IV. Semipalatinsk. (1854-59.)

Das letzte Jahr seiner vierjährigen Haft verlebte er in fieberhafter Aufregung. Er hatte schon einige Erleichterungen erlangt, durfte Bücher lesen, an seine Angehörigen schreiben usw. Dennoch konnte er im Sommer den Herbst, im Herbst den Winter kaum erwarten. Da er nämlich zur Winterzeit angekommen war, so konnte seine Freilassung auch nur zur selben Jahreszeit stattfinden. „Mit welcher Ungeduld,“ sagt er, „erwartete ich den Winter, mit welcher Wonne sah ich zu Ende des Sommers, wie das Blatt auf dem Baume verwelkt und das Gras der Steppe verbleicht!“ Die allerletzte Zeit aber war wieder eine sehr ruhige für ihn; je näher der Tag der Befreiung herankam, um so geduldiger wurde er. Die letzten Stunden seines Aufenthaltes in der Strafkaserne brachte er damit zu, noch einmal um das Gebäude herumzugehen und die Pfähle des Pallisadenzauns zu zählen, wie er in den ersten Tagen seiner Gefangenschaft an diesen Pfählen die Tage seiner Haft abgezählt hatte. Der Abschied von den Genossen war ein sehr verschiedenartiger. Die einen drückten ihm herzlich die Hand, einige sogar freundschaftlich und gerührt, aber doch wie einem „Herrn“, manche wendeten sich ab, um einem Abschied auszuweichen, andere wieder blickten ihm gehässig nach; auf dem Antlitz aller aber lag unverhohlen der Gedanke ausgedrückt — „von morgen an bist du nie unter uns gewesen.“

Orest Miller setzt in seinen „Materialien“ die Enthaftung Dostojewskys auf den 2. März 1854. Indessen geht aus den Dokumenten, welche uns in den Archiven der III. Abteilung bereitwilligst vorgelegt wurden, hervor, dass Durow und Dostojewsky laut Verordnung des General-Adjutanten Grafen Orloff an das Kriegsministerium vom 17. November 1853 (No. 1920) „am Tage ihrer Enthaftung, dem 23. Januar 1854, in die Truppen des sibirischen Corps eingeteilt werden sollen.“

Auch in Bezug auf die ersten Briefe des Dichters an seine Angehörigen sind die „Materialien“ noch nicht genügend informiert. Seit der Abfassung derselben, 1883, also zwei Jahre nach des Dichters Tode, haben sich mehrere Briefe teils in den Händen der Familie vorgefunden, welche auch schon teilweise in verschiedenen Blättern durch die Witwe veröffentlicht worden sind; so ein Brief vom 22. Februar und, da dieser unbeantwortet blieb, ein zweiter vom 27. März. (Michael hatte ihm, nach Aussage der Witwe, während der ganzen Strafzeit nicht geschrieben, sowie sich die ganze Familie, wohl aus Furcht „sich zu kompromittieren“, die ersten Jahre seiner Strafzeit wenig um ihn kümmerte.) Ferner haben wir, gleichfalls in den Archiven der III. Abteilung die Belege dafür gefunden, dass vom 16. März 1854 bis zum 11. September 1856 neunzehn Briefe Theodor Michailowitschs an seinen Bruder, seine Angehörigen und andere Personen durch das Corps-Kommando in Sibirien an den nunmehrigen Chef der kaiserlichen Kanzlei, Generallieutenant Dubelt, zur Beförderung an ihre Adresse übermittelt worden sind. Ob die Witwe des Dichters, welcher diese Daten mit uns zur Verfügung gestellt wurden, in ihrer unermüdlichen Arbeit, ihres Gatten Briefe und Manuskripte zu sammeln, in diesem Falle durch Erfolg belohnt werden wird, das wird die Zeit lehren. Der erste Brief nach der Enthaftung und Einreihung Dostojewskys (in das 7. Linien-Infanterie-Bataillon des sibirischen Corps), den wir kennen, ist vom 27. März 1854 an den Bruder datiert. Wir entnehmen ihm folgende Stellen:

„Ich eile Dir mitzuteilen, mein teurer Freund, dass ich Deinen Brief samt der Einlage von 50 Rubeln in Silber erhalten habe, wofür ich Dir herzlich danke. Ich wollte Dir auch gleich antworten, habe aber die Post versäumt. Verzeihe und strafe mich nicht dafür. Ich hoffe, mein Teurer, dass Du mir jetzt öfter schreiben wirst. Wisse, dass Deine Briefe mir ein wahrer Feiertag sind; darum: sei nicht faul! Wir haben einander ja so lange nichts geschrieben! Hast Du mir denn nicht schreiben können? Das ist für mich sehr seltsam und bitter. Vielleicht hast Du nicht selbst um die Erlaubnis gebeten; Briefe sind aber erlaubt, ich weiss das sicher. Übrigens wirst Du jetzt nicht meiner vergessen, nicht wahr?“ Nach einer warmen Nachfrage um die Angehörigen und ihre Kinder, deren er jedes beim Namen nennt, spricht er seine Freude darüber aus, dass der Bruder einen Erwerbszweig gefunden habe, der ihn beschäftigt. Michael Dostojewsky hatte nämlich kurz vorher eine Zigarretten-Fabrik errichtet, wovon Theodor durch die Annoncen Nachricht erhalten hatte. „Du hast Familie, ein Auskommen ist Dir unumgänglich nötig, verdiene es Dir, verstärke Deine Thätigkeit, wenn Du kannst. Mit einem Wort, lass nicht fallen, was Du begonnen hast.“

„Du gratulierst mir zu meinem Austritt aus dem Strafhause und es bekümmert Dich, dass ich im Hinblick auf meine schlechte Gesundheit nicht um die Einreihung in die eigentliche Armee ansuchen kann. Meine Gesundheit würde ich indessen nicht beachten, darin liegt es nicht. Aber habe ich denn ein Recht anzusuchen? Die Versetzung in die Armee ist eine Allerhöchste Gnade und hängt vom Willen des Kaisers selbst ab. Darum kann ich nicht selbst darum bitten. Wenn das nur von mir abhinge! Vorläufig lerne ich den Dienst, gehe zum Unterricht und rufe mir das Alte zurück. Meine Gesundheit ist ziemlich gut und hat sich in diesen zwei Monaten sehr gebessert; da sieht man, was es heisst, aus der Enge, der Stickluft und der schweren Unfreiheit herauskommen; das Klima ist ziemlich gesund. Hier beginnt schon die kirgisische Steppe. Die Stadt ist ziemlich gross und bevölkert, Asiaten giebt es eine Menge. Rings die offene Steppe. Der Sommer ist lang und heiss, der Winter ist kürzer als in Tobolsk und Omsk, aber streng. Von Vegetation keine Spur, kein Bäumchen — die nackte Steppe. Einige Werst von der Stadt entfernt ist ein Fichtenwäldchen, eins auf viele Dutzend, ja hunderte von Werst. Da ist immer nur Tanne, Fichte oder Silberweide, andere Bäume giebt es da nicht. — Wild die Menge. Es giebt einen ordentlichen Markt, aber die europäischen Waren sind so teuer, dass man nicht an sie heran kann. Einmal werde ich Dir detaillierter über Semipalatinsk schreiben; es lohnt die Mühe. Jetzt aber will ich Dich um Bücher bitten, schicke mir welche, Bruder — keine Zeitungen; aber schicke mir europäische Historiker, Ökonomisten, Kirchenväter, womöglich alle alten (Herodot, Thukydides, Tacitus, Plinius, Flavius, Plutarch und Diodor usw.; sie sind alle ins Französische übersetzt). Endlich den Koran und ein deutsches Lexikon. Natürlich nicht alles auf einmal, sondern was Du eben kannst. Schicke mir auch Pissarews Physik und irgend eine Physiologie (sei’s auch eine französische, wenn sie russisch zu teuer ist). Suche die billigsten und gedrängtesten Ausgaben aus. Nicht alles auf einmal, langsam nach einander. Auch für weniges werde ich Dir dankbar sein. Begreife, wie nötig mir diese geistige Nahrung ist! Übrigens brauche ich Dir ja nichts zu sagen. Lebe wohl, mein Teurer! Schreibe öfter. Um Gottes willen vergiss nicht

Deinen Th. Dostojewsky.“

Diese Briefe aus Sibirien, welche in dem Zeitraume von 1854-1859 geschrieben wurden, deren Mehrzahl, wie wir sahen, durch das Corps-Kommando und die Generaladjutantur ihren Weg an die Adressaten nahmen, geben uns dennoch einige Auskunft über des Dichters Stimmung, über sein gegenwärtiges Leben und seine Zukunftspläne. Der nächste Brief an den Bruder ist vom 30. Juli 1854 datiert. Er entschuldigt sich über sein langes Schweigen in folgender Weise: „Ich versichere Dir, mein Teurer, dass ich bis auf diesen Augenblick fast gar keine Zeit zum Schreiben hatte; und schliesslich, wenn es auch einige freiere Minuten gab, so verschob ich das Schreiben absichtlich auf eine günstigere Zeit, immer hoffend, dass diese bald kommen werde, denn ich wollte Dir nicht in Abrissen und in Eile schreiben. Du weisst natürlich oder kannst es ja erraten, womit ich jetzt beschäftigt bin. Exerzieren, Musterungen der Brigade- und Divisions-Kommandanten und Vorbereitungen dazu. Ich bin im März hierher gekommen (nach Semipalatinsk). Vom Liniendienst hatte ich so gut wie gar nichts gewusst, bin aber doch im Juli bei der Musterung in Reih und Glied gestanden und habe meine Sache nicht schlimmer gemacht als die anderen.“

Weiter schreibt er: „Wie fremd Dir auch all dieses sein möge, so denke ich doch, Du wirst begreifen, dass das Soldatenleben kein Spass ist, dass es mit all seinen Verpflichtungen kein leichtes ist, für einen Menschen mit meiner Gesundheit und einen, der alles dessen so entwöhnt ist .... Ich murre nicht, dies ist mein Kreuz und ich habe es verdient“. Im weiteren Verlauf des Briefes spricht er liebevoll von den Schwestern (beide hatten sich inzwischen vermählt), beschwört den Bruder, doch nicht auf Antwort zu warten, damit es nicht immer drei Monate dauere, ehe einer vom anderen Nachricht habe. „Jetzt kennst Du ja meine Beschäftigungen“, führt er fort, „andere Erlebnisse hat es nicht gegeben, als dienstliche äussere Lebensumwälzungen, besondere Vorfälle ebenfalls nicht. Die Seele aber, das Herz, den Geist — was gewachsen, was herangereift ist, was mit allem Unkraut hinausgeworfen worden, das kann man nicht auf einem Stückchen Papier sagen und wiedergeben“ .... Weiter berührt er seine Krankheit, über welche er, wie oben gesagt worden, noch immer nicht im klaren ist, und fährt fort: „Übrigens sei so freundlich und denke nicht, dass ich etwa so melancholisch und voller Bedenken bin, wie ich es in den letzten Jahren in Petersburg gewesen bin. Dies alles ist vollkommen vergangen, wie weggeblasen. Im übrigen ist alles von Gott und in Gottes Hand.“ Zum Schluss meint er, der Bruder, der ihn gefragt hatte, ob er Geld brauche, sei seine einzige Rettung, er solle aber nur dann schicken, wann er etwas habe; er beschwört ihn, bald zu schreiben, obwohl es traurig genug sei, nur brieflich mit einander zu leben, wenn man einander fünf Jahre nicht gesehen habe.

