III. Katastrophe.

Der Verkehr mit jenem Kreise junger Politiker, mit neuen Ideen führte Dostojewsky immer tiefer in dieselben ein, und die vielen, wenn auch sicher fruchtlosen, so doch von aufrichtiger Glut für Freiheit, Menschen- und Bürgerrechte beseelten Debatten im Hause des Ministerialbeamten Petraschewsky und dem des Kollegien-Assessors und Litteraten Durow beschleunigten die Katastrophe, welche für 23 Männer verschiedenen Alters und Berufs verhängnisvoll werden sollte. Für Dostojewskys Leben, seine weitere Charakter-Entwickelung, sowie für sein künstlerisches Lebenswerk sollte diese Katastrophe von den entscheidendsten Folgen sein.

In einem, wie O. Miller sagt, leider spurlos verschwundenen Artikel: „Meine erste Bekanntschaft mit Belinsky“, nennt der Dichter diese Epoche seines Lebens „eine schwere, schicksalsvolle Zeit.“ Es muss angenommen werden, dass er von Belinsky in die Lehre vom Sozialismus eingeführt worden sei, die er sich, wie er sich selbst ausdrückt, „leidenschaftlich zu eigen gemacht hat“, obwohl ihm Belinsky von vornherein das Axiom entgegenschleudert: „die Revolution hat vor allem das Christentum zu vernichten, denn sie ist vor allem auf den Atheismus gegründet“. Dostojewsky scheint sich der bestrickenden Persönlichkeit Belinskys doch so weit hingegeben zu haben, dass er den Bestrebungen jenes Kreises nahe trat; allein wir finden noch 22 Jahre später in einem Briefe an N. Strachow, sowie in einem Artikel seines „Dnewnik Pisatela“ (Tagebuch eines Schriftstellers) heftige Ausfälle gegen Belinsky, gleichsam unter dem unverwischten Eindruck der Entrüstung, welche jener Streit für und wider das Christentum im Dichter hervorgerufen hatte. „Dieser Mensch“ — sagt er da — „hat Christum vor mir beschimpft, dabei ist er doch niemals imstande gewesen, sich selbst oder irgend einen von allen Führern der ganzen Welt vergleichend an Christi Seite zu stellen; er vermochte nicht es zu sehen, wie viel kleinliche Eigensucht, Zorn, Ungeduld, Reizbarkeit, Kleinheit, vor allen aber Eigensucht in ihm selbst und in allen anderen vorhanden ist. Als er Christum beschimpfte, sagte er sich niemals: was werden wir denn an seine Stelle setzen? etwa uns, die wir so hässlich sind? — nein, er hat sich auch niemals darauf besonnen, dass er hässlich ist, er war im höchsten Grade mit sich zufrieden“.

Aus alledem können wir uns eine Vorstellung davon machen, wie Dostojewsky sich mit den Lehren der vierziger Jahre beschäftigte, und wie klar doch bei alledem in ihm die Grenze vorgezeichnet war, die er vermöge seiner innersten Wesenheit nicht zu überschreiten vermocht hätte, so dass er sich uns als das darstellt, was wir heute einen christlichen Sozialisten im reinsten Sinne nennen möchten.

Um diese Zeit, oder vielmehr einige Jahre früher, hatten sich aus dem Schosse der Universität heraus mehrere Studentenkreise gebildet, die ein ernsteres Streben vereinigte, als die Lust an Skandal, Mensuren etc. Sie bildeten Lesekreise, legten eine gesonderte Studenten-Bibliothek an, wobei wissenschaftliche Werke des In- und Auslandes, darunter nicht wenige eingeschmuggelte Bücher, erworben wurden. So machten sie sich mit den Werken L. Steins, Jaxthausens, sowie denen Fouriers, Louis Blancs, Proud’hons bekannt. Diese Lesekreise nun benutzt jener ehemalige Student, nunmehrige Angestellte im Ministerium des Äusseren Butaschewitsch-Petraschewsky dazu, um die sogenannte „Gesellschaft der Propaganda“ durch alle möglichen Elemente zu vergrössern. Es sollten die einzelnen Kreise wieder Kreise bilden, nach dem System der „Fünf“ eines, dem bei uns unter dem Namen „Schneeballen“ bekannten, ähnlichen Vorganges. Die Teilnehmer der einzelnen Kreise sollten einander nicht persönlich kennen, jedoch alle mit dem Leiter Petraschewsky in Fühlung sein. In den Notizen, welche Anna G. Dostojewskaja aus den letzten Lebensjahren ihres Gatten aufbewahrt hat, finden wir die Stelle: „die Sozialisten (die russischen nämlich) sind aus den Petraschewzen hervorgegangen; die Petraschewzen haben viele Samen ausgestreut“. „Ebenso glaubten sie“ — diktierte er weiter — „dass das Volk mit ihnen sei und“ — fügt er hinzu — „sie hatten eine Grundlage dafür, denn das Volk war leibeigen.“

Dieser letzte Satz scheint mir der Schlüssel dafür zu sein, warum sich Dostojewsky überhaupt an den Besprechungsabenden des Petraschewskyschen Kreises bei diesem und bei Durow beteiligte. Ihn interessierte von jeher das Volk, er nahm tiefen Anteil an seinem Schicksal und hoffte und wünschte nichts sehnlicher, als die Aufhebung der Leibeigenschaft. Alle seine Reden hatten vornehmlich dies zum Gegenstande, und so erzählt einer der Teilnehmer in einem dieses Thema behandelnden Roman von einem Genossen, dem er Dostojewskys Worte in den Mund legt. Er sagte still und langsam: „die Befreiung der Bauern wird unbedingt der erste Schritt in unsere grosse Zukunft sein“.

Verschiedene Zeugen dieser Zeit schildern Dostojewsky sehr lebendig als einen, „dessen ganzes Wesen sich zum Verschwörer geeignet habe; still, einsilbig, nicht mitteilsam, nur fähig, sich unter vier Augen auszusprechen“, sei er, wenn er ins Feuer geriet, von einer hinreissenden, alle besiegenden Beredsamkeit gewesen. So ward er denn bei all seiner christlichen Richtung, welche dem Wesen des Sozialismus, wie die anderen es verstanden, zuwiderlief, vermöge der Macht seiner Persönlichkeit doch die Hauptperson des Petraschewskyschen Kreises, sowie jenes andern, der bei Durow zusammen kam. Merkwürdigerweise liess man diese Studenten-Vereinigungen sehr lange gewähren, zum Teil darum, weil man lange kein geeignetes Individuum fand, welches genug Wissen besessen hätte, um an den Diskussionen der Mitglieder ebenbürtig teilnehmen zu können, und das über dem „Vorurteile“ erhaben wäre, welches den Namen eines Angebers brandmarkt. — Endlich fand man einen, diesen „erhabenen Standpunkt“ einnehmenden Menschen in einem Beamten des auswärtigen Amtes, Antonelli, welcher durch diesen Umstand leicht mit Petraschewsky bekannt werden konnte. Dostojewsky selbst stand mit diesem in keiner nahen persönlichen Verbindung, obwohl er seine Freitagsabende besuchte, wo von der Aufhebung der Leibeigenschaft und der Unvermeidlichkeit eines Aufruhrs zur Befreiung der Bauern gesprochen wurde. Dostojewsky sprach die Ansicht aus, dieser Schritt müsse von oben gemacht werden. „Wenn er aber nicht geschieht?“ warf man ein, — „ja dann meinetwegen mit Gewalt.“ Bei Durow hingegen wurde die Frage einer geheimen Druckerei aufgeworfen und von Dostojewsky befürwortet, allein von der Versammlung abgelehnt.

In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1849 wurden die Hauptpersonen dieses Kreises, 34 an der Zahl, unter ihnen Th. M. Dostojewsky, sowie irrtümlicherweise auch sein Bruder Andreas von der Gendarmerie abgeholt und nach dem Hause der „dritten Abteilung“ der geheimen Polizei abgeführt. Wir haben, um, wenn es möglich wäre, authentische Daten über diesen Prozess, soweit er Dostojewsky angeht, zu erhalten, den Versuch gemacht, an Ort und Stelle wenigstens einen Teil der amtlichen Dokumente desselben kennen zu lernen. Man sagte uns, es würden keine allzugrossen Schwierigkeiten gemacht werden, da einerseits nahezu ein halbes Jahrhundert verstrichen sei und jetzt die Zustände andere und andere Personen am Ruder seien, zudem jener Briefwechsel Belinskys mit Gogol, welcher den Anklagepunkt für Dostojewsky abgegeben, längst publiziert und aller Welt bekannt sei. Ausserdem habe man die Archive des Ministeriums des Innern immer bereitwillig jenen geöffnet, welche in einem litterarischen Interesse irgend ein Dossier studieren wollten. So hat der Litteraturhistoriker Professor Storoschenko, Direktor der reichen Bibliothek des Museums Rumianzew in Moskau, eine Studie über den kleinrussischen Dichter Schewtschenko auch in jenen Archiven vervollständigt.

Man kam uns, soweit dies möglich war, von Seiten des Ministeriums des Innern und des Kriegsministeriums (da der Prozess dem Kriegsgericht übergeben worden war) bereitwilligst entgegen und stellte uns eine Reihe von Dokumenten zur Verfügung, welche die Verhaftung Dostojewskys, seine Verurteilung, amtliche Zeugnisse seines „Verhaltens“ im Gefängnis, seine Befreiung, sein Avancement zum Fähnrich, die Wiedererlangung des Adels und seine endliche vollständige Befreiung, mit der Erlaubnis nach Petersburg zurückzukehren, betreffen. Auch der Wortlaut seiner Verteidigungsschrift wurde uns ohne Umstände, nachdem er 50 Jahre im Aktenstaube vergraben gewesen und vorerst von den massgebenden Personen mit grossem Interesse gelesen worden war, zur Veröffentlichung überlassen. Wir bringen einige der wichtigsten Dokumente, je an ihrer Stelle, hier im Anschluss.

Kopie.
III. Abteilung
von Sr. Majestät des
Kaisers Privatkanzlei. —
Expedition St. Petersburg,
22. April 1849.
No. 675.

Geheim.
Dem Herrn Major der Petersburger
Gendarmerie-Division
Tschudin.

Auf allerhöchsten Befehl erteile ich Euer Hochedelgeboren (Wysokoblagorodie) die Weisung, morgen um 4 Uhr nach Mitternacht, den verabschiedeten Ingenieur-Lieutenant Theodor Michailowitsch Dostojewsky, welcher an der Ecke der kleinen Morskaia und des Wosnesensky-Prospekt, im Hause Schill auf der dritten Etage in der Wohnung Ginner wohnt, zu arretieren, alle seine Papiere und Bücher zu versiegeln und diese zugleich mit ihm nach der dritten Abteilung von Sr. Majestät Privatkanzlei zu bringen.

Bei dieser Gelegenheit haben Sie streng darüber zu wachen, dass von den Papieren Dostojewskys nichts versteckt werde.

Es kann sein, dass Sie bei Dostojewsky eine grosse Menge von Papieren und Büchern vorfinden, so dass es nicht möglich sein wird, sie sofort in die dritte Abteilung zu befördern. In diesem Falle sind Sie gehalten, eines wie das andere in eine oder zwei Stuben, je nach dem es nötig ist, niederzulegen, diese Stuben zu versiegeln und Dostojewsky selbst unverweilt in der dritten Abteilung abzuliefern.

Im Falle Dostojewsky bei dem Versiegeln der Papiere und Bücher aussagen sollte, dass einige darunter irgend einer anderen Person gehören, so haben Sie dieser Aussage keine Beachtung zu schenken, sondern auch diese zu versiegeln.

In Ausführung dieses Befehls haben Sie die grösste Achtsamkeit und Vorsicht (Ostoroshnost) anzuwenden.

Der Herr Stabs-Kommandant des Gendarmerie-Corps, General-Lieutenant Dubelt, verfügt, dass sich in Ihrer Begleitung befinden sollen: ein Offizier der Petersburger Polizei und die unumgänglich nötige Anzahl von Gendarmen.

Der General-Adjutant
Graf Orloff.

Der Bericht an Graf Orloff über die aufgegriffenen Papiere lautet:

Geheim 148/6.

Hochgeehrter Herr!
Iwan Alexandrowitsch!

Nach Durchsicht der Dostojewsky betreffenden Papiere hat sich nichts gefunden, das direkt Bezug auf die Sache hätte. Es wurde nur gefunden: ein Brief von Belinsky, enthaltend eine Einladung zu einer Gesellschaft bei einer Person, mit der er noch nicht bekannt war, ein Brief aus Moskau von Pleschtschejew, in welchem er von seinem Eindruck bei der Ankunft der kaiserlichen Familie in Moskau spricht und beauftragt, jenen Personen seinen Gruss zu bringen, welche der bekannten Gesellschaft angehören. Zwei Bücher unter dem Titel: Le berger de Cravan und La consécration du Dimanche.

16. Mai 1849.

Fürst Alex. Galitzin.

Nabokow, Präsident der Untersuchungs-Kommission.

„In Ergänzung meines Berichtes habe ich die Ehre, Euer Excellenz den Abschied (Ukas ob otstawkie), welcher sich unter den bei Dostojewsky gefundenen Papieren befand, zu übermitteln.

17. Mai 1849.

Nabokow.“

Hier ist zu ergänzen, dass das unvollendete Manuskript, d. h. der III. Teil desselben, eben Krajewsky, dem Redacteur der „Vaterländischen Annalen“ übergeben worden war, wo es im Maiheft 1849 erschien; jedoch, laut Verfügung (vom 28. April) der III. Abteilung, „ohne Unterschrift des Verfassers“. Diese Erzählung, Njetotschka Njezwanowa, ist nie vollendet worden.

Diese Berichte über die vorgefundenen Papiere sind insofern richtig, als für die betreffenden Behörden nur solche Papiere ins Auge gefasst worden waren, welche zugleich persönliche und politische Beziehungen anzeigten. Nach den Aussagen der Witwe des Dichters, Anna Grigorjewna Dostojewskaja, mussten, da er nicht im geringsten auf den Besuch der Polizei vorbereitet war, also nichts wegräumen konnte, verschiedene belletristische Schriften, namentlich das Fragment eines Dramas, sich zu jener Zeit bei ihm gefunden haben. Der Brief Pleschtschejews und der Zettel Belinskys waren solche nennenswerte Papiere, weil sie diese Namen trugen. Anderes mag wohl durchgeblättert worden und als wertlos in Verstoss geraten sein. Wir erhielten diese zwei Schriftstücke zur Ansicht mit der Bitte, übrigens recht harmlose, Stellen aus dem Briefe Pleschtschejews nicht zu kopieren, was wir auch in Anbetracht der Bereitwilligkeit, mit welcher uns die Dossiers gezeigt wurden, zusagten. Dieser Brief ist im übrigen für uns nicht von genügendem Interesse, um ihn hier zu bringen, es wäre denn die Stelle, wo an mehrere namentlich aufgezählte Freunde, die zu Durow kommen, „salut et fraternité“ entboten wird.

Dostojewsky selbst erzählt den Vorgang dieser Verhaftung mit einem gewissen Humor in einem Blatte, das er 1860 der Tochter seines Freundes, des Schriftstellers A. Miliukow, widmet:

„Am 22., oder besser gesagt, am 23. April kam ich gegen 4 Uhr morgens von Grigorjew nach Hause, legte mich zu Bette und schlief sofort ein. — Nicht später als nach einer Stunde etwa merkte ich durch den Schlaf hindurch, dass irgendwelche ungewöhnliche und verdächtige Leute in meine Stube getreten waren.

Es klimperte ein Säbel, der unversehens an irgend etwas gestreift hatte. Was geht da Seltsames vor? Ich öffne mit Mühe die Augen und höre eine weiche, sympathische Stimme: „Stehen Sie auf!“ — Ich schaue: da steht der Quartals-Aufseher oder irgend ein besonders Kommandierter mit hübschem Backenbart. Allein er hatte nicht gesprochen. Es hatte ein blau gekleideter, mit Oberstlieutenants-Epauletten geschmückter Herr gesprochen.

„Was ist geschehen?“ frage ich, mich aufrichtend. — „Auf Befehl“ ... — Ich schaue: richtig „auf Befehl“. In der Thüre steht ein Soldat, ebenfalls blau. Sein Säbel war es gewesen, der geklimpert hatte ... Aha! also das ist’s ... dachte ich bei mir.

