VI. Publizistik.

Mit der Gründung der Zeitschrift „Wremja“ wird Dostojewskys tiefster Herzenswunsch erfüllt. Ihm, dem das Verkünden des „wahren Christus“ vor allem andern als Lebensaufgabe galt, die er bisher nur indirekt auf dem Umwege der Kunst (was für einer Kunst allerdings!) hatte erfüllen können, ihm musste es wie eine Erlösung erscheinen, endlich direkt und unzweideutig und, wie er schon nicht anders konnte, eindringlich bis zur Gewaltsamkeit „seine Wahrheit“ verkünden zu können. Diese Epoche ist zu wichtig im Leben des Dichters, ihr Ausdruck in seinem ersten Exposé des Unternehmens zu bezeichnend, als dass wir es uns versagen dürften, jenen Aushängebogen vollinhaltlich wiederzugeben; ja, wir werden später jede der drei Ankündigungen neuer Journalgründung, welche dieser ersten folgten, ins Auge fassen müssen, um uns daraus den Beweis zu holen, wie geschlossen und unerschütterlich einheitlich sein Streben, sich in einer Zeitschrift auszusprechen, allezeit geblieben ist, wie er denn auch oft genug wiederholt: „ein Journal ist eine grosse Sache“. — Zugleich holen wir uns, als Fremde, ein Bild jener Epoche der russischen Geschichte.

N. N. Strachow, der thätigste Mitarbeiter an jener Zeitschrift, teilt uns mit, dass schon im Jahre 1860 von den Brüdern Dostojewsky die Herausgabe einer voluminösen Monatsschrift geplant gewesen war, zu welcher sie eifrig nach geeigneten Mitarbeitern suchten. Th. Michailowitsch war von einigen Arbeiten naturphilosophischen Inhalts, welche Strachow früher publiziert hatte, sehr entzückt gewesen (weit über deren Verdienst, wie dieser hinzufügt) und forderte ihn infolgedessen zur Mitarbeit an der Monatsschrift auf. Auch Strachow findet die Ankündigung so bezeichnend für Dostojewskys damaligen Ideengang, dass er sie wörtlich wiedergiebt.

Sie lautet:

„Vom Januar des Jahres 1861 an wird erscheinen
Wremja“ (Die Zeit),
eine litterarische und politische Monatsschrift in Bänden
von 25-30 Bogen grossen Formats.

„Ehe wir daran gehen, zu erklären, warum wir es eigentlich für nötig erachten, ein neues, öffentliches Organ unserer Litteratur zu gründen, wollen wir einige Worte darüber sagen, wie wir unsere Zeit und namentlich den gegenwärtigen Moment unseres gesellschaftlichen Lebens verstehen. Dies wird auch zur Aufklärung über den Geist und die Richtung unserer Zeitschrift dienen.

Wir leben in einer im höchsten Grade bemerkenswerten und kritischen Zeitepoche. Wir werden jedoch zur Darlegung unserer Anschauung ausschliesslich auf jene neuen Ideen und Forderungen der russischen Gesellschaft hinweisen, welche den ganzen denkenden Teil derselben während der letzten Jahre so übereinstimmend erfüllt hat. Wir werden nicht erst auf die grosse Bauernfrage hinweisen, welche in unserer Zeit ihren Anfang genommen hat ... Alles dies sind nur Äusserungen und Anzeichen jener ungeheuren Umwälzung, der es bestimmt ist, sich friedlich und einhellig in unserem ganzen Vaterlande zu vollziehen, obwohl sie, ihrer Bedeutung nach, an Mächtigkeit allen wichtigsten Ereignissen, ja sogar der Reform Peters gleich ist. Diese Umwälzung ist das Ineinanderfliessen der Bildung und ihrer Vertreter mit den Elementen des Volkes und die Vereinigung der ganzen grossen russischen Nation mit allen Elementen unseres gegenwärtigen Lebens — einer Nation, welche sich schon vor 170 Jahren von der Peterschen Reform abgewendet und seit jener Zeit mit dem Stande der Gebildeten entzweit hat, welcher abgesondert sein eigenes, selbständiges, individuelles Leben lebte.

Wir sprachen von Äusserungen und Symptomen. Unbestreitbar ist deren Wichtigstes die Verbesserung der Lage unserer Bauern. Jetzt sind es nicht mehr tausende, jetzt werden es viele Millionen Russen sein, welche in das russische Leben eintreten, ihre frischen, unverbrauchten Kräfte hineintragen und ihr neues Wort sagen werden. Kein Klassenhass zwischen Siegern und Besiegten, wie in Europa, darf der Entwickelung der künftigen Urelemente unseres Lebens zu Grunde liegen. Wir sind nicht Europa, und bei uns wird und darf es keine Sieger und Besiegte geben. Die Reform Peters des Grossen hat uns auch ohne das allzuviel gekostet: sie hat uns mit dem Volke entzweit. Schon von Anbeginn hat das Volk sie abgelehnt. Die Lebensformen, welche ihm durch die Umgestaltung mitgeteilt wurden, waren weder mit seinem Geiste, noch mit seinen Bestrebungen im Einklange, waren nicht nach seinem Mass berechnet und ihm nicht zeitgemäss. Es nannte sie „deutsch“, nannte die Nachfolger des grossen Zaren Fremdlinge. Schon allein das geistige Abfallen des Volkes von seinen höheren Ständen mit ihren Befehlshabern und Anführern zeigt, wie teuer uns das damalige neue Leben zu stehen kam. Allein — obwohl mit der Reform entzweit, sank dem Volke der Mut nicht. Mehr als einmal hat es seine Unabhängigkeit geäussert, hat sie mit ausserordentlichen, krampfhaften Bemühungen geäussert, weil es allein war und ihm das schwer wurde. Es wandelte im Dunkeln, aber es hielt sich energisch bei seinem gesonderten Wege. Es dachte sich in sich selbst und seine Lage hinein, versuchte es, sich selbst seine Anschauung zu verdeutlichen, zerfiel in geheime, schädliche Sekten, suchte neue Ausgangspunkte für sein Leben, neue Formen. Man kann sich nicht weiter vom alten Ufer entfernen, nicht kühner seine Schiffe verbrennen, als dies unser Volk beim Betreten jener neuen Bahnen gethan, welche es sich mit so vielen Beschwernissen aufgefunden hatte. Bei alledem aber nannte man es den Bewahrer der alten vorpeterschen Formen, des stumpfen Altgläubertums.

Allerdings waren die Ideen des Volkes, welches ohne Führer und auf seine eigenen Kräfte allein angewiesen blieb, manchmal absonderlich, seine Versuche einer neuen Lebensform oft nicht gestaltungsfähig. Aber in ihnen war eine gemeinsame Grundlage, ein Geist, ein unerschütterlicher Glaube an sich selbst, eine unverbrauchte Kraft. Nach der Reform hat es zwischen ihm und uns, den gebildeten Ständen, nur einen Augenblick der Einigung gegeben — das Jahr 1812 — und wir haben gesehen, wie sich das Volk da geäussert hat. Wir erkannten damals, was das Volk eigentlich sei. Das Elend liegt darin, dass es uns nicht kennt und nicht versteht.

Allein jetzt hört der Zwiespalt auf. Die Petersche Reform, welche sich ununterbrochen bis auf unsere Zeit fortgesetzt hat, ist endlich an ihre letzte Grenze angelangt. Weiter kann man nicht gehen, ja, wohin auch? Es giebt da keinen Weg mehr, er ist durchlaufen. Alle, welche Peter den Grossen nachgeahmt haben, haben Europa kennen gelernt, sich europäischem Leben angeschlossen und sind nicht Europäer geworden. Ehemals machten wir uns selbst Vorwürfe über unsere Unfähigkeit zum Europäismus; heute denken wir anders. Wir wissen heute, dass wir nicht Europäer sein können, dass wir nicht im stande sind, uns in eine der westländischen Formen hineinzuzwängen, welche Europa aus seinen eigenen nationalen, uns fremden und entgegengesetzten Grundelementen ausgearbeitet und ausgelebt hat — geradeso wie wir etwa ein fremdes Kleid nicht tragen könnten, das nicht nach unserem Masse verfertigt ist. Wir haben uns endlich überzeugt, dass auch wir eine Nationalität für uns sind, eine im höchsten Grade selbständige Nationalität, und dass unsere Aufgabe ist — uns eine neue, uns eigene, heimische Form aufzubauen, eine Form, die wir unserer eigenen Grundlage, unserem Volksgeist und unseren Volkselementen entnehmen müssen. Wir sind unbesiegt zum heimischen Boden zurückgekehrt. Wir leugnen unsere Vergangenheit nicht ab, wir anerkennen auch das Vernünftige darin. Wir anerkennen, dass die Reform unseren Horizont erweitert, dass wir durch sie unsere künftige Bedeutung in der grossen Familie aller Völker kennen gelernt haben.

Wir wissen, dass wir uns jetzt nicht mehr mit einer chinesischen Mauer von der Menschheit absondern werden. Wir ahnen, und ahnen mit ehrfürchtigem Sinn, dass der Charakter unserer künftigen Thätigkeit im höchsten Grade allgemeinmenschlich sein muss, dass die russische Idee vielleicht die Synthese aller jener Ideen sein wird, welche Europa mit solcher Hartnäckigkeit, mit solcher Männlichkeit in seinen verschiedenartigen Nationalitäten entwickelt; dass vielleicht alles Feindselige in diesen Ideen seine Versöhnung und fernere Entwickelung im russischen Volkstum finden wird. Wir haben also nicht vergebens alle Sprachen gesprochen, alle Zivilisationen begriffen, an den Interessen eines jeden europäischen Volkes teilgenommen, den Sinn und die Vernunft von Erscheinungen verstanden, welche uns vollständig fremd waren; nicht vergebens haben wir eine solche Kraft der Selbstkritik bekundet, die alle Fremdländer in Erstaunen versetzt hat. Sie haben uns darob gescholten, haben uns Leute ohne Persönlichkeit, ohne Vaterland geheissen, ohne zu bemerken, dass die Fähigkeit, sich auf eine Zeit lang von seinem Boden loszureissen, um nüchterner und unparteiischer auf sich selbst zu schauen, schon an und für sich eine sehr starke Eigentümlichkeit ist; die Fähigkeit endlich, das Fremde mit dem Auge des Versöhners anzusehen, ist die höchste und edelste Gabe der Natur, welche nur sehr wenigen Nationalitäten verliehen ist. Die Angehörigen anderer Nationen haben unsere unermesslichen Kräfte noch nicht einmal versucht ... Jetzt aber, scheint es, treten auch wir in ein neues Leben ein.

Hier nun, vor eben diesem Eintreten in das neue Leben ist die Versöhnung der Anhänger der Peterschen Reform mit jenen der Volksgrundlage unvermeidlich geworden. Wir sprechen hier nicht von Slavophilen und nicht von Westlern. Ihrem feindlichen Zwiste gegenüber verhält sich unsere Zeit vollkommen gleichgiltig. Wir sprechen von der Aussöhnung der Zivilisation mit dem Volkstum. Wir fühlen, dass beide Parteien einander endlich verstehen müssen, alle Missverständnisse, die sich zwischen ihnen in so unglaublicher Anzahl aufgehäuft haben, aufklären und dann in Harmonie und Eintracht mit vereinten Kräften einen neuen breiten und ruhmvollen Weg betreten müssen. Die Vereinigung, was immer sie kosten möge, ohne Rücksicht auf was immer für Opfer, und das so schnell als möglich — das ist unser leitender Gedanke, das ist unsere Devise.

Allein, wo ist denn der Berührungspunkt mit dem Volke? Wie macht man den ersten Schritt, um sich ihm zu nähern? Das ist die Frage, das die Sorge, die alle teilen sollten, denen der russische Name teuer ist, alle, die das Volk lieben und denen sein Glück teuer ist. Sein Glück aber — ist unser Glück. Es versteht sich, dass der erste Schritt zur Erreichung jeglicher Übereinstimmung das Alphabet und die Bildung ist. Das Volk wird uns niemals verstehen, wenn es nicht vorher vorbereitet worden. Es giebt keinen anderen Weg und wir wissen, dass, indem wir dies aussprechen, wir nichts Neues sagen. Allein so lange es an den gebildeten Ständen ist, den ersten Schritt zu thun, haben sie ihre Situation auszunützen, mit allen Kräften auszunützen. Kräftige, schleunige Verbreitung von Bildung, koste es was es wolle, das ist die Hauptaufgabe unserer Zeit, der erste Schritt zu jeglicher Thätigkeit.

Wir haben nur die leitenden Hauptgedanken unserer Zeitschrift ausgesprochen, haben den Charakter, den Geist ihrer künftigen Thätigkeit angedeutet. — Allein wir haben noch einen zweiten Grund, der uns veranlasst, ein neues, unabhängiges litterarisches Organ zu gründen. Wir haben schon lange bemerkt, dass sich in den letzten Jahren unter unserer Journalistik eine gewisse besondere und freiwillige Abhängigkeit und Unterordnung gegenüber den litterarischen Autoritäten entwickelt hat. Es versteht sich, dass wir unsere Journalistik nicht der Gewinnsucht, der Käuflichkeit anklagen. Bei uns giebt es nicht, wie nahezu überall in dem europäischen Schriftwesen, Zeitschriften und Tagesblätter, welche ihre Überzeugungen um Geld veräussern und ihre niederen Dienste, sowie ihre Herren mit anderen vertauschen, einzig und allein darum, weil die anderen mehr Geld geben. Allein wir bemerken gleichwohl, dass man seine Überzeugung verkaufen kann, wenn auch nicht um Geldeswert. Man kann sich zum Beispiel aus einem Übermass von angeborener Wohldienerei verkaufen, oder aus Furcht, um seines Mangels an Übereinstimmung mit den litterarischen Autoritäten willen, als Dummkopf ausgerufen zu werden. Die goldene Mittelmässigkeit zittert manchmal sogar ganz uneigennützig vor den Meinungen, welche von den Stützpfeilern der Litteratur festgestellt sind, besonders wenn diese Meinungen kühn, keck und frech ausgesprochen wurden. Manchmal verschafft nur diese Keckheit und Frechheit einem nicht dummen Schriftsteller, welcher die Umstände zu benutzen versteht, den Namen eines Pfeilers der Litteratur, einer Autorität, und verschafft gleichzeitig diesem Pfeiler einen ausserordentlichen, wenn auch nur zeitweiligen Einfluss auf die Massen. Die Mittelmässigkeit ihrerseits ist fast immer äusserst furchtsam, ungeachtet ihres augenscheinlichen Dünkels, und unterordnet sich willig: die Furchtsamkeit aber erzeugt eine litterarische Sklaverei; allein in der Litteratur darf es keine Sklaverei geben.