Der zweite der, von der Witwe des Dichters im März 1898 dem Redakteur der Monatsschrift „Niva“, Herrn R. J. Sementkowsky, zur Veröffentlichung übergebenen drei Briefe Dostojewskys, welche im Aprilhefte desselben Jahres erschienen sind, ist vom 21. August 1855 datiert. Auch in diesem spricht sich das furchtbare Heimweh und Gefühl der Vereinsamung aus, das uns in den vorhergehenden Briefen entgegentritt.

„Mein teurer Freund, mein lieber Bruder Mischa!“ — heisst es darin — „da ist nun schon eine sehr lange Zeit vergangen, und es ist auch nicht ein Zeilchen von Dir da, und ich beginne, nach meiner Gewohnheit, mich zu beunruhigen und zu härmen. Es wird offenbar so werden, wie im vorigen Sommer. Mein Lieber, wenn Du nur wüsstest, in welcher bitteren Einsamkeit ich mich hier befinde, so würdest Du mich wahrlich nicht so lange schmachten lassen und würdest nicht so lange verziehen, mir wenigstens einige Zeilen zu schreiben. Weisst Du was? Mir kommt manchmal ein schwerer Gedanke. Mir scheint, die Zeit nimmt sich nach und nach das ihre; eine alte Anhänglichkeit ermattet und frühere Eindrücke verblassen und verwischen sich. Es scheint mir, dass Du anfängst, mich zu vergessen. Wie könnte man anders so lange Pausen zwischen Deinen Briefen erklären? Auf mich sei nicht böse, wenn ich selbst Dir manchmal lange Zeit nicht schreibe. Aber erstens schreibe ich immer öfter, zweitens aber schwöre ich Dir, dass manchmal sehr schwere Arbeiten zu leisten sind; da ermüde ich und — versäume die Post, welche hier nur einmal wöchentlich abgeht. Bei Dir ist’s etwas anderes. Wenn auch zum Beispiel thatsächlich nichts zu schreiben wäre, so schreibe wenigstens was immer, seien’s auch zwei Zeilen. Mir käme dann nicht der Gedanke, dass Du mich verlässest. Lieber Freund, als ich im Oktober des vorigen Jahres[9] ähnliche Klagen an Dich schrieb, da antwortetest Du, es sei Dir sehr peinlich, sehr schwer gewesen, sie zu lesen. Mein teurer Mischa! sei mir um Gottes willen nicht böse, bedenke, dass ich einsam bin, wie ein dahingeworfener Stein, — dass mein Charakter immer schwermütig, krankhaft, empfindlich war. Bedenke das alles und verzeihe mir, wenn meine Klagen ungerecht, meine Voraussetzungen dumm waren; ich bin ja selbst überzeugt, dass ich unrecht habe. Allein Du weisst: auch ein Zweifel von der Grösse eines Mohnkörnchens ist schwer zu ertragen, und ich habe ja niemand, der mich eines besseren belehren könnte, als Dich selbst.“

Nach eindringlichen Fragen nach des Bruders materiellen Zuständen, nach der Familie, spricht er die Sorge aus, ob denn der Erfolg des kaufmännischen Unternehmens Michaels durch genügenden Unterhalt der Familie das Opfer aufwiege, das dieser gebracht habe, indem er sich von der Litteratur, dem Staatsdienste und allen Beschäftigungen lossagte, die seinem Charakter angemessener waren. „Was soll ich Dir über mein Leben sagen?“ heisst es weiter. „Bei mir ist alles im alten, alles im gleichen und es hat sich seit meinem letzten Briefe fast nichts verändert. Ich lebe ganz still. Im Sommer ist der Dienst schwerer, sind Musterungen. Mit meiner Gesundheit kann ich mich nicht brüsten, lieber Freund; sie ist nicht ganz gut. Je älter man wird, um so schlimmer wird es. Wenn Du aber meinst, dass noch so viel reizbare Empfindlichkeit, so viel Einbildung aller Krankheiten in mir steckt, wie in Petersburg, so rede Dir das gefälligst aus; auch nicht eine Mahnung davon ist vorhanden, wie von vielem anderen, Gewesenen.“ Der Brief schliesst mit hundert Fragen nach Verwandten und Grüssen an sie und verstärkt unseren Eindruck davon, dass Theodor Michailowitsch, ganz abgesehen von seinem durch die Einsamkeit gesteigerten Gefühl für die Familie, vor allem seinem Bruder Michael unendlich mehr Wärme entgegenbringt, als ihm erwidert wird. Michaels ganzes Verhalten gegen ihn während der Jahre der Haft und der Abwesenheit, der Umstand, dass er, als die Geschäfte der Fabrik schlecht gingen, sofort wieder zur Litteratur griff, da der Bruder zurückkam und mit ihm und für ihn arbeitete, das alles bestärkt uns mindestens in der Annahme, dass Theodor nicht der Empfangende von beiden sein mochte, eine Annahme, die vom weiteren Lauf der Ereignisse nur bestätigt wird.

In diesem Jahre, 1855, traten neue Personen in des Dichters Leben ein, Personen, welchen es bestimmt war, ihm sehr nahe zu stehen. Dies sind erstens ein Baron Alexander Jegorowitsch Wrangel, mit dem ihn eine enge Freundschaft verbindet, was zu einem langjährigen, wenn auch oft stockenden Briefwechsel führte. Die zweite dieser Personen ist Marja Dmitrjewna Issajew, die in Sibirien lebende Witwe eines dort an Lungentuberkulose verstorbenen Beamten.

Über Wrangel spricht sich der Dichter in einem an Apollon Maikow gerichteten Briefe vom 18. Januar 1856 folgendermassen aus: „Diesen Brief wird Ihnen Alexander Gregorowitsch Wrangel übergeben, ein sehr junger Mensch (Wrangel musste damals 23 Jahre alt sein), mit vortrefflichen Eigenschaften der Seele und des Herzens, der direkt aus dem Lyceum nach Sibirien gekommen ist, mit dem edeln Vorsatze, das Land kennen zu lernen, nützlich zu sein usw. Er hat in Semipalatinsk gedient, wir haben einander getroffen und ich habe ihn sehr lieb gewonnen. Da ich Sie ganz besonders bitten werde, ihm Ihre Aufmerksamkeit zu schenken und womöglich näher mit ihm bekannt zu werden, so will ich Ihnen zwei Worte über seinen Charakter sagen: Ausserordentlich viel Güte, ein sanftes Herz, obwohl sein Äusseres einen gewissen Anschein von Unnahbarkeit trägt. Ich wünschte sehr, um seines Vorteils willen, dass Sie näher mit ihm bekannt würden. Der halb oder dreiviertel aristokratische, freiherrliche Kreis, in welchem er aufgewachsen ist, gefällt mir nicht ganz, ja ihm selbst auch nicht, denn er besitzt vortreffliche Eigenschaften, und doch ist vieles an ihm ersichtlich, was von alten Einflüssen zeugt. Wirken Sie auf ihn, wenn es möglich ist, er ist es wert. Er hat mir sehr viel Gutes gethan, allein ich liebe ihn nicht nur für das erwiesene Gute. Schliesslich noch eins: Er ist etwas argwöhnisch, sehr eindrucksfähig, manchmal versteckt und etwas ungleich in seinen Stimmungen. Wenn Sie mit ihm zusammen kommen, sprechen Sie mit ihm offen, gerade heraus, und holen Sie nicht weit aus.“

Dieser Jüngling scheint, nach dem Briefwechsel zu urteilen, sehr viel Gelegenheit gehabt zu haben, dem Dichter sowohl in Sibirien als in Russland nützlich zu werden. Er hat durch seine Verbindungen manchem Gesuch Dostojewskys bei den betreffenden Persönlichkeiten Eingang verschafft und so an vielen Erleichterungen mitgewirkt, welche dem Dichter mit der Zeit geworden sind. Auch scheint er diesem in eigenen intimen Angelegenheiten volles Vertrauen geschenkt und ihn in seinen, wie man leicht herausfühlen kann, schwierigen Familien- und Herzens-Angelegenheiten zu Rate gezogen zu haben. Eine der ersten gemeinsamen Angelegenheiten beider scheint die gewesen zu sein, eben jenem sterbenden Issajew und seinen Angehörigen mit kleinen Geldmitteln auszuhelfen, da sich diese Familie in bitterer Not befand. In einem Briefe an Wrangel vom 14. August 1855 berichtet ihm der Dichter vom Tode des „unglücklichen Issajew“, spricht über die traurige Lage seiner Witwe Maria Dmitrjewna und bittet ihn, dieser die unter ihnen verabredete Summe zu senden. An der Wärme im Ton dieses Briefes ist leicht ersichtlich, wie nahe diese Menschen seinem Herzen stehen. So schreibt er: „Er starb unter entsetzlichen Leiden, aber wunderschön, wie Gott geben möge, dass wir andern dahingehen. Er starb kraftvoll, seine Gattin und sein Kind segnend und nur um ihr Los besorgt. Die unglückliche Marja Dmitrjewna erzählt mir seinen Heimgang bis in die kleinsten Details. Sie schreibt, diese Details wieder hervorzurufen, sei ihr einziger Trost. In den furchtbarsten Qualen (er kämpfte zwei Tage mit dem Tode) rief er sie zu sich, umarmte sie und wiederholte unaufhörlich: „Was wird mit Dir geschehen, was wird mit Dir geschehen?“ Erinnern Sie sich an ihren kleinen Jungen, den Pascha? er ist vom Weinen und von der Verzweiflung ganz von Sinnen gekommen. Mitten in der Nacht springt er aus dem Bette, läuft zum Bilde, mit welchem ihn der Vater zwei Stunden vor seinem Tode gesegnet hat, fällt auf die Kniee und betet nach ihren Worten um die ewige Ruhe der dahingeschiedenen Seele. ... Man hat ihn ärmlich begraben, auf fremde Kosten (es fanden sich gute Leute), sie aber war ganz besinnungslos .... Jetzt schreibt sie, dass sie krank ist, den Schlaf verloren hat und keinen Bissen zu essen vermag ... sie hat gar nichts, ausser Schulden im Kaufladen, irgend jemand hat ihr drei Silberrubel geschickt. „Die Not hat mir die Hand hingestossen, es anzunehmen,“ schreibt sie, „und ich habe ... das Almosen angenommen!“ — Nun folgt eine eingehende Belehrung an Wrangel, in welcher Weise dieser der Witwe Issajew die verabredete Summe schicken solle, mit den feinsten Details einer ausgesuchten Delikatesse eingeleitet und motiviert.

