzsche den Pessimismus und Anarchismus als verwandte Ohnmachts- und Verzweiflungslehren bekämpfte, als er wörtlich sagte: man darf zwischen Christ und Anarchist eine vollkommene Gleichung aufstellen: ihr Zweck, ihr Instinkt geht nur auf Zerstörung, da soll er nicht dem charakteristischen Repräsentanten des Anarchismus den Kampf angesagt haben, trotz Bekanntschaft mit seinem Werke? Das widerspräche jeder psychologischen Voraussetzung. Nein, Nietzsche hat wohl von Stirner gewußt, aber niemals sein Buch gelesen.

– Nietzsche wollte »Menschliches-Allzumenschliches« ursprünglich anonym veröffentlichen, um eine sachliche Diskussion zu ermöglichen und das Zartgefühl seiner Freunde zu schonen, vor diesen selbst aber seine Urheberschaft bekennen. Die offene Redlichkeit, mit der er sich selbst analysierte, gab ihm das Vertrauen ein, daß auch seine Freunde sich groß genug erweisen würden, die gleiche Freimütigkeit über sich ergehen zu lassen. So bezieht sich, nach Bernoulli, der folgende Ausspruch auf Overbeck. »Die meisten Denker schreiben schlecht, weil sie nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken mitteilen.«

Besonders reich ist das Buch an solchen Analysen Wagners. Nietzsches Abreise aus Bayreuth – wir wissen es bereits – bedeutete für ihn noch keine Abwendung von der Person Wagners. Auch Wagner hielt sich nach den Festspielen in Sorrent auf und es fanden etwa sechs Zusammenkünfte statt. Bei der letzten soll Wagner dem Freund seinen Plan des«Parsifal« entwickelt haben; zum Schrecken Nietzsches, der ihn seither auf dem Wege zum »deutschen Heidentum« glaubte. Jedenfalls hat auch diese Unterredung nicht zu einem offenen Bruch geführt, denn Wagner schickte später seine Dichtung des[76] »Parsifal« an Nietzsche mit der Widmung: »Meinem teueren Freunde Friedrich Nietzsche. Richard Wagner, Oberkirchenrat.« Der humoristische Zusatz läßt wahrlich nicht an ein persönliches Zerwürfnis glauben! Auch Nietzsche begleitete seine Übermittlung von »Menschliches-Allzumenschliches« an Wagner mit einer freundschaftlichen Widmung in Versen.

Und doch führte diese Zusendung zur Klärung und – Scheidung. Die Zusendungen erfolgten nicht gleichzeitig. Nur in Nietzsches späterer Erinnerung haben sie sich »gekreuzt«. Dieser Gedächtnisfehler wird bedeutsam, wenn wir ihn im Sinne der Psychoanalyse betrachten. Er verrät uns, wie sich Nietzsches Unterbewußtsein zu der Entscheidung stellte: sie war für beide Teile notwendig geworden, weder durch ein willkürliches Verschulden von der einen noch von der anderen Seite; sie erfolgte »gleichzeitig«, als ihre neuen Werke sich »kreuzten«, wie die Degen zweier Duellanten sich kreuzen.

Die Trennung war nicht beabsichtigt worden, aber es gehörte wirklich die volle Naivität und ideale Gesinnung eines Genies dazu, um Nietzsche glauben zu lassen, Wagner werde seine Aphorismen günstig aufnehmen. Auch die Freimütigkeit hat ihre Grenzen, wo es sich um den Bestand des eigenen Lebenswerkes handelt. Wagner wußte sich mitten im Kampf für die Erhaltung seines gefährdeten großen Unternehmens. Wie sollte er da Kundgebungen eines Freundes, die es in seinem Werte so entschieden bekämpften, gelten lassen? Er antwortete nicht unmittelbar. Aber in einem Aufsatze der Bayreuther Blätter »Publikum und Popularität« kam seine Ablehnung deutlich und scharf zum Ausdruck, obwohl er es vermied, einen Namen zu nennen. Auch in einem weiteren Aufsatz »Wollen wir hoffen?« streifte er ein ihm mißliebiges Urteil Nietzsches über Luther.

