1. Die Abreise.

Der Wagen war vorgefahren, Friedrich knallte mit der Peitsche und die Braunen stampften ungeduldig den Fußboden. Noch einmal lag ich Vater und Mutter weinend in den Armen, küßte noch einmal alle meine lieben Geschwister und reichte dem versammelten Gesinde die Hand zum Abschied; dann drückte ich mich schluchzend in die Ecke des Wagens, beugte mich jedoch sogleich wieder zum Fenster desselben hinaus, um mit dem feuchtgeweinten Taschentuche unzählige Abschiedsgrüße zurück zu winken. Nun fuhr der Wagen durch das Dorf, und aus allen Fenstern, von allen Thüren her tönten freundliche Grüße und Wünsche zu mir herüber, denn ich kannte ja alle Bewohner dieser friedlich kleinen Bauerhäuser, war allen mehr oder weniger nahe getreten während der glücklichen Kindheitstage, die ich hier in der Heimath verlebte. Und nun sollte ich fort von allem, was meinem Herzen bis jetzt das Liebste gewesen, fort von meinem Vaterhause und von dem schönsten Orte der Welt, meinem lieben Heimathsdorfe! Neben mir im Wagen saß eine sanfte, feine Frau von mittleren Jahren, deren mildes Gesicht graue Löckchen umgaben, unter denen zwei kluge dunkle Augen hervorblickten. Sie war es, die mich aus der Heimath hinweg führte nach ihrem stillen Hause in Berlin. Dorthin sollte das junge Backfischchen sie begleiten, um unter ihrem Schutze etwas von Welt und Leben kennen zu lernen. Diese milde Frau hieß Tante Ulrike und war die verwittwete Schwester meines Vaters, verehrt und geliebt von allen, die sie kannten.

Sie streichelte sanft meine Hand, die ich in meinem Schmerz in die ihre legte, und sprach so liebe Trostesworte zu mir, daß ich mich bald etwas beruhigte, denn an der Seite einer so lieben Gefährtin war ich gewiß nicht so verlassen, als es mir bisher erscheinen wollte.

Jetzt fuhr der Wagen einem Gehölz zu, das auf der Höhe sich weit hinzog, und noch einen letzten Blick sandte ich zurück nach meinem lieben Dorfe. Der Kirchthurm und die kleinen Bauerhäuser alle blickten mich so freundlich an, die grünen Fensterladen am Giebel unseres Hauses konnte ich noch ganz deutlich erkennen, mir war, als wehte von dort ein weißes Tuch herüber, und wehmüthig erwiderte ich den Gruß. Dann entzogen mir die Bäume neidisch alle weitere Aussicht, und ich hing still meinen Gedanken nach, in denen mich die Tante auch wenig störte.

Nach einigen Stunden waren wir in Magdeburg, von wo die Eisenbahn uns der Residenz zuführen sollte. Hier trennte sich der letzte Bote aus dem Vaterhause von mir, der alte treue Kutscher Friedrich, mit den lieben beiden Braunen, die ich so oft selbst an der Leine gehabt, wenn wir auf das Feld hinaus fuhren, Getreide oder Heu einzuholen. Tausend, tausend Grüße trug ich ihm noch auf für jeden Einzelnen in Schreibersdorf, immer wieder streichelte ich die Pferde und gab ihnen noch ihre Leckerbissen, Weißbrod und Zucker, strich zärtlich über die blauen Sitzkissen der lieben weichen Chaise und verfolgte dann mit Thränen im Auge lange noch die Staubwolke, die hinter dem fortrollenden Wagen dahinzog.

Ein Spaziergang, den ich mit der Tante durch die Stadt und deren Umgebung machte, zog mich endlich von meinen trüben Gedanken etwas ab, und die Fahrt auf der Eisenbahn durch Gegenden, die mir noch fremd waren, zerstreute mich sehr wohlthätig. Die Tante verstand es gar zu gut, die Aufmerksamkeit rege zu erhalten für alles, was an uns vorüberzog, und auch die Reisegesellschaft beschäftigte meine Gedanken vielfältig. Endlich öffnete die Tante sogar eine Schachtel mit allerlei leckern Früchten und Kuchen, die Mama ihr heimlich für mich mitgegeben, und der reiche Inhalt derselben zeigte mir so ganz das liebe, sorgliche Mutterherz, das ihrem Kinde auch in der Ferne noch Freude machen wollte. Ich war wirklich noch Kind genug, um mit diesen köstlichen Leckerbissen meine letzten Thränen hinab zu schlucken, und so hatte meine beste Mama den Zweck erreicht, den sie damit im Sinne gehabt.