In seinem nächsten Brief an Wrangel vom 23. August 1855 erwähnt er noch einmal diese Geldangelegenheit, erzählt Marja Dmitrjewna habe ihm schwere Vorwürfe gemacht, dass eigentlich doch er, der selbst nichts habe, der Geber sei; er hoffe sie aber mit seiner Antwort beruhigt zu haben. „Wenn Sie hierher kommen,“ fährt er fort, „werde ich Ihnen ihren Brief zeigen. Mein Gott! was ist das für eine Frau! wie schade, dass Sie sie so wenig kennen!“ Mit einem P. S. noch einmal auf die Sache zurückkommend schliesst er: „Werden Sie ihr ein paar Worte schreiben?“

Wir ahnen schon hier, dass sich in dem, durch sechs Jahre von jedem ebenbürtigen Verkehr, von jeder Annäherung an edle Frauen abgetrennten Staatsgefangenen (zu Annäherungen banaler Natur scheint, nach den „Memoiren aus dem Totenhause“, auch das strenge Sträflingsleben für untergeordnete Kostgänger des Staates nicht ohne Möglichkeit gewesen zu sein), eine tiefe Sympathie, eine überschwängliche Bewunderung für das erste weibliche Wesen entwickeln wird, das schon durch seine Leiden ein Anrecht an ihn erworben hat und wohl auch durch eine seltene Begabung und Seelenart diesen tiefen Anteil rechtfertigen musste. Einen Anhaltspunkt für die Vorstellung vom Wesen Marja Dmitrjewnas finden wir in dem Umstande, dass der Herausgeber der „Biographischen Materiale“, Orest Miller, den Roman des Dichters „Erniedrigte und Beleidigte“ als jenen bezeichnet, in welchem wir, den äussern Thatsachen nach, neben den „Memoiren aus dem Totenhause“ die deutlichsten Spuren einer Autobiographie verfolgen können. Es ist thatsächlich geschehen, dass, als eine tiefere Beziehung des Dichters zu Marja Dmitrjewna eingetreten war, diese, gerade so wie Natascha im Roman, eine plötzliche Leidenschaft zu einem anderen fasste und Dostojewsky, aus innigstem Mitgefühl für ihre Leiden, sich eifrig bemühte, diesem anderen zu einer Stelle und einem Erwerb zu verhelfen. In welcher Weise sich dann der Umschlag in Marja Dmitrjewnas Gefühlen und Entschlüssen vollzog, das erfahren wir aus den diskreten Notizen O. Millers nicht.

Um unser Urteil über Marja Dmitrjewna zu vervollständigen, werden wir gewiss nicht fehl gehen, wenn wir die Zeichnung Nataschas als nach ihrem Vorbilde entworfen annehmen. Der Roman ist innerhalb eines Zeitraumes von ungefähr zwei Jahren nach des Dichters Vermählung geschrieben, also genug nahe, um jene Eindrücke noch ganz frisch in sich zu tragen, und genug ferne, um sie nach aussen hin gestalten zu können. Er hatte früher eine längere Erzählung, die er anfangs Roman nennt, geschrieben, welche er über zwei Jahre mit sich herumgetragen hatte; dies war die uns unter dem Namen „Tollhaus und Herrenhaus“ bekannte Erzählung „Das Dorf Stepantschikowo und seine Bewohner“. Dazwischen schrieb er aus Not eine kleine Erzählung nieder, die ihn auch schon lange beschäftigt hatte: „Onkelchens Traum“.

In der Gestalt der Natascha[10] nun sind, ganz abgesehen von den äusseren Umständen, Züge, welche uns an Marja Dmitrjewna erinnern. Ja, der Dichter, welcher sich in seiner grandiosen Unbekümmertheit um Wiederholungen wirklich oft wiederholt, gebraucht in einem Briefe an Wrangel bei der Mitteilung ihrer Zustimmung genau dieselben einfachen Worte, die er dann an der betreffenden Stelle im Roman ausspricht: „Sie sagte mir selbst: ‚ja‘. Das, was ich Ihnen über sie im vergangenen Sommer schrieb“ — fährt er in seinem Briefe vom 1. Dezember 1856 fort —, „hat gar wenig Einfluss auf ihre Neigung zu mir gehabt ... sie hat sich bald vom Irrtum ihrer neuen Neigung überzeugt .... o wenn Sie wüssten, was diese Frau ist!“ ... Am 6. März 1857 giebt er dem Freunde in einem uns nur bruchstückweise mitgeteilten Briefe von seiner in Kuznezk vollzogenen Vermählung mit wenigen Worten Nachricht. Dieser Brief beschäftigt sich hauptsächlich mit den Zuständen Wrangels, dessen komplizierten Beziehungen zum Vater usw. und enthält Ermahnungen, sich vor zu grosser argwöhnischer Empfindlichkeit zu bewahren. Zum Schlusse sagt er: „..... grosse Umwandlungen in unserem Leben helfen da immer. Ich war im höchsten Grade hypochondrisch, wurde aber durch die scharfe Umwälzung, welche in meinem Schicksal eintrat, gründlich davon geheilt.“

Ehe wir zu den weiteren Erlebnissen des Dichters übergehen, die von Wichtigkeit für seine Thätigkeit waren, möchten wir jenen Brief Dostojewskys hier einschalten, der über die letzten Augenblicke Marja Dmitrjewnas berichtet, um so einen Abschluss des Bildes dieser Ehe zu gewinnen, welche ihm grosses Glück und grosse Leiden gebracht zu haben scheint.

Die Briefe enthalten nur stellenweise Andeutungen intimer Beziehungen. So finden wir nur sehr spärliche Äusserungen in einigen derselben zerstreut. Viel reichlicher sind die Mitteilungen seiner Sorgen um den Stiefsohn Pascha, der ihm sowohl wegen seines Studienganges und der dazu kaum ausreichenden materiellen Mittel, als auch später seines unzuverlässigen Charakters wegen manche Prüfung auferlegt. Das Zusammenleben des Dichters nun mit seiner Gattin scheint zu Schwierigkeiten geführt zu haben, welche wohl in gewissen Charakterähnlichkeiten zu suchen sein dürften. Schon das Faktum allein, dass Dostojewsky es im Verlauf dieser Ehe trotz angestrengtester Arbeit und später auch erzielter grosser Honorare nie dazu gebracht hat, einen sorgenfreien Augenblick, ein Ausruhen von der Furcht drohender Not zu geniessen, deutet darauf hin, dass beide Gatten gleich unfähig waren, sich das äussere Leben erträglich einzurichten.

Anderseits finden wir in des Dichters Briefen immer dieselbe Bewunderung und Liebe für Marja Dmitrjewna ausgedrückt, obgleich er auf eine örtliche Trennung eingehen musste, welche auf Anraten der Ärzte um der Gattin Gesundheit willen eingeleitet wurde. So verblieb denn Theodor Michailowitsch in Petersburg, während Marja Dmitrjewna nach dem milderen Moskau übersiedelte.

Nachdem sich aber ein ernstes Lungenleiden rasch entwickelt zu haben scheint, eilt der Dichter an das Krankenbett der Gattin und bringt dort, selbst sehr leidend, unter „allseitigen“ Qualen, wie er sagt, und unter dem Druck bestellter, eiliger Arbeit zwei schwere Monate zu.

Er bleibt von Ende Februar bis Mitte April 1864 an ihrer Seite, schreibt während des dringende Geschäftsbriefe an den Bruder, denen wir eben nur die wenigen Andeutungen über seinen Seelenzustand entnehmen, während das unaufhörliche Sprudeln und Gähren seiner Schöpferkraft ihn auch hier nicht verlässt.

Voll von Plänen für seine damals erscheinende Zeitschrift „Wremja“, Entwürfen, kritisch-ästhetischen Artikeln über „Theoretismus und Phantasterei“, die, wie er sagt, „nicht eine Polemik sein wird, sondern eine That,“ wird er doch endlich von der Macht der Verhältnisse, nämlich eigener Krankheit und dem Tode seiner Gattin, für eine Zeit überwältigt, so dass er gar nicht schreiben kann, obwohl er noch kurz vorher schrieb: „Meine Frau ist sterbend, buchstäblich. Jeden Tag kommt ein Augenblick, da wir ihren Tod erwarten. Ihre Leiden sind furchtbar und finden ihren Widerhall in mir, weil ja ... das Schreiben aber ist keine mechanische Arbeit, dennoch aber schreibe ich und schreibe meist am Morgen — doch fängt die Handlung erst an. Die Erzählung zieht sich in die Länge. Manchmal denke ich, es wird ein Quark, dennoch schreibe ich mit Feuer, ich weiss nicht, was daraus wird. Im allgemeinen habe ich wenig Zeit zum Schreiben, obgleich es scheint, dass ich alle Zeit für mich habe — dennoch ist es wenig, denn es ist diese Zeit keine Arbeitszeit für mich und ich habe manchmal ganz anderes im Kopfe; dann noch eins: ich fürchte, der Tod meiner Frau wird bald eintreten, dann wird aber eine Unterbrechung der Arbeit unvermeidlich sein — wenn diese Unterbrechung nicht wäre, würde ich wahrscheinlich fertig.“

Diese Stelle des Briefes müsste uns geradezu durch ihre kühle Geschäftsmässigkeit verblüffen, wenn wir es nicht schon an vielen anderen Beispielen aus dem Leben grosser Dichter und Künstler erfahren hätten, dass sie, während des Schaffens gleich der pythischen Priesterin vom Geiste erfasst, im Taumel aller Irdischkeit entrückt sind. Dieses absorbierende, despotische Etwas, das sie hat, lässt zu Zeiten nichts übrig für die Erdengenossen, die sich ihnen angelobt.

Dienstag, den 14. April 1864, schreibt er an den Bruder als Nachschrift: „Gestern um 2 Uhr nachts habe ich diesen Brief geschlossen. Später wurde Marja Dmitrjewna sehr schlecht. Sie verlangte nach dem Geistlichen. Ich ging Alexander Pawlowitsch zu holen und schickte nach dem Priester. Die ganze Nacht sassen sie bei ihr; die Sakramente empfing sie um 4 Uhr morgens. Um 8 Uhr legte ich mich nieder, ein wenig auszuruhen, um 10 Uhr wurde ich geweckt, es sei Marja Dmitrjewna in diesem Augenblicke besser.“

Unter dem 15. schreibt er: „Gestern hatte Marja Dmitrjewna einen entscheidenden Anfall. Eine Halsblutung trat ein, die einen Druck auf die Brust und Würganfälle hervorrief. Wir alle erwarteten das Ende, wir waren alle an ihrer Seite. Sie nahm von allen Abschied, versöhnte sich mit allen, machte Ordnung mit allem. Deiner ganzen Familie sendete sie Grüsse und Wünsche langen Lebens, ganz besonders an Emilie Fjodorowna. Auch sprach sie das Verlangen aus, sich mit Dir zu versöhnen. (Du weisst, mein Freund, dass sie ihr Leben lang davon überzeugt war, Du seist ihr heimlicher Feind.) Die Nacht brachte sie schlecht zu. Heute aber, soeben sagt Alexander Pawlowitsch endgiltig, dass sie heute — sterben wird. Und das ist unzweifelhaft.