Nietzsches Schwester versuchte in einem nach Wahnfried[77] gerichteten Brief vergeblich eine Verständigung anzubahnen. Frau Wagner antwortete ihr, daß man Nietzsches neues Werk nur als krankhaft entschuldigen könne, aber in keiner Weise als wertvoll anerkenne. So war jeder persönliche Verkehr unmöglich geworden. Nur ein wehmütig freundschaftliches Gedenken bestand noch als Unterströmung fort; denn wie Schönes und Großes hatte man gemeinsam gewollt, welches Glück voll seliger Hoffnungen in Tribschen gemeinsam erlebt!

Wagner betrübte es, daß er fernerhin »so gänzlich davon ausgeschlossen sein solle, an Nietzsches Leben und Nöten teilzunehmen«, und so ersuchte er Overbeck herzlich um Nachrichten über den gemeinsamen Freund. Er schrieb: »Hatte ich auch stets ein Gefühl davon, daß Nietzsche bei seiner Vereinigung mit mir von einem geistigen Lebenskrampfe beherrscht wurde, und mußte es mich nur wunderbar bedünken, daß dieser Krampf in ihm so seelenvoll leuchtendes und wärmendes Feuer erzeugen konnte, wie es sich aus ihm zum Staunen aller kundtat, und habe ich an der letzten Entscheidung seines inneren Lebensprozesses mit wahrhaftem Entsetzen zu ersehen, wie stark und endlich unerträglich jener Krampf ihn bedrücken mußte: so muß ich endlich wohl auch ersehen, daß mit einem so gewaltsamen psychischen Vorgange nach sittlichen Annahmen gar nicht zu rechten ist und erschüttertes Schweigen einzig übrigbleibt.«

Nietzsche seinerseits ließ sich immer wieder von Malwida von Meysenbug über Wagner berichten und schrieb an Freiherrn von Seydlitz, daß es ihm sehr lieb und erwünscht sei, daß einer seiner Freunde Wagnern Gutes und Freundliches erweise, wozu er selbst nicht mehr imstande sei. »Seine und meine Bestrebungen laufen auseinander. Dies tut mir wehe genug – aber im Dienste der Wahrheit muß man zu jedem Opfer bereit sein.«

Ein um jene Zeit geplantes Buch »Der neue Umblick« sollte die Worte enthalten: »Über Wagner[78] wie über Schopenhauer kann man unbefangen reden, auch bei ihren Lebzeiten – ihre Größe wird, was man auch gezwungen ist, in die andere Wagschale zu legen, immer siegreich bleiben. Um so mehr ist gegen ihre Gefährlichkeit in der Wirkung zu warnen.«

Die Trennung von Wagner traf Nietzsche um so schmerzlicher, als auch die meisten seiner übrigen Freunde sich ablehnend zu »Menschliches-Allzumenschliches« verhielten. Außer Burckhardt, der es wiederholt »das souveräne Buch« genannt hat, haben nur Dr. Rée und Peter Gast es voll gewürdigt. Rohde und manche andere erfreuten sich an Einzelheiten, aber die Zahl durchaus mißverstehender Briefe war groß.

Trotzdem Nietzsches Gesundheitszustand sich fortgesetzt verschlimmerte, nahm er doch im Winter 1877 seine Kollegien in Basel wieder auf und mutete sich damit mehr zu, als seine körperliche Widerstandskraft zu ertragen vermochte. Nach Ostern 1879 verschlimmerte sich sein Befinden so sehr, daß seine Schwester durch Overbeck nach Basel gerufen wurde. Er legte nunmehr seine Professur endgültig nieder und begab sich zunächst nach Bremgarten bei Bern und dann nach St. Moritz im Engadin. Er hatte, von Todesahnungen erfüllt, in Briefen Abschied von seinen Freunden genommen. Bald aber konnte er schreiben: »Das Engadin hat mich dem Leben wiedergegeben.«

Nietzsche hat »Menschliches-Allzumenschliches«, das über seine weiteren Lebenswege entschied, nicht umsonst »ein Buch für freie Geister« genannt. Er hatte sich mit ihm unabhängig gemacht von aller unkritischen Verehrung und sich zum freien Geiste durchgerungen. Wie ein Auftakt zu der nun erkannten Aufgabe klingen seine Worte: »Ich will den Menschen die Ruhe wiedergeben, ohne welche keine Kultur werden und bestehen kann. Ebenso die Schlichtheit. Ruhe, Einfachheit und Größe!«

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