Hellen Auges zog ich endlich der großen Stadt entgegen, die sich jetzt vor uns ausbreitete, und mit neugierigen Blicken schaute ich mich in den Straßen um, durch welche wir dann fuhren. Die schönen Häuser und glänzenden Kaufläden erregten meine volle Bewunderung, hohe Statuen sahen hier und da ernst zwischen grünen Bäumen hervor, breite Brücken führten über den Fluß, der die Stadt durchschnitt, und stattliche Kirchen und Paläste blickten stolz und würdig auf mich armes Landmädchen hernieder. Alles verkündete die Hauptstadt, die Residenz eines großen Fürsten.

Endlich hielt der Wagen in einer der breiten Straßen vor einem freundlich aussehenden Hause, das nicht so hoch in den Himmel hinein ragte als seine Nachbarn, die mir ordentlich das Herz bedrückten durch ihre unzähligen Fenster. Hier in der gewaltig großen Stadt, wo so zahllose Menschen Platz finden wollten, mußte man freilich hoch in die Luft hinein bauen; selbst die Keller der Häuser, in welchen bei uns kein Mensch sich aufhalten möchte, sah ich von unzählig viel Familien bewohnt, und kein Plätzchen schien unbenutzt gelassen. Das hübsche Haus der Tante hatte nur wenig Mitbewohner und sprach durch sein zierliches sauberes Ansehn von Wohlstand und Behaglichkeit. Ein kleiner schattiger Garten umschloß seine Rückseite, und da an denselben keine Straßen, sondern wieder andere Gärten anstießen, so konnte man beim Blick über diese grünen Bäume ganz vergessen, daß man sich in der geräuschvollen Residenz befand.

Hier also sollte ich nun die nächste Zeit verleben, hier in dem fremden Hause, der fremden Stadt, den neuen Verhältnissen! O wie bang klopfte mir mein Herz, als ich die Stufen der Treppe hinauf stieg, hinter Tante Ulrike und der saubern Dienerin her, welche sich mit den unzähligen Packeten und Schachteln bepackt hatte, die mich auf der Reise begleiteten. Schüchtern blieb ich an der Thürschwelle des schönen Zimmers stehen, in das wir eintraten, und wagte nicht, meine Sachen abzulegen. Da aber kam Tante Ulrike freundlich auf mich zu, zog mich liebevoll an ihr Herz und sagte: »Nun sei mir willkommen in meinem Hause, mein liebes Kind! Gott gebe, daß du dich wohl und glücklich hier fühlen mögest, und meine Liebe dir die Heimath ersetze!« Mit welcher Innigkeit schmiegte ich mich an die Brust dieser lieben, lieben Tante! O wie allein, wie schrecklich allein und verlassen hätte ich in dieser großen, fremden Stadt dagestanden ohne diese treue, mütterliche Freundin! Aber an ihrer Seite, unter ihrem Schutz konnte ich getrost all dem Neuen und Fremdartigen entgegen gehen, das mich hier erwartete.

Nun führte mich die Tante in ihrer ganzen Wohnung umher, die für eine einzelne Frau sehr groß und geräumig war. Ueberall herrschte die größte Sauberkeit, sowohl in den Zimmern, als in Küche und Wirthschaftsräumen, alles war reich und gut eingerichtet, überall erkannte man behagliche Fülle, aber nirgends blendende üppige Pracht oder modernen Luxus. Einfach und gediegen, das war der Eindruck, den alles umher auf mich machte, und ebenso war ja auch die ganze Erscheinung der Bewohnerin dieser Räume. Es lag etwas in dem Wesen der Tante, das mir immer wieder geheime Bewunderung erweckte, und doch war durchaus nichts Auffallendes in der Art und Weise dieser stillen, feinen Frau, im Gegentheil, alles erschien so einfach, so natürlich, man hätte meinen sollen, gerade so und nicht anders müsse man auch sprechen, gehen und sich bewegen. Aber das war ja eben das Ausgezeichnete an ihr, nirgends ein Mangel, nirgends etwas, das man anders gewünscht hätte. Damals wußte ich mir nicht Rechenschaft zu geben, worin das Harmonische eigentlich bestand, das sie umgab, jetzt aber weiß ich es, – es war eben die gute Erziehung!