Ich werde zur Tante um Geld fahren: Sie kann es aber verweigern, weil sie vielleicht keines bei der Hand hat. Ich weiss nicht, was ich machen werde. Dich aber bitte ich: verlass mich nicht. Es werden sehr grosse Auslagen sein. Schicke so viel Du kannst, um alles! Um Gotteswillen — ich werde es abdienen.“ —

Wir glauben, dass es keines Kommentars bedarf, um das Tragische dieses Lakonismus der Not hervorzuheben. Ein Dichtergenius, der ganz wie das arme Volk erlebt: dem die Sorge um den nächsten Augenblick eines tiefen und zarten Erlebnisses kein anderes Wort in den Mund legt, als: Geld!

Als Nachschrift heisst es: „Marja Dmitrjewna stirbt sanft bei vollem Bewusstsein, Pascha (den Sohn) hat sie im Geiste gesegnet.“

Der letzte Brief, wenigstens der letzte, in den wir Einblick haben, in welchem Dostojewsky über Marja Dmitrjewna und sein Verhältnis zu ihr spricht, ist vom 31. März 1865 an Wrangel gerichtet. Die betreffende Stelle lautet: „Ja, Alexander Jegorowitsch, ja, mein unschätzbarer Freund, Sie schreiben mir und klagen mit mir über meinen verhängnisvollen Verlust, den Tod meines Schutzengels, Bruder Mischas (der Bruder war bald nach Marja Dmitrjewna plötzlich gestorben), aber Sie wissen nicht, wie tief mich das Schicksal niedergedrückt hat. Ein zweites Wesen, das mich liebte, und das ich grenzenlos liebte, meine Frau ist in Moskau, wohin sie ein Jahr vorher übersiedelt war, an Tuberkulose gestorben. Ich bin ihr dorthin nachgekommen, bin den ganzen Winter 1864 nicht von ihrem Lager gewichen und am 16. April des vorigen Jahres ist sie verschieden, bei vollem Bewusstsein; und da sie von allen Abschied nahm, und aller gedachte, denen sie noch letzte Grüsse senden wollte, gedachte sie auch Ihrer. Ich übergebe Ihnen hier diesen Gruss, lieber, guter, alter Freund. Weihen Sie ihr ein gutes und freundliches Erinnern. O, mein Freund, sie hat mich grenzenlos geliebt, und auch ich liebte sie über die Massen, doch lebten wir nicht glücklich miteinander. Ich werde Ihnen alles bei unserem Wiedersehen erzählen — jetzt sage ich nur das, dass wir ungeachtet dessen, dass wir mit einander unbedingt unglücklich waren (ihres seltsamen, argwöhnischen und krankhaft-phantastischen Charakters wegen) — nicht aufhören konnten, einander zu lieben. Ja sogar, je unglücklicher wir waren, desto mehr liebten wir einander. Wie seltsam dies auch klingen möge, dennoch war es so. Sie war die ehrlichste, die edelste und grossherzigste aller Frauen, welche ich in meinem ganzen Leben gekannt habe. Als sie starb — habe ich, obwohl mich ein Jahr lang tiefer Kummer beim Anblick ihres Hinsterbens gequält hatte, obwohl ich wusste und mit tiefem Schmerze empfand, was ich mit ihr begraben würde — da habe ich in keiner Weise die Vorstellung davon gehabt, wie leer und öde mein Leben von dem Augenblicke an sein würde, da man die Erde über sie schüttete. Und nun ist schon ein Jahr vergangen, und dieses Gefühl schwächt sich nicht ab .... Da eilte ich, nachdem ich sie begraben, nach Petersburg zum Bruder — nun blieb mir nur er allein; nach drei Monaten starb auch er, nachdem er im ganzen einen Monat, und das ganz leicht, krank gewesen war, so dass die Krisis, welche dem Tode voranging, ganz unerwartet unter drei Tagen eintrat.

Und nun bin ich plötzlich allein geblieben und es war mir geradezu furchtbar zu Mute. Mein ganzes Leben war in zwei Teile zerbrochen. In der einen Hälfte, die ich hinter mir hatte, war alles wofür ich gelebt hatte, und in der zweiten, mir noch unbekannten Hälfte, alles fremd, alles neu, und nicht ein Herz, das mir diese beiden ersetzen könnte. Es war mir buchstäblich nichts geblieben, wofür ich leben sollte. Neue Bande knüpfen, ein neues Leben ersinnen? Der blosse Gedanke daran war mir widerwärtig. Hier empfand ich zum ersten Male, dass ich sie durch niemand ersetzen, dass ich nur sie auf der Welt geliebt, und dass eine neue Liebe zu fassen ganz unmöglich, ja nicht nötig sei. Alles um mich herum wurde kalt und öde. Da, als ich vor drei Monaten Ihre guten, so warmen Zeilen, voll alter Erinnerungen erhielt, da wurde mir so traurig zu Mute, dass ich es gar nicht ausdrücken kann. Aber nun hören Sie weiter.“

Hier wird der Brief unterbrochen und erst nach neun Tagen wieder fortgesetzt, und wir finden darin des Dichters unzerstörbare Lebenskraft wieder an der Arbeit, diesmal an der Ordnung der trostlosen Verhältnisse, in welchen der Bruder seine Familie zurückgelassen.

Wir kehren jedoch zu den Erlebnissen des Dichters zurück, die noch vor seiner gänzlichen Befreiung aus Sibirien (1859) von Bedeutung waren. Das, was den Dichter in der Zeit zwischen 1854 und 59 am meisten beschäftigt, ist seine und seiner Freunde Bemühung, die Erlaubnis zu drucken, die Befreiung vom Militärdienst und endlich die Rückkehr nach Russland zu betreiben. Durch Baron Wrangel, welcher inzwischen nach Petersburg gereist war, hofft er auf den General Totleben, den dermaligen General-Auditor, in diesem Sinne einzuwirken. Er schreibt Wrangel eingehend und dringlich darüber und fügt hinzu: „Sollte man nicht etwa das Gedicht beischliessen?“ Unter dem „Gedicht“ ist eine Art Hymnus gemeint, welchen der Dichter in seiner Begeisterung für die Sache der Christen im Orient zu Beginn des Orientkrieges 1854 verfasst hatte und welcher in den Archiven der „Dritten Abteilung“ aufbewahrt worden war. Das Gedicht (zehn zehnzeilige Strophen in fünffüssigen Jamben) erschien zum ersten Male im ersten Heft des Grashdanin 1883 im Druck. Es ist künstlerisch ganz unbedeutend und nur durch die Wärme und den Schwung bemerkenswert, mit welchem Dostojewsky den Sieg des christlichen Heeres über die Ungläubigen preist, andererseits heute durch den Spott interessant, den er über jene christlichen Nationen, namentlich die Franzosen ausgiesst, welche auf der Seite der Ungläubigen stehen. Die Hoffnung auf die Erfolge der russischen Waffen lässt den Dichter in einer Art gläubiger Verzückung, das siegreiche Heer bis vor die Thore Konstantinopels führen. Im selben Briefe vom April 1856 erwähnt der Dichter eines Gedichtes zur Feier der Krönung Alexanders des Zweiten, des von ihm „vergötterten Kaisers“. Orest Miller berichtet, dass dieses Gedicht spurlos verschwunden ist, was um so beklagenswerter sei, als es die Gefühle nicht nur aller patriotischen Russen, sondern auch eines Teils der Gefährten Dostojewskys in der Affaire Petraschewskys ausdrücke. So viel Platz man nun den überschwänglichen Hoffnungen einräumen muss, welche jeder neue Regierungsantritt, jeder junge Herrscher, der einer verbrauchten und verhärteten Kraft auf dem Throne nachfolgt, in den Herzen eines Volkes hervorruft, so viel neue Schwungkraft namentlich in Russland bei diesen Gelegenheiten in der Gesellschaft ausgelöst wird, so dürften doch diese Worte des allzu eifrigen Freundes mit Vorsicht aufzunehmen sein. Es ist nicht anzunehmen, dass die Teilnehmer an der Petraschewsky-Affaire, auch nur ein Teil von ihnen so hoch über dem Niveau von Verbitterung und Misstrauen gestanden und so gross und so frei, so liebe- und hoffnungsvoll auf die Weltereignisse zu blicken vermocht hätten, wie Dostojewsky. Diese Stelle des Berichtes sowie manche, die uns noch begegnet, sind zum mindesten eine Ungeschicktheit, weil sie gerade jenem in unseren Augen schaden, den sie mit einem Kreise Gleichgesinnter und mit einem Nimbus umgeben wollen, den er gar nicht braucht.

Einen längeren politischen Aufsatz, den der Dichter um diese Zeit schrieb, nennt er ein Pamphlet und fügt hinzu: „ich möchte nicht ein Wort aus diesem Artikel hinauswerfen, aber bei allem darin enthaltenen Patriotismus würde man mir kaum gestatten, das Drucken mit einem Pamphlet zu beginnen“. Er vernichtet also diesen Artikel, nimmt aber vieles davon in eine Schrift über die Kunst hinüber, die er, wie er sagt, zehn Jahre mit sich herumgetragen hat, nun niederschreibt und der Grossfürstin Marja Nikolajewna als Präsidentin der Kunst-Akademie widmet, da er meint, dadurch schneller die Druckerlaubnis zu erlangen. „In manchen Kapiteln,“ sagt er, „werden ganze Seiten aus meinem Pamphlet enthalten sein, namentlich jene über die Bedeutung des Christentums in der Kunst.“ Über die weiteren Schicksale dieses Artikels wissen die Herausgeber der Materialien nichts näheres, vermuten jedoch, dass vieles daraus in die Artikel aufgenommen worden ist, welche Dostojewsky seinerzeit in seiner Zeitschrift „Wremja“ als Polemik gegen den Kritiker Dobroljubow veröffentlicht hat. Wir werden weiter unten bei der Besprechung seiner publizistischen Thätigkeit näher auf diese Kunstanschauungen eingehen.