„Erlauben Sie mir doch ...“ begann ich — „Macht nichts, macht nichts! kleiden Sie sich an. Wir werden warten,“ sagt der Oberstlieutenant mit noch sympathischerer Stimme. — Während ich mich ankleide, verlangen sie die Bücher und beginnen sich hinein zu wühlen — sie fanden nicht viel, wühlten aber alles durch. Die Bücher und Schriften banden sie ordentlich mit einem Stricklein zusammen. Der Kommandierte zeigte bei dieser Gelegenheit sehr viel Umsicht: er kroch in meinen Ofen und stöberte mit meinem Tschibuk in der kalten Asche herum. Der Gendarmerie-Unteroffizier stieg auf sein Geheiss auf einen Stuhl, kroch auf den Ofen, glitt aber vom Gesimse ab, fiel auf den Stuhl und mit diesem auf die Erde. Da überzeugten sich die umsichtigen Herren, dass sich nichts auf dem Ofen befand. Auf dem Tische lag ein altes verbogenes Fünf-Groschenstück. Der Pristaw betrachtete es aufmerksam und winkte endlich dem Oberstlieutenant zu: „Ist’s am Ende ein falsches?“ fragte ich. „Hm, das muss man doch auch untersuchen,“ murmelte der Pristaw und endigte damit, dass er auch dieses Stück dem Beweismateriale hinzufügte. Wir traten hinaus. Uns begleitete die erschreckte Hausfrau und ihr Diener Iwan, der zwar auch erschrocken war, jedoch mit einer Art stumpfer, dem Ereignis angemessener Feierlichkeit dreinschaute; übrigens einer nichts weniger als feiertägigen Feierlichkeit. In der Einfahrt stand eine Kutsche, zuerst stieg der Soldat ein, dann ich, der Pristaw und der Oberstlieutenant. Wir fuhren zur Fontanka nach der Kettenbrücke beim Sommergarten. Dort gab es viele Leute und ein bewegtes Kommen und Gehen. Es begegneten mir viele Bekannte, alle waren verschlafen und schweigsam. Irgend ein Herr, ein Staatsbeamter, einer von hohem Range, besorgte den Empfang ...... ununterbrochen kamen blaue Herren mit neuen Opfern herein ...... Wir umringten nach und nach den ministeriellen Herrn, der eine Liste in der Hand hielt. Auf dieser Liste stand mit Bleistift geschrieben: „Agent der aufgedeckten Sache: Antonelli“. — So, also Antonelli ist es — dachten wir. — Man postierte uns in verschiedene Winkel, in der Erwartung der endgiltigen Anordnung, wohin man einen jeden unterbringen sollte. Im sogenannten weissen Saale waren unser siebzehn, da kam Leonty Wassiljewitsch (Dubelt), der Untersuchungs-Richter, herein — aber hier unterbreche ich meine Erzählung. Es wäre viel zu erzählen. Aber ich versichere Sie, dass Leonty Wassiljewitsch ein höchst angenehmer Mensch war.“

Andere Augenzeugen, so A. P. Miliukow und namentlich des Dichters Bruder Andreas erzählen sehr eingehend den weiteren Verlauf der Haft, des Verhörs, der ganzen Untersuchung und Verurteilung der Angeklagten. Wir nehmen daraus folgende charakteristische Daten: Von den oben erwähnten 34 Verhafteten wurden jene ausgewählt, welche auch zu Petraschewsky kamen — es waren 23, darunter sechs Offiziere, zwei Gutsbesitzer — die übrigen waren Studenten, Universitäts-Kandidaten, Schriftsteller und Beamte im asiatischen Departement. Andreas Dostojewsky war, wie schon oben gesagt, nur irrtümlicherweise verhaftet worden und das anstatt des ältesten Bruders Michael M. Dostojewsky, welcher zwar durchaus nicht zum Kreise Petraschewskys gehörte, ja diesem sehr antipathisch gegenüberstand, jedoch durch Durow einige Bücher aus dieser Gesellschaft entliehen hatte, was offenbar unter falschem Vornamen angegeben worden war. Andreas war also auch in der Nacht in den weissen Saal gebracht worden, wo plötzlich sein Bruder Theodor auf ihn zuläuft und ihn erstaunt fragt: „Was machst denn du da, Bruder?“ Allein er konnte nicht antworten, da ein Gendarm sie trennte. Andreas bleibt nun, ohne zu ahnen warum, in Untersuchung, wird in eine feuchte Kasematte gesperrt und fängt allmählich zu begreifen an, um was es sich wohl handeln mag.

Das Verhör, bei welchem er auf die Frage des Untersuchungsrichters, in was für Beziehungen er zu Butaschewitsch-Petraschewsky stehe, ganz naiv die Gegenfrage stellt: „Petraschewsky kenne ich nicht, und wer ist denn der zweite?“ bringt seine Unschuld an den Tag, und man hält ihn nur noch zurück, damit er in der Stadt nicht mit Leuten zusammen komme, „die er nicht zu treffen habe“. Es stellt sich heraus, dass man auf den Richtigen gekommen war, auf den Bruder Michael Dostojewsky, den man am 5. Mai arretiert, worauf man Andreas am 6. frei gibt. Eine Stelle aus einem Briefe Theodor Michailowitschs an den Bruder Andreas drückt noch, nach einem Zeitraum von 13 Jahren, seine Freude darüber aus, dass dieser das Missverständnis nicht früher aufgeklärt habe. „Ich erinnere mich daran,“ sagt er, „du mein Teurer, erinnere mich, wie wir einander, es war wohl das letzte Mal, im weissen Saale begegneten. Es kostete dich damals nur ein Wort, das du an betreffender Stelle hättest sagen können, und du wärst sofort, als irrtümlich statt des älteren Bruders festgenommen, frei gelassen worden. Aber du folgtest meinen Vorstellungen und Bitten, du gingst grossmütig in die Thatsache ein, dass der Bruder in sehr engen Verhältnissen lebe, dass seine Frau eben erst in den Wochen gewesen sei und sich noch gar nicht erholt habe — du begriffst das alles und bliebst im Gefängnis, um den Bruder Zeit zu lassen, seine Frau vorzubereiten und sie nach Möglichkeit für eine vielleicht lange Zeit seiner Abwesenheit sicherzustellen.[4]

„Wenn du einmal so grossmütig und ehrenhaft gehandelt hast“, fährt Dostojewsky fort, „so konnte ich dich ja auch nicht vergessen und musste ich ja deiner, als eines ehrenhaften und guten Menschen, gedenken.“

Zum Verlauf der Untersuchung zurückkehrend, erzählt Orest Miller, dass der General Rostowzew Dostojewsky nahe gelegt habe, „alles zu erzählen“. Dieser beantwortete aber alle Fragen der Kommission ablehnend. Da wendete sich Rostowzew mit den Worten an ihn: „Ich kann nicht glauben, dass ein Mensch, welcher „Arme Leute“ geschrieben hat, mit diesen lasterhaften Menschen gemeinsame Sache machen könne. Das ist unmöglich. Sie sind nicht sehr in die Sache verwickelt und ich bin im Namen des Kaisers bevollmächtigt, Sie zu begnadigen, wenn Sie die ganze Sache erzählen.“ Ich schwieg, erzählte Theodor Michailowitsch. Darauf bemerkte General-Lieutenant Dubelt, einer der Untersuchungsrichter, gegen Rostowzew gewendet lächelnd: „Ich habe es Ihnen ja gesagt“, worauf dieser schrie: „Ich kann Dostojewsky nicht mehr sehen“, in die nächste Stube lief und von da heraus rief: „Ist Dostojewsky schon hinausgegangen? Sagt mir, wenn er hinausgeht, ich kann ihn nicht sehen“. Dies alles schien Dostojewsky sehr übertrieben zu sein.

Aus den Protokollen in den Archiven der dritten Abteilung entnehmen wir, dass am 23. April eine Untersuchungs-Kommission unter Vorsitz des General-Adjutanten Nabokow eingesetzt wurde, welche der Prüfung dieser Sache vom 26. April bis zum 17. September 1849 neunzig Sitzungen widmete. Die Kapitalanklage gegen Petraschewsky lautete auf: „Verbrecherische Versuche, die bestehende Staats-Verfassung in Russland zu stürzen, Heranziehung von Leuten verschiedenen Berufs und jugendlichen Alters zu den bei ihm abgehaltenen Zusammenkünften, Verbreitung schädlicher Ideen über die Religion, Erweckung von Hass gegen die Obrigkeit, und endlich Versuch, eine geheime Gesellschaft zur Erreichung dieser verbrecherischen Ziele zu gründen“.

Die Anklage gegen Dostojewsky lautete: „dass er ebenfalls (gleich Durow) an diesen verbrecherischen Plänen teilgenommen, dass er einen Brief Belinskys an Gogol verbreitet habe, der voll frecher Ausdrücke gegen die rechtgläubige Kirche und die Obrigkeit gewesen sei, und dass er den Versuch gemacht habe, zur Verbreitung von Schriften gegen die Obrigkeit im Verein mit anderen eine geheime Lithographie herzustellen.“

Dostojewskys nervöser Zustand, der schon vor der Arretierung ihm sehr beschwerlich gewesen war, wurde nach seiner acht Monate währenden Untersuchungshaft bedeutend schlimmer durch die wiederholten Verhöre und das eindringliche Zureden, er möge in seinen mündlichen und schriftlichen Antworten die Genossen angeben, so dass er endlich, dessen müde, sich selbst einen bedeutend grösseren Anteil bei der Sache vindicierte, als er in der That daran genommen hatte, und so hoffte, dieselben Qualen des Verhörs von den Mitangeklagten abzulenken.

Seine eingehendste schriftliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen lassen wir hier in getreuer Übersetzung des Original-Manuskripts folgen. Oberflächlichen Kennern Dostojewskys, welche jedoch über die Thatsachen dieses Prozesses vortrefflich unterrichtet sind, ist der Inhalt dieser, im August 1898 in der „N. Fr. Presse“ durch uns veröffentlichten Verteidigungsschrift lediglich ein „advokatorisches Meisterstück“. Wer des Dichters Grundnatur und seinen inneren Entwickelungsgang näher kennt, wird dies nicht schlankweg annehmen. So sehr auch Dostojewsky „das Zeug zum Verschwörer“ haben mochte, wie man von ihm sagte, und so oft er selbst von einer „Umkehr“ spricht, lag doch der slavisch-mystische Wesenskeim zu tief in seiner Natur, um nicht bei der ersten Erschütterung seiner revolutionären Anwandelungen entschieden und endgiltig in seine Rechte zu treten. Ja, der Atheismus, welchem er sicher um jene Zeit gehuldigt haben muss, und der sich dreissig Jahre später im herrlichen Kapitel „Der Grossinquisitor“ wiederspiegelt, dieser Atheismus ist nichts als die Kehrseite eines heissen Gottesdurstes und hat nichts gemein mit dem kühlen Indifferentismus in Glaubenssachen, wie er das endgiltige Merkmal des echten Revolutionärs ist. Wenn wir hier diesen Standpunkt festhalten, wenn wir darauf hinweisen, dass in dieser Verteidigungsschrift bei aller Gewandtheit und berechnenden Wahrheitskühnheit auch viel wirkliche Wahrheit enthalten ist, namentlich an jener Stelle, wo Dostojewsky die bekannte Aksakowsche Geschichts-Anschauung entwickelt, wenn wir sogar gegen seinen eigenen Ausspruch über sich protestieren, so geschieht dies nicht, um ihn „rein zu waschen“ oder „päpstlicher als der Papst“ zu sein, sondern um den Wendungen und Windungen dieser höchst komplizierten Natur nachzugehen, die sich oft „zur Wahrheit durchlog“, mit der Wahrheit spielte und der es doch heiliger Ernst und Wahrheit war, womit der ewig bewegte Geist nicht anders als spielen konnte. Die Verteidigungsrede lautet wie folgt:

Th. M. Dostojewskys Rechtfertigungsschrift im Prozesse Petraschewsky, verlesen in der 42. Sitzung der Untersuchungs-Kommission unter dem Vorsitze des General-Adjutanten Nabokow am 20. Juni 1849.

„Man verlangt von mir, dass ich alles, was ich über Petraschewsky und über jene Leute, welche seine Freitags-Abende besuchten, weiss, aussagen soll, das heisst, man verlangt meine Aussage über Fakten und meine persönliche Meinung über diese Fakten.

Wenn ich die heutigen Fragen mit dem ersten Verhöre zusammenhalte, so schliesse ich, dass man von mir eine genaue Antwort auf folgende Punkte fordert:

1. Darauf, was für einen Charakter Petraschewsky als Mensch im allgemeinen und als Politiker im besonderen hatte.

2. Was an jenen Abenden, welchen ich beiwohnte, bei Petraschewsky vorging, sowie meine Meinung über diese Abende.

3. Ob nicht irgend ein geheimes, verborgenes Ziel der Gesellschaft Petraschewsky zu Grunde lag? Ob Petraschewsky selbst ein für die Gesellschaft schädlicher Mensch und in welchem Grade er es war.

Ich bin niemals in sehr nahen Beziehungen zu Petraschewsky gestanden, obwohl ich an Freitags-Abenden zu ihm kam und auch er mich besuchte.

Dies ist eine jener Bekanntschaften, an denen mir nicht allzu viel gelegen war, da ich weder im Charakter noch in vielen Anschauungen mit Petraschewsky übereinstimmte. Darum erhielt ich diese Beziehung nur insoweit, als es die Höflichkeit verlangte, das heisst, ich besuchte ihn etwa jeden Monat einmal, manchmal auch seltener. Ihn aber vollständig aufzugeben, hatte ich keinerlei Ursache; überdies war es mir manchmal interessant, seine Freitage zu besuchen.

Mich haben immer viele Excentrizitäten und Absonderlichkeiten im Charakter Petraschewskys frappiert. Unsere Bekanntschaft begann sogar damit, dass er bei der ersten Zusammenkunft durch seine Absonderlichkeiten meine Neugierde erweckte. Ich fuhr jedoch nicht oft zu ihm; es geschah, dass ich manchmal ein halbes Jahr nicht bei ihm war. Im vorigen Winter war ich vom September angefangen nicht mehr als achtmal bei ihm. Wir waren niemals intim mit einander, und ich glaube, dass wir während der ganzen Zeit unserer Bekanntschaft niemals mehr als eine halbe Stunde unter vier Augen mit einander gesprochen haben. Ich habe sogar entschieden bemerkt, dass er, indem er zu mir kam, gleichsam eine Pflicht der Höflichkeit erfüllte, dass aber zum Beispiel ein langes Gespräch mit mir ihm lästig war. Bei mir war dasselbe der Fall, da wir, wie ich wiederhole, weder in den Ideen noch in den Charakteren Vereinigungspunkte hatten. Wir fürchteten beide, länger mit einander zu sprechen, da wir vom zehnten Worte an mit einander gestritten hätten, dies aber uns beiden zuwider war. Es scheint mir, dass unsere gegenseitigen Eindrücke die gleichen waren; wenigstens weiss ich, dass ich zu seinen Freitags-Abenden sehr oft nicht sowohl um seiner selbst willen und wegen der „Freitage“ fuhr, als um dort manche Leute zu treffen, die ich, obwohl ich mit ihnen bekannt war, ausserordentlich selten sah und welche mir gefielen. Übrigens habe ich Petraschewsky immer als einen ehrenhaften und edlen Menschen geachtet.

Über seine Excentrizitäten und Absonderlichkeiten sprechen viele, fast alle, welche ihn kennen oder von ihm gehört haben, und beurteilen ihn sogar danach. Ich habe mehreremale die Meinung äussern hören, dass Petraschewsky mehr Geist als Vernunft habe; thatsächlich wäre es sehr schwer, sich viele seiner Sonderbarkeiten zu erklären. Es geschah nicht selten, dass man ihn bei einer Begegnung auf der Strasse fragte, wohin er gehe und was er vorhabe, worauf er etwas so Absonderliches antwortete, einen so sonderbaren Plan mitteilte, den er soeben auszuführen ginge, dass man nicht wusste, was man vom Plan und von Petraschewsky selbst denken sollte. Um einer Sache willen, welche keinen Deut wert ist, machte er so viel Wesens, als ob es sich um sein ganzes Vermögen handle. Ein andermal eilt er auf eine halbe Stunde irgend wohin, um ein ganz kleines Geschäftchen abzumachen, beendet aber dieses „kleine Geschäftchen“ ungefähr in zwei Jahren. Er ist ein Mensch, der sich fortwährend etwas zu schaffen macht, immer in Bewegung ist, den immer irgend etwas treibt. Er liest viel, schätzt das System Fouriers und hat es sich bis ins Detail angeeignet. Ausserdem beschäftigt er sich hauptsächlich mit dem Studium der Gesetzgebung. Dies ist alles, was ich von ihm als Privatperson nach Daten weiss, welche zu unvollständig sind, um einen Charakter solcher Art vollkommen zu beurteilen. Denn das wiederhole ich noch einmal, ich habe niemals in all zu nahen Beziehungen zu ihm gestanden.

Es ist schwer zu sagen, dass Petraschewsky (als politische Person betrachtet) irgend ein bestimmtes System in seinen Meinungen, irgend eine bestimmte Anschauung in politischen Dingen gehabt hätte. Ich habe bei ihm nur Ein folgerichtiges System bemerkt, und dieses war nicht das seine, sondern das Fouriers. Es scheint mir, dass besonders Fourier es ist, welcher ihn daran hindert, die Dinge selbständig anzusehen. Ich kann übrigens unbedingt sagen, dass Petraschewsky weit entfernt von der Idee ist, dass eine unmittelbare Anwendung des Fourierschen Systems auf unsere gesellschaftlichen Zustände möglich sei. Davon war ich immer überzeugt.

Die Gesellschaft, welche sich an Freitag-Abenden bei ihm versammelte, bestand fast ausschliesslich aus seinen nahen Freunden oder alten Bekannten; so denke ich wenigstens. Übrigens tauchten auch manchmal neue Personen auf. Dies war jedoch, so viel ich bemerken konnte, ziemlich selten der Fall. Von diesen Leuten kenne ich nur einen sehr kleinen Teil genauer. Andere kenne ich nur darum, weil ich drei- bis viermal im Jahre Gelegenheit hatte, mit ihnen zu sprechen. Viele der Gäste Petraschewskys kenne ich fast gar nicht, obwohl ich schon seit einem oder zwei Jahren an Freitagen mit ihnen zusammenkomme. Allein, obwohl ich nicht alle Personen gut kenne, habe ich doch manche ihrer Meinungen gehört. Alle diese Meinungen zusammen bilden geradezu eine Dissonanz; die eine widerspricht der anderen. Ich habe keinerlei Einheit in der Gesellschaft Petraschewskys gefunden, keinerlei Richtung, keinerlei gemeinschaftliches Ziel. Man kann unbedingt sagen, dass man dort nicht drei Menschen fände, welche in irgend einem Punkte über ein beliebig aufgegebenes Thema übereinstimmten. Daher gab es viele Debatten, daher der ewige Streit, die ewigen Meinungsverschiedenheiten! An einigen dieser Streitigkeiten habe auch ich teilgenommen.