Erst jetzt neben dieser ausgezeichneten Frau fühlte ich mehr und mehr, wie sehr mir armen Landmädchen die feinere Erziehung noch fehlen möchte. Zu Haus auf dem Dorfe, in einfachen Verhältnissen, und mitten unter den vielen kleinen wilden Geschwistern war mir nie dieser Gedanke gekommen. Aber meine liebe Mama, welche durch die vielen Kinder und große Kränklichkeit abgehalten wurde, sich mehr mit meiner Erziehung zu beschäftigen, und die ihre eigene Jugend nur auf dem Dorfe verlebt hatte, fern von den feineren Sitten und Gewohnheiten der Städte, sie wünschte sicher lange schon, daß ihr ältestes Töchterchen in anderen Verhältnissen lernen möchte, was das Vaterhaus ihr nicht bieten konnte. In den stillen, häuslichen Tugenden, mit denen meine geliebte Mutter das Glück ihres Hauses begründete, hatte sie mich mit Sorgfalt und Treue unterwiesen, und nie in meinem Leben kann ich ihr dafür genug danken. Ihre Lehren bildeten die Grundlage alles dessen, was das spätere Leben mir zuführte, und wodurch Herz und Verstand seine fernere Entwicklung erhielt. Daß ich diese weitere Ausbildung aber nirgends besser finden konnte, als an der Hand unsrer lieben Tante Ulrike, das wußte meine Mama recht wohl, da sie selbst die treffliche, feingebildete Schwägerin so aufrichtig verehrte. Wie gern überließen meine Eltern mich ihr deshalb für einige Zeit, als sie sich erbot, für meine weitere Ausbildung Sorge zu tragen. Welchen treuen, liebevollen Händen ich anvertraut worden, das fühlte ich selbst gar bald.

In der ersten Zeit meines Aufenthaltes aber bei der Tante war ich unaussprechlich bedrückt und unglücklich, denn neben dieser fein gebildeten Frau fühlte ich jeden Augenblick, wie hölzern ich mich bewegte, und meine angeborene Schüchternheit vermehrte die Aengstlichkeit meines Benehmens. Wie ein steifer Perückenstock stand ich an Tantes Seite, und so oft sie mit mir sprach, wurde ich bis unter das Haar hinauf feuerroth und wagte nicht zu antworten, denn ich kam mir gar zu albern und kindisch vor. Die sanfte Freundlichkeit der Tante wirkte aber bald ungemein wohlthätig; meine Schüchternheit schmolz davon wie Schnee vor der Sonne, und ich gewann nach und nach meine kindliche Heiterkeit wieder, trotz aller Fehler und Verstöße, die ich immer von Neuem beging. Die Tante sagte mir schon am ersten Tage sehr liebevoll, sie werde mich gleich von vorn herein erbarmungslos auf alles aufmerksam machen, was sie anders wünsche, nur müsse ich dabei nicht ungeduldig werden, böse sei es nie gemeint. Natürlich versprach ich dies aus vollem Herzen, und hielt es tapfer und standhaft, so schwer es mir oft genug wurde.

Was mir nun von diesem meinem Aufenthalte im Hause der Tante noch im Gedächtniß geblieben, das erzähle ich euch, meine lieben Freundinnen, jetzt mit offenem Herzen, es sind gar liebe Erinnerungen für mich. Und da das Geschlecht der Backfischchen noch bis auf den heutigen Tag grünt und blüht, so ist unter ihnen gewiß eins oder das andre, das sich in seiner 15jährigen Haut ebenso unbehaglich fühlt, als es bei mir der Fall war, und ihnen mögen denn diese Zeilen zum Troste und zur Unterhaltung dienen.

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