In dem heissen Verlangen nach litterarischer Macht, nach litterarischer Überlegenheit, nach einem litterarischen Range ist mancher sogar alte und angesehene Schriftsteller oftmals imstande, sich zu einer so unerwarteten und seltsamen Thätigkeit zu entschliessen, dass sie unwillkürlich Verwunderung und Ärgernis unter den Zeitgenossen hervorruft, unbedingt aber in der Zahl der skandalösen Anekdoten über die russische Litteratur der Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Nachkommenden übergehen wird. Und solche Vorkommnisse ereignen sich immer öfter und öfter, und solche Leute üben einen fortgesetzten Einfluss aus. Die Journalistik aber schweigt und wagt es nicht, daran zu rühren. Es giebt in unserer Litteratur noch heute einige festgesetzte Ideen und Meinungen, welche nicht die geringste Selbständigkeit besitzen und doch als unzweifelhafte Wahrheiten bestehen, einzig nur darum, weil es irgend einmal litterarische Anführer so festgestellt haben. Die Kritik wird immer flacher und unbedeutender; in manchen Publikationen werden gewisse Schriftsteller ganz umgangen, weil man fürchtet, sich, über sie sprechend, zu verplaudern. Man streitet um des Rechtbehaltens und nicht um der Wahrheit willen. Ein Groschen-Skeptizismus, welcher durch seinen Einfluss auf die Majorität schädlich ist, deckt mit Erfolg die Talentlosigkeit und wird in Pflicht genommen, um Subskribenten heranzulocken. Ein strenges Wort aufrichtiger, tiefer Überzeugung wird immer seltener gehört. Endlich wandelt der Spekulationsgeist, der sich in der Litteratur ausbreitet, gewisse periodische Zeitschriften in vornehmlich kommerzielle Unternehmungen um, die Litteratur aber und ihr Nutzen treten in den Hintergrund und manchmal wird ihrer nicht einmal gedacht.

Wir haben uns entschlossen, eine Zeitschrift zu gründen, welche, ungeachtet unserer Achtung vor litterarischen Autoritäten, doch vollkommen unabhängig von ihnen sein, in freiester und aufrichtiger Weise auf alle litterarischen Absonderlichkeiten unserer Zeit hinweisen wird. Diesen Hinweis unternehmen wir aus hoher Achtung für die russische Litteratur.

Unsere Zeitschrift wird keinerlei unlitterarische Antipathien oder Voreingenommenheiten hegen. Wir werden sogar bereit sein, unsere eigenen Irrtümer und Fehlschüsse einzugestehen, gedruckt einzugestehen, finden uns aber gar nicht lächerlich, uns dessen (wenn auch voraus) zu rühmen. Wir werden auch der Polemik nicht aus dem Wege gehen und wir werden auch davor nicht zurückschrecken, die litterarischen Gänse manchmal zu reizen. Gänsegeschnatter ist manchmal ganz nützlich; es zeigt das Wetter an, wenn es auch nicht immer das Kapitol rettet. Eine besondere Aufmerksamkeit werden wir dem kritischen Teile unseres Blattes widmen. Nicht nur jedes bemerkenswerte Buch, sondern auch jeder bemerkenswerte litterarische Artikel, welcher in anderen Zeitschriften erscheint, wird unbedingt in der unseren analysiert werden. Die Kritik darf also nicht verschwinden, rein nur, weil man beginnt die Bücher nicht separat, wie ehedem, sondern in Zeitschriften zu drucken. Indem das Journal „Wremja“ alles Persönliche beiseite lassen, alles Mittelmässige durch Schweigen umgehen wird, wenn es nicht geradezu schädlich ist, wird es alle halbwegs wichtigen litterarischen Kundgebungen verfolgen, die Aufmerksamkeit auf alle scharf ausgeprägten Fakten, seien sie nun positiver oder negativer Natur, hinlenken, und unerbittlich Talentlosigkeit, Übelwollen, falsche Bestrebungen, übelangebrachten Stolz und litterarischen Aristokratismus blossstellen, wo immer sie sich zeigen mögen. Erscheinungen des Lebens, umlaufende Meinungen, festgestellte Principien, welche aus allgemeinen und allzu persönlich passenden oder unpassenden Anwendungen verflachter, absonderlicher und ärgerlicher Aphorismen entstehen, sie alle unterstehen der Kritik genau wie ein eben erschienenes Buch oder ein Zeitungsartikel. Unsere Zeitschrift spricht sich das unabänderliche Reckt zu, offen über jede litterarische und ehrenhafte, ehrliche Arbeit ihre Meinung auszusprechen. Der weitbekannte Name, mit welchem das Blatt gefertigt ist, verpflichtet das öffentliche Urteil, sich nur um so strenger dagegen zu verhalten, und unser Journal wird sich niemals zu dem jetzt allgemein gebrauchten Kniff herablassen — einem bekannten Schriftsteller zehn schwülstige Komplimente vorzureden, um das Recht zu haben, eine nicht ganz schmeichelhafte Bemerkung über ihn einzustreuen. Das Lob ist immer keusch; nur die Schmeichelei riecht nach der Bedientenstube. Da es uns in einer einfachen Ankündigung an Raum gebricht, auf alle Details unserer Publikation einzugehen, wollen wir nur sagen, dass unser, von der Obrigkeit bestätigtes, Programm ausserordentlich reichhaltig ist.“

Hier folgt ein Programm der verschiedenen Inhaltsgruppen, sowie die Ankündigung, dass die Mitarbeiter, entgegen dem alten Brauch, nicht genannt werden, und endlich die Unterschrift Michail Michailowitsch Dostojewskys, da Theodor Michailowitsch noch (de iure bis 1873) unter polizeilicher Aufsicht stand und daher als Redakteur nicht officiell bestätigt werden konnte.

Aus diesem, seine Ansichten und Absichten eigentlich nur in ihrer äusseren Umgrenzung zeichnenden Exposé finden wir schon die ganze, klare Richtung nach dem Volkstum und der von da erwarteten Erlösung nicht nur Russlands, sondern aller übrigen im Streit befindlichen Partikularismen, und die ganze Hartnäckigkeit, diese Richtung einzuhalten und andere hineinzubringen.

Im neunten Bande der Gesamtausgabe der Werke Dostojewskys finden wir nun „eine Reihe von Artikeln über die russische Litteratur“, welche aus den Heften der „Wremja“ und zwar vom Januar, Februar, Juli, August und November 1861 abgedruckt sind und unzweifelhaft von Theodor Michailowitsch stammen, obgleich sie damals ohne Unterschrift erschienen waren. Die ersten derselben haben, nach Millers Meinung, einen grossen Teil jenes Aufsatzes über die Kunst in sich aufgenommen, der, wie wir wissen, anfangs der Grossfürstin Marja Nikolajewna gewidmet gewesen und später verschwunden ist.

Diese Artikel „über die russische Litteratur“ sind durch zwei Momente für uns besonders interessant. Erstens und vor allem durch das Persönliche, das Verlebendigende, wenn man so sagen darf, das Dostojewsky hier wie überall, wo er es mit einer Sache ernst meint (und wo thut er das nicht?), hineinlegt; zweitens durch den Einblick, welchen wir da in die Anschauungen der Russen über die Litteratur und ihre Anwendung gewinnen. Diese Anschauungen sind uns durch die Jugendlichkeit ihres Ernstes zuerst nur befremdlich und etwas wie ein Lächeln zieht unsere müden Dekadenten-Lippen herab, ob der Erhitzung, in die sich die Russen über litterarische Streitfragen stürzen. Allein es will uns bedünken, dass gerade in diesem jugendlichen Ernst, der heute, im neunzehnten Jahrhundert und hier, mitten unter uns, um des Lebens beste Güter (womit nicht nur Brot gemeint ist) streitet, eine Mahnung liegt, von der litterarischen Spielerei zum Leben und zu seinen ernsten Forderungen zurückzukehren.

Die Einleitung dieser Artikel beginnt mit einer launig-beissenden Betrachtung über die Art, wie die nach Russland kommenden Fremden Russland verstehen; der Deutsche, der Franzose, der Engländer, jeder in seiner Weise und jeder — falsch. „Für Europa,“ heisst es da, „ist Russland das Rätsel der Sphinx. Schneller wird das Perpetuum mobile oder das Lebenselixir gefunden werden, als die russische Wahrheit, der russische Geist, sein Charakter und seine Richtung vom Westen erfasst werden wird. In dieser Beziehung ist sogar der Mond jetzt weit ausführlicher erforscht als Russland. Wenigstens weiss man entschieden, dass dort niemand lebt; von Russland aber weiss man, dass dort Menschen leben und sogar russische Menschen —, aber was für Menschen, das ist bis heute noch ein Rätsel, obwohl die Europäer überzeugt sind, dass sie uns schon lange begriffen haben.“

Nun nimmt Dostojewsky die Deutschen her, welche nach Russland kommen. Er geht der Reihe nach die Gutsverwalter, die Semmelbäcker, Wursterzeuger und Raritätenschausteller durch und langt bei dem gebildeten und ehrlichen Deutschen an, der wirklich Russisch lernt, sich ernstlich mit der russischen Litteratur beschäftigt, um schliesslich Cheraskows Russiade in das — Sanskrit zu übersetzen. Ganz anders der Franzose. Der Franzose hat über Russland alles schon zu Hause gewusst; er weiss alles, er versteht alles — auch ohne etwas zu lernen. Er hat sein Buch über Russland schon in Paris um gutes Geld verkauft und gönnt sich dafür die Reise von 28 Tagen, um in Russland zu erscheinen, es zu blenden, zu beglücken und, wenigstens teilweise, umzugestalten. Er schreibt auch sofort eine echt russische Erzählung unter dem Titel „Petroucha“, „welche zwei Vorzüge hat: 1. dass sie das russische Leben getreu charakterisiert und 2. dass sie gleichzeitig auch das Leben auf den Sandwichinseln schildert Kommt aber der Russe nach Paris, so weiss man schon, dass er das eigentlich dem Genfer Lefort zu verdanken hat, welcher eine grosse Wendung in den Geschicken Russlands herbeigeführt hat, und jede Portiersfrau, der du in später Nachtstunde zurufst: „Le cordon s’il vous plaît“, brummt schlaftrunken in sich hinein: „Sieh mal, wäre in Genf nicht der Genfer Lefort auf die Welt gekommen, so wärest du heute noch ein Barbar, kämest nicht nach Paris, au centre de la civilisation, würdest mich nicht jetzt mitten in der Nacht aufwecken und aus vollem Halse „le cordon s’il vous plaît“ schreien.“

Im weiteren Verlaufe seiner Ausführungen kommt Dostojewsky auf den Standpunkt zu sprechen, den die Russen selbst ihrem Volke, ihrer Sprache gegenüber einnehmen. Da ist es namentlich der vornehme, der an ausländische Kultur gewöhnte Russe, welcher sich dem „dunklen Volke“ gegenüber verächtlich verhält, welcher seinen Tischnachbar bittet, ihm Wasser geben zu lassen, nur um nicht selbst ein russisches Wort an den Lakaien zu richten, welcher die Geistesbildung so hoch schätzt, dass er hundertmal lieber ein Schuft genannt würde als ein Dummkopf und daraus allein ein Privileg seiner Menschheitsrechte und Würden macht, das ihn ein- für allemal vom Volke trennt.

Da aber die Menschen dieser Klassen im Vaterlande nichts zu thun finden, nach grossen Thaten ächzen, sich gegenseitig ihren Weltschmerz klagen und sich ihrer Nichtswürdigkeit anklagen: „ach, Bruder, sieh, ein so gemeiner Schuft bin ich!“, so wird jene Art Byrons daraus, welche sich wundern, dass der wirkliche Byron über eine solche Welt hat klagen und weinen können, was eines Lords ganz unwürdig ist, während sie zum höheren Byronismus übergehen, den Byron selbst noch nicht ausgestaltet hatte: ein gutes Mittagessen zu schätzen, gelegentlich falsch zu spielen und den Leuten die Taschentücher aus den Säcken zu ziehen. Diesen Byrons ruft er zu: „Ich habe eine Arbeit für euch, allein ihr werdet sie nicht leisten wollen, sie zu gering achten, ob sie auch die einzige ist, die uns jetzt zukommt: Lehrt auch nur einen kleinen Bauernjungen lesen.“

Aus diesen scheinbar weglosen Exkursen heraus tritt Dostojewsky allmählich auf das Gebiet der Forderungen, die aus den Bedürfnissen oder vielmehr der Bedürftigkeit des Volks entstehen und für das Volk eintreten. Er tritt leidenschaftlich für die Volksbildung ein und widerlegt den Einwurf, dass gerade der Lakai, der Schaffer usw., kurz alle Bauern, die lesen können, es sind, welche die Gefängnisse füllen. Jawohl, antwortet er — weil diese Bildung oder eigentlich Halbbildung noch ein Privileg ist und Privilegien immer Übergriffe und Unredlichkeit im Gefolge haben.

So sind es, wie wir sehen, die primären Probleme, ganz einfache Konflikte, die aufrichtige Bemühung jedes Russen, für sich und „unsern Bruder“, wie das hübsche Wort lautet, das Leben einzurichten, das auch den Dichter so recht an die Scholle bindet. Diese ewige Frage nach dem, was er soll, hat dem Russen auch ein anderes Wort in den Mund gelegt, das nun eine stereotype Redensart ist, und das er bei den kleinsten Zwischenfällen unwillkürlich anwendet. Er sagt da nicht: „was soll ich thun“, sondern: „wie habe ich zu sein?“

Aus der „verfluchten Frage“ heraus: „Wie soll mein Leben sein?“ ist eben das russische Leben, seine Kunst und Kritik einzig zu verstehen. Nun begreifen wir auch, warum die Russen Turgenjew trotz seiner hohen Künstlerschaft nicht zu den Ihren zählen. Wer die russische Litteratur und ihre mühevolle Pflügearbeit kennt, muss diesem Verdikt beipflichten. Das, was Schilderung, getreues Nachbilden russischen Lebens ist, was mit allen Künsten der Farbengebung, der Licht- und Schattenverteilung, der „Lasur“, wenn man so sagen darf, ausgestattet ist, was der Europäer entzückend findet, so fremdartig und doch nicht verletzend, so fein zubereitet, gerade genug, um „anzuregen“, ohne allzusehr wehe zu thun, das wird den Russen beleidigen, der von seinem Dichter vor allem Mitarbeit an seinem schweren Werden fordert. Dies spricht sich noch viel deutlicher in Tolstojs, des grössten russischen Künstlers, Wandlung zum Volkserzähler aus. Heute erst, nachdem er der hohen Kunst abgeschworen, die im Roman „Krieg und Frieden“ ihren vollendetsten Ausdruck gefunden, heute, da seine kleinen Volkserzählungen, zu 1 Kopeke verkauft, in Tausenden von Exemplaren wirklich dem Volke gehören, heute erst rechnet er sich selbst zu den führenden Geistern seines Volks und wird von ihm dazu gezählt. Andere Beispiele für diese Auffassung der Dinge finden wir in direkten Aussprüchen Dostojewskys und endlich im weiteren Verlauf der „litterarischen Artikel“, da, wo der Dichter den Parteihader schlichten will, welcher zwischen Utilitaristen und Vertretern der „Kunst als Selbstzweck“ entbrannt ist.