Allein ehe ich sage, aus welcher Ursache ich an diesen Streitigkeiten teilgenommen habe und über welches Thema ich hauptsächlich sprach, muss ich einige Worte über das sagen, wessen man mich anklagt. Eigentlich weiss ich bis heute noch nicht, wessen man mich beschuldigt. Man hat mir nur mitgeteilt, dass ich an den gemeinschaftlichen Besprechungen bei Petraschewsky teilgenommen, dass ich wie ein Freidenker gesprochen und zuletzt einen Artikel vorgelesen habe: „Briefwechsel Belinskys mit Gogol“. Ich sage aus reinem Herzen, dass es für mich bis heute das Schwerste auf der Welt war, das Wort Freidenker, Liberaler zu definieren. Was versteht man unter diesem Worte: Einen Menschen, welcher ungesetzlich spricht? Ich habe aber Menschen gesehen, für die es gesetzwidrig sprechen heisst, wenn sie bekennen, dass sie der Kopf schmerze, und ich weiss, dass es auch solche giebt, welche im stande sind, auf jedem Kreuzweg alles zu sprechen, was nur ihre Zunge herunterzudreschen vermag. Wer hat meine Seele gesehen? Wer hat den Grad von Treubruch, von schlechtem Einfluss und Aufhetzung bestimmt, dessen man mich beschuldigt? Nach welchem Massstab ist diese Bestimmung gemacht worden? Es kann sein, dass man nach einigen Worten urteilt, welche ich bei Petraschewsky gesagt habe. Ich habe dreimal gesprochen: zweimal habe ich über Litteratur und einmal über einen durchaus nicht politischen Gegenstand gesprochen: über Persönlichkeit und menschlichen Egoismus. Ich erinnere mich nicht, dass irgend etwas Politisches oder Freidenkerisches in meinen Worten gewesen sei. Ich erinnere mich nicht, dass ich mich irgend einmal bei Petraschewsky ganz ausgesprochen und mich gezeigt hätte, wie ich in der That bin. Allein ich kenne mich, und wenn man meine Anklage auf einige Worte gründet, die man im Fluge erhascht und auf einen Fetzen Papier geschrieben hat, so fürchte ich auch eine solche Anschuldigung nicht, obwohl sie von allen Beschuldigungen die gefährlichste ist; denn es giebt nichts Verderblicheres, Verwirrenderes und Ungerechteres als einige in der Geschwindigkeit aufgeschriebene Worte, welche von weiss Gott wo herausgerissen sind, sich auf weiss Gott was beziehen, im Fluge gehört und im Fluge verstanden worden, am alleröftesten jedoch gar nicht verstanden worden sind. Aber ich wiederhole, ich kenne mich und fürchte sogar eine solche Anschuldigung nicht.

Ja, wenn das Bessere wünschen Liberalismus, Freidenkerei ist, so bin ich vielleicht in diesem Sinne ein Freidenker. Ich bin ein Freidenker in dem Sinne, in welchem auch jeder Mensch ein Freidenker genannt werden kann, der in der Tiefe des Herzens sein Recht empfindet, ein Staatsbürger zu sein, das Recht empfindet, seines Vaterlandes Wohl zu wünschen, da er in seinem Herzen sowohl die Liebe zum Vaterlande als auch das Bewusstsein trägt, dass er es niemals und durch nichts schädigen werde.

Aber dieser Wunsch nach dem Besseren, bezog er sich auf das Mögliche oder das Unmögliche? Mag man mich auch beschuldigen, die Veränderung, den Umsturz auf gewaltsamem, revolutionärem Wege, durch Aufreizung zu Erbitterung und Hass gewünscht zu haben! Ich fürchte nicht, dessen überführt zu werden, denn keine Angeberei der Welt wird mir etwas geben oder etwas nehmen: keine Denunziation wird mich zwingen, ein anderer zu sein, als ich thatsächlich bin. Besteht meine Freidenkerei darin, dass ich laut von Dingen gesprochen habe, über welche zu schweigen andere als ihre Pflicht erachten, nicht etwa, weil sie sich fürchten, etwas gegen die Obrigkeit zu sagen (das kann man ja auch nicht im Gedanken!), sondern weil nach ihrer Meinung der Gegenstand ein solcher ist, von dem es einmal angenommen ist, dass man ihn nicht laut bespricht. Ist es das? Mich aber hat sie sogar immer verletzt, diese Furcht vor dem Worte, die eher imstande ist, die Obrigkeit zu beleidigen, als ihr angenehm zu sein. Das heisst ja annehmen, dass die Gesetze der Persönlichkeit nicht genügenden Schutz gewähren, und dass man um eines leeren Wortes, um einer unvorsichtigen Phrase willen verloren sein konnte.

Aber warum haben wir denn selbst alles so gestimmt, dass man ein lautes, offenes Wort, das halbwegs einer Meinung ähnlich sieht und geradaus, ohne Hinterhalt, ausgesprochen wurde, als eine Excentricität betrachtet! Meine Meinung ist, dass es für uns selbst bedeutend besser wäre, wenn wir alle der Obrigkeit gegenüber aufrichtiger wären. Es hat mir immer Kummer gemacht, dass wir alle gleichsam instinktiv uns vor irgend etwas fürchten, dass, wenn wir zum Beispiel als Menge auf öffentlichen Plätzen zusammenkommen, einer den anderen misstrauisch, finster anschaut, ihn von der Seite misst und wir immer irgend jemanden verdächtigen. Fängt zum Beispiel irgend wer von Politik zu reden an, so wird er unfehlbar flüsternd und mit geheimnisvoller Miene sprechen, läge auch die Republik seinen Gedanken so fern wie Frankreich. Man wird sagen: „Es ist auch besser, dass man bei uns nicht auf dem Markte schreit.“ Ohne Zweifel wird niemand ein Wort dagegen einzuwenden haben, allein ein übertriebenes Schweigen und eine übermässige Angst werfen auf unser Alltagsleben ein düsteres Kolorit, welches alles in einem freudlosen, unfreundlichen Lichte erscheinen lässt, und was das Beleidigendste ist, dieses Kolorit ist ein falsches, diese ganze Angst ist gegenstandslos, unnütz (ich glaube daran), alle diese Befürchtungen sind weiter nichts als unsere eigene Erdichtung, und wir beunruhigen nur selbst unnützerweise die Obrigkeit durch unsere Geheimthuerei und unser Misstrauen. Denn aus diesem gespannten Zustande entsteht oft viel Lärm um nichts. Da erhält das gewöhnlichste laut ausgesprochene Wort bedeutend mehr Gewicht, und das Faktum selbst nimmt durch die Excentricität, in der es da erscheint, manchmal kolossale Dimensionen an und wird unrichtigerweise anderen (ungewöhnlichen und nicht wirklichen) Ursachen zugeschrieben. Ich bin immer der Ansicht gewesen, dass eine bewusste Überzeugung besser, fester sei als eine unbewusste, die nicht widerstandsfähig, schwankend ist und von jedem Winde umgeworfen wird, der sich erhebt. Das Bewusstsein aber reift nicht, lebt sich nicht aus, wenn du schweigst. Wir gehen der Gemeinschaft aus dem Wege, wir zerbröckeln uns in kleine Zirkel oder vertrocknen in Vereinsamung. Wer trägt aber an diesem Zustande die Schuld? Wir, wir selbst und kein anderer — ich habe immer so gedacht.

Obwohl ich nun unsere gesellschaftlichen Gespräche als Beispiel angeführt habe, so bin ich doch selbst weit entfernt davon, ein Schreier zu sein; dies wird jeder von mir sagen, der mich kennt. Ich liebe es nicht, viel und laut zu sprechen, sei es auch mit Freunden, deren ich sehr wenige habe; umsoweniger rede ich in der Gesellschaft, wo ich auch den Ruf eines einsilbigen, schweigsamen, ungeselligen Menschen habe. Ich habe sehr wenig Bekanntschaften; die Hälfte meiner Zeit nimmt die Arbeit ein, welche mich ernährt, die zweite Hälfte raubt mir die Krankheit, die in hypochondrischen Anfällen besteht, an welchen ich schon nahezu drei Jahre leide. Es bleibt kaum ein wenig Zeit, um zu lesen und zu erfahren, was in der Welt vorgeht. Für Freunde und Bekannte bleibt daher äusserst wenig Zeit übrig. Wenn ich daher jetzt gegen das System des allgemeinen, gleichsam systematischen Schweigens und Heimlichthuns schreibe, so geschieht es darum, weil ich den Wunsch hatte, meine Überzeugung auszusprechen, aber durchaus nicht, um mich zu verteidigen. Allein wessen klagt man mich denn an? Man klagt mich an, dass ich über Politik, über den Westen, über die Zensur usw. gesprochen habe. Aber wer spricht denn nicht in unserer Zeit über diese Fragen, wer denkt nicht an sie? Wozu habe ich denn gelernt, warum ist durch das Studium Wissbegierde in mir erweckt worden, wenn ich nicht das Recht haben soll, meine persönliche Ansicht auszusprechen, oder mich im Widerspruch zu einer anderen Ansicht zu befinden, welche von vornherein eine Autorität ist? Im Westen gehen schreckliche Dinge vor, spielt sich ein ungeheures Drama ab; es kracht und zerbröckelt sich die Jahrhunderte alte Ordnung der Dinge. Die allerwichtigsten Grundlagen der Gesellschaft drohen jeden Augenblick zusammenzubrechen und die ganze Nation bei ihrem Einsturz mit sich zu reissen. 36 Millionen Menschen stellen jeden Tag buchstäblich ihre ganze Zukunft, ihren Besitz, ihre und ihrer Kinder Existenz auf das Spiel! Und ist dieses Bild nicht ein solches, um Aufmerksamkeit, Interesse, Wissbegierde zu erwecken, die Seele zu erschüttern? Dies ist dasselbe Land, welches uns Wissenschaft, Bildung, europäische Zivilisation gegeben hat. Ein solcher Anblick ist eine Lehre! Das ist schliesslich Geschichte; die Geschichte aber ist die Lehre von der Zukunft. Kann man uns nach alledem beschuldigen, uns, denen man einen gewissen Grad von Bildung gegeben, in denen man den Durst nach Kenntnissen und Kultur geweckt hat — kann man uns denn dafür anklagen, dass wir so viel Interesse daran hatten, hie und da über den Westen, über die politischen Ereignisse zu sprechen, die Bücher vom Tage zu lesen, der Bewegung des Westens zuzusehen, ja sie nach Möglichkeit zu studieren? Kann man mich denn deswegen anklagen, dass ich mit einem gewissen Ernst diese Krisis betrachte, welche das unglückliche Frankreich in Trauer stürzt und zerreisst, dass ich vielleicht diese historische Krisis für unumgänglich halte, als einen Übergangszustand (wer kann es jetzt beurteilen?) im Leben dieses Volkes betrachte, welcher endlich eine bessere Zeit einleitet? Weiter als diese Meinung, weiter als solche Ideen hat sich meine Freidenkerei über den Westen und die Revolution niemals erstreckt.

Wenn ich nun über den französischen Umsturz gesprochen habe, wenn ich mir erlaubt habe, über die gegenwärtigen Ereignisse zu urteilen, folgt daraus, dass ich ein Freidenker bin, dass ich republikanische Ideen hege, dass ich ein Gegner der Alleinherrschaft bin, dass ich diese untergrabe? — Unmöglich! Für mich hat es niemals einen grösseren Unsinn gegeben, als die Idee einer republikanischen Staatsform in Russland. Allen, welche mich kennen, ist meine Meinung darüber bekannt; ja, endlich wird auch eine solche Anschuldigung allen meinen Überzeugungen, meiner ganzen Bildung entgegen sein. Es kann sein, dass ich mir noch die Revolution des Westens und die historische Unumgänglichkeit der Krisis, welche sich dort vollzogen hat, zurechtlege: Dort hat sich einige Jahrhunderte, mehr als ein Jahrtausend lang, ein hartnäckiger Kampf der Gesellschaft gegen eine Autorität hingezogen, welche sich durch Eroberung, Gewaltsamkeit und Unterdrückung auf einer Fremdkultur gründete. Und bei uns? Unser Land hat sich nicht wie der Westen gebildet, davon haben wir historische Beispiele vor Augen: 1. das Sinken Russlands vor der Tatarenherrschaft infolge der Schwächung und Zerbröckelung der Autorität; 2. die Missstände der Nowgorodschen Republik, einer Republik, welche sich durch mehrere Jahrhunderte auf slavischer Grundlage zu erhalten versuchte, und endlich 3. die zweimalige Rettung Russlands durch die Macht der Autorität, durch die Macht der Alleinherrschaft: das erste Mal durch die Vertreibung der Tataren, das zweite Mal in der Reform Peters des Grossen, da nur der warme kindliche Glaube an seinen grossen Lenker Russland in den Stand setzte, einen so starken Umschwung zu einem neuen Leben zu ertragen. Ja, und wer denkt denn bei uns an Republik? Wenn auch Reformen bevorstehen, so wird es sogar für jene, welche sie wünschen, klar sein wie der Tag, dass diese Reformen gerade von einer für diese Zeit noch kräftigeren Autorität ausgehen müssen, wenn sie nicht in revolutionärer Weise vor sich gehen sollen. Ich denke nicht, dass in Russland ein Liebhaber des russischen Aufstandes gefunden werden könnte. Es sind wohl Beispiele davon bekannt und bis heute erinnerlich, obwohl es schon lange her ist, dass sie sich zutrugen. Zum Schlusse habe ich mich jetzt an meine eigenen oft wiederholten Worte erinnert, dass alles Gute, das es nur jemals in Russland gegeben hat, von Peter dem Grossen angefangen, immer von oben herab, vom Throne ausgegangen ist, von unten aber noch nichts aufgetaucht ist als Eigensinn und Rohheit. Diese meine Meinung wissen viele, die mich kennen.

Ich habe über die Zensur gesprochen, über ihre masslose Strenge in unserer Zeit; ich habe darüber geklagt, denn ich habe gefühlt, dass da ein Missverständnis sich gebildet hat, aus welchem ein für die Litteratur schwerer und gespannter Zustand hervorgegangen ist. Es war mir ein Kummer, dass der Beruf eines Schriftstellers in unseren Tagen durch eine Art dumpfen Misstrauens vernichtet wird; dass die Zensur den Schriftsteller, noch ehe er etwas geschrieben hat, als eine Art natürlichen Feind der Obrigkeit ansieht und sich daran macht, seine Manuskripte mit einer offenbaren Voreingenommenheit zu zergliedern. Es macht mich traurig, zu hören, dass man manches Werk verbietet, nicht weil man darin irgend etwas Liberales, Freidenkerisches, der Obrigkeit Widerstreitendes fände, sondern zum Beispiel darum, weil die Erzählung oder der Roman allzu traurig endet, weil ein allzu düsteres Bild darin aufgerollt worden, obwohl dieses Bild niemanden in der Gesellschaft anklagt oder verdächtigt, und obwohl die Tragödie selbst auf eine durchaus zufällige und äusserliche Weise vor sich gegangen. Man möge doch alles durchsehen, was ich geschrieben, sei es gedruckt oder ungedruckt, man möge die Handschriften meiner schon gedruckten Werke durchlesen, da wird man sehen, wie sie vor der Übergabe an die Zensur beschaffen waren; man suche nur darin irgend ein Wort, das gegen die Sittlichkeit und die festgestellte Ordnung der Dinge gerichtet wäre. Und dennoch wurde ich einem solchen Zensurverbot unterworfen, einzig nur darum, weil das Bild, das ich entwarf, mit allzu düsteren Farben gemalt war. Wenn sie aber wüssten, in welche traurige Lage der Autor dieses verbotenen Werkes dadurch versetzt war! Er stand vor der Unvermeidlichkeit, volle drei Monate ohne Brot dazusitzen, schlimmer als das, denn die Arbeit gab mir die Mittel zu meiner Erhaltung.