Jetzt, es ist um die Jahre 1856-59 herum, beschäftigt ihn vor allem sein ganz persönliches Schicksal. Die Liebe zu Marja Dmitrjewna, welche durch gegenseitige Eifersucht seine Qualen und durch diese seine Krankheit steigert; die übermenschliche Anstrengung, die es ihn kostet, dem Rivalen zu einem Lebensunterhalt, ihr zu einer einmaligen Gnadengabe, sowie ihrem Sohne zu einem Stiftungsplatz in einem Gymnasium zu verhelfen, „ehe sie heiratet, weil sie nach der Vermählung (mit dem anderen natürlich) nichts bekommt;“ der heftige Wunsch, den Abschied zu erlangen und drucken zu dürfen, wenn er auch in Sibirien bleiben müsste — dies alles steigerte seine seelischen und physischen Leiden auf das höchste. Am Schlusse seines Briefes vom 21. Juli sagt er: ... „ich aber — bei Gott — ins Wasser mit mir, oder zu trinken anfangen“ .... Dabei ist er immer voll Hoffnung auf den jungen Kaiser, erwartet von da ausgehend (wie er denn immer ganz im Sinne der historischen Entwickelung seiner Heimat Reformen von oben für segensreicher und dauerhafter hält, als Revolutionen von unten) eine völlige Wiedergeburt Russlands. Der Brief Wrangels, der ihm von Totlebens Verwendung für ihn berichtet, bringt ihn in Entzücken über diesen letzteren, er vergisst der eigenen Leiden und schwingt sich mit der ihm eigentümlichen sanguinischen, rasch wechselnden Begeisterung, wie beflügelt in die Hoffnung einer nahen, schöneren Zukunft. „Mehr Glauben“ — ruft er aus — „mehr Einigkeit ... und wenn noch Liebe dazu kommt, so ist alles gethan. Wie könnte irgend einer zurückbleiben, sich der allgemeinen Bewegung nicht anschliessen, sein Schärflein nicht hinzutragen? O, wäre mein Schicksal doch schon entschieden!“ Ein Handbillet ernennt den Dichter endlich am 1. Oktober 1856 zum Offizier, was ihm die Aussicht auf Abschied näher rückt. Inzwischen bittet er aber, man möge für ihn bei in Moskau lebenden Verwandten, die der Familie schon oft beigestanden hatten, leihweise 600 Rubel aufnehmen, da er schon um 1000 Rubel ein fertiges Manuskript habe, das er aber bis zur Erteilung der Druckerlaubnis nicht verwerten könne. „Noch ein Jahr nicht drucken dürfen,“ ruft er aus, „und ich bin verloren, dann ist es besser, nicht zu leben!“ An anderer Stelle sagt er: „Ich bin bereit ohne Namen oder unter einem Pseudonym zu schreiben, wenn auch für immer.“

Das Manuskript, das 1000 Rubel repräsentiert, ist die im Gefängnis vor Sibirien geschriebene Erzählung „Ein kleiner Held“, welche der Dichter damals „eine Kindergeschichte“ genannt hatte.

Diese „Kindergeschichte“ hat der Dichter, wie wir wissen, in den Kasematten der Peter Pauls-Festung niedergeschrieben, „wo man nur das Unschuldigste schreiben konnte“. Dass er aber in der Zeit zwischen dem Abschluss der Untersuchung und dem Urteilsspruch — erst nach Schluss der Untersuchung wurden ihm nämlich Bücher und Schreibmaterialien zugesprochen — imstande war, nicht nur etwas so „Unschuldiges“ zu schreiben, sondern ein Kunstwerk von so entzückender Anmut zu schaffen, dies ist, scheint uns, das allergrösste Zeugnis seiner Kraft und Seelengrösse. Aber auch noch etwas anderes finden wir in diesem Werke bekräftigt: Dostojewskys hohes künstlerisches Können, da wo ihn weder eine innere Ungeduld, noch eine äussere Not daran hinderte, an der feinen Ausführung des Kunstwerks so recht nach seinem Sinne zu meistern. Ganz und gar einheitlich ist die Schilderung des Erlebnisses durchgeführt.

Der elfjährige, lebhafte, aber höchst feinfühlende Junge, der Held der Erzählung, gerät in eine grosse Gesellschaft auf dem Schlosse eines Gutsbesitzers. Er wird von einer übermütigen Dame bis zu Thränen geneckt, wendet aber seine geheimnisvoll ahnende Bewunderung ihrer schönen, traurigen Freundin zu, die er halb unbewusst auf allen Wegen begleitet, bis er endlich einmal von der ganzen Gesellschaft lachend und neckend als deren Cavaliere servente erklärt wird, zu dem sie eine tiefe Neigung gefasst hätte. Dies ist in feiner Weise von der übermütigen Blondine eingeleitet worden, welche die einsamen Spaziergänge der Freundin vor der Eifersucht ihres grossmäuligen Gatten decken will. In innerster Seele verletzt, da er dunkel fühlt, dass etwas Lächerliches und höchst Beschämendes über ihn gekommen, flieht der Knabe in seine Stube, wo er sich schluchzend einschliesst. Die ganze Damen-Gesellschaft pocht und ruft an seiner Thüre. Er schliesst jedoch nicht auf und wartet, bis alle sich entfernen. Dann giebt er sich ungehemmt seinem Schmerz und seinen Betrachtungen über das Vorgefallene hin. Endlich erweckt ihn ein ungewöhnliches Getümmel im Schlosshof aus seiner verzweifelten Betäubung. „Ich erhob mich und trat ans Fenster. Der ganze Hofraum war mit Equipagen, Reitpferden und eilfertigen Dienern angefüllt. Es schien, dass alle fortfuhren; einige Reiter sassen schon im Sattel, andere Gäste nahmen in den Equipagen Platz .... Da erinnerte ich mich, dass eine Ausfahrt geplant worden war und nun, nach und nach, drang eine Unruhe in mein Herz — ich spähte intensiv, ob mein Klepper auch im Hofe sei. Aber der Klepper war nicht da, also hatte man mich vergessen. Ich hielt es nicht aus und im Nu war ich unten, alle unangenehmen Begegnungen sowie meine jüngste Schmach vergessend ....“

Kann man die Vorgänge in einer Kinderseele einfacher und vollendeter schildern? Erst der wahnsinnige Schmerz der Beschämung, Zorn, Trotz, dies alles von der Neugierde besiegt: was wohl da unten vorgehe; endlich die aufsteigende leidenschaftliche Unruhe, vergessen zu sein und zurückbleiben zu müssen! Wer erinnert sich nicht aus seinen Kindertagen, dass diese Schmerzen intensiver, leidenschaftlicher sind, als vielleicht alle Schmerzen der reiferen Jahre?

Nun kommt der Knabe hinunter, sieht, dass „alles seinen Herrn hat“ und nur noch ein wildes junges Pferd da ist, das niemand zu besteigen wagt. Der junge Mann, ein guter Reiter, dem es vorgeführt worden war, verzichtet auf den Ruhm, es zu besteigen, und nun soll es fortgeführt werden. Da will die übermütige Blondine das Pferd für sich satteln lassen, um den ängstlichen Ritter zu beschämen, dem sie ihr zahmeres Tier anbietet. Allein der Hausherr gestattet dies nicht und man soll dieses eben in seinen Stall zurückführen, als die Dame den Knaben erblickt und den „weinerlichen“ Helden mit der Aufforderung neckt, doch sein Glück zu versuchen. Im Zorn und Trotz, wohl auch um vor den Augen seiner Huldin ein rühmliches Heldenstück zu vollbringen, schwingt er sich, bleich und bebend, auf das Pferd, das nun mit ihm aus dem Hofthor jagt, ehe er noch im zweiten Steigbügel Fuss fassen konnte. Zum Glück für den kleinen Reiter stolpert das Tier an einem grossen Stein, macht Kehrt und wird endlich, von den Pferden der zu Hilfe eilenden übrigen Reiter bedrängt, die seine Zügel fassen, vor der Freitreppe zum Stehen gebracht. Man umringt den kleinen Helden, der mehr tot als lebendig vom Sattel gehoben wird, und bringt ihn zu Bett, da er fiebert. Die tolle Blondine erweist sich in ihrer Zerknirschung als treue, zärtliche Pflegerin, und die traurige Dame seines Herzens schenkt ihm einen Blick herzlicher Teilnahme, worüber der Knabe wonnevoll errötet.

Am andern Morgen ist er wieder frisch und munter und streicht im Park umher. Und nun kommt die herrlichste Stelle der Dichtung. Der kleine Held wird durch Zufall der ungesehene Zeuge eines schweren Abschiedes zwischen „seiner“ Dame und einem Gaste, welcher die Gesellschaft offiziell schon gestern verlassen hatte und nun mit ihr in einem stillen Boskett des Parkes zusammentrifft. Der Knabe sieht, wie der junge Mann sich vom Pferd herunter neigt, die Hand der schönen Frau küsst, endlich seinen Arm um ihre Schulter legt und einen langen Kuss auf ihre Lippen drückt. Dann übergiebt er ihr ein versiegeltes Päckchen ohne Aufschrift und fliegt wie ein Pfeil an dem kleinen Nebenbuhler vorüber. Die Dame geht in Träume versunken und verliert das Briefpäckchen, das der Junge, der ihr nachgeht, findet und nach einem schweren inneren Kampfe rasch an eine sichtbare Stelle des Gartenpfades hinlegt. Sie ist aber so verloren, dass sie es nicht sieht, und eilt, da sie schon erwartet wird, dem Hause zu. Hier bereitet man sich zu einer zweiten Ausfahrt und bestürmt die Herzukommende mit Fragen über ihr Befinden, da man sie sehr bleich findet. Der kleine Held hat sich indessen in einiger Entfernung von ihr aufgestellt, hält das Päckchen, das er in die Rocktasche gesteckt, darin krampfhaft in der Hand und ist in der peinlichsten Verlegenheit, da er es ihr übermitteln und doch nicht seine Mitwissenschaft an ihrem Geheimnisse zeigen will. Sie merkt nichts von alledem, erklärt nur, dass sie an der Spazierfahrt nicht teilnehmen, sondern einen kleinen Gang durch den Park machen werde — in Begleitung ihres kleinen Ritters. Alle fahren fort, es wird ruhig im Schlosshof, und die Schöne tritt nun gesenkten, suchenden Blickes ihre Wanderung an, des kleinen Ritters vergessend, der erfreut und gequält zugleich an ihrer Seite wandelt.