Zu den deutlichsten Äusserungen Dostojewskys über belletristische Werke gehört wohl seine an Strachow gerichtete Kritik Tolstojs. Strachow hatte gesagt, dass Tolstojs „Krieg und Frieden“ zu den vortrefflichsten Werken der gesamten russischen Litteratur gerechnet werden müsse, darauf Dostojewsky:

„... Das kann man nicht unbedingt sagen: Puschkin, Lomonossow — das sind Genies. Mit dem „Mohr Peters des Grossen“ und mit „Bjelkin“ hervortreten, das heisst unbedingt mit einem genialen, neuen Wort auftauchen, das bis dahin durchaus nie und nirgends gesagt worden war. Allein mit „Krieg und Frieden“ auftreten, das heisst nach diesem Worte kommen, das schon von Puschkin gesagt worden war; und das in jedem Falle, wie hoch und weit auch Tolstoj in der Ausgestaltung dieses, vor ihm schon durch einen Genius ausgesprochenen neuen Wortes kommen möge. Ich denke, das ist sehr wichtig usw.“

An anderer Stelle nennt er Turgenjews und Tolstojs „neues Wort“ das „Gutsbesitzer-Wort“[16], das allerdings bei Tolstoj unendlich bedeutender zum Ausdruck komme.

Wie dies neue Wort Puschkins lautet, das hat Dostojewsky an vielen Orten gesagt, am feurigsten aber in seiner im Jahre 1880 in Moskau gehaltenen grossen Puschkinrede. Kurz gefasst liesse es sich etwa so ausdrücken: „Nur der Russe ist, vermöge seiner unendlichen Assimilationsfähigkeit, „Allmensch“ und nur dieser Allmensch vermag die Idee des lebendigen Christentums in sich zu tragen und sie zu verbreiten.“

Es darf uns danach nicht wundern, wenn Dostojewsky die unvollendete Erzählung Puschkins „Der Mohr Peters des Grossen“ und die „Novellen Bjelkins“, zwei Werke, die wir kaum dem Namen nach kennen, doch höher stellt, als Tolstojs Meisterwerke oder Turgenjews Kabinettstücke.

In Puschkin allein findet Dostojewsky den bewussten Ausdruck der russischen Eigenart, wie sie in Peter dem Grossen, „dessen Persönlichkeit uns noch nicht ganz aufgeklärt ist,“ ihren elementaren Ausbruch findet. Jene Assimilationsfähigkeit des Russen, sich alle Sprachen eigen zu machen, alle Kulturen anzunehmen, mit einer scharfen Wendung vom eingeschlagenen Wege abzugehen, wenn es seine bessere Überzeugung gebietet, dabei die Eigenschaft, sich schuldig zu bekennen, alles dies, was ihn dem Europäer unverständlich macht, was dieser als Unpersönlichkeit an ihm rügt, das befähige eben den Russen zu jener Allversöhnlichkeit und Allmenschlichkeit, welche die Einigung der Menschen herbeiführt — im Gegensatz zu den immer komplizierteren Trennungen der europäischen Nationen, die wohl nicht „in der Jeanne d’Arc und den Kreuzzügen ihren Ursprung“ haben dürften und auch nicht durch das Wissen aufgehoben werden. Dostojewsky streift hiermit wieder die grosse Streitfrage des 19. Jahrhunderts: Glauben oder Wissen, Gott oder Ich, die er ja in allen seinen Werken in tiefsinnige Probleme aufblättert. In einem seiner Briefe spricht er es offen aus, dass er mit seinem letzten Romane nichts anderes will, als „das Dasein Gottes beweisen“.

Puschkin nun sieht Dostojewsky als den Genius an, der dies synthetische Wesen des Russen erkannt und in sich gerade aus seiner westlichen und künstlerischen Kultur heraus verkörpert habe. „Die kolossale Bedeutung Puschkins,“ sagt er, „ersteht vor uns immer mehr und mehr ... Für alle Russen ist er der vollendetste künstlerische Ausdruck dessen, was eigentlich der russische Geist ist, wohin alle seine Kräfte streben und wie namentlich das Ideal eines Russen beschaffen ist. Die Gestalt Puschkins ist der Beweis dafür, dass der Baum der Zivilisation schon früh reif geworden ist, und dass seine Früchte nicht faule, sondern herrliche, goldene Früchte sind. Alles, was wir aus der Bekanntschaft mit den Europäern über uns selbst lernen konnten, haben wir gelernt — alles, worüber uns die Zivilisation nur aufklären konnte, haben wir uns erklärt, und dieses Erkennen hat sich in der vollsten und harmonischsten Weise in Puschkin geoffenbart. Wir haben aus ihm herausverstanden, dass das russische Ideal All-Einheit. All-Versöhnlichkeit, All-Menschlichkeit ist usw.“

Und nun geht Dostojewsky zur brennenden Frage über, welche seit Jahren die russischen Schriftsteller in streitende Parteien geschieden hatte, nämlich dem Kampf der Utilitaristen und Tendenzschriftsteller gegen die Vertreter der reinen Kunst.

Hier zeigt sich sofort des Dichters synthetische Natur. In zwei prächtigen, durch Beispiele beleuchteten Ausführungen beweist er beiden Teilen ihre Berechtigung, sowie ihr Unrecht, geisselt er bei beiden die Blindheit, in der sie das Kind mit dem Bade ausschütten. Er, der selbst ein Feind der Utilitätslitteratur ist, wie sie von der Hand in den Mund lebt, geisselt jene, die ein Werk dieser Gattung verwerfen, selbst wenn es, wie bei Schtschedrin, durchaus künstlerisch hingestellt ist, und hält den Utilitaristen vor, dass sie Wirkung und Nutzen sofort verlangen, wie ein Kind den Mond vom Himmel herunter verlangt. Es sind also die Menschen, welche Litteratur und Kunst treiben, nicht aber diese für ihre Wirkungen verantwortlich zu machen.

„Die Kunst ist immer real und immer zeitgemäss, ist es immer gewesen und, was die Hauptsache ist, wird es immer bleiben,“ sagt Dostojewsky da. „Die Gesellschaft leidet oft an schweren Übeln und greift nach den Mitteln, die ihr die rechten scheinen, um sich zu helfen. Dient ihr eine Kunst als Arznei, so hat sie das ihre gethan, und hat sie es geleistet, so war es gewiss künstlerisch.“ Braucht aber die Zeit noch Anthologien, so möge sie nur noch danach greifen. Die Hauptsache aber ist, dass die Freiheit der Eingebung nie und nirgends gehemmt werde usw.

Hier ist nicht nur Äusseres als Hemmnis der „freien Eingebung“ aufzufassen, sondern ebenso sehr Einseitigkeit der Tendenz, Einseitigkeit eines ästhetischen Steckenpferdes, antikisierende oder mittelalterliche Schrullen, wie auch Abwendung von der Gegenwart im allgemeinen, Mangel an Gefühl der Bürgerpflicht und an Gemeinsinn.

Zur Beleuchtung dieses letzteren Mangels führt Dostojewsky folgendes drastische Beispiel an:

„Versetzen wir uns,“ sagt er da, „in das 18. Jahrhundert, gerade an den Tag des Erdbebens von Lissabon. Die Hälfte der Einwohner geht zu Grunde, Häuser stürzen ein, aller Besitz ist zerstört, jeder der Zurückbleibenden hat einen schweren Verlust erlitten — entweder Hab und Gut, oder seine Familie ist ihm entrissen. Die Leute taumeln verzweifelnd in den Strassen umher, durch das Entsetzen ihrer Sinne beraubt. Zu dieser Zeit lebt in Lissabon irgend ein berühmter portugiesischer Dichter. Am nächsten Tage erscheint irgend eine Nummer des Lissabonschen Merkur (damals erschienen überall Merkure). Das Blatt, das in einem solchen Augenblicke erscheint, erregt sogar einiges Interesse in den Gemütern der unglücklichen Stadtbewohner, ungeachtet dessen, dass sie nicht gerade dazu angethan sind, Zeitungen zu lesen; sie hoffen, dass die heutige Nummer ein Extrablatt sein werde, welches ausgegeben worden sei, um über die Verlorenen, die spurlos zu Grunde Gegangenen Nachricht zu geben usw. Da — an irgend einer in die Augen springenden Stelle — erblicken sie etwas in folgender Art:[17]

„Leises Flüstern, lindes Fächeln,

Nachtigallen-Trillersang,

Silberleuchten, träumend Wiegen

All den klaren Bach entlang,

Nächt’ge Helle, nächt’ge Schatten,

Unbegrenztes Dämmerlicht,

Zaub’risch wechselnde Bewegung

In der Liebsten Angesicht;

Rosenglut im Wolkenschleier,

Wiederschein wie Bernsteinlicht,

Küsse, Thränen, sanftes Feuer

Und — Morgenröte, Morgenlicht!“

„Ich weiss wirklich nicht, wie die Bewohner Lissabons ihren Merkur aufnehmen würden, aber mir scheint, ihren Poeten würden sie öffentlich auf dem Marktplatze justifizieren. Durchaus nicht darum, weil er ein Gedicht ohne Zeitwort geschrieben hat, sondern weil man gestern statt der Nachtigallentriller unter der Erde solche Triller gehört hatte, und das „Wiegen“ des Baches in einem Augenblicke solchen Wiegens der ganzen Stadt auftrat, dass die armen Leute nicht nur durchaus keine Lust verspürten, die „Rosenglut im Wolkenschleier“ oder das „Bernsteinlicht“ zu betrachten, sondern dass ihnen die Handlungsweise des Dichters allzu beleidigend und unbrüderlich erscheinen musste, der in einem solchen Augenblicke ihres Lebens so amüsante Dinge zu singen wusste. — Bemerken wir übrigens folgendes: Nehmen wir an, die Bewohner Lissabons hätten ihren Dichter hingerichtet, aber das Gedicht, das sie alle so erzürnte (sei’s auch von Rosenglut und Bernsteinlicht), konnte doch seiner künstlerischen Vollendung nach herrlich sein. Ja noch mehr, den Dichter haben sie hingerichtet, aber nach 30, nach 50 Jahren errichten sie ihm auf dem Marktplatze ein Standbild zu Ehren seiner bewunderungswürdigen Verse im allgemeinen und der „Rosenglut“ im besonderen. Es zeigt sich, dass nicht die Kunst schuldig geworden ist an dem Tage des Erdbebens. Das Gedicht, für das sie den Dichter justifizierten, hatte möglicherweise als ein Denkmal der Poesie und Sprache den Lissabonensern sogar einen nicht geringen Nutzen gebracht, indem es ihnen später Entzücken, sowie tiefes Schönheitsgefühl hervorrief und sich als ein erquickender Tau auf die Seele der jungen Generation niedersenkte. Folglich war nicht die Kunst schuldig, sondern der Dichter, welcher die Kunst in einem Augenblicke missbräuchlich anwendete, da es nicht an der Zeit war. Er sang und jubilierte an einer Totenbahre — — das war natürlich arg und ausserordentlich dumm seinerseits, aber immer war eben er schuldig und nicht die Kunst ist es gewesen.“

Dass ihm aber die ästhetische Gestaltung des Kunstwerks sehr am Herzen liegt, ja eigentlich sein Herzblatt ist, zeigt er uns auch auf andere Weise als durch das auserlesene Befürworten der gegnerischen Anschauung. Er spricht sich sehr entschieden darüber aus, in welcher Weise der Mangel an Kunst der besten Idee schaden könne, und dass die hohe künstlerische Vollendung, etwa der Iliade, auch nach Jahrtausenden niemals die Wirkung versage.

Für die Beweisführung gegen die grobe Tendenzaufbauschung holt er sich ein sehr angesehenes Opfer, den bekannten und in jenen Tagen vielbewunderten Kritiker N. A. Dobroljubow, herbei und füllt mehrere Bogen seiner Tagebücher mit der eingehenden Kritik seiner Kritik.

Diese Gegenkritiken hier wiederzugeben, hiesse etwa den Leser in einen Raum führen, wo gegenüberstehende Spiegel eine endlose Reihe von Reflexen erzeugen. Wir halten uns aber an das, worauf es hier ankommt — das Volkswohl und die Art, es auf dem Wege des Schrifttums zu fördern.

Es handelt sich um die Erzählung „Mascha“ der kleinrussischen Schriftstellerin Markowitsch, welche unter dem Pseudonym Marko Wowtschók zwei Bände Volkserzählungen im kleinrussischen und im grossrussischen Dialekt geschrieben hat; Turgenjew hat die ersteren in das Grossrussische übersetzt. Die Dichterin behandelt in den Erzählungen hauptsächlich das so oft erörterte Verhältnis der Leibeigenen zu ihrer Herrschaft. „Mascha“ ist ein junges Bauernmädchen, das sich auf alle Weise der ihr von der Gutsherrin auferlegten Arbeit widersetzt und nur „frei“ arbeiten will. Schon in ihrer frühesten Kindheit hat sie immer nach den Gründen jedes Befehls gefragt, hat die Gutsfrau nicht grüssen wollen und sich bei ihrem Erscheinen versteckt. Später hat sie allen Vorstellungen ihrer Muhme, die sie und ihren Bruder als Waisen aufgezogen hatte, immer die Frage entgegengesetzt: und wer steht für uns ein, wo ist unser Recht? Später will sie weder spinnen, noch im Garten jäten, und als ihr die Herrin einmal selbst die Sichel in die Hand drückt und sagt: „Da, schneide das Gras hier“ — schneidet sie sich sofort in die Hand; die Gutsherrin, „die noch obendrein nicht von der schlimmen Gattung, sondern liberal ist“, verbindet dem Mädchen die blutende Hand mit dem eigenen Taschentuche, das dieses aber zu Hause sofort zornig von der Wunde reisst und in den fernsten Winkel der Stube wirft. Endlich geht das Mädchen nicht mehr am Tage aus der Hütte, damit man ihrer „Krankheit“ Glauben schenke — wandert nur Nächte lang im Hausgärtchen umher, isst nicht, spricht nicht und „schmilzt vor den Augen der Muhme zusammen“. Da kommt eines Tages der Bruder heim und verkündet die Nachricht, dass die Gutsfrau ihnen gestattet habe, sich freizukaufen. Das Mädchen stürzt sich mit einem Schrei dem Bruder zu Füssen: „Kaufe uns los,“ schreit sie, „verkaufe alles und kaufe uns los, ich will alles durch freie Arbeit heimzahlen!“ Er verkauft alles, und die Heroine ist gerettet.

Hier stellt Dostojewsky das Falsche einer Kritik ans Licht, welche ein Kunstwerk darum preist, weil man darin ganz gescheit über Selbstverständliches spreche, während es doch nichts unwahreres, puppenhafteres und weniger russisches geben könne, als dieses Bauernmädchen, das da über Freiheit und Menschenrechte deklamiere und „unbewusst heroisch“ werde. Der Dichter greift nun diese unkünstlerische Art der polemischen Litteratur — „womit Ihr Euch nur selbst schadet, meine Herren“ — auf das heftigste an und stellt dem vermeintlichen Nutzen eines solchen Eintagsmachwerks bei allem Talent, das er dem Autor (man wusste damals offenbar noch nicht, dass dies eine Frau sei) und dem Kritiker zuspricht, die unsterbliche Wirkung der Antike entgegen.