Ja, überdies musste ich bei allen Entbehrungen, bei allem Harm, ja fast in Verzweiflung (denn von der Geldfrage ganz abgesehen, ist es bis zur Verzweiflung unerträglich, das Werk, das man geliebt hat, daran man Arbeit, Gesundheit, die besten Kräfte der Seele gewendet, aus Missverständnis, aus Misstrauen verboten zu sehen), ich musste also überdies bei Entbehrung, Traurigkeit, Verzweiflung so viele leichte, heitere Stunden finden, um in dieser Zeit eine litterarische Arbeit mit heiteren, rosenfarbigen, angenehmen Farben hinzumalen. Und schreiben musste ich unbedingt, weil ich leben musste. Wenn ich geredet habe, wenn ich mich ein wenig beschwert habe (und ich habe mich so wenig beklagt!) — war ich darum ein Freidenker? Und über was habe ich mich beschwert? Über ein Missverständnis! Gerade dagegen habe ich mich mit allen Kräften gewehrt, indem ich nachwies, dass jeder Schriftsteller schon von vornherein verdächtigt wird, dass man ihn ohne Verständnis, mit Misstrauen ansieht, und habe gegen die Schriftsteller selbst den Vorwurf erhoben, dass sie selbst nicht nach den Mitteln suchen, dieses verderbliche Missverständnis zu zerstören. Verderblich darum, weil es für die Litteratur schwer ist, in einer so gespannten Lage zu bestehen. Ganze Kunstarten müssen auf diese Weise verschwinden. Die Satire, die Tragödie können nicht mehr dabei aufkommen. Es können bei der Strenge unserer jetzigen Zensur keine Gribojedows, von Wisin, ja sogar keine Puschkins bestehen. Die Satire verspottet das Laster und meistens das Laster, das unter der Tugendmaske einhergeht. Wie kann man sich jetzt auch nur die geringste Freiheit herausnehmen! Der Zensor sieht in allem eine Anspielung, mutmaasst, dass etwas Galliges dahinter sei, dass das vielleicht vom Autor auf irgend eine Persönlichkeit, auf irgend eine Ordnung der Dinge gemünzt sei. Mir selbst ist es oft geschehen, dass ich, alles Harms vergessend, über das herzlich gelacht habe, was der Zensor in meinen oder anderer Autoren Schriften als für die Gesellschaft schädlich und für den Druck unzulässig erachtete. Ich lachte darum, weil in unserer Zeit ähnliche Verdachtsgründe gar niemandem als dem Zensor in den Kopf kommen konnten. Im unschuldigsten und reinsten Satze wittert man den verbrecherischesten Gedanken, dem der Zensor sichtlich mit der Anstrengung aller seiner geistigen Kräfte wie einer ewigen unwandelbaren Idee nachjagt, die sein Kopf nicht lassen kann, die er selbst erschaffen hat, die er, zwischen Furcht und Misstrauen schwankend, selbst in seiner Phantasie in Fleisch und Blut hat treten lassen, selbst mit furchtbaren, nie dagewesenen Farben ausgemalt hat, bis er zuletzt sein Phantom mitsamt der unschuldigen Ursache seines Schreckens, dem ersten harmlosen Satz des Autors, vernichtet. Es ist, als ob man, indem man das Laster und die traurige Seite des Lebens verdeckt, damit vor dem Leser auch das wirkliche Laster und die traurigen Seiten des Lebens verdeckte. Nein! Der Schriftsteller wird, wenn er auch diese traurige Seite des Lebens vor dem Leser systematisch verhüllt, diesem nichts verdecken, sondern vielmehr in ihm den Verdacht erwecken, dass er nicht aufrichtig, nicht gerecht sei. Ja, kann man denn mit hellen Farben allein malen? Wie kann denn die helle Seite des Bildes sichtbar werden ohne dunklen Hintergrund? Kann es ein Bild geben, das nicht zugleich Licht und Schatten hätte? Wir haben vom Lichte nur darum einen Begriff, weil auch Schatten vorhanden ist. Man sagt: man beschreibe nur Vorzüge und Tugenden. Aber wir erkennen ja die Tugend gar nicht ohne das Laster; die Begriffe selbst vom Guten und Bösen sind daraus entstanden, dass das Gute und das Böse immer nebeneinander dagewesen sind. Wollte ich aber nur daran denken, Rohheit, Laster, Missbrauch, Hochmut auf die Scene zu bringen, sofort wird der Zensor gegen mich Verdacht schöpfen, wird denken, dass ich dies alles überhaupt auf alles ohne Ausnahme anwende. Ich bin nicht auf die Schilderung des Lasters und der düsteren Seiten des Lebens erpicht! Diese sowie jenes sind mir nicht angenehm. Aber ich spreche einzig und allein im Interesse der Kunst; da ich sah und mich davon überzeugte, dass zwischen der Litteratur und der Zensur ein Missverständnis bestehe (nur Missverständnis, weiter nichts), habe ich darüber geklagt, habe inständig gebeten, dass dieses Missverständnis so schnell als möglich gehoben werde, weil ich die Litteratur liebe und nicht umhin kann, mich für sie zu interessieren, weil ich weiss, dass die Litteratur ein Ausdruck des Volkslebens, ein Spiegel der menschlichen Gesellschaft ist. Mit der Kultur und Zivilisation treten neue Begriffe auf, welche eine Bestimmung, eine russische Benennung brauchen, um dem Volke vermittelt zu werden; denn nicht das Volk ist es, das ihnen in diesem Falle einen Namen zu geben vermöchte, da die Zivilisation nicht von ihm ausgeht, sondern von oben. Nur jene Gesellschaft vermag den neuen Begriffen einen Namen zu geben, welche die Zivilisation vor dem Volke angenommen hat, das heisst jene Schichte der Gesellschaft, jene Klasse, welche schon durch diese Ideen kultiviert worden ist. Wer ist es denn, der die neuen Ideen in eine solche Form giesst, dass das Volk sie verstehe? Wer anders als die Litteratur! Ohne sie wird die Reform Peters des Grossen nicht so leicht vom Volke aufgenommen werden, welches auch nicht begriffe, was man von ihm will. Wie war die russische Sprache zur Zeit Peters des Grossen beschaffen? Halb russisch und halb deutsch, da deutsches Leben, deutsche Begriffe, deutsche Sitten die Hälfte des russischen Lebens ausmachten. Allein das russische Volk spricht nicht deutsch, und das Erscheinen Lomonossows sofort nach Peter dem Grossen ist kein Zufall. Ohne Litteratur kann die Gesellschaft nicht bestehen, und ich sah, dass sie im Erlöschen war, und ich wiederhole es zum zehntenmale: das Missverständnis, das zwischen der Litteratur und den Zensoren entstanden war, regte mich auf, quälte mich. Da redete ich — allein ich redete nie von Übereinstimmung, von Vereinigung, von der Vernichtung des Missverständnisses. Ich hetzte niemanden um mich herum auf, da ich ein Glaubender war. Ja, und ich sprach davon nur mit meinen nächsten Freunden, mit meinen litterarischen Berufsgenossen. Ist das eine schädliche Freidenkerei?

Man klagt mich an, dass ich an einem der Abende bei Petraschewsky den Artikel „Korrespondenz Belinskys mit Gogol“ vorgelesen habe. Ja, ich habe diesen Artikel gelesen, kann aber derjenige, welcher mich angezeigt hat, sagen, für welche der beiden korrespondierenden Personen ich Partei genommen habe? Er möge sich nur erinnern, ob etwa in meinen Ansichten (die ich übrigens zurückhielt), oder etwa in meiner Intonation, in meinen Gesten etwas lag, das kundgegeben hätte, ob ich mich der einen oder der anderen Person gegenüber parteiischer verhalten habe! Natürlich wird er das nicht sagen. Belinskys Brief ist allzu seltsam geschrieben, als dass er irgend welche Sympathie erwecken könnte. Schmähungen stossen die Herzen ab, anstatt sie uns zuzuwenden, der ganze Brief aber ist von Schmähungen und Galle erfüllt. Endlich ist der ganze Brief ein Beispiel ohne Beweiskraft — ein Mangel, den Belinsky in seinen kritischen Artikeln niemals ablegen konnte und der im Verhältnisse zur Erschöpfung seiner physischen und geistigen Kräfte durch die Krankheit immer zunimmt. Diese Briefe sind im letzten Jahre seines Lebens zur Zeit seines Aufenthaltes im Auslande geschrieben worden. Eine gewisse Zeit lang war ich ziemlich nahe mit Belinsky bekannt. Er war, als Mensch betrachtet, einer der vortrefflichsten. Allein die Krankheit, welche ihn niederwarf, hat auch den Menschen in ihm gebrochen. Sie hat seine Seele grausam und starr gemacht und sein Herz mit Galle erfüllt. Seine zerrüttete, überspannte Einbildungskraft vergrösserte alles ins Kolossale und zeigte ihm Dinge, die nur er allein zu sehen vermochte. Es traten bei ihm Mängel und Fehler auf, von welchen im gesunden Zustande auch keine Spur vorhanden war. Unter anderem zeigte sich eine äusserst reizbare und empfindliche Eigenliebe. In der Zeitschrift, zu deren Mitarbeitern er zählte und wo er seiner Krankheit wegen sehr wenig arbeitete, hatte ihm die Redaktion die Hände gebunden und liess ihn nicht allzu ernste Artikel schreiben. Das verletzte ihn. In dieser Stimmung nun war es, dass er seinen Brief an Gogol schrieb. In der Schriftstellerwelt ist sehr vielen mein Streit und meine endgiltige Entzweiung mit Belinsky im letzten Jahre seines Lebens nicht unbekannt. Es ist auch die Ursache dieser Auseinandersetzung bekannt: es handelte sich um Ideen über Litteratur und um die Richtung derselben. Meine Anschauung war derjenigen Belinskys diametral entgegengesetzt. Ich machte ihm den Vorwurf, dass er sich bemühe, der Litteratur eine besondere, ihrer nicht würdige Bestimmung zu geben, indem er sie nur zur Beschreibung — wenn man so sagen darf — von Zeitungsfakten oder skandalösen Vorkommnissen herabzog. Ich entgegnete ihm namentlich, dass man mit Galle niemanden an sich ziehe, sondern vielmehr alle und jeden tödlich langweilen werde, wenn man jeden erstbesten, der uns in den Weg läuft, anpackt, jeden Vorübergehenden am Knopfe seines Rockes festhält, ihm gewaltsam eine Predigt halten und ihn eines Besseren belehren will.

Belinsky wurde böse auf mich, und so gingen wir endlich von Erkältung zu förmlichem Bruch über, so dass wir uns im ganzen Verlaufe seines letzten Lebensjahres nicht mehr sahen. Ich hatte lange den Wunsch gehabt, diese Briefe zu lesen. In meinen Augen ist diese Korrespondenz ein ziemlich bemerkenswertes litterarisches Gedenkblatt. Sowohl Belinsky als Gogol sind höchst bedeutende Persönlichkeiten. Ihre Beziehungen zu einander sind sehr interessant — umsomehr für mich, da ich mit Belinsky bekannt gewesen war. Petraschewsky hatte diese Briefe zufällig in meiner Hand erblickt und gefragt: Was ist das? Da ich keine Zeit hatte, ihm sie sogleich zu zeigen, versprach ich ihm, sie ihm am Freitag zu bringen. Ich hatte mich selbst dazu angetragen und musste nun mein Wort halten. Ich habe diesen Artikel wie ein litterarisches Gedenkblatt, nicht mehr, nicht weniger, vorgelesen, fest überzeugt, dass er niemanden verlocken könne, obwohl er eines gewissen litterarischen Wertes nicht ermangelt. Was mich anbelangt, so bin ich buchstäblich nicht mit einer einzigen der Übertreibungen einverstanden, die sich darin befinden. Und nun bitte ich, folgenden Umstand in Erwägung zu ziehen: Würde ich es denn unternehmen, den Artikel eines Menschen vorzulesen, mit welchem ich gerade um seiner Ideen willen im Streite gelegen hatte (das ist kein Geheimnis, es ist vielen bekannt), ja noch dazu einen im kranken Zustande, in geistiger und seelischer Zerrüttung geschriebenen Artikel, würde ich es unternehmen, diesen Artikel zu lesen, ihn als ein Vorbild, eine Formel aufzustellen, der man nacheifern muss? Ich habe erst jetzt begriffen, dass ich damit einen Irrtum begangen habe, und dass es nicht in der Ordnung war, diesen Artikel laut vorzulesen; aber damals habe ich mich nicht besonnen, denn ich habe auch nicht geahnt, wessen man mich beschuldigen kann, habe keine Sünde darin vermutet. Aus Achtung für einen schon dahingeschiedenen, in seiner Zeit bedeutenden Menschen, dessen Urteil man um einiger litterarisch-ästhetischer Artikel willen schätzt, die thatsächlich mit grosser Kenntnis der Litteratur geschrieben sind; endlich aus dem heiklen Gefühl, welches gerade durch meine Entzweiung mit ihm um dieser Ideen willen (welche vielen bekannt sind) in mir verursacht wurde, las ich die ganze Korrespondenz, mich jeder Bemerkung enthaltend und mit vollständiger Unparteilichkeit.

Ich habe erwähnt, dass ich über Politik, über Zensur und anderes gesprochen habe; aber da habe ich unnütz über mich ausgesagt. Ich wollte damit nur ein Bild meiner Ideen entwerfen. Niemals habe ich bei Petraschewsky über diese Gegenstände gesprochen. Ich habe bei ihm nur dreimal oder, besser gesagt, zweimal gesprochen: einmal über Litteratur anlässlich eines Streites mit Petraschewsky über Krylow, und ein zweitesmal über Persönlichkeit und über Egoismus. Im allgemeinen bin ich kein redseliger Mensch und liebe nicht, an Orten laut zu sprechen, wo mir fremde Personen gegenwärtig sind. Meine Denkungsart, sowie meine ganze Person sind nur sehr wenigen, nur meinen Freunden bekannt. Grossen Streitigkeiten gehe ich aus dem Wege und gebe gern nach, nur um in Ruhe gelassen zu werden. Aber ich wurde zu diesem litterarischen Streite herausgefordert durch ein Thema, welches von meiner Seite aus hiess, dass die Kunst keiner Tendenzrichtung bedarf, dass die Kunst sich selbst Zweck ist, dass der Autor sich nur um das Künstlerische zu kümmern habe; die Idee werde schon selbst erscheinen, denn sie ist die unumgängliche Bedingung des Künstlerischen. Mit einem Worte: es ist bekannt, dass diese Richtung dem Zeitungswesen und der Brandstiftung diametral entgegengesetzt ist. Ebenso ist es vielen bekannt, dass ich diese Richtung schon durch mehrere Jahre vertrete. Endlich haben alle bei Petraschewsky unseren Streit gehört, alle können das bezeugen, was ich gesprochen habe. Es hat damit geendigt, dass es sich zeigte, dass Petraschewsky dieselben Ideen über Litteratur hatte, wie ich, dass wir einander aber nicht verstanden. Dieses Resultat unseres Streites haben viele gehört, und ich habe bemerkt, dass der ganze Streit teilweise aus Eigenliebe entstanden war, weil ich einmal Petraschewskys genaue Kenntnis dieses Gegenstandes bezweifelte. Was nun das zweite Thema anbelangt, über Persönlichkeit und Egoismus, so wollte ich darin nachweisen, dass unter uns mehr Ehrgeiz als wirkliche menschliche Würde vorhanden sei, dass wir in Selbstverkleinerung, in die Zerbröckelung der Persönlichkeit verfallen, und zwar aus kleinlicher Eigenliebe, aus Egoismus und aus der Ziellosigkeit unserer Arbeiten. Dies ist ein rein psychologisches Thema. Ich habe gesagt, dass in der Gesellschaft, welche bei Petraschewsky zusammenkam, nicht das geringste Zielbewusstsein, nicht die geringste Einheit, weder in den Gedanken noch in der Gedankenrichtung, vorhanden war. Das schien ein Streit zu sein, der einmal begann, um niemals beendet zu werden. Um dieses Streites willen kam auch die Gesellschaft zusammen, um sich durchzustreiten; denn fast jedesmal ging man auseinander, um das nächstemal den Streit wieder mit erneuerter Kraft aufzunehmen, da man fühlte, dass man auch nicht den zehnten Teil dessen gesagt habe, was man hätte sagen mögen. Ohne Debatten wäre es bei Petraschewsky höchst langweilig gewesen, weil nur Streit und Widerspruch diese Leute von so verschiedenem Charakter zu verbinden vermochten. Man sprach über alles, aber über nichts ausschliesslich, und man sprach so, wie man in jedem Kreise spricht, der sich zufällig zusammenfindet. Ich bin überzeugt davon. Und wenn ich manchmal an Streitigkeiten bei Petraschewsky teilgenommen habe, wenn ich zu ihm ging und nicht erschrak, wenn ein hitziges Wort gesprochen wurde, so geschah dies deshalb, weil ich vollkommen überzeugt war (und das bin ich noch heute), dass die Sache hier familienhaft, im Kreise gemeinschaftlicher Freunde Petraschewskys, aber nicht öffentlich vor sich ging. So war es thatsächlich, und wenn man jetzt eine so ausschliessliche Aufmerksamkeit dem zuwendet, was bei Petraschewsky vorging, so ist das darum der Fall, weil Petraschewsky durch seine Sonderbarkeiten und Excentricitäten fast ganz Petersburg bekannt war und daher auch seine Abende bekannt waren. Ich aber weiss unbedingt, dass das Gerede ihre Bedeutung übertrieb, obwohl im Gerede der Leute mehr Spott über Petraschewskys Abende enthalten war als Besorgnis.

Darüber, dass manchmal ziemlich offen gesprochen wurde (aber immer im Sinne des Zweifels und so, dass Streit daraus entstand), war ich nicht beunruhigt, weil es nach meiner Idee besser ist, dass irgend ein hitziges Paradoxon, irgend ein Zweifel vor das Urteil der anderen tritt (natürlich nicht auf dem Marktplatze, sondern im Freundeskreise), anstatt im Innern des Menschen ohne Ausgang zu bleiben, sich in seiner Seele zu verhärten und einzuwurzeln. Gemeinsamer Streit ist nützlicher als Vereinsamung. Die Wahrheit kommt immer zu Tage, und der gesunde Verstand wird den Sieg davontragen. So habe ich diese Versammlung betrachtet und bin auf Grund dieser Anschauung manchmal hingegangen. Die Erfahrung hat mir recht gegeben, da man z. B. ganz aufhörte, über den Fourierismus zu sprechen, denn dieser wurde, auch als Lehre betrachtet, von allen Seiten mit Spott überschüttet. Wenn aber bei Petraschewsky irgend jemand es unternommen hätte, über eine Anwendung des Fourierschen Systems auf unser gesellschaftliches Leben zu sprechen, so hätte man ihm sofort ohne alle Umstände ins Gesicht gelacht. Ich spreche so, weil ich von der Wahrheit meiner Aussage überzeugt bin.

Zur Beantwortung der Frage, ob nicht irgend ein geheimer Zweck von der Gesellschaft Petraschewskys verfolgt wurde, kann man auf das nachdrücklichste sagen, dass in Anbetracht dieses ganzen Durcheinanders von Meinungen, dieser ganzen Vermischung von Begriffen, Charakteren, Persönlichkeiten, Spezialitäten, dieser Streitigkeiten, welche fast bis zur Feindseligkeit gingen und nichtsdestoweniger nur Debatten blieben, in Anbetracht also alles dieses kann man auf das nachdrücklichste sagen, dass unmöglich ein geheimer, verborgener Zweck in diesem Chaos vorhanden sein konnte. Hier war auch nicht der Schatten einer Einheit und könnte auch keiner bis an das Ende aller Zeiten vorhanden sein. Und obwohl ich nicht alle Männer und Frauen der Gesellschaft Petraschewskys kannte, so kann ich unbedingt nach dem, was ich gesehen habe, sagen, dass ich mich nicht irre.

Jetzt komme ich zur Beantwortung der letzten Frage, zur Antwort, welche meine Rechtfertigung abschliesst; es ist diese: Ist Petraschewsky selbst ein gefährlicher Mensch und bis zu welchem Grade ist er der Gesellschaft schädlich?

Als man mir diese Frage das erste Mal vorlegte, konnte ich sie nicht geradeaus beantworten. Ich hätte vorher in mir eine ganze Reihe von Fragen und Zweifeln entscheiden müssen, welche sofort in meinem Geiste entstanden, welche ich aber nicht auf der Stelle beantworten konnte, welche einen bestimmten Grad von Sammlung forderten, und darum stand ich da, ohne zu wissen, was ich antworten sollte. Jetzt, da ich mir alles klargemacht habe, will ich sowohl meine vorausgegangenen Erwägungen, als auch schliesslich die Antwort auf die mir gestellte Frage als Schlussfolgerung dieser Erwägungen hier vorlegen.