Nun folgt die Schilderung seines Kummers, seines vergeblichen Nachdenkens, wie er ihr den Fund in die Hände spielen könne. Sie nimmt, nachdem sie überall umhergespäht, auf einer Gartenbank Platz und vertieft sich scheinbar in das Lesen eines Buches, während zwei schwere Thränen an ihren Wimpern hängen. Endlich hat der Knabe einen Ausweg gefunden. Freudig ruft er ihr zu, er werde einen Strauss für sie pflücken, ehe noch die Mäher den letzten Wiesenschmuck niedermähen. Er springt davon, um den Strauss zu pflücken. Die Schilderung dieses Vorgangs erscheint uns psychologisch wie künstlerisch der Höhepunkt der Erzählung zu sein, der nur durch den feinen und sinnreichen Schluss gekrönt wird. Der Knabe läuft vom Strauch zur Wiese, von der Wiese aufs Feld, vom Feld in den schattigen Hain, von der Freude am Augenblick, an den einzelnen Blumenfunden echt kindhaft hingerissen. Was er zuletzt in seiner Hand vereinigt, ist an Farbe und Zusammenstellung ein Strauss, um den ihn jeder Gärtner beneiden könnte. Immer voller und dichter lässt er ihn werden, bis er ihn endlich mit Ahornblättern einfasst und mit feinen Gräsern bindet und jetzt — lässt er klopfenden Herzens das Briefpäckchen in seine Mitte gleiten. Anfangs bleibt der Brief ganz sichtbar, mit jedem Stückchen Weges aber, um das sich der Knabe der Trauernden nähert, wird ihm ängstlicher zu Mute und stösst er das Päckchen tiefer in die bunte Hülle hinein, bis er — am Ziele angelangt — es ganz und gar darin vergraben hat. Nun überreicht er mit flammenden Wangen seine Gabe. Sie blickt nur zerstreut auf, dankt und legt den Strauss neben sich auf die Bank. Betrübt und besorgt legt sich nun der Knabe in der Nähe auf das Gras, stellt sich müde und schliesst endlich blinzelnd die Augen. Da kommt eine Biene zu seinem Entsatz. Sie umschwirrt summend die Leserin, lässt sich nicht abweisen. Diese fasst endlich den Strauss und schwingt ihn zur Abwehr nach der Biene. Der Brief fällt heraus; die Dame hebt ihn, starr vor Erstaunen, auf und sieht in stummer Überraschung bald auf die Blumen, bald auf das Päckchen. Plötzlich errötet sie heftig und sieht nach dem Jungen hin, der noch rechtzeitig die Augen fest schliesst. Da fühlt er, dass sie sich ganz nahe über ihn neigt, fühlt bebenden Herzens ihren Atem an seinen flammenden Wangen, fühlt ihre Thränen auf seiner Hand, wie sie diese einmal, zweimal küsst, und zuletzt fühlt er einen warmen Kuss auf seinen Lippen. Er „erwacht“ mit einem leisen Schrei, allein da fällt ein Gazetüchlein über sein Gesicht, wie um ihn vor der heissen Sonne zu decken und — er ist allein.

Nach dem zuletzt angeführten Schreiben des Dichters folgt eine Pause in seinem Briefwechsel mit Wrangel, während welcher ein häufigerer Gedankenaustausch mit dem Bruder ersichtlich wird, der wohl nicht unterbrochen war, sondern aus welchem, wie die Freunde sagen[11], Briefe entweder gänzlich fehlen oder bis heute noch nicht aufgefunden worden sind. In einem Briefe vom 31. Mai 1858 finden wir die Beziehung auf einen schweren Geldverlust des Bruders, wodurch es Theodor Michailowitsch doppelt peinlich wird, sich immer wieder um Nachhilfe an den Bruder wenden zu müssen. Er teilt diesem mit, dass er Beziehungen zu Katkow, dem Redakteur des „Russkij Wjestnik“, angeknüpft habe, welcher ihm einen Vorschuss von 500 Rubeln gesandt, ihn aber in einem „sehr gescheiten und liebenswürdigen Briefe“ gebeten habe, „sich mit der Arbeit ja nicht zu drängen und nicht auf eine Frist hin zu arbeiten.“

Die Ausführung des Romans, welchen er mit sich trägt, verschiebt er für seine Rückkehr nach Russland. In diesem Roman, sagt er, „liegt eine ziemlich glückliche Idee, ein neuer, bis jetzt nirgends dargestellter Charakter. Allein, da dieser Charakter jetzt in Russland wahrscheinlich in der Wirklichkeit sehr verbreitet ist, ganz besonders jetzt, nach der Bewegung und den Ideen zu urteilen, von welchen alle erfüllt sind, so bin ich überzeugt, dass ich meinen Roman mit neuen Beobachtungen bereichern werde, wenn ich nach Russland zurückkomme.“

O. Miller ist der Ansicht, unter diesem Charakter könne nur Raskolnikow gemeint sein, das Produkt jener Betrachtungen, welche der eben durch russische Nachrichten und Zeitschriften dem Dichter wiedergewonnene Einblick in die Verhältnisse und bewegenden Ideen in ihm erweckt hätten. Ja, noch lange ehe Raskolnikow erschienen — so findet Miller und wir müssen ihm vollkommen beistimmen — ist der Grundtypus dieses neuen russischen Charakters in den „Memoiren eines Totenhauses“ an jener Stelle bezeichnet worden, wo Dostojewsky sagt: „Die Eigenschaften eines Scharfrichters finden sich im Keime fast bei jedem jungen Menschen unsrer Tage vor.[12] Indessen“, sagt der Dichter, „schreibe ich zwei Erzählungen, welche eben nur erträglich sein werden.“ Weiter spricht sich Dostojewsky über seine Arbeitsmethode aus, und wir müssten erstaunt sein, dass sie dem vollkommen widerspricht, was sich uns beim Lesen aller seiner Werke aufdrängt, nämlich der Raschheit, Achtlosigkeit auf Detail, der Spontaneität, die sich überall darin fühlbar macht. Es ist eben immer wieder die Not, welche ihn antrieb, seinem innersten Gefühl zuwider etwa in zwei Tagen und zwei Nächten zwischen 3 und 4 Druckbogen anzufüllen. In diesem Briefe widerspricht er dem Bruder, bekämpft dessen Ansicht, dass eine Situation auf einen Sitz geschrieben werden müsse. „Ich schreibe nur eine Scene sofort nieder, so wie sie sich mir anfänglich gezeigt hat, und freue mich daran; dann aber bearbeite ich sie ganze Monate, ein Jahr lang, begeistere mich zu mehreren Malen daran, nicht nur einmal (weil ich diese Scene liebe), und füge ihr mehrere Male etwas zu oder nehme etwas fort ... und glaube mir, es kommt alles viel besser heraus. Wenn nur Begeisterung da ist. Ohne sie, freilich, wird nichts daraus.“

Inzwischen hat der Dichter die Erzählung „Onkelchens Traum“ für das Journal „Russkoje Slowo“ geschrieben, „per Eilpost“, wie er sagt, rein nur, um Geld zu bekommen, da er gelegentlich seiner Vermählung durch den Bruder 500 Rubel als Vorschuss aus der Redaktion hatte nehmen lassen. Katkow verspricht er den Roman, das schon mehrmals erwähnte „Dorf Stepantschikowo“, für den Herbst. Diese beiden Erzählungen scheinen uns eine Art Interimsepoche in des Dichters Thätigkeit darzustellen. Zwischen das Ausklingen des alten und den Beginn des neuen Lebens gesetzt, äusserlich vom Drang nach Arbeit und Erwerb beschleunigt, innerlich nicht im allerengsten Zusammenhang mit der in Sibirien gewonnenen Vertiefung des Dichters, welche zu ihrer äusseren Gestaltung eben seine Gegenwart in Russland forderte, stehen sie eigentlich vereinzelt da; und wenn sie auch die ausserordentliche psychologische Realität und Nuancierung nicht verleugnet, welche Dostojewskys künstlerische Grösse ausmacht, so gehören sie doch weder zu jenen Werken des Dichters, welche in die Zeit des litterarischen Tastens und Spielens mit Humor und Satire einzureihen wären, noch zu jenen, welche sein Apostolat der Alliebe und Allschuld mit allen Machtmitteln seiner Glutnatur verkünden und besiegeln.

In einem Briefe vom 9. Mai 1859 legt er dem Bruder einen Plan vor, wie seine bis dahin geschriebenen Werke in eine Ausgabe vereinigt werden könnten, um wieder einiges Geld hereinzubringen. Es war schon in einem anderen Briefe davon die Rede gewesen, dass Dostojewsky 100 Rubel für den Druckbogen erhielt, während Turgenjew damals schon 400 Rubel per Bogen gezahlt wurden. Uns interessiert hier nur seine Einreihung der Werke in zwei Bände und die Berechnung, die er daran knüpft, welche uns zugleich ein Bild seiner mühseligen, dabei klugen, aber doch immer etwas sanguinischen Transaktionen mit Redakteuren und Verlegern zu geben vermag. Bezeichnend ist dabei die häufige Wiederkehr der absoluten Mutlosigkeit, die immer wieder in Ausrufe ausbricht: dann, dann bin ich der Verzweiflung anheimgegeben, oder: dann, — höchstens ins Wasser — oder — ich bin verloren usw. In diesem Briefe also heisst es: „Höre, Mischa! Dieser Roman hat unbedingt grosse Mängel und hauptsächlich wohl den, dass er sich in die Länge zieht; wovon ich aber überzeugt bin, ist, dass er zugleich auch grosse Vorzüge hat und dass er mein bestes Werk ist.“ Dies meint der Dichter bei jedem eben vollendeten Werke und kommt erst spät von dieser Meinung zurück. „Ich habe ihn zwei Jahre hindurch geschrieben (mit der Unterbrechung „Onkelchens Traum“), Anfang und Mitte sind durchgebildet, das Ende in Eile hingeschrieben. Aber ich habe meine Seele, mein Fleisch und Blut da hineingelegt. Ich will nicht sagen, dass ich mich darin ganz ausgesprochen hätte, das wäre Unsinn. Es wird noch vieles zu sagen geben. Dazu kommt, dass in diesem Roman wenig Herzenselement vorhanden ist (d. h. leidenschaftliches Element, wie z. B. im „Adeligen Nest“) — aber er enthält zwei ungemein typische Charaktere, die ich fünf Jahre lang geschaffen und notiert und tadellos (nach meiner Meinung) durchgearbeitet habe — Charaktere, welche durchaus russisch und bis heute durch unsre Litteratur noch schlecht dargestellt worden sind. Ich weiss nicht, ob Katkow das würdigen wird, aber wenn das Publikum meinen Roman kühl aufnimmt, so werde ich, ich bekenne es, in Verzweiflung sein. Auf ihn sind meine besten Hoffnungen und vor allem die Befestigung meines litterarischen Rufes gegründet. — Jetzt bedenke: der Roman erscheint heuer, vielleicht im September. Ich denke, dass, wenn man von ihm sprechen, ihn loben wird, ich von Kuschelew schon 300 Rubel für den Druckbogen werde fordern können. Es wird dann nicht mehr jener Schriftsteller mit ihm zu thun haben, der nur „Onkelchens Traum“ geschrieben hat. Freilich kann ich mich sehr über meinen Roman und seinen Wert täuschen, aber darauf beruhen alle meine Hoffnungen. Nun: wenn der Roman im „Russkij Wjestnik“ (Katkow) Erfolg hat, und allenfalls einen bedeutenden, so habe ich, anstatt die „armen Leute“ gesondert herauszugeben, eine neue Idee: Wenn ich werde nach Twer gekommen sein (dem Dichter war damals schon Twer als nächster Wohnort angewiesen worden), will ich, mit deiner Hilfe versteht sich, mein Täubchen, du mein ewiger Helfer — zum Januar oder Februar des kommenden Jahres zwei Bändchen meiner Werke in folgender Ordnung herausgeben: 1) erster Band: „Arme Leute“, „Njetoschka Njezwanowa“ (die ersten 6 Kapitel sind überarbeitet und haben allen gefallen), „Helle Nächte“, „Kindergeschichte“ (die Erzählung, welche Dostojewsky im Gefängnis schrieb und später „Ein kleiner Held“ nannte) und „Christbaum und Hochzeit“; alles in allem 18 Druckbogen. Im zweiten Band: „Das Dorf Stepantschikowo“ und „Onkelchens Traum“. Der zweite Band hat 24 Druckbogen. (NB. Später kann man den überarbeiteten oder, besser gesagt, neugeschriebenen „Doppelgänger“ und andre gesondert herausgeben. Das wäre der dritte Band (dies aber später und jetzt nur zwei Bände).)“