Hier kehrt Dostojewsky zu seinem früheren Ausspruch zurück, den er als Argument der Künstler gegen die Utilitaristen ins Feld geführt hatte. „In der That,“ heisst es da, „wenn man auch die Kunst nur von einem Standpunkte, dem des Nutzens, betrachten wollte, so ist uns ja der normale, historische Gang des Nutzens, den die Kunst der Menschheit gebracht hat, noch gar nicht bekannt. Es wäre schwer, die ganze Masse von Nutzen zu berechnen, welche z. B. die Ilias oder der Apollo von Belvedere der Menschheit gebracht hat und heute noch bringt, Dinge, die unserer Zeit offenbar durchaus nicht nötig sind. Seht, es hätte z. B. irgend einer, als er noch ein Jüngling war, in jenen Tagen, da noch „des Daseins Bilder frisch und neu“, einmal den Apollo von Belvedere angesehen, und das erhabene und unendlich schöne Bild des Gottes hätte sich unwiderstehlich seiner Seele eingeprägt. Dies scheint ein leeres Faktum zu sein: er hat sich zwei Minuten an der Statue erfreut und ist darauf fortgegangen. Allein dieses Sicherfreuen hat ja keine Ähnlichkeit mit der Bewunderung z. B. einer schönen Damentoilette! „Dieser Marmor ist ja ein Gott“ — Ihr möget so viel Ihr wollt die Nase rümpfen, seine Gottheit nehmt Ihr ihm nicht. Man hat versucht, sie ihm zu nehmen, doch ist nichts dabei herausgekommen. Und darum war wohl der Eindruck, den der Jüngling empfing, ein heisser, einer, der die Nerven erschütterte, der die Haut kalt überrieselte; ja — wer weiss es denn! vielleicht geht im Menschen bei solchem Empfinden einer hohen Schönheit, bei solcher Nervenerschütterung irgend eine innere Veränderung, irgend ein Umsatz der Moleküle, irgend eine galvanische Strömung vor sich, welche in einer Sekunde das Vorhandene zu einem anderen, ein Stück Eisen zum Magnete macht. Es giebt freilich eine grosse Menge von Eindrücken auf der Welt, allein dieser besondere Eindruck eines Gottes, der geht wohl nicht spurlos vorüber. Nicht vergebens bleiben denn auch solche Eindrücke fürs Leben. Und, wer weiss: als dieser Jüngling etwa zwanzig, dreissig Jahre nachher, bei irgend einem grossen Ereignisse des öffentlichen Lebens, sich als einer von dessen Hauptfaktoren nach der einen und nicht nach der anderen Richtung hervorthat, kann es leicht sein, dass in der Masse der Ursachen, welche ihn veranlassten, so und nicht anders zu handeln, ihm ganz unbewusst auch der Eindruck enthalten war, den er zwanzig Jahre vorher vom Bildnis des Apoll von Belvedere empfangen hatte usw.“

Die weiteren Aufsätze in der „Wremja“ enthalten, wie gesagt, schon deutlicher die ersten Anklänge jenes Glaubensbekenntnisses, das Dostojewsky sein Leben lang erfüllte und das, wie wir wissen, in der Puschkin-Rede seinen scharf umschriebenen und klarsten Ausdruck fand.

Den belletristischen Teil des Blattes suchten die Brüder so leicht und so amüsant als möglich zu gestalten. Es lag ihnen, wie Strachow erläutert, damals ganz besonders daran, ihren national-politischen Überzeugungen, welche sich damals noch vom reinen Slavophilentum abtrennten, so rasch als möglich einen grossen Leserkreis zu verschaffen, um allen etwaigen Missverständnissen in dieser Richtung von vornherein entgegenzutreten oder da, wo sich noch keine Meinung gebildet hatte, die ihrige einzusetzen. Einen breiten Boden aber konnten sie nur gewinnen, indem sie in ihrem Unterhaltungsblatt die weitesten Konzessionen dem leichten Geschmack des Romane lesenden Publikums machten und Erzählungen brachten, wie: „Johann Casanovas Flucht aus den Bleidächern Venedigs“, „Der Prozess Lassenare“ usw. Einer ihrer bedeutendsten Mitarbeiter, Apollon Grigorjew, der sich namentlich durch die Schärfe und Tiefe seiner kritischen Studien einen Namen gemacht hatte, der aber nur von wenigen ernsten Lesern gelesen wurde, war mit dieser Führung nicht zufrieden und warf, als in der Folge auch Theodor Michailowitsch Feuilleton-Romane für die „Wremja“ schrieb, dem Hauptredakteur Michail Dostojewsky vor, er lasse den Bruder wie ein Postpferd für das Blatt arbeiten, was diesen sicherlich an seiner Gesundheit und an seinem Talent schädigen müsse.

Einige Jahre später, im Jahre 1864, nimmt Theodor M. Dostojewsky diesen Streit auf und veröffentlicht in der später gegründeten „Epoche“ eine Entkräftung dieser Anschuldigung, die wir hier vorbringen:

„Erstens können die (angeführten) Worte Grigorjews auf keine Weise als Vorwurf gegen meinen Bruder gekehrt werden, welcher mich liebte, mich als Schriftsteller nur allzu parteiisch hochschätzte und sich über mir gewordene Erfolge noch bedeutend mehr freute, als ich selbst. Dieser edelste Mensch war nicht imstande, mich wie ein Postpferd in seinem Journal zu verwenden. Offenbar handelt es sich in diesem Briefe Grigorjews um meinen Roman „Erniedrigte und Beleidigte“, welcher damals im „Wremja“ gedruckt wurde. Wenn ich einen Feuilleton-Roman geschrieben habe (was ich vollkommen zugestehe), so bin ich allein, ich ganz allein daran schuld. So habe ich mein ganzes Leben lang geschrieben, so — habe ich alles geschrieben, was von mir publiziert worden ist, mit Ausnahme der Erzählung „Arme Leute“ und einiger Kapitel der „Memoiren aus einem Totenhause“.“ (Wir müssen hier den „Kleinen Held“ anfügen, von dem wir ja wissen, dass er in der Petersburger Festungshaft vor dem Todesurteil geschrieben wurde und aus diesem Umstand so „unschuldig“ ausfiel.) „Es hat sich in meinem litterarischen Leben sehr oft ereignet, dass der Anfang eines Kapitels von einem Roman oder einer Erzählung schon in der Druckerei und schon gesetzt war, während das Ende desselben noch in meinem Kopfe sass, aber unbedingt bis morgen geschrieben sein musste. Gewohnt so zu arbeiten, that ich das Gleiche mit den „Erniedrigten und Beleidigten“, allein durchaus ohne von irgend jemand dazu gedrängt worden zu sein, aus eigenem Willen. Die erst gegründete Zeitschrift, deren Erfolg mir über alles teuer war, brauchte einen Roman, und ich bot ihr einen Roman in vier Teilen an. Ich selbst versicherte dem Bruder, dass der ganze Plan dazu schon lange in mir fertig sei (was nicht der Fall war), dass es mir leicht sein werde, zu schreiben, der erste Teil schon geschrieben sei usw. Hier habe ich nicht um des Geldes willen gehandelt. Ich gestehe vollkommen ein, dass in meinem Roman viele Gliederpuppen statt Menschen vorkommen[18], dass wandelnde Bücher[18] finden sind und nicht Personen, welchen künstlerische Gestaltung geworden ist (wozu allerdings Zeit und Ausprägung der Idee im Geist und in der Seele erforderlich sind). Zur Zeit, als ich schrieb, erkannte ich das im Arbeitsfeuereifer nicht, ahnte es höchstens. Allein, was ich wirklich wusste, als ich zu schreiben anfing, war dies: 1. dass, wenn der Roman auch nicht gelingt, er Poesie haben würde, 2. dass zwei bis drei heisse, kraftvolle Stellen darin sein werden, 3. dass die zwei ernsthaftesten Charaktere darin vollkommen wahr und sogar künstlerisch dargestellt sein werden. Mit dieser Überzeugung begnügte ich mich. Es kam ein rohes Produkt zu Tage, allein es sind etwa ein halbes Hundert Seiten darin, auf welche ich stolz bin. Gewiss, ich trage selbst die Schuld daran, dass ich mein ganzes Leben lang so gearbeitet habe, und ich gebe zu, dass dies sehr schlecht ist aber ... Der Leser möge mir diese schöne Rede über mich selbst und meine „hohe Begabung“ verzeihen, sei es nur mit Rücksicht darauf, dass ich jetzt zum erstenmale im Leben selbst über meine Werke etwas gesagt habe[19].“

In der weiteren Ausführung der Differenzen der „Wremja“ mit ihrem Haupt-Mitarbeiter Grigorjew sagt Dostojewsky: „Drittens ist es vollkommen wahr, dass sich in der Zeitschrift in den ersten Jahren ihres Bestandes Schwankungen bemerkbar machten, Schwankungen — nicht in der Richtung, sondern in der Art ihrer Wirksamkeit. Auch in manchen Überzeugungen hat es Irrtümer gegeben. Allein die Richtung konnte sich nur mit den Jahren formulieren. Eine Richtung haben und sie klar und für alle verständlich formulieren können — ist zweierlei. Das letztere erreicht man durch Erfahrung, durch die Zeit, das Leben, und es steht in direkter Beziehung zur Entwickelung der Gesellschaft selbst. Eine abstrakte Formel ist nicht immer entsprechend. Wer etwas zu sagen hat, der weiss, wie schwer es oft ist, sich auszusprechen. Fertige Formeln, die man der Routine entlehnt, namentlich solche älteren Datums, d. h. wenn schon alle einen gewissen Begriff von ihnen haben, gelingen weit besser, gefallen der Gesellschaft weit mehr, als Überzeugungen, die ihr noch nicht bekannt sind. Nur solche Ideen sind leicht verständlich, die schon viel herumgetragen wurden. Wir sind aufrichtig bereit, unsere früheren Irrtümer einzugestehen, allein wir haben sie ja damals selbst nicht zu sehen vermocht, gerade deshalb nicht, weil wir auch damals nach unserer festen Überzeugung handelten.“

An anderer Stelle dieser Rechtfertigungsschrift sagt der Dichter: „Ich will noch eine letzte allgemeine Bemerkung machen. Von jenen prächtigen, historischen Briefen (11 Briefe aus Orenburg an Strachow), in welchen auch nicht eine falsche (unaufrichtige) Note erklingt und in welchen sich so typisch, wenn auch immer noch nicht vollständig einer der russischen Hamlets unserer Zeit (ein wirklicher Hamlet) zeichnet — von diesen herrlichen Briefen sage ich, kann auch heute nicht alles ohne Vorbehalt von der Redaktion der „Epoche“ (die nach dem Auseinanderfallen der „Wremja“ von Dostojewsky gegründete Monatsschrift, welche von Anfang 1864 bis incl. Februar 1865 bestand) angenommen werden. Ohne Zweifel, jeder litterarische Kritiker muss zugleich auch Dichter sein, dies ist, scheint mir, eine der unentbehrlichsten Bedingungen für einen wirklichen Kritiker. Grigorjew war ein unbestrittener und ein leidenschaftlicher Dichter, aber er war auch launenhaft und heftig wie ein leidenschaftlicher Dichter — — — Grigorjew war, wenn auch ein wirklicher Hamlet, doch, wenn man bei Shakespeares Hamlet beginnt, und bei unseren modernen russischen Hamlets und Hamletchen aufhört, einer jener Hamlets, welche weniger doppellebig sind, als die übrigen, und auch weniger reflektieren als die anderen. Er war unmittelbar Mensch, in vielem sogar ihm selbst unbewusst ein urwüchsiger und knorriger Mensch. Er war vielleicht, als Natur (nicht als Ideal genommen, das versteht sich von selbst), der russischeste Mensch unter allen seinen Zeitgenossen. Daher kam es auch, dass er auch seinen kleinsten Ausbruch in einer allgemeinen Sache in so hohem Grade für organisch und unvermeidlich für die ganze Sache, von ihr für so untrennbar hielt, dass die geringste Nichtbeachtung dieses Ausbruches ihm manchmal schon als ein Zusammenbrechen der ganzen Sache erschien. Und so wie er sich im Leben weniger als andere in zwei teilte, und es nicht verstand, ebenso bequem, wie jeder „Held unserer Tage“, mit der einen Hälfte seines Wesens sich zu grämen und zu quälen, mit der anderen Hälfte aber den Gram und die Qual der ersten Hälfte zu beobachten, zu erkennen und zu beschreiben, manchmal sogar in wunderschönen Versen mit Selbstvergötterung und einer gewissen Feinschmeckerei, so wurde er ganz und gar, durch und durch — in seinem ganzen Menschen, wenn ich so sagen darf — von seinem Gram ergriffen. In dieser Stimmung sind auch seine Briefe geschrieben.

„Ich bin Kritiker und nicht Publizist“, hat er mir mehrere Male, sogar kurze Zeit vor seinem Tode, als Antwort auf meine Bemerkungen, selbst gesagt. Allein jeder Kritiker soll auch Publizist sein, in dem Sinne, als es die Pflicht eines jeden Kritikers ist — nicht nur feste Überzeugungen zu haben, sondern sie auch ausführen zu können. Dieses Vermögen aber, seine Überzeugungen auszuführen, ist die wesentlichste Eigenheit jedes Publizisten.