Wenn man mich gefragt hat, ob Petraschewsky der Gesellschaft schädlich sei, so verstehe ich darunter vor allem, ob er es als Fourierist, als Anhänger und Verbreiter der Lehre Fouriers sei. Man hat mir ein eng beschriebenes Heft gezeigt und mir gesagt, dass ich wahrscheinlich die Schrift darin erkennen würde. Ich kenne Petraschewskys Handschrift nicht, ich habe nie mit ihm korrespondiert und ich habe unbedingt nicht vermutet, dass er sich mit Schriftstellerei befasst (ich spreche mit Überzeugung); darum weiss ich unbedingt nichts von ihm, als einem Verbreiter der Lehre Fouriers. Ich kenne nur seine theoretischen Überzeugungen, ja und diese kaum, da wir auch ein theoretisches Gespräch über Fourier selten, fast niemals anknüpften, da unsere Gespräche sich sofort in Streit verwandelten. Das wusste er sehr gut. Von Plänen aber und Anordnungen hat mir Petraschewsky niemals etwas mitgeteilt, und ich weiss endgiltig nicht, hat er solche gehabt oder nicht. Ausserdem, wenn er auch solche gehabt hätte, was ich durchaus nicht weiss, so würde er sie, da er mit mir in keinerlei nahen Beziehungen stand und keine grosse Freundschaft uns verband, sicherlich (ich bin davon überzeugt) alles vor mir verborgen und mir kein Wort mitgeteilt haben. Ich aber meinerseits hatte auch niemals den Wunsch, seine Geheimnisse kennen zu lernen. Deshalb kann ich unbedingt nichts über Petraschewsky als Fourieristen sagen, ausser in einem rein wissenschaftlichen Sinne.

Ich weiss, dass Petraschewsky das System Fouriers schätzt; als Fourierist kann er natürlich nichts anderes wünschen, als dass man mit ihm sympathisiere. Aber man hat mich gefragt, ob er Proselyten mache. Zieht er nicht Lehrer verschiedener Unterrichtsanstalten an sich in der Absicht, nachdem er sie bekehrt, durch sie die Verbreitung der Fourierschen Lehre in der Jugend zu bewirken? Ich erwidere: ich kann unbedingt nichts über diese Sache sagen, weil ich keine genügenden Daten habe und die Geheimnisse Petraschewskys durchaus nicht kenne. Man hat mir gesagt, dass unter Petraschewskys Freunden ein gewisser Lehrer Toll sich befinde. Allein Toll ist mir vollkommen unbekannt, und dass er ein Lehrer sei, habe ich erst kürzlich erfahren. Was aber Jastrzembski anbelangt, so habe ich erst erfahren, dass er Lehrer ist, als er über politische Ökonomie sprach. Sonst kenne ich keinen Lehrer. Da ich nicht nur in keinerlei nahen, sondern in sehr lockeren Beziehungen zu Toll stehe, so kenne ich weder die Geschichte seiner Bekanntschaft mit Petraschewsky noch den Zeitpunkt, wann sie einander kennen lernten, noch die Beziehungen, in welchen sie zu einander standen; mit einem Worte, es war mir ganz uninteressant, das zu wissen. Was nun Jastrzembski anbelangt, so habe ich keine Gelegenheit gehabt, die Art seiner ökonomischen Ideen kennen zu lernen, da ich nur zweimal in der Lage war, ihn zu hören. Er ist, so viel mir scheint, ein Ökonomist der neuesten Schule und lässt den Socialismus soweit zu, als dies die strengsten Professoren thun. Denn der Socialismus seinerseits hat durch seine kritischen Ausarbeitungen und den statistischen Teil seiner Arbeit viel wissenschaftlich Nützliches geleistet. Mit einem Worte, ich nehme an, dass Jastrzembski weit davon entfernt ist, ein Fourierist zu sein, und dass er von Petraschewsky nichts zu lernen hat. Ich muss aber bemerken, dass ich Jastrzembski als Menschen gar nicht kenne, dass ich niemals ein Gespräch mit ihm angeknüpft habe, und es scheint, dass auch er sich in der gleichen Beziehung zu mir befunden hat. Ein vollkommenes Bild seiner Ideen habe ich nicht, ebenso wie er keines von den meinen hat. Also kann ich über Petraschewsky als Verbreiter einer Lehre nur nach Mutmassungen und Vorstellungen urteilen.

Aber nach Mutmassungen kann ich nichts sagen. Ich weiss, dass meine Aussage nicht als eine endgiltige, grundlegende angenommen wird; immerhin wird sie eine Aussage bleiben. Wie nun, wenn ich mich irre? Der Irrtum wird schwer auf meinem Gewissen lasten. Man hat mir eine Handschrift gezeigt, von deren Vorhandensein ich früher nichts wusste. Ich habe einen Satz dieser Handschrift gelesen. In diesem Satze ist der heisse Wunsch ausgesprochen, dass das System Fouriers so schnell als möglich siegen möge. Wenn die ganze Handschrift in diesem Sinne geschrieben ist, wenn Petraschewsky sie als die seine anerkannt hat, so hat er natürlich die Verbreitung des Fourierschen Systems gewünscht. Ob er jedoch thatsächlich irgend welche Massnahmen dazu getroffen hat, ist mir bis zum heutigen Tage unbekannt. Mir sind seine Geheimnisse unbekannt. Ich denke, dass man mir endlich Glauben schenken kann. Niemand wird aussagen können, dass ich jemals mit Petraschewsky in sehr nahen Beziehungen gestanden hätte. Ich kam an Freitagen als Bekannter zu ihm, doch nicht mehr. Ich kenne keinen seiner Pläne und habe zum ersten Male diese Handschrift gesehen, deren Inhalt ich ausser einem Satze durchaus nicht kenne. Und so vermag ich nichts darüber zu sagen, ob er irgend etwas gethan, ob er Massnahmen getroffen habe. Allein man möge mir erlauben, einige meiner eigenen Gedanken darzulegen, welche meine tiefsten Überzeugungen ausmachen, über welche ich lange nachgesonnen habe, welche mir früher ebenso erschienen sind wie jetzt, und infolge welcher endlich ich bei der ersten Frage über die Strafbarkeit Petraschewskys keine endgiltige Antwort geben konnte. Ich begriff, wie wichtig in den Augen der Richter Petraschewskys solche Beweise sein müssen, wie Bücher, Handschriften und Reden, welche abrissweise niedergeschrieben worden sind. Da man mich aber über ihn befragt, so möge man mir erlauben, meine Ansichten über seine ganze Angelegenheit hier auszusprechen.

Petraschewsky glaubt an Fourier. Das System Fouriers ist ein friedliches; es bezaubert die Seele durch seine Schönheit, es bestrickt das Herz durch jene Menschenliebe, welche Fourier beseelte, als er sein System schuf, versetzt den Geist in Erstaunen durch seine Harmonie und zieht nicht durch bittere Ausfälle an sich, sondern beseelt jeden mit der Liebe zur Menschheit. In diesem System gibt es keinen Hass. Politische Reformen setzt sich Fourier nicht vor. Seine Reform ist eine ökonomische. Sie greift weder die Obrigkeit noch den Besitz an, und in einer der letzten Sitzungen der Kammer hat Victor Considérant, der Repräsentant der Fourieristen, feierlich jeden Angriff auf die Familie abgelehnt. Endlich ist dieses System ein theoretisches und wird niemals populär werden.

Die Fourieristen sind während der ganzen Zeit der Februar-Revolution nicht ein einziges Mal auf die Gasse herabgestiegen, sie sind in der Redaktion ihres Journals geblieben, wo sie ihre Zeit schon mehr als 20 Jahre mit Träumen von der zukünftigen Schönheit der Phalanstère zubringen. Allein dieses System ist zweifellos schädlich, erstens schon darum allein, weil es ein System ist; zweitens, wie schön es auch sei, bleibt es immer eine wesenlose Utopie, aber der Schaden, den diese Utopie anrichtet, ist, wenn man mir erlaubt, mich so auszudrücken, eher komisch als schreckenerregend. Es gibt kein sociales System, das in einem so hohen Grade unpopulär, das so belacht und ausgepfiffen worden wäre, wie das System Fouriers im Westen. Es ist schon lange tot, und seine Führer bemerken selbst nicht, dass sie nichts mehr sind als lebendig Tote. Im Westen, in Frankreich, ist in diesem Augenblicke jedes System, jede Theorie der Gesellschaft schädlich, denn die hungrigen Proletarier ergreifen in der Verzweiflung jedes Mittel, und aus jedem Mittel sind sie imstande, sich ein Panier zu machen. Man ist in diesem Augenblick dort beim Äussersten angelangt; dort treibt der Hunger die Leute auf die Gasse, den Fourierismus aber hat man aus Geringschätzung vergessen. Und sogar der Cabetismus, der das Unsinnigste auf der Welt ist, erweckt bedeutend mehr Sympathien. Was aber uns anbelangt, Russland, Petersburg, so braucht man nur zwanzig Schritte auf der Strasse zu machen, um sich zu überzeugen, dass der Fourierismus auf unserem Boden nur bestehen könnte: entweder in den unaufgeschnittenen Blättern eines Buches, oder in einer weichen, sanftmütigen, träumerischen Seele, aber nicht anders als in der Form einer Idylle, oder wie etwa ein Poem in vierundzwanzig Gesängen. Der Fourierismus kann keinen ernstlichen Schaden bringen. Erstens, wenn er auch ein ernstlicher Schaden wäre, so wäre seine Ausbreitung allein schon eine Utopie, denn sie würde sich bis zur Unglaublichkeit langsam vollziehen. Um das System Fouriers vollkommen zu begreifen, muss man es studieren; das aber ist eine ganze Wissenschaft: man muss etwa ein Dutzend Bände durchlesen. Kann denn ein solches System populär werden? Vom Katheder herunter durch die Lehrer? Das aber ist physisch unmöglich, schon wegen des Umfanges der Fourierschen Lehre. Aber ich wiederhole, ein ernstlicher Schaden kann nach meiner Meinung durch das System Fouriers nicht entstehen, und wenn ein Fourierist Schaden bringt, so thut er es höchstens sich selbst, in der öffentlichen Meinung, bei denen, welche gesunden Menschenverstand besitzen; denn für mich ist die höchste Komik — eine niemandem nützliche Thätigkeit. Der Fourierismus aber und mit ihm jedes System des Westens sind für unseren Boden so unbrauchbar, unseren Umständen so entgegen, dem Charakter unserer Nation so fremd, andererseits aber so sehr eine Geburt des Westens, so sehr ein Produkt des dortigen abendländischen Standes der Dinge, in welchem die proletarische Frage um jeden Preis entschieden wird, dass der Fourierismus mit seiner eindringlichen Unvermeidlichkeit jetzt bei uns, wo es kein Proletariat gibt, höchst lächerlich, seine Thätigkeit die allerunnützeste, in ihren Folgen die allerkomischeste wäre. Dies ist es, warum ich nach meiner Mutmassung Petraschewsky für gescheiter halte und ihm niemals ernstlich zugetraut hätte, weiter als bis zu einer theoretischen Schätzung des Fourierschen Systems gegangen zu sein. Alles übrige war ich thatsächlich bereit, für einen Scherz zu halten. Der Fourierist ist ein unglücklicher, kein strafbarer Mensch — das ist meine Meinung. Endlich hat meiner Ansicht nach auch nicht ein Paradoxon, so viele ihrer auch gewesen seien, sich von selbst, aus eigenen Kräften halten können; so lehrt uns die Geschichte. Ein Beweis davon ist, dass in Frankreich im Verlaufe eines Jahres fast alle Systeme fielen, und zwar durch sich selbst fielen, sowie die Sache nur an die geringste Bekräftigung herankam. Alles dieses zusammenfassend, muss ich sagen, dass ich, wenn ich auch wüsste (was ich nicht weiss, ich wiederhole es noch einmal), dass Petraschewsky, vor keinerlei Spott zurückschreckend, sich noch immer um die Verbreitung des Fourierschen Systems bemühe, mich dennoch davon zurückhalten würde, ihn für schädlich, der Gesellschaft Schrecken bringend, zu bezeichnen. Erstens, in welcher Weise könnte Petraschewsky als Verbreiter des Fourierismus schädlich sein? Das geht über meine Begriffe; lächerlich, aber nicht schädlich. Dies ist meine Meinung. Und dies ist, was ich nach meinem Gewissen auf die mir gestellte Frage antworten kann. Endlich ist in mir noch eine Erwägung aufgetaucht, die ich nicht verschweigen kann, eine Erwägung rein menschlicher Natur, wie sie das Leben mit sich bringt. Ich habe lange die Überzeugung in mir getragen, dass Petraschewsky von einer gewissen Art von Eigenliebe ergriffen sei. Es war Eigenliebe, die ihn veranlasste, die Freitagsabende einzurichten, es war auch Eigenliebe, dass ihm die Freitage nicht überdrüssig wurden. Aus Eigenliebe schaffte er viele Bücher an und gefiel es ihm offenbar, dass man wisse, er besitze seltene Bücher. Übrigens ist das nicht mehr als eine persönliche Beobachtung von mir, eine Mutmassung, denn, ich wiederhole es, alles, was ich über Petraschewsky weiss, weiss ich unvollständig, nicht vollkommen, sondern nur nach Vermutungen über das, was ich gesehen und gehört habe.

Dieses meine Antwort, ich habe die Wahrheit gesprochen.

Theodor Dostojewsky.

Als endlich das Todesurteil, welches am 19. Dezember vom Kaiser unterschrieben worden war, verlesen wurde, war keiner unter ihnen, der Reue empfunden hätte. Sein persönliches Verhalten in dieser „längst vergangenen Geschichte“, sagt er in seinem „Tagebuche“, änderte sich erst viel später.

Die Zeit im Gefängnisse während der achtmonatlichen Untersuchungshaft verlief verhältnismässig günstig, was die äusseren Umstände betrifft. Er war im Alexejschen Ravelin der Festung eingeschlossen, durfte täglich auf eine Viertelstunde im kleinen Hofe allein, aber unter Bedeckung, spazieren gehen, in den letzten Monaten schreiben und lesen. Seine Gesundheit wurde merkwürdigerweise gerade in dieser Zeit fester. Sein ganzes Wesen war durch das Ereignis so erschüttert und nach innen gekehrt, dass er, der in der vorhergegangenen Zeit eine fast bis zum Wahnsinn gehende Ängstlichkeit und Hypochondrie bekundete, — derart, dass nach den Aussagen seines Bruders Andreas fast jede Nacht auf seinem Tischchen ein Zettel lag, worauf geschrieben stand: „heute kann ich in lethargischen Schlaf verfallen; nicht vor so und so viel Tagen begraben!“ — jede Angst und Sorge um sein Leben und seine Gesundheit verlor und schon dadurch widerstandsfähiger wurde. Seine innere Stimmung war zwar wechselnd, doch siegte über alles sein aus der unerschöpflichen Arbeitskraft quellender Lebensmut. So schreibt er an den Bruder am 18. Juli: „Ich bin durchaus nicht herabgestimmt .... manchmal fühlst du sogar, als seist du an dieses Leben schon gewöhnt und es sei alles eins ... aber ... ein anderes Mal stürmt das frühere Leben mit allen seinen Eindrücken förmlich in die Seele ein ... jetzt sind helle Tage, und es ist etwas freundlicher geworden ... auch habe ich Beschäftigung. Ich habe die Zeit nicht vergeudet, habe drei Erzählungen und zwei Romane ausgedacht; an einem derselben schreibe ich jetzt.“

Dieser „Roman“ war nach Dostojewskys späteren Aufzeichnungen die Erzählung „Ein kleiner Held“, welche in den „Vaterländischen Annalen“ anonym erschien, und zwar erst im Jahre 1857, also zu einer Zeit, da der Dichter noch nicht aus Sibirien zurückgekehrt war. Bruder Michael hatte das Manuskript eingereicht. Theodor Michailowitsch fügt seinen Aufzeichnungen die Notiz bei: (dort konnte man nur das Unschuldigste schreiben). Der Biograph O. Miller fügt hier hinzu, dass der Dichter bei aller Unschuld dieser Erzählung doch eine ihm sehr antipathische Figur aus dem Petraschewskyschen Kreise hineingeflochten habe, und führt eine sehr charakteristische Stelle aus dieser Personalbeschreibung an. Sie lautet: „Auf alles hat er eine fertige Phrase in Bereitschaft ... ganz besonders versehen sich diese Leute mit Phrasen, um ihre tiefe Sympathie für die Menschheit darzulegen ... endlich, um unumstösslich die Romantik zu geisseln, d. h. zum öfteren alles Schöne und Wahre, von welchem jedes Atom kostbarer ist, als ihre schleimige Polypen-Natur.“

Von der Untersuchungskommission ging die Angelegenheit in die Hände einer eigenen, im Namen des Kaisers amtierenden Gerichtskommission unter dem Vorsitz des Generals Perowsky, welcher beschliessen wollte, alle Angeklagten aus Mangel an Beweisen freizusprechen. Die Sache ging jedoch an das General-Auditoriat über, wo sie kriegsrechtlich behandelt wurde. Sie wurde also kraft der kriegsrechtlichen Gesetze in der Weise beendet, dass alle Angeklagten, mit Ausnahme eines einzigen, Palm, ohne Unterscheidung ihrer Schuld, ob sie nun die Aufhebung der Leibeigenschaft auf gesetzlichem Wege oder mit revolutionären Mitteln angestrebt hatten, ob sie überhaupt einen Umsturz der Staatsverfassung angestrebt, oder, wie Dostojewsky, einen Brief „voll frecher Ausdrücke gegen Kirche und Staat“ vorgelesen hatten — zum Tode durch Füsilieren verurteilt wurden.