„Die Auflage in 2000 Exemplaren wird 1500 Rubel kosten, nicht mehr. Man kann das Exemplar zu 3 Rubeln verkaufen. Daher werde ich, wenn ich durch 1½ Jahre einen grossen Roman schreibe, durch den allmählichen Verkauf der Exemplare geschützt und bei Gelde sein. Man kann es auch so machen: die Ausgabe an Kuschelew um 3000 oder sogar 2500 verkaufen; aber natürlich sich jetzt in keinerlei Verhandlungen einlassen: man muss den Erfolg des Romans bei Katkow abwarten. Hier ist alle Hoffnung enthalten und dieser Erfolg wird alle Abmachungen erleichtern.“

„NB. An Katkow sende ich im ganzen 15 Bogen zu 100 Rubeln, macht 1500 Rubel. Genommen habe ich von ihm 500, und nachdem ich das dritte Viertel des Romans eingesandt, habe ich um weitere 200 für die Reise gebeten, also sind 700 Rubel herausgenommen.“

„Ich werde ohne Kopeke nach Twer kommen, dafür aber erhalte ich dann in der allernächsten Zeit von Katkow 700 oder 800 Rubel. Das geht noch an, man kann sich wenigstens umdrehen.“

Solche und ähnliche Kombinationen bilden den Haupttext von Dostojewskys Briefen durch eine lange Reihe von Jahren und sind, so monoton diese Briefe dadurch auch sind, ein ungemein charakteristisches Merkmal für des Dichters seltsame Verbindung von Geschäftskenntnis, Klugheit und Optimismus, sowie die Umschläge seiner Stimmung von überschwänglichem Selbstgefühl zu vollständiger, kindlicher Verzweiflung und Mutlosigkeit.

Vom 22. September ist endlich ein Brief an Wrangel aus Twer datiert. Nach einer langen Pause, welche nicht verfehlt hat, im Dichter allerlei argwöhnische Vermutungen über die Treue des Freundes zu nähren, greift er mit alter Wärme die Korrespondenz wieder auf und berichtet über sein neues Leben in Twer, das indessen seine Hoffnungen durchaus nicht erfüllt, so dass er mit einer gewissen Sehnsucht an Semipalatinsk zurück denkt: „Wenn Sie nach mir fragen“ — sagt er — „was soll ich da antworten? Ich habe Familiensorgen auf mich genommen und schleppe sie nun. Aber ich glaube, dass mein Leben noch nicht zu Ende ist, und ich will nicht sterben. Meine Krankheit ist beim alten — nicht schlechter. Ich würde mich gerne mit Ärzten beraten — aber solange ich nicht nach Petersburg kann — werde ich mich nicht kurieren! Wozu mit Dummköpfen herumpatzen! Jetzt bin ich in Twer eingeschlossen, und das ist schlimmer als Semipalatinsk — — düster, kalt, steinerne Häuser, keinerlei Bewegung, keinerlei Interessen — nicht einmal eine ordentliche Bibliothek ist da! das reine Gefängnis! Ich denke sobald als möglich von hier fort zu kommen; aber meine Lage ist höchst sonderbar: ich betrachte mich schon seit langem als vollkommen begnadigt; man hat mir auf persönlichen Befehl schon vor zwei Jahren den erblichen Adel zurückerstattet; bei alledem aber weiss ich, dass ich ohne formelles Gesuch (in Petersburg zu leben) weder nach Petersburg noch nach Moskau hinein kann. Ich habe die Zeit verpasst, ich hätte vor zwei Monaten einreichen müssen, jetzt aber ist Fürst Dolgorukow abwesend.“ — — So plagt sich der Dichter zwischen Hoffnungen, Befürchtungen herum, fürchtet, wenn er sich an einen der einflussreichen Freunde wendet, den anderen zu verletzen und so für endlose Zeiten in Twer bleiben zu müssen, wo er in allem gelähmt ist. Endlich führt er die Idee aus, die er schon eine Zeit bei sich herumträgt, einen offenen Brief an den jungen Kaiser zu schreiben und ihm die Schwierigkeit seiner Lage darzulegen.

Eine Kopie dieses Schreibens wurde auf Veranlassung des Grafen N. P. Ignatjew aus dem Archiv der ehemaligen III. Abteilung, samt dem oben erwähnten Gedicht den Herausgebern der „Materialien“ mitgeteilt, sowie auch uns das Original auf Veranlassung des Fürsten Obolensky, Gehilfen des Ministers des Innern, durch den gegenwärtigen Chef der ehemaligen III. Abteilung, Herrn von Swaljansky, vorgelegt wurde. Wir entnehmen aus diesem Schreiben die hervorragendsten Stellen.

Nach einigen einleitenden Worten, mit welchen sich Dostojewsky als „ehemaliger Staatsverbrecher“ einführt, erzählt er in Kürze:

„Ich bin als politischer Verbrecher im Jahre 1849 in Petersburg verurteilt, degradiert, aller bürgerlichen Rechte entkleidet und nach Sibirien zu den Zwangsarbeiten zweiten Grades in die Festung auf vier Jahre mit der Bestimmung verschickt worden, nach Ablauf dieser Frist als Gemeiner in die Linientruppe eingereiht zu werden. Im Jahre 1854 trat ich nach meiner Entlassung aus dem Festungs-Gefängnis von Omsk als Gemeiner in das 7. Sibirische Linien-Infanterie-Bataillon; im Jahre 1855 wurde ich zum Unteroffizier befördert und im darauf folgenden Jahre 1856 wurde ich durch die Gnade Eurer Kaiserlichen Majestät beglückt und zum Offizier ernannt. Im Jahre 1858 haben mir Euer Majestät den erblichen Adel zu erstatten geruht. Im selben Jahre habe ich infolge der Epilepsie, welche sich schon im ersten Jahre meiner Zwangsarbeit eingestellt hatte, um meine Entlassung eingereicht und jetzt, nach Erhalt meines Abschiedes, bin ich zum Aufenthalt nach Twer übersiedelt. Meine Krankheit nimmt fortwährend zu. Nach jedem Anfalle verliere ich sichtlich an Gedächtnis, Vorstellungsgabe, seelischen und körperlichen Kräften, der Ausgang dieser Krankheit ist — Lähmung, Tod oder Wahnsinn.

Ich habe eine Gattin und ein Stiefsöhnchen, für das ich zu sorgen habe. Ich habe keinerlei Besitz und erwerbe mir den Lebensunterhalt einzig und allein durch litterarische Thätigkeit, welche bei meinem kränklichen Zustande eine mühevolle und erschöpfende ist. Dabei aber geben mir die Ärzte Hoffnung auf Genesung, die sie auf den Umstand gründen, dass meine Krankheit keine ererbte, sondern eine erworbene ist. Nun aber kann ich ernste und gründliche ärztliche Hilfe nur in St. Petersburg erlangen, wo sich Ärzte befinden, welche sich speziell mit der Erforschung der Nervenkrankeiten beschäftigen. Euer Majestät! In Ihrer Hand liegt mein ganzes Schicksal, meine Gesundheit, mein Leben. Gestatten Sie mir, nach Petersburg zu fahren, um den Rat der Ärzte einzuholen. Erlösen Sie mich und schenken Sie mir die Möglichkeit, mit der Herstellung meiner Gesundheit meiner Familie, vielleicht auch auf irgend eine Weise meinem Vaterlande nützlich zu sein! In Petersburg haben zwei meiner Brüder ihren beständigen Aufenthalt, von denen ich nun über zehn Jahre getrennt bin; ihre brüderlichen Bemühungen um mich könnten dazu beitragen, meine schwere Lage zu erleichtern. Aber, ungeachtet aller meiner Hoffnungen, kann ein schlimmer Ausgang meiner Krankheit und mein Tod meine Gattin und mein Stiefsöhnchen ohne jegliche Hilfe zurücklassen. So lange noch ein Tropfen Gesundheit und Kraft in mir übrig ist, werde ich arbeiten, um sie zu sichern — allein über die Zukunft waltet Gott, und menschliche Hoffnungen sind unzuverlässig.

Allergnädigster Herr! Verzeihen Euere Kaiserliche Majestät mir auch die zweite Bitte und geruhen Sie, mir eine ausserordentliche Gnade zu gewähren, indem Sie anordnen, dass man meinen zwölfjährigen Stiefsohn Paul Issajew auf Staatskosten in ein Petersburger Gymnasium aufnehme. Er ist von erblichem Adel, Sohn des Gubernial-Sekretärs Alexander Issajew, welcher in Sibirien in der Stadt Kuznjezk, Gouvernement Tomsk, im Dienste Ihrer Kaiserlichen Majestät gestorben ist — einzig und allein darum gestorben, weil ärztliche Hilfsmittel in jenem öden Lande unzulänglich sind, wo er gedient und Gattin und Sohn ohne jegliche Mittel zurückgelassen hat. Sollte aber die Aufnahme Paul Issajews in ein Gymnasium unmöglich sein, so geruhen Sie, Herr, anzuordnen, dass er in eines der Petersburger Kadetten-Korps aufgenommen werde. Sie werden seine Mutter beglücken, welche ihren Sohn täglich lehrt, um das Glück Euer Kaiserlichen Majestät und Ihres erhabenen Hauses zu beten. Sie, Herr, sind wie die Sonne, welche über Gerechte und Ungerechte scheint. Sie haben schon Millionen Ihres Volkes beglückt, beglücken Sie auch eine arme Waise, seine Mutter und einen unglücklichen Kranken, von dem der Bann bis heute noch nicht genommen ist, und welcher bereit ist, sofort sein Leben für den Kaiser, den Wohlthäter seines Volkes, hinzugeben.“

Ganz abgesehen von dem Aufschwung, den die Hoffnung aller nach dem Regierungsantritte des Zaren Alexander II. genommen hatte, von der Zuversicht auf die Reformen des jungen Kaisers und der Liebe, die ihm das Land entgegen brachte, ist dieses Schreiben überschwänglicher Unterwürfigkeit, die im Munde eines Europäers nur servil wäre, im Munde eines echten Russen aber etwas von den Naturlauten eines Kindes hat, das vertrauensvoll und ohne Umschweife alle seine Wünsche und Leiden dem „Väterchen“ zu Füssen legt. Der einfach sachliche Ton, der in der Erzählung der Geschichte dieser schweren Jahre liegt, das naive Fordern und Begründen der Forderung eins und zwei lässt diesen Brief als eine intime Mitteilung erscheinen, an die sich die Unterwürfigkeit des Schlusses und mancher Wendung ganz anders anschliesst, als dies etwa in einem europäischen Majestätsgesuch der Fall sein könnte.