Ich glaube, dass Grigorjew in keiner Redaktion der Welt ruhig hätte verbleiben können; wenn er aber sein eigenes Journal gehabt hätte, so würde er es selbst fünf Monate nach dessen Gründung zu Grunde gerichtet haben usw.“

Alle diese Ausführungen zeigen den Dichter, wie uns scheint, von einer Seite, welche der Leser seiner belletristischen Werke, sowie der Kenner seiner eigenen Lebensführung nicht bei ihm voraussetzt, wir meinen die, wenn auch nur theoretisch, geschäftsmännische Seite. Es ist wohl nicht die feine Psychologie, welche er in der Beurteilung Grigorjews bekundet, die wir ja an ihm, dem „Realisten des Innern“ kennen, was uns hier frappiert, sondern einerseits ganz praktische Forderungen an die Führung einer Zeitschrift, andererseits der Ernst, mit welchem die Thätigkeit der Publizistik von Dostojewsky selbst, sowie von seiner Zeit und Umgebung betrachtet wurde. Um die geringsten Schwankungen in der Wahl seiner Mittel zu erläutern und zu entschuldigen, welche Fülle von Argumenten, welche Vertiefung in die Entwickelungsphasen von eines Menschen innerster Wahrhaftigkeit. Wir begreifen danach sein Axiom: „ein Journal ist eine grosse Sache“. — Allein diese Anschauung und ihre Befolgung brachte den Dichter in hellen Gegensatz nicht nur zu Einzelnen, wie Grigorjew, sondern zu den Slavophilen, welche sich um Aksakow gruppierten, sowie zu allen jenen, welche es mit der Kunst ernst nahmen und, durch die landläufige, journalistische Behandlung ernster Dinge abgestossen, in diesem litterarischen, „von der Hand in den Mund-Leben“ Dostojewskys weder für ihn noch für die gute Sache ein Heil finden konnten. Sie vergassen dabei oder konnten es nicht sehen, dass es sich hier um ganz anderes handelte, als um ein tägliches Menu für den Hunger des Publikums. Es handelte sich darum, ein solches Publikum nicht aus den Augen und aus der Hand zu lassen und ihm immer wieder seine Ration Wahrheit aufzunötigen. Später allerdings, als sich Dostojewsky immer mehr den Slavophilen anschloss, konnte es nicht anders sein, als dass auch er sich etwas von der journalistisch gangbaren Litteratur abwandte, nachdem er sie gegen einen Angriff Aksakows im Jahre 1861 energisch mit folgenden Sätzen vertreten: „Man liest einen oder den anderen Eurer Aussprüche und kommt endlich unwillkürlich zum Schluss, dass Ihr Euch endgiltig abseits gestellt habt und auf uns schaut, wie auf ein fremdes Geschlecht, als wäret Ihr aus dem Monde zu uns herunter gekommen, als lebtet Ihr nicht im selben Reiche mit uns, nicht in der gleichen Zeit, nicht das nämliche Leben! — Es ist, als machtet Ihr mit jemand Experimente, als sähet Ihr irgendwen unter dem Mikroskop an! Aber das ist ja Eure eigene, Eure russische Litteratur! Was seht Ihr sie denn so von oben herab an und zerlegt sie wie ein Käferchen? Ihr seid ja selbst Litteraten, Ihr Herren Slavophilen!“

Auch seinen Mitarbeiter Strachow, der sich anfangs gleichfalls vornehm vom Journalismus fernehielt, hatte Dostojewsky zu bekämpfen. N. Strachow erzählt uns darüber folgendes: „Ich trat erst später in die belletristische Richtung ein, denn ich hatte mich anfangs zu einem wissenschaftlichen Berufe vorbereitet, darum blickte auch ich mit scheelem Auge auf die Journalistik und brachte ihr einigen Hochmut entgegen. Auf jede Weise trachtete ich der Vielschreiberei zu entgehen und bemühte mich, meine Artikel vollkommen auszuarbeiten. Diese Bestrebungen riefen gewöhnlich Theodor Michailowitschs Spott hervor: „Sie sorgen immer für eine ‚Vollständige Ausgabe‘ Ihrer Werke“ — sagte er. — „Aber es wird ja niemals eine solche Ausgabe erscheinen“, antwortete ich. Allein ich wurde bald in die Litteratur hineingezogen und begann ihre Interessen mit grösserer Wärme ans Herz zu schliessen.“ — „Wie immer dies nun sein möge“, fährt N. Strachow weiter fort, „das Resultat von Dostojewskys litterarischen Beziehungen ist bekannt. Am Ende seiner Laufbahn, als er sich schon als vollständiger Slavophile bekannte, war er imstande, sich über unsere Intelligenz und ihre Bestrebungen fast mit einer ebensolchen Bitterkeit auszusprechen, als die gewesen, die ihn in den Blättern des „Denj“ (Tag) so sehr beleidigt hatte. Was aber seine Vorliebe für die feuilletonistische Form der Zeitschriften betrifft, so ist sie bei ihm niemals ganz verschwunden. Er zwang sich sogar manchmal, um des allgemeinen Nutzens willen dazu, ein Feuilletonist und ein Schnellschreiber zu sein. Mit den Jahren jedoch wurde seine Art zu schreiben immer strenger; ja, auch früher schon konnte man in seinen Feuilletons nicht wenige Seiten finden, welche eine künstlerische Kraft und strenge Ausführung zeigten, die weit über die Aufgaben des Feuilletons hinausgingen.“

Wir begegnen also hier abermals einer von jenen Wandlungen tieferer Natur, welche so oft im Leben Dostojewskys vorkommen, von den Gegnern verurteilt, von den Freunden mit mehr oder minder Geschick beschönigt werden. Nach unserer Meinung ist die Verurteilung nicht zutreffend, die Beschönigung überflüssig. Die Verurteilung ist nicht zutreffend, weil es zu oberflächlich ist, das Resultat, welches sich am Zielpunkt einer ernsten Entwickelung ergiebt, einfach als Gegensatz des Ausgangspunktes hinzustellen. Die Beschönigung aber ist überflüssig, weil Dostojewskys Wandlungen und Wendungen nicht in den engen Kräfte-Komplex gezwängt werden dürfen, die man gemeinhin „Festigkeit“, „Charakter“ nennt. Was ihn trieb, seine weiten, unberechenbaren Bahnen um ein unsichtbares Zentrum zu durchlaufen, war jene Kraft, die jedes Urphänomen in sich trägt und die meist erst, wenn die Bahn durchlaufen ist, von Logikern und Moralisten rückblickend begriffen wird. — Dostojewskys Lebensweise entsprach ganz und gar seiner Arbeitsmethode, und es wäre schwer zu sagen, welche von der anderen bedingt war. „Dostojewsky schrieb fast ausschliesslich bei Nacht“, erzählt Strachow und es bestätigt dies seine Witwe. „Um 12 Uhr, wenn alles sich zur Ruhe begeben hatte, blieb er allein mit seinem Samovar, und während er einen kühlen, nicht allzustarken Thee schlürfte, schrieb er bis 5 oder 6 Uhr morgens. Er stand um 2, auch 3 Uhr nach Mittag auf und der Tag verging mit dem Empfang von Gästen, Spaziergängen und Besuchen bei Freunden.“

Der Akt des Schreibens war Dostojewsky eigentlich ein sehr unangenehmer. Er schildert in dem Roman „Erniedrigte und Beleidigte“ seinen eigenen Zustand, wenn er Iwan Petrowitsch die Worte in den Mund legt: „Es ist mir immer angenehmer gewesen, meine Werke in mir herumzutragen, darüber nachzusinnen, wie ich sie schreiben werde, als sie in der That niederzuschreiben, und doch war es nicht Faulheit. Was war es also?“

Strachow antwortet darauf sehr richtig: „Es war die Überfülle geistigen Schaffens, die in ihm brodelte, für die das Niederschreiben eine Unterbrechung war“. „Dennoch phantasierte Theodor Michailowitsch oft davon“ — schliesst Strachow — „was für wunderschöne Dinge er ausarbeiten könnte, wenn er die nötige Musse dazu hätte. Übrigens waren, wie er selbst erzählt, die besten Seiten seiner Werke in einem Zug ohne Umarbeitung entstanden — allerdings als Folge innerlich schon ausgetragener Ideen.“

Mitten in dieser fieberhaften, alle seine Kräfte intellektuell und materiell anspannenden Doppelthätigkeit des Schriftstellers und Wahrheits-Apostels einerseits, des praktischen Redakteurs andererseits, muss man sich den Dichter einer Krankheit unterworfen denken, die sich durch die Aufregungen seines Berufes und seines häuslichen Lebens nur steigerte, ihn oft heimsuchte und immer eine mehrtägige Gedächtnisschwäche und Arbeitsunfähigkeit zurückliess. Über die Art, wie seine Krankheit auftrat, hat er uns im „Idiot“ eine genaue Schilderung gegeben. Sie ist sehr merkwürdig und widerspricht eigentlich dem, was wir sonst von den Erscheinungen vor und nach einem epileptischen Anfalle gehört oder gesehen haben. Strachow erzählt uns als Augenzeuge eines solchen Anfalles darüber Folgendes:

„Die Anfälle seiner Krankheit ereigneten sich ungefähr einmal im Monat — das war der gewöhnliche Verlauf. Allein manchmal, obwohl sehr selten, waren sie häufiger; es kamen sogar zwei Anfälle in einer Woche vor. Im Ausland, das heisst bei grösserer Ruhe, aber auch infolge des günstigeren Klimas, kam es vor, dass vier Monate ohne einen Anfall vergingen. Er hatte immer ein Vorgefühl des Anfalles, es konnte dies indessen auch täuschen. Im Roman „Der Idiot“ ist eine ausführliche Beschreibung der Empfindungen, welche der Kranke in solchem Falle durchmacht. Ich selbst war zufällig einmal Zeuge, wie ein Anfall gewöhnlicher Stärke Theodor Michailowitsch überraschte. Es war wahrscheinlich im Jahre 1863, gerade am Char-Samstag. Er kam spät, um 11 Uhr abends, zu mir, und wir gerieten in ein sehr lebhaftes Gespräch. Ich kann mich des Gesprächsthemas nicht erinnern, aber ich weiss, dass es ein sehr wichtiges und abstraktes Thema war. Theodor Michailowitsch ging in gehobener Stimmung in der Stube auf und ab, ich aber sass am Tische. Er sprach über irgend etwas Hohes und Freudiges. Als ich seinem Gedanken mit einer Bemerkung zustimmte, wendete er mir sein begeistertes Gesicht zu, worin sich zeigte, dass seine Entzückung den höchsten Grad erreicht hatte. Er blieb einen Augenblick stehen, gleichsam Worte für seine Gedanken suchend, und öffnete schon den Mund. Ich sah ihn mit gespannter Aufmerksamkeit an, im Gefühle, dass er etwas Aussergewöhnliches sagen, dass ich eine Offenbarung hören würde. Plötzlich entrang sich seinem Munde ein seltsamer, langgezogener, unartikulierter Laut, und er sank bewusstlos mitten im Zimmer auf den Boden. Der Anfall war diesmal nicht stark. Der ganze Körper streckte sich nur krampfhaft aus und in den Mundwinkeln zeigte sich Schaum. Nach einer halben Stunde kam er zu sich, und ich begleitete ihn zu Fuss nach Hause, da es nicht weit dahin war. Oft hatte mir Theodor Michailowitsch erzählt, dass er vor den Anfällen Minuten eines entzückten Zustandes habe. „Für einige Augenblicke“ — sagt er — „empfinde ich ein solches Glück, wie es in einem gewöhnlichen Zustande nicht möglich ist und wovon andere keine Vorstellung haben können. Ich fühle in mir und in der Welt eine vollständige Harmonie, und dieses Gefühl ist so süss und so stark, dass man für einige Sekunden solcher Seligkeit zehn Jahre seines Lebens, ja meinetwegen das ganze Leben hingeben könnte.[20]

Eine Folge seiner epileptischen Anfälle war die, dass er manchmal zufällig beim Fallen heftig an etwas stiess. Selten zeigte sich Röte im Gesicht, manchmal Flecken. Die Hauptsache aber war, dass der Kranke das Gedächtnis verlor und sich zwei oder drei Tage danach vollkommen zerschlagen fühlte. Seine Seelenstimmung war dann auch eine sehr gedrückte; er konnte seiner Schwermut und Reizbarkeit kaum Herr werden. Der Charakter dieser Schwermut bestand nach seinen Worten darin, dass er sich als ein Verbrecher fühlte; es schien ihm, als drücke ihn eine unbekannte Schuld, eine grosse Missethat nieder.“

Welche Kraft mochte dazu gehören, solche Zustände zu überwinden, und trotz des geschwächten Gedächtnisses in wenigen Nächten zwei bis drei Druckbogen fertig zu stellen! Wenn es noch eines Beweises seiner Kraft bedürfte, so wäre es die rastlose Thätigkeit, welche der Dichter nun, seit Beginn der publizistischen Arbeit, bei der Erfassung und Beleuchtung der brennenden Tagesfragen entfaltete.

Wir lassen hier die Namen der vier, von ihm von 1861 bis 1881, seinem Todesjahre, redigierten Zeitschriften folgen: die „Wremja“ wurde, wie oben gesagt, im Jahre 1861 gegründet und erschien vom Januar dieses Jahres bis inkl. April 1863. Auf die Ursachen der Auflösung dieses Redaktions-Verbandes werden wir sofort zu sprechen kommen. In dieser Monatsschrift erschienen, wie schon erwähnt, als Feuilleton-Roman „Die Erniedrigten und Beleidigten“, ferner eine Reihe von Artikeln über Kunst, wovon wir oben sprachen. Zu Anfang des Jahres 1864 wurde die Arbeit wieder aufgenommen mit einer Ankündigung, die wir weiter unten zu bringen uns ebenfalls nicht versagen können. Diese Monatsschrift erschien auch nur kurze Zeit, d. h. bis inkl. Februar 1865. Zwischen 1865 und 1872 fällt ein langer Aufenthalt in Deutschland und Italien, der Tod des Bruders, Schuldenlast, böse Zeiten überhaupt, über die uns manche seiner Briefe betrübenden Aufschluss geben. Im Jahre 1873 endlich übernimmt Dostojewsky die Redaktion des vom Fürsten Meschtschersky gegründeten „Grashdanin“, dessen Feuilleton er zumeist selbst unter dem Titel „Tagebuch eines Schriftstellers“ besorgt. Später, im Jahre 1876, gründet er neben dem Grashdanin eine selbständige Monatsschrift unter dem gleichen Titel „Tagebuch eines Schriftstellers“, die zwei volle Jahrgänge 1876 und 1877 durchlaufen hat, wovon aber, offenbar aus Mangel an Subskribenten und Geld, später nur im August 1880 und im Januar 1881 unmittelbar nach des Dichters Tode je eine Nummer erschien. In der Gesamtausgabe seiner Werke sind die Aufsätze aus dem Grashdanin vom Jahre 1873, sowie die Jahrgänge von 1876 und 1877 in drei Bänden erschienen, wobei im letzten auch die zwei Nummern aus den Jahren 1880 und 1881 Aufnahme gefunden haben. Der Erfolg der neuen Monatsschrift scheint gleich anfangs ein sehr grosser gewesen zu sein. Sie hatte im ersten Jahre 2300, im zweiten Jahre 4302 Abonnenten. Dieser Erfolg dürfte dem Umstand zuzuschreiben sein, dass so vortreffliche Kräfte wie Njekrassow, Ostrowsky, Schtschedrin ausser Grigorjew, Strachow und den Brüdern Dostojewsky an der Arbeit teilnahmen.