Keiner der Angeklagten hatte indes Kenntnis davon, wann das Urteil verlesen werden würde. Am frühen Morgen des 22. Dezember — so erzählt O. Miller — bemerkten sie eine lebhaftere Bewegung am Korridor und ahnten, dass irgend etwas Ungewöhnliches vorgehe. Einer der Gefangenen, Speschnew, erzählte mit Genauigkeit, dass dies um 6 Uhr war, und um 7 Uhr setzte man sie auf die Wagen und führte sie fort. Nach den Worten Dostojewskys hatte man sie vorher dazu verhalten, ihre eigenen Gewänder anzuziehen, wozu sie unter Begleitung eines Aufsehers geschickt wurden. Speschnew, welcher nicht begreifen konnte, wohin man sie führe, vermutete, man wolle ihnen den Urteilsspruch vorlesen, da man sie aber kriegsrechtlich aburteilte, setzte er voraus, dies werde im Ordonnanzhause geschehen.

Indessen war die Fahrt eine sehr langwierige. Speschnew fragte unterwegs den Soldaten: „wohin führt man uns?“ Dieser antwortete: „Es ist nicht befohlen zu sagen“. Es war starker Frost und so konnte man durch die beeisten Fenster der Wagen nicht gut unterscheiden, auf welcher Strasse man fahre .... Um sich davon zu überzeugen, wohin er geführt werde, versuchte Speschnew mit dem Finger das Fensterglas durchsichtig zu machen, allein der Soldat sagte: „Thun Sie das nicht, sonst schlägt man mich“. Da verzichtete Speschnew darauf, seine so begreifliche Neugierde zu befriedigen. Es wurde schon oben gesagt, dass der Gedanke an die Todesstrafe ihnen gar nicht in den Sinn gekommen war. Sie dachten auch daran nicht, dass der Urteilsspruch, welcher gefällt und durch den Kaiser abgeändert worden war, ihnen nichtsdestoweniger vorgelesen werden würde, zum Zwecke, ihnen einen tiefen Eindruck, einen Schrecken zu verursachen. Aber da, nach einer ihnen endlos scheinenden Fahrt, brachte man sie auf den Semenowskyschen Platz und führte sie in einer gewissen Ordnung hinaus. Darauf führte man sie auf das Schaffot, und wie Theodor Michailowitsch erzählt, stellte man neun von ihnen auf eine und elf auf die andere Seite.

Ich ziehe es vor, hier Stellen aus dem Briefe einzufügen, den Dostojewsky selbst sofort nach der Urteilsverkündigung an den Bruder schreibt. Es giebt nichts Charakteristischeres als diese knappe Darlegung des erschütterndsten Augenblicks in seinem Leben. Sie lautet:

„Heute, den 22. Dezember, hat man uns auf den Semenowsky-Platz hinausgeführt, dort hat man uns allen das Todesurteil vorgelesen und das Kreuz zu umfassen gestattet, hat über unseren Häuptern die Degen zerbrochen und uns mit der Sterbetoilette (dem weissen Hemde) bekleidet. Darauf hat man drei von uns zur Vollstreckung des Todesurteils an den Pfahl gestellt. Ich stand als sechster in der Reihe; man rief je drei und drei heraus, folglich sollte ich in der zweiten Abteilung daran kommen, und es blieb mir nicht mehr als eine Minute zum Leben. Ich dachte an dich, Bruder, an alle die Deinen. Im letzten Augenblicke warst du, du allein in meinem Geiste gegenwärtig; da erst erkannte ich, — wie sehr ich dich liebe, teurer Bruder! Ich konnte auch noch Speschnew, Durow, die neben mir standen, umarmen und mich mit ihnen verabschieden. Endlich blies man Retraite, die an den Pfahl Gebundenen führte man zurück und las uns vor, dass Seine kaiserliche Majestät uns das Leben schenkt. Dann folgten die eigentlichen Verurteilungen. Der einzige Palm ist begnadigt und behält seinen Rang in der Armee.“

In wie künstlerischer Weise der Dichter diese Scene nach Jahren verwertet hat, können wir in der Erzählung des Idioten, im Roman dieses Namens ersehen.

Die Abänderung des Todesurteils in grössere und geringere Kerkerstrafen war schon früher eigenhändig vom Kaiser bei jedem einzelnen Urteile an den Rand des Blattes geschrieben worden. Umso grausamer muss uns diese Komödie erscheinen. Die für Dostojewsky vorgeschlagene Strafumwendung in achtjährige Zwangsarbeit wurde in eine vierjährige Frist mit nachträglicher Einreihung in den Liniendienst umgewandelt.

Wir lassen hier die betreffenden Dokumente folgen.

No. 522.

24. Dezember 1849.

An den Herrn General-Adjutanten
Graf Orloff.

Rapport.

Die in der Festung St. Petersburg inhaftiert gewesenen Verbrecher wurden: laut der von Seiner Majestät beschlossenen Urteilsbestätigung nach Auslöschung ihrer Namen auf der Arrestantenliste heutigen Datums, abends, abgefertigt: Durow, Dostojewsky und Jastrzembski in Ketten geschmiedet nach Tobolsk[5] in Begleitung des Lieutenants Prokofjew vom Feldjäger-Corps und dreier Gendarmen, Pleschtschjew nach Orenburg in Begleitung des Fähnrichs im Feldjäger-Corps Leiter, und Achscharumow nach Cherson in Begleitung des Fähnrichs im Feldjäger-Corps Wierander mit je einem Gendarm, wovon ich die Ehre habe Euer Durchlaucht Mitteilung zu machen.

Der Festungs-Kommandant,
General-Adjutant Nabokow,
der Kollegien-Sekretär Wassiljitsch.

Das Dokument, welches dem Moskauer Adel die Verurteilung Dostojewskys und den Verlust aller bürgerlichen Rechte mitteilt, befindet sich in den Moskauer Adelsarchiven und lautet:

Archiv des Moskauer Adels.
Journal der Deputaten-Versammlung 1850, No. 92, b, Z II
(September 1850).

Verordnung des Herrn Ministers des Innern, folgenden Inhalts: Der dirigierende Senat ordnet, nach Entgegennahme des Rapports des Herrn Kriegsministers vom 23. Dezember des vorigen Jahres — enthaltend den von Seiner kaiserlichen Majestät bestätigten Bericht über die, durch das Kriegsgericht als Kriminal-Feldkriegsrat wegen verbrecherischer Absichten gegen die Obrigkeit laut Ukas vom 30. Dezember desselben Jahres verurteilten Verbrecher — hiermit an: dass, unbeschadet der erflossenen Bestimmung über den Abdruck des obenerwähnten Allerhöchsten Befehls in den Senatsberichten (w Senatskich wjedomostjach), die Adelsmarschälle (natschalnik gubernii) jener Gubernien davon in Kenntnis zu setzen sind, welchen die genannten Verbrecher zugehörten. Aus der Zahl dieser Personen wurden verurteilt: der nicht gedient habende Edelmann (dworjanin) Alexei Pleschtschjew und der verabschiedete Ingenieur-Lieutenant Theodor Dostojewsky, welche durch das General-Auditoriat zum Tode durch Füsilieren verurteilt worden waren. Jedoch hat der Kaiser (Gossudar Imperator) am 19. Dezember 1849 den allerhöchsten Befehl zu erteilen geruht, dass anstatt der Todesstrafe Pleschtschjew nach Verlust aller seiner Standesrechte als Gemeiner in das Orenburgsche Linien-Infanterie-Bataillon eingereiht, Dostojewsky aber, nach Verlust seiner Standesrechte, auf vier Jahre Zwangsarbeit auf die Festung geschickt und danach als Gemeiner in den Felddienst eingereiht werde.

Echt Dostojewskysch ist jene Stelle in seinem „Tagebuche eines Schriftstellers“ aus dem Jahre 1873, wo er, auf diesen Tag zurückkommend, sagt: „Wir Petraschewzen standen auf dem Schaffot und hörten unser Todesurteil an, ohne die geringste Reue. Ich kann natürlich nicht für alle Zeugnis ablegen, allein ich denke mich nicht darin zu irren, dass damals, in jener Minute, wenn nicht alle, so doch mindestens die grosse Mehrzahl der Unseren es als eine Ehrlosigkeit betrachtet hätte, seine Überzeugung zu verleugnen .... Das Urteil, das uns zum Tode durch Füsilieren verurteilte, wurde uns durchaus nicht zum Scherz vorgelesen. Fast alle Verurteilten waren fest überzeugt, dass es vollstreckt werden würde, und verlebten mindestens zehn furchtbare Minuten der Todeserwartung. In diesen letzten Minuten stiegen manche von uns instinktiv in die Tiefe ihrer Seele hinab (ich weiss das bestimmt), und indem sie ihr noch so junges Leben in einem Augenblicke prüften, mochten sie wohl manch ein schweres Vergehen bereuen (von jenen, welche bei jedem Menschen sein ganzes Leben hindurch in den Tiefen des Gewissens ruhen); aber die Sache, um derentwillen wir verurteilt wurden, die Gedanken, die Anschauungen, welche in unserem Geiste walteten — sie stellten sich uns nicht nur als keine Reue herausfordernd dar, sondern sogar als etwas Reinigendes, als ein Märtyrertum, um dessentwillen uns vieles verziehen würde.“ Uns scheint diese klare Bezugnahme auf die „längstvergangene Geschichte“ ein sehr wichtiger Beleg für die Freiheit und Reinheit seiner „Umkehr“; denn hätte ihn Feigheit, Opportunität oder irgend eine Schwäche zu dieser sogenannten Umsattelung, die ihm die ehemaligen Parteigenossen und jüngeren Propagandisten vorwarfen, veranlasst, so würde er nicht nach 24 Jahren so kühn und frei seines überzeugten Handelns gedenken können. Ebenso frei spricht er sich direkt und später in allen seinen Werken in unzweideutiger Weise über seine Umkehr aus, am prägnantesten, wo er sagt: „Es ist uns recht geschehen mit dieser Verurteilung, sonst hätte uns das Volk verurteilt.“

Dieser Ausspruch bedürfte eines Kommentars, um von europäischen Lesern richtig aufgefasst zu werden, eines längeren und eingehenderen Kommentars, als unser Versuch einer Lebens-Erzählung rechtfertigen könnte, ja als er ihn leisten dürfte. Man muss als Ausländer mit Russland so vertraut sein, wie etwa Anatole Leroy-Beaulieu, um jene Beobachtungen historisch und psychologisch zu erhärten, welche auch dem „Gast auf eine Weile“ nicht entgehen und geeignet sind, dies Wort Dostojewskys zu erklären. Indessen müssen wir hier doch mit einigen Worten andeuten, welches Missverständnis die Anschauungen des Westens in die Beurteilung des russischen Volkes, in seine Wünsche für dasselbe hineintragen. Das Volk „mit dem ungeheuren Willen, mit dem ein Denker der Zukunft wird zu rechnen haben“, dieses Volk im Namen unserer verbrauchten Ideen, unserer Speisehaus-Ideale revolutionieren zu wollen, ist wirklich mehr als ein Verbrechen, es ist lächerlich. Ja, auch Reformen, einschneidende, im europäischen Sinne wahrhaft befreiende, Reformen von jener Stelle aus, die dem russischen Volke die heiligste ist, vom Kaiserthrone aus, würde es nicht verstehen, und einem Kaiser Josef auf dem Throne würde es einen passiven Widerstand leisten, der dräuender und gefährlicher wäre, als jede Revolution. Einmal, in Jahrhunderten vielleicht, wenn die breiten, schweren Massen zum Bewusstsein dieser „Kraft zu wollen“ kommen werden, nach einem Kulturwege, der ausser unserer Berechnung liegt (denn es ist höchst intelligent und beharrlich, ja hartnäckig daneben), da wird es seine eigene Revolution machen, seine Revolution innerhalb des Glaubens, und dem staunenden Europa etwas neues, erdfrisches als Frucht seiner Kultur in den Schoss werfen. Das Volk, von dem ein grosser Teil, bei aller kindlichen Liebe für sein Väterchen, den Zar für den Antichrist hält, und die vom Staate anerkannte Kirche für zu neu ansieht[6], ein solches Volk wurzelt in anderem Boden, als in dem verwitternden missverstandener Historien, und es bedarf heute und für alle Zeiten (das bedingt seine Lage) anderer Lebensquellen, als es deren, vom Wissen abgesehen, je bei uns finden könnte, Quellen, die es sich in seiner reichen Erde wird selbst auffinden müssen. Dann wird es wohl in ganz selbstverständlicher Weise in das Staatsleben eintreten und ein Wort mitsprechen bei der Entscheidung seines eigenen Geschickes.

Am besten beleuchten Thatsachen. Dass das russische Volk heute revolutionäre Bestrebungen auch wirklich richtet, beleuchtet unter anderem auch die Geschichte jenes Aufruhrs in Moskau im Jahre 1877, als man eine Partie Staatsgefangener von Kiew dahin brachte, um sie von da weiter an ihre Bestimmungsorte zu bringen. Die Moskauer Studenten vereinigten sich zu einer grossen Demonstration zu Gunsten der Gefangenen. Sie holten diese auf dem Bahnhofe ein und gaben ihnen das Geleite durch die Stadt. Als sie auf den grossen Marktplatz, den Ochotnyi rjad (alte Jägerzeile) kamen, da rottete sich das Marktvolk zusammen und fiel über die Studenten her. Es entstand ein blutiger Kampf, ein Gemetzel, das zwei Stunden währte, sich bis an den Abfahrts-Bahnhof hinzog und nur durch das Einschreiten der Polizei niedergeschlagen werden konnte. Die Moskauer Studenten, welche Dostojewskys „Tagebuch eines Schriftstellers“ kannten, wohl wussten, dass der Herausgeber dieses Blattes ein ehemaliger Student und „abgestrafter Staatsverbrecher“ sei, und volles Vertrauen in sein Urteil setzten, wandten sich mit der Bitte an ihn, er möge ihnen seine Anschauung über diese Sache in einem offenen Briefe mitteilen.

Was Dostojewsky den jungen Leuten in seinem Briefe aus Petersburg antwortet, ist zu charakteristisch, um nicht hier seine Stelle zu finden. Der Brief lautet:

„Petersburg, am 18. April 1878.

Sehr geehrte Herren Studenten.

Verzeihen Sie mir, dass ich Ihnen so lange nicht antwortete; ausser meinem thatsächlichen Unwohlsein haben auch andere Umstände meine Antwort verzögert. Ich wollte Ihnen durch einen offenen Brief in den Tagesblättern antworten; allein es zeigte sich plötzlich, dass das aus Gründen, welche nicht von mir abhängen, unmöglich sei, wenigstens dass es unmöglich sei, ihn gebührend ausführlich zu beantworten. Zweitens dachte ich: wenn ich Euch nur schriftlich antworte, was kann ich Euch da beantworten? Eure Fragen umfassen alles — unbedingt das ganze interne Leben Russlands. Also ein ganzes Buch schreiben? — eine profession de foi?

Ich habe mich endlich entschieden, Euch dieses kleine Briefchen zu schreiben, auf die Gefahr hin, Euch im höchsten Grade unverständlich zu sein. Das aber wäre mir sehr unangenehm.

Ihr schreibt mir: Am allernötigsten ist es für uns, die Frage zu lösen, inwieweit wir selbst, die Studenten, schuldig sind, was für Schlüsse sowohl die Gesellschaft, als auch wir selbst aus diesem Geschehnis ziehen sollen?

Des weiteren habt Ihr die wesentlichsten Züge in den Beziehungen der heutigen russischen Presse zur Jugend sehr richtig und genau gekennzeichnet. In unserer Presse herrscht ersichtlich ein Ton „vorbeugender herablassender Entschuldigung“ (Euch gegenüber, heisst das). Das ist sehr richtig; ein namentlich vorbeugender, für alle Fälle nach einer gewissen Schablone vorher zurecht gelegter, schon sehr abgegriffener Occasionston.

Und weiter schreibt Ihr: Es ist klar, wir haben von diesen Leuten nichts zu erwarten, welche von uns nichts erwarten, sondern sich abwenden, um ihr unwiderrufliches Urteil den „wilden Völkern“ zu künden (dikim narotam).

Dies ist vollkommen richtig, namentlich sie wenden sich ab, ja und sie haben (die Mehrzahl wenigstens) gar nichts mit Euch zu schaffen. Allein es giebt Leute, und derer nicht wenige, sowohl in der Presse, als in der Gesellschaft, welche der Gedanke niederdrückt, dass die Jugend sich vom Volk entfernt hat (das ist die Hauptsache und das erste) und dann, d. h. jetzt, auch von der Gesellschaft. So ist es auch. Sie lebt in Träumereien und abstrakt, geht fremden Lehren nach, will nichts in Russland wissen und bemüht sich, ihrerseits Russland zu lehren. Zuletzt aber, jetzt, ist sie unzweifelhaft irgend einer ganz aussen stehenden (wnjeschnej) führenden, politischen Partei in die Hände geraten, die mit der Jugend schon so gut wie gar nichts zu schaffen hat und sie nur als Material und panurgische Herde für ihre äusserlichen und besonderen Ziele benutzt. Denkt nicht das zu leugnen, meine Herren; es ist so.

Ihr fraget, meine geehrten Herren: „inwiefern Ihr selbst, die Studenten, schuldig seid?“ Hier meine Antwort: Ihr seid, meiner Meinung nach, in gar nichts schuldig. Ihr seid nur Kinder derselben Gesellschaft, die Ihr jetzt hinter Euch lasset und welche „eine Lüge nach allen Seiten“ ist. Aber indem er sich von ihr losreisst und sie hinter sich lässt, wendet sich unser Student nicht zum Volke, sondern irgendwohin ins Ausland, in den „Europäismus“, in das abstrakteste Reich eines niemals dagewesenen Kosmopoliten, und bricht auf diese Weise auch mit dem Volke, indem er es verachtet und verkennt, als richtiger Sohn jener Gesellschaft, von der er sich ebenfalls losgerissen hat. Indessen aber ruht im Volke unser ganzes Heil (das ist aber ein langwieriges Thema) ... die Losreissung aber vom Volke kann ebenfalls nicht strenge in das Schuldbuch der Jugend gesetzt werden. Wie sollte sie denn, ehe sie lebte, das Volk erdenken (dodumatsoja do nawka)?