Wie kompliziert jedoch die Erledigung dieser Angelegenheit durch des Dichters Ungeduld geworden ist, davon giebt ein Brief, der letzte, den er aus Twer an Wrangel richtet, ein deutliches Bild.

„Sie schreiben,“ — heisst es darin — „warum ich, da ich die Einwilligung Dolgorukows und Timaschews (des General-Adjutanten) zur Niederlassung in Petersburg habe, nicht zu Euch komme? Das ist ja das Elend, lieber Freund, dass es unmöglich ist, denn die Sache steht jetzt beim Kaiser. Ich habe nämlich an Ihn geschrieben und jetzt wird schon Er entscheiden. Ich habe vorgehabt, nur auf einige Zeit hinzufahren, da, wenn Dolgorukow damit einverstanden ist, dass ich endgiltig nach Petersburg übersiedle, er auch nicht ungehalten sein wird, wenn ich in Erwartung der letzten Entscheidung auf einige Tage dahin komme. Ich hatte mich schon fast entschlossen, zu reisen, und sprach davon mit dem Grafen Baranow (dem damaligen Gouverneur). Allein der hat mir davon abgeraten, da er fürchtete, ich könne mir dadurch schaden, dass ich mir eigenmächtig ein Recht herausnehme, um das ich erst vorlängst gebeten, und ohne noch eine Antwort darauf erhalten zu haben. Sie müssen selbst zugeben, lieber Freund, dass ich ja nicht reisen kann, wenn Baranow es nicht gerne sieht. Ohne es ihm mitzuteilen aber konnte ich nicht abreisen. Er hat mein Schreiben an den Kaiser gesandt (durch Adlerberg) und hat dabei gebeten, es in seinem Namen zu übergeben, folglich hat er als Gouverneur für mich Bürgschaft geleistet, darum wäre es meinerseits unzart, in aller Stille fortzufahren. — Und darum habe ich folgendes ausgedacht, wozu auch der Graf mir geraten“ usw.

Es folgt nun eine Reihe von Kombinationen, wie die Sache, ohne hier und dort anzustossen, schnell durchgeführt werden könne.

Die Belege zu den oben erwähnten Stellen, sowie zwei Briefe Dostojewskys an Baranow und Dolgorukow sind uns gleichfalls zur Abschrift übermittelt worden; wir glauben aber, dass es hier nicht darauf ankommt, diese Bitt-Korrespondenz voll wiederzugeben. Wir beschränken uns hier auf eine Aufzählung der Dokumente, welche im Zeitraum jener fünf Jahre 1854-1859 mit den wichtigeren Ereignissen im Leben des Dichters zusammenhängen. Dazu gehören: ein Rapport des Gouverneurs von Tobolsk an den Kaiser (15. April 1853), dass sich Durow und Dostojewsky in der Festung gut gehalten haben, ferner die Bitte, ein patriotisches Gedicht gelegentlich des Orientkrieges in den „Petersburger Nachrichten“ veröffentlichen zu dürfen (26. Januar 1854), die auf die besondere Verwendung des Prinzen Peter von Oldenburg und des General-Adjutanten Graf Totleben erfolgte Beförderung Dostojewskys zum Unteroffizier (28. Februar 1856 Nr. 335), die Verfügung des Kriegsministers (Nr. 2634), dass ihm der Adel wiedergegeben werde (1857), Mitteilung des General-Auditoriats (Suchosanet) des Kriegsministeriums an den Herrn Chef der Gendarmerie Fürst Dolgorukow, dass Th. M. Dostojewsky infolge aufrichtiger Reue und guter Aufführung und auf spontane Verwendung des Grossfürsten Michael Pawlowitsch unter fortlaufender geheimer Überwachung zum Fähnrich befördert wurde (20. Oktober 1856 Nr. 6118).

Die geheime polizeiliche Aufsicht scheint übrigens noch sehr lange über Dostojewsky gewaltet zu haben, da sich seine Witwe erinnert, wie in seinen späten Lebensjahren irgend ein Funktionär sich gelegentlich einer kleinen Ortsveränderung ihres Gatten darüber wunderte, nichts davon gewusst zu haben. Es kann indessen immerhin sein, dass ein dienstbeflissener Unter-Staatsmann, wie es deren in Russland nur allzuviele giebt, diesen geheimen Schutz auf eigene Faust zum Besten Dostojewskys und des gefährdeten Staates unternommen hatte. Der letzte der in der „Niva“ veröffentlichten Briefe schliesst unmittelbar an jene an, welche sein Gesuch um die Erlaubnis zur Heimkehr besprechen. Er ist vom 12. November 1859 datiert und wiederholt die Reihe seiner Bemühungen, die bis dahin ohne Resultat geblieben waren. Bemerkenswert ist in diesem Briefe der praktische Geist, welcher sich darin kundgiebt. Nicht etwa, als wäre Dostojewsky eine bis in das Detail des Lebens praktische Natur gewesen, allein er besass, wie die meisten genialen Menschen, eine Art Praxis in theoretischer Form, einen Zug ins Grosse, der ihm den Gedanken mancher Unternehmung eingab, die er allerdings in der Wirklichkeit nicht festzuhalten und auszuführen vermochte. Darüber spricht sich N. Strachow, der ihn in seiner Geschäftsgebahrung sehr nahe kannte, in seinem Beitrage zu den „Materialien“ eingehend aus. „Ich muss hauptsächlich darum in Petersburg sein, um den Verkauf meiner Werke zu betreiben. Übrigens habe ich einen Plan im Kopfe — nämlich: die Sachen nicht um Geld herzugeben, sondern sie in 2000 Exemplaren, wenn das nötig sein sollte, bei Schtschepkin und Soldatenkow in Moskau zu drucken. Sie geben kein Geld, sondern drucken die Werke und machen sich zuerst beim Verkauf bezahlt, mit Zuschlag vernünftiger Prozente natürlich. Dies scheint mir aus vielen Ursachen günstiger zu sein. (Es wäre zu weitläufig, wollte ich mich jetzt des längeren darüber ausbreiten.) Ich würde es unbedingt so machen, wenn ich sofort nach meiner Ankunft in Petersburg Geld zum Leben hätte (ausser dem, welches ich von Krajewsky bekomme).[13] Du begreifst, dass mich dies alles sehr interessiert. Da ist Leben und Zukunft. Nimm übrigens meine Worte nicht à la lettre und verkaufe die Sachen für Geld, wenn sich nur immer eine Gelegenheit dazu bietet. Diese Gelegenheit aber suche, ohne meine Ankunft in Petersburg zu erwarten. Begreife, dass die Zeit vergeht; es wäre schon Zeit, zu drucken — sie vergeht und dabei gehen auch die Chancen des Gewinns verloren ....

Aber — der Teufel hole das Geld! Dich möcht’ ich umarmen — das ist’s! Könnt’ ich mich nur schon bald neben Euch niederlassen, in Eurem Kreise sein. Es ist mir schwer, hier zu leben. Ich kann nichts anfangen, so sehr bin ich durch vieles innerlich bewegt; die Zeit vergeht ... Du ahnst nicht, Mischa, was das heisst: etwas erwarten! Ein Monat! Ja, wird es nach einem Monat damit aus sein? Vielleicht vergehen auch drei, ja vier Monate. Du schreibst über eine Idee, zu deren Ausführung man für den Anfang 15-20000 Rubel brauchte. Mich regt das alles sehr auf, Bruder. Es ist, als wären gerade wir irgendwie fluchbeladen. Man sieht andre: weder Talent, noch Fähigkeiten — es werden aber Leute aus ihnen, sie hinterlassen ein Kapital. — Wir aber kämpfen, kämpfen, schlagen uns herum .... Ich bin zum Beispiel überzeugt, dass wir beide bedeutend mehr Geschick und Fähigkeiten und Sachkenntnis haben (sic), als .... Das ist ja litterarisches Bauernvolk, dabei aber werden sie reich und wir sitzen auf dem Sande. Du, zum Beispiel, hast Dein Geschäft angefangen. Wie viele Mühe und was für Resultate?[14] Was hast Du verdient? Du musst noch Gott danken, dass Du etwas hattest, wovon Du leben und Deine Kinder erziehen konntest. Dein Geschäft ging bis zu einem gewissen Punkte in die Höhe, dann stockte es. Das ist traurig für einen Menschen von Deinen Fähigkeiten. Nein, Bruder, wir müssen nachdenken und das recht ernstlich. Wir müssen etwas wagen und irgend ein litterarisches Unternehmen ins Werk setzen — eine Zeitschrift zum Beispiel. Übrigens werden wir darüber nachdenken und miteinander darüber reden. — — —

Bei meinem Roman ist thatsächlich wenig herausgekommen: 13-14 Druckbogen ist sehr wenig, und ich erhalte dafür weniger, als ich erwartete. Aber wie brauch’ ich’s! Schicke mir um Gottes Willen ein Separat-Exemplar noch vor dem Erscheinen des Buches; bedenke, wie sehr mich dies alles interessiert. Auf 8¾ Bogen kommen 1050 Rubel, folglich gebühren mir nach Abtragung meiner Schuld an Dich (von 375 Rubel) — 175 Rubel, nicht 125 Rubel. Ich bitte Dich sehr, trachte sie so schnell als möglich zu erhalten und schicke sie mir jedenfalls sofort. Wer weiss, vielleicht entscheidet sich mein Schicksal; dann werde ich Geld brauchen, um von hier fortzukommen. Darum schicke es so schnell als möglich.

Lebe wohl, ich umarme Dich, schreibe was immer und so bald als möglich.

Dein
Dostojewsky.

Wenn der Roman erscheint — teile mir sofort und bis ins Kleinste alles mit, was Du über ihn hören wirst, was für Meinungen geäussert werden, wenn überhaupt Meinungen da sein werden.“

Endlich, am 29. November 1859, wird das Gesuch erledigt. Das Original trägt in der Handschrift des Chefs der Gendarmerie, Fürsten Dolgorukow, den Bescheid:

„Hohenorts ist der Befehl ergangen, dass man betreffs Issajews die nötigen Massregeln nehme. Was Dostojewsky anbelangt, so ist seine Bitte schon nach dem Briefe erledigt worden, den er an mich schrieb.“

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