Indessen scheint doch das Hauptgewicht auf der Belletristik geruht zu haben und Theodor Michailowitschs Bestrebungen im eigentlichen Bereich seiner volklich-religiösen Mission entweder nicht genug betont, oder vom Publikum nicht genug herausgefühlt und von den Slavophilen reinsten Wassers nicht anerkannt worden zu sein; sonst hätte unmöglich jenes Missverständnis entstehen können, das schliesslich zum Verbot der Monatsschrift und zu jenen Streitschriften führte, als deren eine ein Brief J. S. Aksakows zu bezeichnend ist, um nicht im weiteren Verlauf unserer Aufzeichnungen Platz zu finden. Die ganze Sache, welche so wichtige Folgen für das Blatt und die Verhältnisse der Brüder Dostojewsky haben sollte, entstand durch einen Artikel N. Strachows über den polnischen Aufstand zu Beginn des Jahres 1863. Wir müssen hier einiges über die ehrliche und freundschaftliche Beziehung vorausschicken, welche Dostojewsky mit Strachow verband und später das volle Eintreten des Dichters für Strachows Arbeit zur Folge hatte, trotzdem er gleich anfangs eine gewisse litterarische Unzufriedenheit über dessen Abstraktheit und Unverständlichkeit dem Autor gegenüber angedeutet hatte. Was Strachow über ihre Beziehungen sagt ist bezeichnend: „Unsere damalige Freundschaft“ — sagt er (Materialien p. 224) — „war, obwohl sie vornehmlich einen intellektuellen Charakter hatte, damals doch eine sehr enge. Das Einander-Nahestehen der Menschen hängt von ihrer beiderseitigen Natur ab und überschreitet auch bei den günstigsten Bedingungen nicht ein gewisses Mass. Jeder von uns zieht gleichsam eine Kreislinie um sich herum, über die hinweg er niemanden zulässt, oder besser gesagt, niemanden zulassen kann. So fand unsere Annäherung ein Hindernis in unseren beiderseitigen seelischen Eigenschaften, wobei ich mir durchaus nicht den geringsten Teil dieses Hindernisses zusprechen will. Über Theodor Michailowitsch kamen manchmal Augenblicke des Misstrauens, dann sagte er argwöhnisch: „Strachow hat niemand, mit dem er reden könnte, darum hält er sich an mich.“ Diese vorübergehenden Zweifel bezeugen nur, wie fest wir im allgemeinen auf unser gegenseitiges Verhältnis vertrauten. Wenn Theodor Michailowitsch einen Anfall von Epilepsie hatte, befand er sich, wieder zur Besinnung gekommen, in einem unerträglichen seelischen Zustande. Alles reizte und schreckte ihn, und er litt unter der Gegenwart der allernächsten Freunde. Dann pflegten sein Bruder oder seine Gattin nach mir zu schicken — in meiner Gesellschaft wurde ihm leichter, und so er erholte sich nach und nach.“ „Indem ich mich daran erinnere“ — fährt Strachow fort — „so erneuere ich in meinem Gedächtnisse einige meiner besten Empfindungen und denke, dass ich damals ein besserer Mensch war, als heute.“

Im Juni 1862 jedoch, ehe noch die Dinge Gestalt annahmen, welche dem Blatte ein jähes Ende bereiten sollten, konnte Theodor Michailowitsch, dem die Ärzte eine Reise ins Ausland wiederholt anrieten, das Redaktions-Bureau für einige Zeit verlassen. So finden wir ihn auf einem Ausfluge nach Paris, London, abermals Paris, Köln, Düsseldorf, Mainz, Basel und Genf, wo er mit Strachow zusammentrifft. Von dort gingen sie gemeinsam nach Luzern, dann über den Mont-Cenis nach Turin und Genua, wo sie sich nach Livorno einschifften, um dann mittels Eisenbahn nach Florenz zu gelangen. Spuren dieser ersten Reise finden wir nur in einem Briefe an Strachow, wo der Dichter in heller Begeisterung für das Bevorstehende dem Freunde zuredet, sich ihm anzuschliessen, ferner in den Aufzeichnungen Strachows und in einem Aufsatze des Dichters, worin er seiner Galle über Paris und die Franzosen Luft macht und der unter dem Titel: „Winterliche Betrachtungen über sommerliche Eindrücke“ im dritten Bande seiner Gesamtwerke enthalten ist. In jenem Briefe drückt sich der Dichter, er, dessen Kenntnis europäischer Litteratur fast ausschliesslich aus französischen Quellen geschöpft war, der begeisterte Verehrer Balzacs und Jünger der George Sand, über die Franzosen in natura folgendermassen aus: „Der Franzose ist still, ehrenhaft, höflich, aber falsch; und das Geld ist bei ihm alles.“ (In gallig-humoristischer Weise finden wir diese Beobachtung im oben erwähnten Aufsatz illustriert und müssen dabei der Romane Balzacs, dieses umfassenden Genies und tiefen Menschenkenners denken, wo die Tugend zuletzt doch zu ihren 40-50000 Frs. Rente kommt.) „Ideale keine. Nicht nur Überzeugungen, sondern Überlegung darf man gar nicht verlangen. Das Niveau der allgemeinen Bildung ist äusserst niedrig. (Ich spreche hier nicht von den beeideten Gelehrten. Aber auch diese sind nicht zahlreich, und übrigens ist dann Gelehrtheit auch Bildung in dem Sinne, wie wir gewohnt sind, dieses Wort zu verstehen?)“ — Weiter fährt er fort: „Noch eins, mein Täubchen Nikolaj; Sie glauben nicht, wie hier die Seele von Einsamkeit erfasst wird! Ein schweres, beängstigendes Gefühl.“ — „Freilich — fährt er fort — war mir im Auslande bis heute alles ungünstig; schlechtes Wetter und das, dass ich noch immer im Norden Europas herumkugelte und von den Wundern der Natur erst den Rhein gesehen habe. (Nikolaj Nikolajewitsch, das ist wirklich ein Wunder!) Was dann weiter sein wird, wenn ich von den Alpen in die Ebene Italiens niedersteige? — Ach! wären wir doch beisammen! Wir sehen Neapel, spazieren in Rom herum — liebkosen gar eine junge Venetianerin in der Gondel (He? Nikolaj Nikolajewitsch?). Aber .... „nichts, nichts und Schweigen“, wie im gleichen Fall Poprischtschin sagt.“

Was Strachow über jene Reise Dostojewskys sagt, welcher er sich von Genf aus angeschlossen, ist nicht sehr viel. Er erwähnt Dostojewskys Zusammenkunft mit Herzen in London, worüber der Dichter selbst im Feuilleton des Grashdanin vom Jahre 1873 erzählt, und er meint, dieser habe sich Herzen gegenüber sehr „weich“ verhalten, so dass die „winterlichen Betrachtungen“ ein wenig unter dem Zeichen dieses Einflusses ständen. Später aber, in den folgenden Jahren, habe Dostojewsky oft seinen Unwillen darüber geäussert, dass Herzen nicht imstande sei, den Geist des russischen Volkes zu begreifen und die Merkmale seines eigensten Wesens zu würdigen. „Der Aufklärungshochmut, die verachtende Geringschätzung Herzens empörten Dostojewsky, der sie sogar in Gribojedow, dem Verfasser des Stückes: „Wehe dem Gescheidten“, gerade so verurteilte, wie in unseren Revolutionären und kleinlichen Denunzianten.“ Was Strachow über ihr Zusammensein in Italien erzählt, bestätigt nur, was wir aus des Dichters späteren Dresdener Briefen erfahren, nämlich, dass er nicht nur die gewöhnliche, „offizielle Art, verschiedene merkwürdige Punkte mit einem Führer zu besichtigen, verachtete,“ sondern sich überhaupt weder um die Natur noch um die Kunstschätze eines Ortes kümmerte, sondern immer nur dahin ging, wo es am lebhaftesten war und möglichst viele Menschen aller Kategorien und Klassen zu finden waren. Sie waren einmal zusammen in die Uffizien gegangen; da sie aber nicht nach einem ausgearbeiteten Plan vorgingen, der sie schnell zu den Meisterwerken geführt hätte, so war Theodor Michailowitsch schon sehr bald so gelangweilt, dass sie wieder fort gingen, ohne bis zur medicäischen Venus gelangt zu sein. Dafür waren ihre Spaziergänge in volkreichen Teilen der Stadt und ihrer Umgebung, obwohl sie auch hier nicht bis zu den Cascinen kamen, sehr erfreulich, sowie ihre Nachtgespräche bei einem Glase roten Nostranos.

Der so folgenschwere Artikel nun, welchen Strachow anfangs des Jahres 1863 im „Wremja“ veröffentlichte, erschien unter dem Titel „Eine verhängnisvolle Frage“ und behandelte den polnischen Aufstand, ein Ereignis, über welches die Meinungen noch nicht geklärt, die Parteinahme jedoch schon aufgeregt und die Stimmung sehr gespannt war, ohne dass irgend ein Blatt noch das Wort darüber ergriffen hätte. Es waren allerdings schon vor dem Aufstande Stimmen darüber laut geworden, dass Russland Polen eingenommen habe, wie eine schädliche Medizin, und es wohl am ratsamsten wäre, diese wieder von sich zu geben. Allein seit Beginn des Aufstandes schwieg Alles. In diese Spannung hinein kam Strachows Artikel, der unglücklicherweise so abstrakt gehalten war, dass er von allen Parteien missverstanden wurde. Die Slavophilen verstanden ihn als einen Abfall von der russischen Sache des Volkes; die Regierung in ihrem Fühlorgan der Zensur sah eine Parteinahme für die Polen gegen die Obrigkeit darin, und das Schlimmste war, wie Strachow sagt, dass die Polen und ihre Parteigänger ihn von nun an zu den Ihren zählten, den Artikel abdruckten, sowie ihn auch die Revue des deux mondes brachte: das Missverständnis lag darin, dass Strachow die ältere Kultur der Polen hervorhob, die sie über das urwüchsige russische Volkstum hinwegsehen und hinwegstreben mache. Dass aber diese Kultur eine ewig edelmännische, volksfeindliche gewesen sei und es bleiben werde und müsse, hatte der Autor so theoretisch und objektiv hingestellt, dass nur die wenigsten es verstanden, den schweren Anwurf gegen die Polen zu finden, der darin lag, und die tiefe Kluft zu sehen, die für immer unüberbrückbar zwischen diesem Volke ritterlicher Vergangenheit und jenem gähnt, dessen ganze Entwickelung auf den Elementen des Volkslebens sich langsam aufbaut.

In seiner Erläuterung jenes Artikels sagt Strachow unter anderem: „Der polnische Aristokratismus ist an und für sich sowohl, als auch im Verhältnis zu den russischen Provinzen für jeden Russen etwas Widerwärtiges. Ja, er ist es, der mehr als alles andere Polen zu Grunde gerichtet hat. Indessen hatte sich dieser Aristokratismus entwickelt und erhält sich noch heute durch eine alte Aneignung europäischer Kultur. Daraus geht hervor, dass das Böse auch in einer so guten Sache enthalten sein kann, wie die Aufklärung eine ist, dass es manchmal besser ist, in der Kultur zurückzubleiben, aber seine seelische Gesundheit zu bewahren und nicht in jenen hoffnungslosen Zerfall von Bestrebungen und Gefühlen zu geraten, in welchem sich die Polen befinden. In diesem Sinne hatte ich meinen Artikel „Eine verhängnisvolle Frage“ betitelt. Ich war bereit gradaus zu sagen, dass für die Polen keine Rettung mehr möglich sei, dass die Geschichte sie zum Untergang verurteilt habe.

Das war, ich wiederhole es, allzu abstrakt, unklar ausgedrückt, es stimmte nicht zu den geläufigen Anschauungen und wurde verkehrt aufgefasst.“

Dostojewsky war gleich mit diesem Artikel nicht sehr zufrieden gewesen, was Strachow anfangs verletzte. Als aber in der Folge das Blatt von allen Seiten angefeindet und endlich auch durch die Zensur verboten wurde, da war es Dostojewsky, welcher in einer heftigen, sehr persönlichen Replik gegen die „Moskauer Wjedomosti“ dafür eintrat. Er sagte unter anderem: „Ja, was haben wir denn die ganzen drei Jahre her in unserer Zeitschrift gepredigt? Eben dies, dass unsere (heutige russische) von Europa entlehnte Zivilisation auf jenen Punkten, wo sie mit dem breiten russischen Geiste nicht zusammentrifft, dem russischen Volke nicht passt; dass dies heisst, einen Erwachsenen in ein Kindergewand zwängen, endlich, dass wir unsere Elemente, unsere Grundlagen, unsere nationalen Grundlagen haben, welche Selbständigkeit und Selbstentwickelung verlangen; dass die russische Erde ihr neues Wort sagen wird und dieses neue Wort vielleicht einmal das neue Wort der allgemein menschlichen Zivilisation sein und die Zivilisation der ganzen slavischen Welt in sich zum Ausdruck bringen wird. In den Elementen unserer nationalen Zivilisation haben wir immer die Merkmale der Scholle sehen können, während in jener Europas die Merkmale des Aristokratismus und Exklusivismus zu sehen sind. Ja, noch mehr, wir gestehen, dass wir, d. h. alle auf europäische Art zivilisierte Menschen, uns von unserem Boden losgerissen, alles russische Empfinden verloren haben, so sehr, dass wir an unsere eigene russische Kraft, an unsere Eigenart nicht glauben und uns wie Sklaven vor der Peterschen Holländerei in den Staub niederwerfen, über das Wort „nationale Grundlagen“ lachen und es als einen Rückschritt, einen Mystizismus betrachten.“ „So haben wir denn in unserem Artikel auf das hingewiesen — was Sie (der Gegner) auch im Traum nicht wagen würden — auf das, was auch der Kaiser Alexander der Erste ernst und aufrichtig achtete, welcher eben aus Achtung für die polnische Zivilisation den Polen höhere Einrichtungen gab, als den Russen, die er kulturell bedeutend tiefer stehend erachtete, als jene ...“

Dieser Ausfall Dostojewskys war seinen Anschauungen und Bestrebungen vollkommen entsprechend, jedoch, wie es scheint, war er blind für das, was das Blatt thatsächlich an politisch-nationaler Mission in diesen drei Jahren mochte ins Werk gesetzt haben. Strachow selbst sagt, der belletristische Teil sei bedeutend reicher und vorzüglicher gewesen, als der politische, der eigentlich noch nicht in dem Fahrwasser gewesen sein muss, wie wir es bei den später von Dostojewsky redigierten Zeitschriften sehen. Auch ist dies in dem heftigen Ausfall bestätigt, den der Vollblut-Russophile J. S. Aksakow auf Strachow machte und welchen dieser in kurzem Auszuge bringt: Aksakow schreibt 6. Juli 1863: „... Sie berufen sich vergebens auf die „Richtung“ der „Wremja“. Obgleich sie fortwährend darüber schrie, dass sie eine Richtung habe, hat das doch niemand beachtet. Ihre Zeitschrift hat die Bedeutung eines guten belletristischen Journals gehabt, das reiner und ehrenhafter war als andere, aber ihre Prätensionen waren allen lächerlich. Dort konnten gute Artikel untergebracht werden und sie waren es auch ..., allein dies alles hat der „Wremja“ keinerlei Farbe, keinerlei Kraft gegeben. Es gebrach ihr an höheren sittlichen Grundlagen, an einer Ehrenhaftigkeit höherer Ordnung. Sie hat die Unverschämtheit gehabt, in ihrem Programm auszusprechen, dass sie das erste Journal gewesen sei, das in der russischen Litteratur die Existenz eines russischen Volkstums entdeckt und proklamiert habe! Es giebt keinen so grossen Feind des Slavophilentums, den dies nicht empören würde. Und dann die naive Verkündigung, dass das Slavophilentum eine überlebte Sache sei und der Weg zum Leben, das neue Wort, jetzt bei der „Wremja“ zu finden sei! Die Slavophilen können alle, bis auf den letzten, sterben, dennoch wird die von ihnen eingeschlagene Richtung nicht zu Grunde gehen — und damit verstehe ich diese Richtung in all ihrer Strenge und Unerbittlichkeit, nicht für den Geschmack des cancanierenden Petersburger Publikums zugerichtet. — Dieses Buhlen um die Gunst des Publikums, dieser Wunsch, den Unseren und den Eueren zu dienen, dieses Von-oben-herab- und verächtliche Traktieren der Slavophilen im ersten Programm der „Wremja“, das ist’s, was dieses Journal in der öffentlichen Meinung zu Falle gebracht hat, während wir Slavophilen, wie Sie wissen, nirgends, nicht mit einem einzigen Worte an die „Wremja“ gerührt haben, weil unsere Überzeugungen eben keine Frage persönlicher Eigenliebe sind .... Übrigens kann in Petersburg gar keine Zeitschrift volkstümlicher Richtung herausgegeben werden, denn die erste Bedingung, um das gebundene Volksgefühl in uns freizumachen, die ist — Petersburg zu hassen mit unserer ganzen Seele und allen unseren Kräften. Ja, man kann sich überhaupt nicht zum christlichen Glauben bekennen (und das Slavophilentum ist nichts anderes als eine höhere Verkündigung des Christentums), ohne sich vom Satan loszumachen, loszusagen und loszuspucken[21].“

Strachow bringt diesen zornsprühenden Brief hauptsächlich darum, weil einige darin befindliche Worte der Anerkennung über die Zeitschrift sich doppelt vorteilhaft von dem Zorn-Hintergrunde des Schreibens abheben. Eine weitere Erläuterung knüpft er an den Vorwurf der Petersburgerei und verwahrt sich dagegen, da weder er noch die Brüder Dostojewsky, noch einer der anderen Mitarbeiter Petersburger seien, sondern echte Moskowiten, in denen ein langer Aufenthalt in Petersburg gerade ein starkes Heimweh nach dem Moskauer Boden, sowie Abneigung gegen das kosmopolitische Leben der Hauptstadt geweckt hatte.