Dabei aber ist das allerschlimmste, dass das Volk die Losreissung der intelligenten russischen Jugend gesehen und bemerkt hat; und das schlimmere dabei ist, dass es die von ihm bemerkten jungen Leute Studenten nennt. Es hat schon lange begonnen sie zu beachten, schon zu Anfang der 60er Jahre; darum hat all dieses Ins-Volk-gehen beim Volke selbst nur Widerwillen erweckt.

„Junge Herrchen“, sagt das Volk (diese Benennung kenne ich; ich garantiere es Euch, es nannte sie so). Dabei aber besteht im wesentlichen ja ein Irrtum auch von Seite des Volkes, weil es noch niemals bei uns, in unserem russischen Leben eine solche Epoche gegeben hat, da die Jugend (gleichsam ahnend, dass ganz Russland auf einem Wendepunkt, über einem Abgrund schwankend stehe) in ihrer ungeheueren Mehrzahl mehr als jetzt aufrichtig, reinen Herzens, mehr nach Wahrheit dürstend, mehr als jetzt bereit war, alles, sogar das Leben für die Wahrheit und das Wort der Wahrheit hinzugeben; die wirkliche, die echte grosse Hoffnung Russlands. Dies fühle ich schon lange und habe schon seit langem begonnen darüber zu schreiben. Da, plötzlich, was kommt heraus? Dieses Wort der Wahrheit, wonach die Jugend dürstet, das sucht sie weiss Gott wo, auf seltsamen Stätten (darin ebenfalls mit der angefaulten Gesellschaft, die sie erzeugte, zusammentreffend), aber nicht im Volke, nicht im Heimatsboden. Es endigt damit, dass in einem gegebenen Augenblicke weder die Jugend, noch die Gesellschaft das Volk kennen werden. Anstatt mit seinem Leben zu leben, gehen die jungen Leute, nichts im Volke kennend, sondern, im Gegenteil, seine Grundlagen tief verachtend, zum Beispiel den Glauben, in das Volk — nicht um es zu studieren, sondern um es zu lehren, von oben herab, mit Geringschätzung — ein rein aristokratischer Herrenstreich! „Junge Herrchen“, sagt das Volk und es hat recht. Seltsam: überall und immer sind die Demokraten fürs Volk gewesen; nur bei uns hat sich unser intelligenter russischer Demokratismus mit den Aristokraten gegen das Volk verbündet; sie gehen ins Volk, „um ihnen Gutes zu thun“, und verachten dabei seine Sitten und seine Grundlagen. Geringschätzung führt nicht zur Liebe!

Im vorigen Winter, in Kasan, beschimpft ein Haufen junger Leute den Tempel des Volkes, raucht darin Zigarretten, macht Skandal. „Höret, würde ich diesen Kasanern sagen (ja ich habe es auch einigen ins Gesicht gesagt), Ihr glaubt nicht an Gott, das ist Euere Sache; warum aber kränkt Ihr das Volk, indem Ihr seinen Tempel beschimpft? Und das Volk nannte sie noch einmal „Jungherrchen“ (Bartschenki) und, schlimmer als das, gab ihnen den Namen „Studenty“, obwohl viele Hebräer und Armenier darunter waren (die Demonstration war, wie es sich erwies, eine politische, von aussen hineingetragene). So hat, nach der That der Sassúlitsch, unser Volk abermals die Revolvermänner der Strasse „Studenten“ genannt. Das ist hässlich, wenn auch ohne Zweifel Studenten dabei waren. Hässlich ist es, dass das Volk sich schon merkt, dass Hass und Zwietracht begonnen haben. Nun, und jetzt nennt Ihr selbst, meine Herren, das Moskauer Volk „Fleischer“, sowie die ganze intelligente Presse sie nennt. Was heisst denn das? Warum gehören Fleischer nicht zum Volk? Das ist Volk, wirkliches Volk, auch Minin war ein Fleischer.[7] Die Entrüstung lodert nur über die Art auf, wie sich das Volk geäussert hat. Aber wisset, meine Herren, dass, wenn das Volk gekränkt wird, es sich immer so äussert. Es ist ungehobelt, es ist ein Bauer. Gerade hier lag die Lösung des Missverständnisses, allerdings eines alten, angehäuften Missverständnisses (was sie nicht merkten) zwischen dem Volke und der Gesellschaft, d. h. jenem Teile der Gesellschaft, der am hitzigsten und flinksten zu seiner Lösung ginge — der Jugend. Die Sache ging allzu hässlich und durchaus nicht so regelrecht, wie sie hätte ausgehen sollen; denn mit den Fäusten kann man nie und nirgends etwas beweisen. So aber war es immer und überall, in der ganzen Welt beim Volke. Das englische Volk setzt auf seinen meetings gar oft die Fäuste gegen seine Gegner in Aktion, und in der französischen Revolution brüllte das Volk vor Freude und tanzte vor der Guillotine, während sie thätig war. Das ist alles, das versteht sich, abscheulich. Allein das Faktum ist dieses, dass das Volk (das Volk und nicht nur die Fleischer; da giebt es kein Sichtrösten mit einem oder dem anderen Wörtchen) gegen die Jugend aufgestanden ist und sich die Studenten angemerkt hatte; andererseits aber ist das Elend das (und das ist bezeichnend), dass die Presse, die Gesellschaft und die Jugend sich dazu vereinigt haben, das Volk nicht zu erkennen (ne usnatj naroda): „das ist ja nicht Volk, das ist Pöbel!“

Meine Herren, wenn etwas in meinen Worten ist, das nicht mit Euch übereinstimmt, so werdet Ihr besser daran thun, nicht böse zu werden. Es giebt ohnedies des Kummers genug. In der verfaulten Gesellschaft ist Lüge nach allen Seiten. Allein kann sie sich nicht halten. Fest und mächtig ist nur das Volk; allein im Volk hat sich seit den letzten zwei Jahren eine Dissonanz mit uns (raslad) gezeigt. Unsere Sentimentalen haben, indem sie das Volk vom Zustande der Hörigkeit befreiten, mit Rührung daran gedacht, dass es nun auch sofort in ihre europäische Lüge eintreten werde, in die Aufklärung, wie sie es nannten. Aber das Volk hat sich selbständig gezeigt und, was die Hauptsache ist, es beginnt mit Bewusstsein die Lüge der oberen Schichten des russischen Lebens zu begreifen. Die Ereignisse der letzten zwei Jahre haben es erleuchtet und neu gestärkt. Aber es macht einen Unterschied nicht nur unter seinen Feinden, sondern auch unter seinen Freunden. Es kamen traurige, quälende Fakten, die herzliche, ehrliche Jugend ging, nach Wahrheit strebend, ins Volk, um seine Leiden zu erleichtern. Aber was geschieht? Das Volk treibt sie fort und anerkennt ihre redlichen Bemühungen nicht, weil diese Jugend das Volk nicht für das nimmt was es ist, seine Grundlagen hasst und geringschätzt und ihm Arzneien reicht, die in seinen Augen roh und sinnlos sind.

Bei uns hier in Petersburg geht es zu, der Teufel weiss wie. Unter der Jugend wird der Revolver gepredigt und herrscht die Überzeugung, dass die Obrigkeit sie fürchtet. Indem sie das Volk aber nach wie vor gering schätzen, halten sie es für gar nichts und merken nicht, dass dieses sie wenigstens nicht fürchtet und niemals den Kopf verlieren wird. Was dann, wenn weitere Zusammenstösse erfolgen? Wir leben in einer schweren Zeit, meine Herren!

Meine Herren! Ich habe Ihnen geschrieben, was ich konnte. Wenigstens antworte ich offen, wenn auch nicht vollständig auf Euere Frage: nach meiner Meinung sind nicht die Studenten schuldig; im Gegenteil, niemals ist unsere Jugend aufrichtiger und ehrlicher gewesen (was kein kleines Faktum, sondern ein wunderbares, grosses, ein historisches ist). Allein das Übel liegt darin, dass unsere Jugend die Lüge der ganzen zwei Jahrhunderte unserer Geschichte auf sich trägt. Es fehlt ihr folglich die Kraft, die Sache in ihrer Ganzheit zu untersuchen, und man kann ihr keine Schuld beimessen; um so weniger, wenn sie plötzlich selbst als parteiische (und schon beleidigte) Teilnehmerin der Sache aufgetaucht ist. Allein, wenn auch die Kraft fehlt, glücklich sei derjenige, glücklich diejenigen, denen es auch jetzt noch gelingt, den rechten Weg zu finden! Die Losreissung vom Milieu muss bei weitem stärker sein, als z. B. nach der socialistischen Lehre die Trennung der künftigen Gesellschaft von der heutigen. Stärker, denn um in das Volk zu gehen und mit ihm zu bleiben, dazu gehört vor allem, dass man verlerne es zu verachten, und das ist unserer oberen Gesellschaftsschicht bei ihren Beziehungen zum Volke fast unmöglich. Zweitens muss man zum Beispiel auch den Glauben an Gott gewinnen, und das ist nun schon endgiltig unserem Europäismus nicht möglich (obgleich man in Europa an Gott glaubt).

Ich grüsse Euch, meine Herren, und wenn Ihr es gestattet, so schüttele ich Euch die Hand. Wenn Ihr mir ein grosses Vergnügen machen wollt, so haltet mich um Gotteswillen nicht für irgend einen Lehrer oder Prediger von oben herab. Ihr habt mich herausgefordert, die Wahrheit nach meinem Herzen und Gewissen zu sagen: ich habe sie ausgesprochen, wie ich sie dachte, wie ich sie zu denken vermag. Es kann ja niemand mehr thun, als seine Kräfte und Fähigkeiten es erlauben.

Ganz der Ihre
Theodor Dostojewsky.

Der Gedanke an eine so lange Zeit der Zwangsarbeit muss für Dostojewsky anfangs etwas Furchtbares gehabt haben. Eine andere Stelle des oben zitierten ersten Briefes nach seiner Verurteilung, der leider in Verlust geraten ist und nur in einzelnen Abrissen im Jahre 1881 in einer Zeitschrift abgedruckt wurde, lautet: „Besser wär’s, 15 Jahre mit der Feder in der Hand in den Kasematten; der Kopf, welcher geschaffen hat, welcher ein höheres Leben der Kunst in sich getragen, welcher sich an die erhöhten Bedürfnisse des Geistes gewöhnt hatte, er ist mir jetzt schon von den Schultern geschlagen.“ Beim Abschied vom Bruder, wozu man ihnen eine halbe Stunde gestattet hatte, war er der Ruhigere von Beiden, wie ein Freund berichtet, und sagte zum Bruder: „Auch im Strafhaus sind nicht wilde Tiere, sondern Menschen, vielleicht bessere als ich, vielleicht würdigere als ich ... Ja, wir werden uns noch sehen, ich hoffe es, ich zweifle nicht daran ... Schreibt ihr mir nur und schickt mir Bücher, ich werde euch schon schreiben welche; man wird ja lesen können. (Dies war wohl eine fromme Lüge, um den Bruder zu trösten.) Wenn ich aber heraus komme, so fange ich zu schreiben an ... in diesen Monaten habe ich viel durchlebt, und was werde ich erst in der Zeit, die vor mir ist, sehen und durchleben! es wird genug Stoff zum schreiben geben“.

Über die Beschwerden des langwierigen Transports nach Sibirien bei vierziggradigem Frost, über erfrorene Hände und Füsse, einen bösen Ausschlag, welcher infolge der verpesteten Luft im Kasematten-Gefängnis auf des Dichters Gesicht und in seinem Munde herausgetreten war, über die Unmöglichkeit, auf diesem langen Leidenswege einen Schluck Thee zur Erwärmung zu beschaffen, über das Benehmen der Aufseher und Zugführer, die schmutzigen, finsteren, engen Räume, in denen sie mit allerlei schimpfenden und fluchenden Verbrechern auf den Etappen zusammengepfercht waren, davon erfahren wir nichts durch ihn selbst — erst viele Jahre später bezieht er sich auf diese Zeit in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“, und nur in seinem Buche „Memoiren aus einem Totenhause“ hat er diese Leidensgeschichte mit künstlerischer Vollendung, als die Erzählung einer dritten Person herausgearbeitet. Tolstoj nennt in einem Briefe dieses Buch „das beste, das bis nun in Russland geschrieben worden, Gogol nicht ausgenommen.“ Der Dichter wurde später in Russland oftmals aufgefordert, einige Kapitel aus diesem Buche in Gesellschaft vorzulesen. Er that es immer sehr ungern und lehnte es ab, wo es nur anging, weil es ihm peinlich war, dass man dies „als eine Anklage betrachten könnte“.

Von den oben erwähnten Mühsalen haben wir durch einen Leidensgenossen Kunde, J. L. Jastrzembski, welcher sehr eingehend über diese Erlebnisse berichtet hat. Er fügt das Bekenntnis hinzu, er habe schon in Petersburg gewisse Vorbereitungen getroffen, allen Qualen ein Ende zu machen, und sei fest entschlossen gewesen, dieses Vorhaben auszuführen. Die nähere Bekanntschaft mit Dostojewsky aber, sein sanftes Wesen, der stille, eindringliche Ton seiner Stimme habe so heilend auf ihn gewirkt, dass er seine selbstmörderischen Gedanken von da an für immer von sich gewiesen habe.

Eine Episode vom Etappenwege erwähnt Dostojewsky ausser in den „Memoiren aus einem Totenhause“ in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ aus dem Jahre 1873 eingehender, weil sie einen sehr nachhaltigen Einfluss auf ihn ausgeübt hat. Es heisst da: „Als wir in Tobolsk in Erwartung einer nachkommenden Partie im Festungshofe sassen, erbaten sich die Frauen der Dezembristen (der Teilnehmer an der 1825 von Netschajew geleiteten Verschwörung) beim Gefängnis-Direktor die Erlaubnis, in seiner Wohnung eine Zusammenkunft mit uns zu veranstalten. (Es waren dies, nach den Worten Jastrzembskis, die Frauen Murawiew, Annenkow mit ihrer Tochter und von Wisin, welche den Sträflingen auch ein ausgesuchtes Mittagessen mit Weinen vorsetzten.) Da sahen wir also diese grossen Dulderinnen, welche ihren Gatten freiwillig nach Sibirien gefolgt waren ... Selbst in gar keine Schuld verwickelt, haben sie in langen 25 Jahren alles ertragen, was ihre verurteilten Gatten hatten ertragen müssen. Unser Beisammensein dauerte eine Stunde. Sie segneten uns zu unserem weiteren Weg, machten das Zeichen des Kreuzes über uns und beschenkten jeden von uns mit einem Evangelium — dem einzigen Buche, welches im Gefängnis erlaubt war. Vier Jahre hat es unter meinem Kopfkissen im Strafhaus gelegen. Ich habe darin gelesen, manchmal auch anderen daraus vorgelesen. Ich habe auch einen Sträfling aus diesem Buche lesen gelehrt.“

Wenn wir uns ein genaues Bild von dem äusseren Leben des Dichters während der vier Jahre der Zwangsarbeit machen wollen, müssen wir uns eben an die detaillierten Schilderungen halten, welche in den „Memoiren aus einem Totenhause“ niedergelegt sind. Sie sind bis in alle Einzelheiten so drastisch, so klar und zwingend, dass wir sofort wissen: all dies ist wirklich erlebt; dabei sind sie so vollendet künstlerisch und objektiv, ja fast feindesliebevoll herausgearbeitet, dass wir sofort empfinden, das ist eigenartig, es ist echt Dostojewskysch erlebt. Hier drängt sich uns Deutschen unwillkürlich eine Parallele auf, die sich wie ein Einwand geberdet. Wir denken an Fritz Reuters Schilderungen seiner siebenjährigen Festungszeit, eine Schilderung, die sich zum Humor erhebt, und sind geneigt, ein solches Fertigwerden mit schweren persönlichen Erlebnissen künstlerisch, ja ethisch höher zu stellen. Bei tieferer Fassung des Problems stellt sich die Sache jedoch durchaus anders dar. Ganz abgesehen davon, dass Fritz Reuter nur mit Seinesgleichen eingeschlossen war, Stunden des Alleinseins und wieder solche des Gedankenaustausches mit Gleichgesinnten hatte, während Dostojewsky mit ungefähr 200 Verbrechern aller Kategorien vom Falschspieler und Falschmünzer angefangen bis zum achtfachen Mörder in ununterbrochener Gemeinschaft lebte und während seiner vierjährigen Haft auch nicht eine Stunde des Alleinseins haben konnte, liegt im inneren Erleben des ähnlichen äusseren Schicksals ein grosser Unterschied. Dostojewsky erlebte alles intensiv, ganz subjektiv, aber doch eigentlich gleichsam unpersönlich; für die Menschheit und zu ihrem Wohle. Er war sich selbst ein Gefäss für die grosse Wahrheit, die ihm das Leben offenbarte, ein Brunnen, der diese Wahrheit unaufhörlich hervorsprudeln musste. Da ihm aber nun, wie wir in seinen Aufzeichnungen sehen, gerade in dieser schwersten Lebenszeit die grosse Wahrheit, seine und „seines Volkes Wahrheit“ durch diese Verbrecherwelt aufgegangen war, sich erst da deutlich formuliert hatte, was als Ahnung von Anbeginn in ihm gelegen und sich in den „Armen Leuten“ ausgesprochen hatte, so handelte es sich für ihn gerade von da an um den heiligsten Ernst seines Apostolats, und wir sehen ihn gerade von da an seine humoristische Ader versiegen lassen, im Vollgefühl dessen, dass der Humor für die grössten Aufgaben und Probleme nicht ausreicht. Ganz charakteristisch ist es jedoch, wie sich diese reiche Ader jedesmal zu Tage drängt, wo der schweren Nötigung, seinen Hörern in Wort und Bild die Wahrheit aufzuzwingen, gleichsam Genüge geschehen ist, und sich der alte Schalk kichernd zwischen den schweren Falten der Wirklichkeit hervorwagt. Es ist eben die unbesiegbare Kraft und Macht seines künstlerischen Reichtums, der immer wieder hervorbricht.

