VIII. Vierjähriger Aufenthalt im Auslande. (1867-1871.)

Zwei Monate nach seiner Vermählung, d. h. am 14. April 1867, ging das Ehepaar Dostojewsky nach dem Auslande, wo es, wie Strachow erzählt, weit länger zu bleiben verurteilt war, als es zu verweilen gedacht hatte. In einer Reihe von Briefen aus jener Zeit finden wir die Erklärung dazu. Mit der Rückkehr Dostojewskys nach Russland wären so viele Zahlungen und Verpflichtungen an ihn herangetreten, dass er dem Schuldgefängnisse nicht hätte entgehen können, wo er seiner physischen und psychischen Natur nach unmöglich hätte arbeiten und so weder für die Familie des Bruders noch für seine eigene hätte aufkommen können. Er musste also im Auslande bleiben, um bei unermüdlicher Arbeit endlich die grosse Schuldenlast, welche des Bruders Tod auf ihn gewälzt hatte, allmählich abzutragen.

Dieser Aufenthalt im Auslande wurde, ganz abgesehen von vielen schweren Sorgen, von der fast ausschliesslichen Einsamkeit und den Beschwernissen, welche Familienzuwachs in der Fremde bei beschränktesten Mitteln mit sich bringt, doch ein reicher Erntesegen, sowohl in materieller wie in geistiger Beziehung. Strachow sagt, es sei kein Zweifel, dass gerade im Auslande, bei diesen Umständen und den langen und ungestörten Meditationen, sich in dem Dichter die ganz besondere Ausgestaltung jenes christlichen Geistes vollzog, der immer in ihm gelebt hatte. In seinen Briefen ertönte plötzlich diese Saite seines Wesens, sie begann so mächtig in ihm zu erklingen, dass er es nicht mehr für sich allein zu behalten vermochte, wie er dies früher gethan. Von dieser durchgreifenden Umgestaltung geben seine Briefe jedoch keinen vollkommenen Begriff. Allein für alle seine Bekannten hat sie sich sehr klar gezeigt, als Theodor Michailowitsch von seiner Auslandsreise zurückkam. Unaufhörlich lenkte er das Gespräch auf religiöse Themata. „Nicht genug an dem“ — sagt Strachow — „er war auch in seinem Benehmen mit Menschen, das eine grössere Weichheit erlangt hatte, ja manchmal geradezu zur Sanftmut wurde, verändert. Sogar seine Gesichtszüge trugen die Spuren dieser Stimmung an sich, und auf seine Lippen war ein mildes Lächeln getreten. Ich erinnere mich“ — fährt Strachow fort — „an eine kleine Episode im „Slavischen Comité“. Wir traten zugleich ein und wurden von J. Petrow begrüsst. Wer ist das? fragte mich Theodor Michailowitsch, der ihn entweder nicht kannte, oder vergessen hatte, da er fortwährend auch solche Leute vergass, denen er oft begegnete. Ich sagte es ihm und fügte hinzu: was für ein wunderbarer, höchst wunderbarer Mensch! Theodor Michailowitschs Augen leuchteten freundlich auf, er sah alle Anwesenden mit liebevollem Blicke an und sagte: „Ja, alle Menschen sind wunderschöne Geschöpfe.“

Ehe wir jene Reihe Briefe mitteilen, welche der Dichter im Laufe seiner Abwesenheit von der Heimat an die Freunde schrieb, wollen wir Strachows orientierende Erzählung über die Reisestationen und das Lebensdetail dieses vier Jahre dauernden Exils in Kürze wiedergeben. Das Ehepaar ging im April über Berlin nach Dresden, wo es sich zwei Monate aufhielt. Der Dichter schrieb hier an seinem Artikel: „Meine Erinnerungen an Belinsky“, welchen er erst in Genf vollendete, im September an Maikow schickte, der ihn dem jungen Redakteur einer Sammlung übergab, worauf die Arbeit, sowie auch alle anderen, für diese Sammlung vorbereiteten Artikel, spurlos verschwunden sind. In Dresden war es namentlich Anna Grigorjewna, welche die Galerie eifrig besuchte und studierte. Theodor Michailowitsch besuchte sie wohl auch, beschränkte sich dabei jedoch immer auf seine Lieblinge: „Die Sixtina“, Correggios „Nacht“, Tizians „Zinsgroschen“, den Christuskopf von Annibale Caracci und die „Abendlandschaft“ Claude Lorrains. Ausserdem liebte er die Gemälde Rujsdaels, namentlich seine „Jagd“.