Für uns ist an diesem Kampfe das Orientierende und Bezeichnende die Kluft, welche damals noch zwischen den Heisssporn-Slavophilen und Dostojewsky bestand und welche im Verlauf der Zeit durch des letzteren immer rückhaltslosere Hingabe an den nationalen Gedanken, allerdings bei Aufrechthaltung seiner Eigenart, immer kleiner wurde. Die Zeitschrift wurde also verboten, was den Herausgeber Michail Michailowitsch in grosse Geldverlegenheiten stürzte, da die Subskriptionsgelder schon eingelaufen und verbraucht waren, nun aber zurückgegeben werden mussten, und er ausserdem durch die Auflassung seiner bis jetzt innegehabten Cigarettenfabrik ganz allein auf den Erwerb durch die Feder angewiesen war und eine grössere Familie zu erhalten hatte.

Indessen war es für Theodor Michailowitsch, auf dessen Gesundheit der erste Aufenthalt im Auslande sehr günstig gewirkt hatte und der nun durch die Auflösung des Journals freier wurde, notwendig geworden, abermals Erholung zu suchen, und er machte sich ein zweites Mal auf den Weg nach Europa. Hier erzählt Strachow, Dostojewsky habe schon bei seinem ersten Ausfluge nach Paris Bekanntschaft mit dem Roulettespiel gemacht und sei so glücklich darin gewesen, dass er 11000 Frs. gewonnen habe, was ihm für die Reise sehr zu statten gekommen sei, in ihm aber die Erwartung zurückgelassen habe, er werde ein anderes Mal vom Glück ebenso begünstigt werden. Es war die Lockung des Spiels gerade für ihn eine doppelte. Fand der leidenschaftliche Geist des Dichters in den wechselnden Chancen des Spiels selbst ganz subjektiv die Nahrung, deren er bedurfte, die Erregung des Spieltriebes, ohne die er nicht leben konnte, so fand der feine und scharfe Beobachter in der ganzen Situation eine Fülle von Details, die er in seinem Gedächtnis aufspeicherte, im Verhalten der Mitspielenden alle jene Nüancen menschlicher Leidenschaften und Triebe ausgedrückt, die er aus seinem eigenen Wesen heraus so wohl verstand und zu deuten wusste.

Diesem Blick in die eigene Brust verdanken wir ja viele der tiefsinnigsten und genialsten Herausarbeitungen des Menschwesens in Dostojewskys Werken, und wenn irgend einer dazu berufen ist, uns die neue Ethik des Vollmenschen in seiner grössten Kompliziertheit und Verstricktheit von gut und böse zu verkünden und zu sagen: „Sieh’, dies ist der Mensch und so ist es gemeint, dass du ihn lieben sollst“, so ist es Dostojewsky, der bei aller Hassenskraft, die er gegen das Laster ausströmt, bei allem Zorn, mit dem er Irrtümer des Geistes und namentlich des Herzens verfolgt und vertilgen möchte, doch der Einzige ist, der eine Ahnung in uns davon erweckt, was man mit dem Leben und Lieben eigentlich alles anfangen kann.

Die unmittelbare Frucht von des Dichters zweiter Reise ist sein Roman: „Der Spieler“. Hören wir in einem Briefe an Strachow, vom 30. September 1863, was er selbst darüber sagt. Natürlich spielt sich hier, wie immer, die alte Geschichte ab — die Idee zum Roman ist da, Geld keines — also voraus verkaufen, die Beschwörungen, die zwingenden Wiederholungen, das Ausrechnen, bis zu welchem Tage das Geld eintreffen müsse, sonst sei er verloren, kurz das ganze heftige, aufreibende Überreden und Überzeugenwollen, wie wir es schon kennen! Er fährt also fort: „Jetzt habe ich nichts fertig. Allein es hat sich ein ziemlich (wie ich selbst urteile) günstiger Plan zu einer Erzählung in mir aufgebaut. Er ist zum grössten Teil auf Zettelchen geschrieben. Ich habe sogar schon anfangen wollen, ihn aufzuschreiben, allein — es geht hier nicht. Es ist sehr heiss und zudem bin ich an einen solchen Ort, wie Rom ist, auf eine Woche gekommen. Kann man aber in dieser einen Woche in Rom schreiben? Auch ermüde ich sehr beim Gehen. Das Sujet meiner Erzählung ist folgendes: — ein Typus des Russen im Auslande. Bemerken Sie: über die Russen im Auslande wurde diesen Sommer in den Journalen viel geschrieben. Das alles wird in meiner Erzählung einen Widerhall finden. Ja, im allgemeinen wird sich darin der heutige Zustand unseres internen Lebens wiederspiegeln (so weit als möglich natürlich). Ich nehme eine Natur, die Unmittelbarkeit besitzt, dabei hochentwickelt, in allem unfertig, dem Glauben entfremdet und doch nicht wagend, nicht zu glauben, sich gegen die Autoritäten auflehnend und sie doch fürchtend. Er beruhigt sich damit, dass er nichts in Russland zu thun habe — daher: strenge Kritik der Leute, welche aus Russland die im Ausland Weilenden herbeirufen. Aber das kann man ja nicht so erzählen. Es ist eine lebendige Person — (er steht förmlich leibhaft vor mir) — man wird es lesen müssen, wenn es geschrieben sein wird. Der Hauptwitz dabei ist der, dass alle seine Lebenssäfte, seine Kraft, Energie, Kühnheit — alles von der Roulette verbraucht wird. Er ist ein Spieler, und kein gewöhnlicher Spieler, so wenig wie der geizige Ritter Puschkins ein gewöhnlicher Geizhals ist (dies ist durchaus keine Vergleichung meiner selbst mit Puschkin, ich sage es nur der Klarheit wegen). Er ist in seiner Art ein Dichter, allein die Sache ist so, dass er sich selbst dieser Poesie schämt, da er in tiefster Seele ihre Niedrigkeit empfindet, wenn auch die Notwendigkeit des Risiko ihn in den eigenen Augen hebt. Die ganze Erzählung ist eine Erzählung davon, wie er schon das dritte Jahr in den Spielhäusern Roulette spielt.

Wenn das „Tote Haus“ die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich gelenkt hat, als eine Darstellung von Sträflingen, welche niemand vorher aus eigener Anschauung geschildert hatte, so wird diese Erzählung unbedingt durch die eigene Anschauung und detaillierte Schilderung des Roulettespiels die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ausserdem, dass solche Artikel bei uns mit ausserordentlichem Interesse gelesen werden, hat das Hazardspiel in den Badeörtern, besonders in Bezug auf die im Auslande befindlichen Russen, eine gewisse Bedeutung.

Endlich glaube ich annehmen zu können, dass ich alle diese höchst interessanten Vorwürfe mit feinem Gefühl, mit Vernunft und in einem Fluss darstellen werde.“

Den Schluss des Briefes bildet ein ganzer Feldzugsplan, wie man auf dieses noch nicht geschriebene Buch bei Boborykin, dem damaligen Redakteur der „Lesebibliothek“, voraus Geld nehmen könne. Michael Michailowitsch protestierte vergebens dagegen, dass sein Bruder eine Arbeit bei Fremden erscheinen lassen sollte. Er hätte es vorgezogen, dass Theodor Michailowitsch so lange warte, bis der Bruder sie in einem neu zu gründenden Blatte herausgeben könnte. Allein die Not drängte, so wurde man Handels einig, und Michael trat schweren Herzens zurück. Indessen ist dieser Roman niemals bei Boborykin erschienen, sondern erst viel später, im Jahre 1867 unter Umständen, welche eine grosse Wandlung in des Dichters Leben herbeizuführen bestimmt waren. Das vorher genommene Geld musste endlich nach Gründung der „Epocha“ auf Drängen Boborykins wieder herausgegeben werden.

Strachow bringt jenen Brief des Dichters in extenso, breitet sich auch sehr über die Nebenumstände und Details jener Geldkalamität aus, unterlässt es aber merkwürdigerweise, hier über die abermals unrichtige Wertschätzung des Dichters, zwei seiner Werke anlangend, ein Wort zu verlieren. Wer aber konnte darüber im Zweifel sein, dass hier wieder ein solcher Mangel objektiven Urteils von Seiten des Dichters mit unterlief, wie damals, als er den Roman „in neun Briefen“ den „Armen Leuten“ an die Seite stellte. Allerdings ist „Der Spieler“ künstlerisch als Ganzes genommen eine vollwertige Einheit, und Stellen wie jene, wo der Spieler das geliebte Mädchen am späten Abend in seinem Hotelzimmer zurücklässt und zum Roulettetisch eilt, um mit dem letzten 5 Frcs.-Stück das Geld zu gewinnen, das sie von dem zweideutigen Franzosen retten soll, der ihren Ruf in seiner Hand hat, solcher Stellen giebt es nicht allzuviele in der Weltlitteratur. Der Spieler hat nämlich mit dem letzten Goldstück unerhörtes Glück gehabt, er hat Tausende gewonnen, 20000, 30000, 50000; von einem Tisch zum andern ist er im Glückstaumel gewankt, ihm nach die Rotte, die sich an die Fersen der Glücksritter hängt. Ein Spielsaal nach dem anderen wird geschlossen, er bleibt bis zuletzt — endlich, es ist längst Mitternacht, kehrt er in das Hotel zurück. Er tritt in sein Zimmer, da sitzt Pauline auf dem Divan, vor ihr steht eine angezündete Kerze auf dem Tische. Sie sieht ihn verblüfft an — er hatte sie vergessen, ihre Situation, die Ursache seines Spiels und ihres Hierseins. Man kann wohl kaum einen Hintergrund ersinnen, von dem sich das Laster und die Seichtigkeit krasser abhebt, als diese von Liebe und Gefahr durchdämmerte, in Qualen hingebrachte Warte-Nacht des Mädchens, das ihm in sprachlosem Erstaunen zusieht, wie er den Inhalt seiner vollen Taschen triumphierend vor sie hin auf den Tisch schüttet. Bei aller Grossartigkeit dieser Episode jedoch, bei aller Feinheit mancher anderer in dem Buche, namentlich der herrlichen Zeichnung der alten Grossmutter, kann man nicht begreifen, wie Dostojewsky so nach — Publicisten-Art die Wirkung dieses Buches jener des Totenhauses an die Seite stellen kann. Es möchte uns fast scheinen, als wirkten da zwei Faktoren mit, um seine Objektivität, die ohnedies sehr gering war, zu paralysieren. Erstens die allen Dichtern anhaftende Seltsamkeit, über ihre eigenen Werke kaum je ein richtiges Urteil zu haben, und zweitens jenes innerliche Vergessen erlittener Unbill, das sich bis auf die Grösse und Wichtigkeit jenes tragischen Stoffes erstreckte. „Das Volk hätte uns gerichtet“, und „wir haben es verdient“, sagt er wiederholt; wie hätte er dies Buch anders taxieren sollen, als eine, auf „eigene Anschauung gestützte Darstellung persönlicher Erlebnisse“?

Dostojewsky musste natürlich der Spieler sehr am Herzen liegen, da er ja nicht nur den „Augenschein“ schilderte, sondern den Seelenzustand, den er selbst mehrmals in verhängnisvoller Weise durchgemacht hat. Unwillkürlich sehen wir da wieder den feurigen, leidenschaftlichen kleinen Theodor vor uns, wie er mit den Geschwistern Karten spielt und in seiner Ungeduld das „Glück korrigiert“; und doppelt verständlich wird uns die Mission des Dichters, der selbst so viel „vom Stoff der Schuld“ in sich getragen.

Von den persönlichen Erlebnissen des Dichters in der Zeit von 1862-64 haben wir ausser den oben von Strachow mitgeteilten Nachrichten wenig Kenntnis. Seine Korrespondenz mit Marja Dmitrjewna ist zur Stunde wohl im Besitze Anna Grigorjewnas, seiner zweiten Gattin; auch die Korrespondenz mit den Freunden, Wrangel, Maikow und anderen scheint entweder zu stocken, oder es ist nach allem, was wir vermuten dürfen, den noch Lebenden eine Pietätverletzung, etwas von ihren Schätzen einem weiten Kreise mitzuteilen. Wir können jedoch insofern getrost auf gewisse intimere Details verzichten, als wir uns gerade bei Dostojewsky nichts aus den Legenden holen könnten, die das Leben grosser Dichter umspinnt, und es uns gleichgiltig sein kann, mehr oder weniger von den kleinen Episoden seines Lebens in unsere Schilderung einzureihen; Episoden, die ihn nicht erhellen, sondern vielmehr von seinem ein für allemal feststehenden Wesen erst ihre Farbe und ihr Licht erhalten. Zudem gehörte sein Denken und Fühlen ganz der Allgemeinheit; da ist es also, bei den grossen Ereignissen der Heimat und den grossen Interessen der Menschheit, wo wir ihn aufsuchen müssen.

Des Dichters Rückkehr nach Russland scheint durch die Verschlimmerung im Gesundheitszustande Marja Dmitrjewnas ihren Grund gehabt zu haben. Wann sie stattfand, weiss auch N. Strachow nicht uns zu sagen. Marja Dmitrjewna war von den Ärzten nach Moskau geschickt worden und das wohl bald nach den grossen Petersburger Bränden, den polnischen Unruhen und ihres Gatten Abreise, also im Sommer oder Herbst 1863. Die schwere Erkrankung der Gattin veranlasst offenbar seine Zurückkunft. Wir finden ihn im November dieses Jahres in Moskau, wo er jedoch nicht bleibt, da ihn geschäftliche Unternehmungen nach Petersburg treiben. Vor allem handelt es sich um die Erlaubnis zur Gründung eines neuen Journals, dem die Brüder den Namen „Die Wahrheit“ geben wollen.