Die Herausgeber der „Materialien“, namentlich O. Miller, schöpften bei der Schilderung dieses Lebensabschnittes des Dichters aus der einzig authentischen Quelle, die wir oben anführten: den „Memoiren aus einem Totenhause“. Sie schöpfen das Richtige heraus, mit Wärme, Bewunderung, Ehrlichkeit und — Geschick. Denn es ist wohl nicht leicht, heute als Russe ein erlaubtes Buch zu schreiben, das die krasse Barbarei russischer Zustände hervorhebt, das dem Dulder zugleich und dem Peiniger „gerecht“ wird. Es ist dies umso schwerer, als der Biograph, sowie er sich an die künstlerische Objektivität seines Gewährsmannes hält, welcher hier Dostojewsky heisst, sich leicht an dem Gepeinigten versündigt, in dessen Ton er nicht einfallen, dessen Objektivität er nicht zur seinen machen kann noch darf. O. Miller hat sich bei Beginn seiner Schilderung, wie schon gesagt, mit Geschick aus der Schwierigkeit gezogen, und wir fügen hier die Stelle ein, welche gleichsam als Passepartout für alles Gräuliche und Qualvolle gelten kann, dem er in derselben doch Eingang verschaffen will. Er erzählt, Dostojewsky habe auf eine Anfrage vom Auslande eine biographische Skizze diktiert, wo es unter anderem heisst: „Die „Memoiren aus einem Totenhause“ sind von ganz Russland gelesen worden und werden bis auf den heutigen Tag sehr hoch geschätzt, obwohl die Gepflogenheiten und Sitten, welche in diesen Memoiren beschrieben wurden, in Russland schon lange abgeändert sind.“ „Theodor Michailowitsch“ — fährt O. Miller fort — „fand es für nötig, im Auslande auf diese Veränderungen hinzuweisen und sie hier mit allen jenen mannigfaltigen Änderungen in Verbindung zu bringen, die wir dem Kaiser Alexander Nikolajewitsch verdanken. Schon allein die Drucklegung der „Memoiren aus einem Totenhause“ wäre vor der Regierung Alexanders II. undenkbar gewesen. Eine mit vernichtendem Realismus ausgeführte Beschreibung eines eben erst unter den Stockstreichen hervorgekommenen Menschenrückens, wie ihn Dostojewsky im Festungshospital gesehen, konnte man nur unter einem Kaiser wagen, welcher die Stockschläge abgeschafft hatte.“ Nach diesem Eingange, welcher für uns die Konjektur offen lässt, wie weit die Gepflogenheiten einer willkürlichen Bureaukraten-Verwaltung und die Handhabung auch des mildesten Gesetzes durch rohe Subalterne heute noch diesem thatsächlich entspricht,[8] ist es dem Biographen möglich geworden, die furchtbaren Episoden dieses Gefängnislebens aus den Schilderungen der Memoiren herauszuheben und dadurch die Wunden schärfer, brennender zu zeigen, die sie dem Dichter schlugen, als dieser selbst es je gethan hätte.

Wir können auch hier den Aufzeichnungen O. Millers folgen, der zumeist des Dichters eigene Worte anführt.

„Ich erinnere mich deutlich daran — sagt Dostojewsky — dass mir vom ersten Schritte in diesem Leben das auffiel, dass ich darin gleichsam nichts Auffallendes, nichts Aussergewöhnliches, oder besser gesagt, nichts Unerwartetes finden konnte .... es schien mir, als sei es viel leichter im Gefängnis zu leben, als ich mir dies auf dem Wege dahin vorgestellt hatte. Selbst die Arbeit erschien mir nicht so schwer, nicht so zwangsarbeitsmässig, und erst ziemlich viel später kam ich darauf, dass die Schwere und Zwangsarbeitsmässigkeit dieser Arbeit nicht so sehr in ihrer Mühsal und Ununterbrochenheit liege, als darin, dass sie eine gezwungene, aufgenötigte, vom Stock dirigierte Arbeit war.“

„Zur zweiten Kategorie von Strafarbeitern, in welcher sich Dostojewsky befand, gehörten Arrestanten“ — fährt O. Miller fort —, „welche unter kriegsrechtlicher Aufsicht standen, und diese Kategorie war, nach seinen eigenen Worten, unvergleichlich schwerer und strenger gehalten, als die anderen zwei Arbeits-Abteilungen, nämlich die dritte, die beim Bau, und die erste, die in den Bergwerken arbeiteten. Diese Arbeit war nicht nur für die Edelleute schwer, sondern für alle Arrestanten, besonders darum, weil Kommando und Organisation ganz militärisch und denjenigen der Arrestanten-Rotten in Russland sehr ähnlich waren ... immer in Ketten, immer unter Bedeckung, immer unter Schloss und Riegel. In den zwei anderen Abteilungen aber war das nicht in solchem Masse durchgeführt ... die ersten drei Tage stellte man die Neuangekommenen noch nicht an die Arbeit; später aber hatten sie viel unter dem Vorwurf zu leiden — und das nicht von der Obrigkeit, sondern von den Gefährten, dass sie diesen nicht ordentlich zu helfen vermochten, da sie nicht so viel Kraft besassen als sie.“ „Was mich anbelangt, erwähnt Theodor Michailowitsch, so habe ich einen besonderen Umstand bemerkt: wo immer ich auch zugriff, um ihnen bei der Arbeit zu helfen, überall war ich ihnen im Wege, überall störte ich sie, überall jagten sie mich mit Thätlichkeiten davon.“ Nichtsdestoweniger fühlte er, dass die Arbeit ihn retten, seine Gesundheit, seinen Körper stärken könne. Die Hauptarbeit, zu welcher Dostojewsky verwendet wurde, war das Brennen und Stossen des Alabasters, was ihm eigentlich leicht erschien. „Eine andere Arbeit, zu der man mich beorderte,“ sagt er weiter, „war in der Werkstätte das Drehen des Schleifsteines; das war schon eine schwerere Sache, aber sie verschaffte eine vortreffliche Motion.“ Eine Arbeit, die er besonders zu verrichten liebte, war das Schneeschaufeln, wie denn überhaupt die Winterbeschäftigungen leichter waren als jene, die man im Sommer vornahm. Im Sommer musste man durch ungefähr zwei Monate täglich von dem Ufer des Irtisch bis zu dem etwa siebzig Klafter davon entfernten Bau einer neuen Kaserne über den Festungswall hinüber Ziegel tragen. „Diese Arbeit,“ sagt Dostojewsky, „gefiel mir sogar, obwohl der Strick, an dem man die Ziegel tragen musste, mir immer die Schultern wund rieb. Aber mir gefiel das, dass sich meine Kraft in der Arbeit augenscheinlich entwickelte.“ Anfangs war er nur imstande, acht Ziegel zu zwölf Pfund ein jeder, zu tragen, später aber brachte er es zu zwölf und fünfzehn. „Physische Kraft“, fährt er fort, „ist im Gefängnis nicht weniger nötig, als moralische, um alle materiellen Beschwerden dieses verfluchten Lebens zu ertragen.“

Die Kost, meint Dostojewsky, war erträglich, das Brot sogar in der Stadt geschätzt; dafür war die Kohlsuppe sehr dünn und wimmelte von Küchenschaben. Wer ein paar Groschen eigenes Geld haben und es vor Diebereien der Mitgefangenen oder der Konfiskation durch die Aufseher schützen konnte, war in der Lage, sich seine Kost durch kleine Beigaben von Thee usw. aufzubessern.

Wenn die unmittelbar Vorgesetzten den Edelleuten unter den Sträflingen, da sie von Haus aus von zarter Konstitution und verwöhnter waren, gewisse Erleichterungen verschaffen wollten, sie zum Beispiel als Schreiber in die Kanzleien kommandierten, so gab es so viele Kabalen, Intriguen und Angebereien ringsherum, dass eine solche Besserung ihres Loses niemals länger als Tage anhielt.

Das ganze erste Jahr seines Eingeschlossenseins war nach den Worten des Dichters das furchtbarste Jahr seines Lebens. Jene Wandlung, welche sich in ihm der Anlage seines Wesens nach einheitlich vollziehen sollte, nämlich das völlige Aufgehen in der Volksseele, ging nicht ohne bittere Schmerzen, Enttäuschungen und Demütigungen gerade von Seiten jener vor sich, die er ans Herz drücken wollte. Die gemeinen Verbrecher rechneten ihn, den Edelmann, wie sehr er sich auch zu ihnen gesellte, wie sehr er aller Lasten dieses „verfluchten Lebens“ mit ihnen gleich teilhaftig war, nicht zu den ihrigen, sie begegneten ihm mit Widerwillen, Misstrauen. Als er mit einigen anderen „Politischen“ sich ihnen einmal anlässlich einer allgemeinen Pretensija, das heisst Generalklage, wegen der schlechten Kost anschloss, so sagte einer von ihnen, der ihm etwas geneigter war: „ja warum schliesst Ihr Euch denn der Klage an? Ihr esst ja doch vom Eigenen?“ — „Ach mein Gott! auch unter Euch giebt es ja solche, die vom Eigenen essen und haben sich doch angeschlossen — nun und da mussten wir doch auch — aus Kameradschaft.“

„Ja, was seid Ihr denn für Kameraden?“ fragte er erstaunt.

„Ich dachte“, fährt der Dichter fort, „ob nicht irgend eine Ironie, ein Zorn, ein Spott in diesen Worten liege — aber nein, einfach: keine Kameradschaft, weiter nichts.“

Dass aber Dostojewsky diese Kameradschaft mit gemeinen Verbrechern angestrebt hat, kann uns nicht wundernehmen, wenn wir seine sich immer vertiefende Überzeugung von der Generalschuld der Menschheit bedenken, an der er seinen eigenen Anteil immer klarer empfand, jenes echt russische, doch ihm allein in so hohem Masse eigene Schuldgefühl, das jedoch mit der greisenhaften Askese Tolstojs ebensowenig gemein hat, als mit einem jener Zustände, die sich beim Katholiken dem Schuldgefühl anschliessen: entweder fanatische Härte gegen sich und andere, oder die schwelgerische Zerknirschung, welche sich mit dem Bekenntnis loskauft, um aufs neue in Schuld und Schuldgefühl zu schwelgen. Dostojewskys „Schuld an allem und an allen“, wie er sich ausdrückt, ruft zum Leben, zur Liebe und zur That auf — das ist die grosse Trennungslinie zwischen seinem, dem russischen, Christentum und jenem aller anderen Völker, die auf diesen Namen hören. Er musste es also schwer empfinden, wenn die „Unglücklichen“, wie er seine Brüder nennt, seine Kameradschaft nicht anerkennen wollten. Auch fand er anfangs Hindernisse in sich selbst. „Ich schloss die Augen,“ sagt er, „und wollte nicht schauen; unter den bösen und gehässigen Gefährten des Strafhauses bemerkte ich die guten nicht, die, welche fähig waren zu denken und zu fühlen, ungeachtet der höchst widerwärtigen Rinde, die sie von aussen bedeckte. Unter den bissigen Worten bemerkte ich manchmal gar nicht das freundliche, entgegenkommende Wort, das um so kostbarer war, als es ja ohne jegliche Absichten ausgesprochen, manchmal direkt aus einer Seele kam, welche vielleicht mehr gelitten und ertragen hatte, als ich.“

Später erst, je tiefer er sich in sich selbst versenkt hatte, gewahrte er immer mehr die anderen. „Du meinst,“ sagt er an anderer Stelle, „das sei ein Tier und kein Mensch ... plötzlich aber kommt zufällig eine Minute, da sich seine Seele unwillkürlich, durch etwas hingerissen, nach aussen offenbart, und du erblickst einen solchen Reichtum, ein solches Gefühl, ein Herz, ein so klares Begreifen eigener und fremder Leiden, dass dir förmlich die Augen aufgehen und du im ersten Augenblicke sogar deinen Augen und Ohren nicht traust.“ In seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ des Jahrgangs 1873 bespricht er immer noch diese Epoche seiner Wiedergeburt, seiner „Umwandlung“, wie er es nennt, seines Fortschreitens in der in ihm von Anbeginn gezeichneten Richtung, wie wir es nennen müssen. Für ihn wurzelt diese Umwandlung im unmittelbaren Kontakt mit dem Volke, in der brüderlichen Vereinigung mit ihm, im Gleichwerden mit ihm, ja mit seiner niedersten Stufe. „Dies vollzog sich nicht so schnell,“ sagte er, „sondern allmählich und nach einer sehr langen Zeit. Es wäre mir sehr schwer, die Geschichte meiner Wiedergeburt zu erzählen.“ — Doch hat er sie uns ja ausführlich in seinen „Memoiren aus einem Totenhause“ erzählt.

Sehr bezeichnend für sein rein demokratisches Verhalten ist auch ein Ausspruch aus seinen letzten Lebensjahren, den wir in seinem Notizbuche finden. Es heisst da: „Liebet das Volk, aber nicht indem ihr es zu euch erhebt, sondern indem ihr selbst zu ihm hinabsteigt.“

Dass Dostojewsky nicht nur theoretisch diese Lehre verfocht, sondern sie in jedem Detail gelebt hat, beweisen tausend kleine Episoden aus seinem Gefangenenleben — so die seltsame Freude, von einem vorübergehenden Mädchen die milde Gabe von einer Kopeke zugesteckt zu bekommen, die durchgekostete Erniedrigung, wenn die Sträflinge, wie immer, in Ketten geschmiedet und geschoren zur Messe geführt wurden und nur gedrängt vor der Kirchenthüre bleiben durften, wo sie vor der übrigen Gemeinde als Gebrandmarkte dastanden, gefürchtet, gemieden, als die allerniedersten Geschöpfe bemitleidet, wie er es wohl in der Kinderzeit mit den Leibeigenen gehalten hatte, die sich auf dem väterlichen Gütchen vor die Kirchenthüre drängten, während er als „Herrschaft“ im Betstuhle sass. Die Qualen rein physischer Natur, die er selbst ertragen oder andere ertragen sehen musste, namentlich solche, die sich mit Ekel verbanden, waren wohl schwerer hinzunehmen: das Schlafen auf den harten Pritschen, oft zu hundert in die dumpfigen Säle gedrängt, wo die Luft durch die hier angebrachten Nachtstühle verpestet war; das gräuliche Dampfbad, in das sie auf Kommando gepfercht wurden und worin sie in erstickendem Qualm und ohne sich eigentlich bewegen zu können, sich kunstvoll ihrer Wäsche entledigen mussten, natürlich auch ohne die an die Beine geschmiedeten Ketten zu lösen. Diese Prozedur erinnert lebhaft an die sogenannten Geduldspiele, wo man eine Stahlschlinge aus einer Stahlkette herausbringen soll, ohne den dadurch gebildeten Ring zu zerstören. Wollten die Sträflinge nach Monaten solcher Qualen ein wenig aufatmen, so nahmen sie ihre Zuflucht zur Krankenmeldung, weil sie im Hospital doch gewisse Erleichterungen, etwas mehr physische Ruhe und einen gewissen Scenenwechsel hatten. Hier aber erwartete sie der furchtbare Schlafrock. Sie mussten nämlich das durch Krankheit, Alter und alle Unreinlichkeiten früherer Häftlinge besudelte und übelriechende, nie gereinigte Krankengewand anlegen. Sie wussten das sehr wohl und meldeten sich dennoch dazu. Aber noch Schwereres mussten sie im Spital ertragen: den Anblick der halbtot Hineingeschleppten, welche eben die schweren Körperstrafen hatten erdulden müssen, 50 — 100 — 150 Stockschläge, unter denen sie mit zerbrochenen Gliedern und zerfetztem Fleische zusammengesunken waren. Der grausame Platz-Major, welcher zu jener Zeit im Strafhaus amtierte und bei jeder Gelegenheit wutbebend kreischte: „Ich bin euer Kaiser, ich bin euer Gott,“ er verhängte die schwersten Körperstrafen für den leisesten Widerspruch. So liess er einem der Edelleute 100 Rutenstreiche geben, weil dieser gesagt hatte: „Wir sind keine Vagabunden, sondern politische Gefangene.“ „Hun — dert — Strei — che, gleich diesen Augenblick!“ schrie in wahnsinniger Wut der „Gott“ des Strafhauses. Der „alte Mann“ (er war über fünfzig Jahre alt) legte sich ohne Widerrede unter die Rutenstreiche, biss sich die Zähne in die Hand und ertrug die Strafe, ohne einen Laut von sich zu geben oder sich zu rühren. Das imponierte den gemeinen Sträflingen überaus und sie begannen von da ab, ihn hochzuschätzen, obwohl er ein Edelmann und noch dazu ein Pole war. Auch das gefiel ihnen, dass er sofort nach der Rutenstrafe zum Gebet ging.

Dessenungeachtet hebt Dostojewsky ganz besonders hervor, dass die Wirtschaft dieses Platz-Majors ein vereinzelter Fall gewesen sei; „man kann ja auch an einen schlechten Menschen kommen,“ meint er. „Die anderen, höheren Vorgesetzten benahmen sich meist human; erstens,“ erläutert er, „sind sie selbst Edelleute, zweitens war es schon früher manchmal vorgekommen, dass einige von den Edelleuten unter den Sträflingen sich nicht unter die Rutenhiebe legten, sondern sich auf die Vollstrecker warfen, worauf dann entsetzliche Dinge entstanden.“

Dass ein solches Leben, die selbstgetragenen Beschwerden und das Beiwohnen solch unmenschlicher Züchtigungen Dostojewskys Gesundheit, die schon vorher nicht sehr stark gewesen war, untergraben musste, ist ganz klar, auch ohne die Annahme, dass er selbst körperliche Züchtigungen hätte müssen über sich ergehen lassen. Diese Annahme wurde von vielen ausgesprochen, und die Entwickelung seines schweren Nervenleidens, der Epilepsie, davon hergeleitet. Indessen erklären seine Freunde und Bekannten aus jener Zeit, dass er niemals einer körperlichen Züchtigung unterworfen worden sei, und finden im Zusehen und inneren Erleben einen ganz genügenden Grund für die Steigerung seiner psychisch-physischen Krankheit, welche er selbst übrigens lange nicht als das hatte erkennen wollen, was sie war.

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