Um den Lesern darüber Klarheit zu geben, dass sich unter dem neuen Namen das Blatt und seine Richtung kundgebe, wollte Dostojewsky schon in der ersten Zeile darauf hinweisen, da es etwa heissen sollte: die Zeit (Wremja) verlangt nach Wahrheit usw., die Zensur jedoch, welche nach dem Irrtum ihres Verbots ins Schwanken geraten war, wusste nicht mehr recht, was zu gestatten, was zu verbieten sei, fand den Namen zu anzüglich, und so musste man sich für „Epocha“ entscheiden. In welcher Weise Theodor Michailowitsch über die Pflicht der Wahrheit auf breitester Basis dachte, bezeugt die Stelle in einem Briefe an den Bruder, wo es heisst: „Der zweite Aufsatz des Journals wird keinerlei Einfluss auf den Leitartikel haben. Die Besprechung des Tschernyschewskyschen Romans und jenes von Pissemsky würden grossen Effekt machen und, was die Hauptsache ist, unserem Programm gemäss sein. Zwei einander entgegengesetzte Ideen und beiden gerecht werden — also: Wahrheit“.

Man machte sich dann an die Arbeit. Der grosse Erfolg der durch ein Missverständnis eingegangenen „Wremja“ machte die Brüder über den zu erwartenden Erfolg der „Epocha“ allzu sanguinisch sicher. Unter den Mitarbeitern befanden sich noch immer Schtschedrin, Njekrassow und der glänzende Kritiker Apollon Grigorjew. Indessen hatte das Blatt sehr bald gegen intellektuelle und materielle Hindernisse anzukämpfen. Zu den tieferen Schäden gehörte die Abwendung der oben genannten berühmten Dichter, welchen die immer stärker zu Tage tretende slavophile Richtung der Brüder nicht zusagte, die schnell aufeinander folgenden Todesfälle, deren Opfer Marja Dmitrjewna, der Bruder Michael Michailowitsch und zuletzt Grigorjew (1864) waren; die Folge davon war in erster Linie der Irrtum im Publikum, dass der Dostojewsky gestorben sei, dessen Werke es bewunderte, woraus eine geringere Teilnahme und Subskription entstand, welcher Umstand wieder Unordnung in den Geldangelegenheiten der Redaktion nach sich zog. Die ersten Hefte waren, da der Dichter in Moskau am Krankenbette seiner Gattin weilte, in der Petersburger Typographie sehr schleuderhaft hergestellt worden, mit unzähligen Druckfehlern und falschen Interpunktionen behaftet, sodass das Entgegengesetzte von dem zu Tage kam, was der Autor hatte sagen wollen. Nichtsdestoweniger mühte sich Theodor Michailowitsch übermenschlich, schrieb in wenigen Nächten 2-3 Druckbogen und brachte das Januarheft auf nahezu 40 Druckbogen. Ein weiteres äusseres Hindernis zum Aufschwung des Blattes war die Gemächlichkeit, mit welcher sich die Zensur ihrer Arbeit entledigte. Strachow bringt dafür Daten, die unglaublich klingen, doch authentische Abschriften der auf den einzelnen Heften gedruckten Entscheidungen der Zensurbehörde sind. So wurde das Märzheft am 23. April, das Maiheft am 7. Juli, das Juniheft am 20. August, das Juliheft am 19. September, das Augustheft am 22. Oktober, das Septemberheft am 22. November, das Oktoberheft am 24. Oktober (!), das Novemberheft am 24. Dezember und das Dezemberheft 1864 am 25. Januar 1865 freigegeben.

Zu den grössten Missständen rechnet Strachow jedoch die sanguinische Selbsttäuschung der Brüder und ganz besonders ihre Unfähigkeit, eine Sache stetig und praktisch durchzuführen. Strachow breitet sich über die Wesenheit und Grundlage dieser unpraktischen Art aus, die er in einer allzu beweglichen Phantasie, in einem ewigen Steigen und Sinken von Stimmungen findet, und schliesst mit folgender konkreten Darstellung: „Was die Dostojewskys betrifft, so konnte man Michael Michailowitsch durchaus nicht als einen ganz unpraktischen Menschen ansehen; er war ziemlich umsichtig und scharfsichtig. Theodor Michailowitsch jedoch war, ungeachtet seines raschen Geistes, ungeachtet der erhabenen Ziele — ja, besser gesagt: gerade infolge dieser höheren Ziele — ausserordentlich unpraktisch. Wenn er eine Sache machte, so machte er sie sehr gut; allein er that dies mit Anläufen, mit sehr kurz anhaltenden Anläufen, war leicht befriedigt und hielt leicht inne, und das Chaos wuchs in jeder Minute um ihn herum. Die „Epocha“ wurde ohne einen Heller gegründet. Als sie einging (mit dem Februarheft 1865), hatte sie nicht nur die ganze Subskriptionssumme verschlungen, sondern auch jenen Teil der Erbschaft von einer reichen Moskauer Tante (etwa 10000 Rubel für jeden der Brüder), die sie sich voraus ausgebeten hatten, dabei 15000 Rubel Schulden, welche nach Eingehen der „Wremja“ Michael Michailowitsch zu Lasten geblieben waren. Bei alledem hatte die „Epocha“ für das Jahr 1865 noch immer 1300 Abonnenten aufgebracht. Als ein neues Blatt, ohne alte Lasten, hätte sie sich erhalten können. So aber zerflatterte alles und Theodor Michailowitsch blieb mit der Schuldenlast des Bruders, 15000 Rubel und dessen unversorgter Familie zurück.“

Ein langer Brief Dostojewskys an Baron Wrangel, welcher in dieser Zeit als Sekretär der russischen Gesandtschaft in Kopenhagen lebte, erzählt im Detail die Widerwärtigkeiten der letzten Jahre. Wir entnehmen diesem Briefe jene Stellen, die sich auf seinen persönlichen Anteil daran und seine privaten Verhältnisse beziehen. Es ist dies derselbe Brief vom 31. März 1865, dem wir weiter oben die Stelle über Marja Dmitrjewnas Tod entnommen haben. Nach der Erzählung des Todes seiner Gattin nimmt Dostojewsky jene seiner Kalamitäten folgendermassen auf:

„Mein Bruder hinterliess im ganzen 300 Rubel, damit wurde auch sein Leichenbegängnis bestritten. Ausserdem blieben gegen 25000 Rubel Schulden, wovon 10000 nicht beängstigend für die Familie waren, 15000 jedoch auf Wechseln standen, die gefordert wurden. Sie fragen hier, mit welchen Mitteln er hätte noch sechs Nummern des Journals herausgeben können (er starb im Juli 1865). Allein er hatte einen ungeheuren Kredit und konnte ausserdem Geld aufnehmen und dies war auch schon begonnen. Nun starb er und der ganze Kredit der Zeitschrift fiel zusammen. Keine Kopeke zur Herausgabe, dabei aber noch sechs Nummern auszugeben, was im Minimum 18000 Rubel kostete, und überdies die Gläubiger zu befriedigen, wozu 15000 Rubel nötig waren — also 33000 R. um den Jahrgang zu vollenden und eine neue Subskription zu erreichen. Seine Familie blieb buchstäblich aller Mittel bar — am Bettelstab. Ich blieb ihre einzige Hoffnung, und sie alle, die Witwe und die Kinder umstellten mich im Kreise und erwarteten von mir die Rettung. Es blieben zwei Wege übrig: 1. das Blatt nicht weiterführen, es, da ein Journal immerhin einen Besitz repräsentiert, den Gläubigern samt den Möbeln und dem ganzen Hausrat übergeben und die Kinder zu mir nehmen. Dann arbeiten, litteraturen, Romane schreiben und die Witwe und Waisen des Bruders erhalten. 2. Geld aufnehmen und die Herausgabe fortsetzen, koste es, was es wolle. Wie schade, dass ich mich für das Erstere nicht entschieden habe. Die Gläubiger würden natürlich kaum 20% erhalten haben, aber die Familie hätte die Erbschaft abgelehnt, wäre dadurch gesetzlich von jeder Zahlung befreit gewesen. Ich, meinerseits habe diese ganzen fünf Jahre an der Arbeit beim Bruder und für die Journale 8-10000 Rubel jährlich verdient. Folglich könnte ich sie und mich ernähren — natürlich wenn ich mein ganzes Leben vom Morgen bis auf die Nacht arbeite. Allein ich habe den zweiten Weg vorgezogen, d. h. das Blatt weiter herauszugeben. Übrigens war ich es nicht allein, der so wählte. Alle meine Freunde und früheren Mitarbeiter waren derselben Meinung.

Dazu kam, dass des Bruders Schulden bezahlt werden mussten, ich wollte nicht, dass eine schlechte Meinung das Andenken seines Namens beflecke. Dafür gab es ein Mittel: das neue Jahres-Abonnement erreichen, einen Teil der Schuld abtragen, trachten, dass das Blatt von Jahr zu Jahr besser werde und nach drei, vier Jahren, wenn die Schulden bezahlt wären, das Blatt irgend jemand abgeben und die Familie des Bruders sichern. Dann würde ich aufatmen, dann würde ich wieder anfangen, das zu schreiben, was ich schon lange auf dem Herzen habe.

Ich entschloss mich kurz. Ich fuhr nach Moskau, bat mir bei einer reichen alten Tante 10000 R. aus, die sie in ihrem Testament als meinen Anteil bestimmt hatte, und setzte, nach Petersburg zurückgekehrt, die Herausgabe des Blattes für diesen Jahrgang fort. Allein die Sache war schon sehr verdorben. Es musste die Erlaubnis der Zensur zur Herausgabe des Journals eingeholt werden. Man zog die Sache so hinaus, dass das Juniheft erst Ende August erscheinen konnte. Die Abonnenten, die gar nichts damit zu thun hatten, begannen aufzubegehren, die Zensur gestattete mir nicht, meinen Namen auf das Blatt zu setzen, weder als Herausgeber noch als Redakteur. Ich musste mich zu energischen Massregeln entschliessen: Ich begann in drei Druckereien auf einmal drucken zu lassen, sparte weder Geld noch Gesundheit und Kraft. — Ich allein war Redakteur, las die Korrekturen, schlug mich mit Autoren und mit der Zensur herum, besserte Artikel aus, bemühte mich um Geld, sass bis sechs Uhr morgens auf und schlief 5 Stunden von 24; und obwohl ich Ordnung in die Sache brachte — es war zu spät. — — Was mich das alles gekostet hat! Die Hauptsache aber ist, dass ich bei all dieser Zwangs- und Schmutzarbeit nicht imstande war, im Blatte auch nur eine Zeile Eigenes zu drucken. Meinem Namen begegnete das Publikum gar nicht und sogar in Petersburg, nicht nur in der Provinz, wusste es nicht, dass ich das Blatt redigiere. Und plötzlich brach bei uns eine allgemeine Journal-Krisis herein.

Oh, mein Freund, gern würde ich abermals ins Gefängnis auf ebenso viele Jahre wandern, könnte ich dadurch alle Schulden bezahlen und mich wieder frei fühlen. Jetzt werde ich abermals anfangen, einen Roman unter der Rute zu schreiben, das heisst, in aller Eile, aus Not. Er wird effektvoll werden, aber brauch’ ich nur das! Die Arbeit aus Not um des Geldes willen hat mich erstickt und zerstört. — — Ich habe Ihnen nun alles beschrieben und sehe, dass ich die Hauptsache, das Leben meines Geistes und Herzens, nicht ausgesprochen, ja keine Vorstellung davon gegeben habe. So wird es immer bleiben, so lange wir schriftlich verkehren. Ich kann nicht Briefe schreiben und kann über mich nicht in bestimmten Grenzen schreiben. Übrigens ist das auch schwer: viele Jahre liegen zwischen uns, und was für Jahre! — —

Im Auslande bin ich zweimal gewesen — im Sommer 1862 und 1863. Jedesmal bin ich auf drei Monate fortgegangen. Ich war in Deutschland (fast überall), in der Schweiz, in Frankreich, in Italien (auch überall). Meine Gesundheit hat sich beide Male im Auslande mit unglaublicher Geschwindigkeit gebessert. Ich habe beschlossen, alljährlich auf drei Monate zu verreisen, umsomehr, als das in materieller Beziehung bei der Teuerung unseres hiesigen Lebens nichts zu bedeuten hat. Ich wollte reisen, um mich zu erholen, um auszuruhen, zu mir zu kommen und um so tüchtiger die weiteren neun Monate des Jahres in Russland zu arbeiten. Allein im vorigen Jahre hat des Bruders Tod mich gezwungen, endgiltig hier zu bleiben. Und wie hätte ich das Bedürfnis, wenigstens auf einen Monat fortzufahren, mich ein bischen umzuthun, zu erfrischen, zu erneuern“ .... usw.

„Mit diesem Briefe“ — sagt Strachow — „kann man einen besonderen Abschnitt in Dostojewskys persönlichem Leben abschliessen, die Periode von seiner Zurückkunft aus der Verbannung bis zu dem Augenblick der Vereinsamung, da er ohne Gattin, ohne Bruder, ohne sein Blatt zurückblieb. Das Lebensgefühl, von dem er spricht, hat ihn nicht betrogen. Von hier an beginnt die bessere Hälfte seines Lebens: ihn erwarteten sehr grosse Mühen und Beschwerden, allein zugleich auch neue, höhere Schöpfungen seines Talents, ein neues, schönes Familienleben, unausgesetzte litterarische Erfolge, wachsende Berühmtheit und endlich, in den letzten Jahren, die Tilgung aller Schulden, genügendes Auskommen und Ordnung in seinen Geldangelegenheiten. In dieser schweren und angestrengten Zeit entstand im Jahre 1866 „Schuld und Sühne“ (Raskolnikow), 1868 „Der Idiot“, 1870 „Die Besessenen“. Strachow schreibt diese Fruchtbarkeit dem Umstande zu, dass die „Epocha“ eingegangen war und seine Kräfte nicht aufbrauchte. „Theodor Michailowitschs übriges Leben“, fährt Strachow fort, „kann man von hier an in zwei Perioden abteilen. Die erste, von 1865-1871, während welcher alle diese Romane geschaffen wurden, war sehr beschwerlich, fruchtbar und zum grössten Teil im Ausland zugebracht. Die zweite Periode, welche mit der Rückkehr nach Russland begann (1872-1881), repräsentiert die neuen publizistischen Versuche, in der Form einer Redaktion des „Grashdanin“ und des „Tagebuchs“ — allein das ist eine weniger beschwerliche, verhältnismässig ruhige, und nach aussen durch die Ordnung der Verhältnisse — und den öffentlichen Erfolg sich immer glücklicher gestaltende Periode.“

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