Hier schalten wir eine kleine Episode ein, welche wir aus dem Munde Anna Grigorjewnas haben und welche einmal durch den Briefwechsel des Dichters mit seiner Gemahlin, in welchen sie uns Einblick gewährte, ihre eigentliche Beleuchtung erhalten wird.

Kaum drei Monate verheiratet und in Dresden in den bekannten, sehr engen Verhältnissen lebend, beschliesst Dostojewsky von dort aus einen Abstecher nach Homburg zu machen, wo das Roulettespiel noch in voller Blüte stand, um noch einmal (wohl nicht zum letzten Male) sein Glück zu versuchen. Die kluge junge Gattin widersetzt sich diesem Vorhaben durchaus nicht; weiss sie ja doch, dass in solchem Falle ein Begehren sich ins Unerträgliche steigern und den Hausfrieden stören kann. Auch ist sie klar genug, zu erkennen, dass es nicht nur der praktische Beweggrund — so viel zu gewinnen, um eventuell in die Heimat zurückkehren zu können — allein ist, der den Dichter aus Dresden forttreibt, sondern wohl in ebenso hohem Grade sein nervöses und künstlerisches Bedürfnis nach der Aufregung des Spiels. Beide fühlen das ohne es auszusprechen, und so nimmt er hundert Thaler mit, die ihm zum Glück helfen sollen, über deren Verlust hinaus aber er nichts riskieren will. Nun beginnt jenes aufregende hinauf und hinab von Furcht und Hoffnung des Spielzufalls, das wir in seinen täglichen Briefen an die Gattin sich getreu wiederspiegeln sehen. Selbstanklage, Zerknirschung, Verhimmelung des jungen Weibes, das so geduldig alle diese Wendungen mit ihm durchlebt, ihre letzten besseren Sachen versetzt, um ihm noch einmal Geld zu senden, das die versetzte Uhr auslösen, ihn heimbringen soll, dies alles ohne Vorwurf und Bitterkeit lassen sowohl seinen, vom Augenblick und der Leidenschaft so oft beherrschten „schlechten Charakter“, wie er es nennt, unendlich plastisch hervortreten, sowie sein dankbares Verhältnis zur klugen jungen Frau, die ihn durch Nachgiebigkeit und unmerkliche Führung so gut zu lenken weiss.

Um die Mitte des Monats Juni 1867 reiste das Ehepaar von Dresden ab, um in die Schweiz zu gehen. In Baden-Baden wurden sie jedoch sechs Wochen festgehalten, da sich Theodor Michailowitsch abermals zum Spiel hatte hinreissen lassen, anfangs gewonnen, dann aber so viel verloren hatte, dass er sich nur mit dem von Katkow ihm gesandten Gelde loskaufen konnte und mit einem Rest von 30 Frcs. in der Tasche in Genf ankam. Seine Stimmung jedoch, sagt Strachow, wurde sofort eine bessere, als er nur der ihn wie ein Alp drückenden Vorstellung, am Roulettetisch gewinnen zu müssen, entronnen war.

In Genf brachte das Ehepaar den Winter 1867-68 zu, wo er den „Idioten“ schrieb, welcher Roman im „Russkij Wjestnik“ mit dem Januar 1868 zu erscheinen begann. Ihr Leben war einsam und einförmig. Um 11 oder 12 Uhr stand der Dichter auf, trank Kaffee und setzte sich zur Arbeit, an der er bis 3 Uhr verblieb. Dann diktierte er seiner Gattin aus dem Brouillon. Um 4 Uhr ging man in irgend ein Restaurant zu Tische. Dann las er im Lesesaal russische Zeitungen. Gegen Abend machte man einen Spaziergang, dann nahm man den Thee, worauf sich Theodor Michailowitsch ungefähr um 10 Uhr abends an sein Werk begab und bis 4-5 Uhr morgens arbeitete. Von Bekannten war niemand da, ausser Ogarew, welcher sie hier und da besuchte und ihnen in Zeiten grosser Not manchmal 5-10 Frcs. lieh. Am 22. Februar 1868 wurde ihnen das erste Töchterchen, Sophie, geboren; am 7. Mai desselben Jahres erfolgte deren Tod, den der Dichter so schwer empfunden und nie verwunden hat. Das Leben in Genf hatte für das Ehepaar aber auch noch manche andere Beschwerden und Unannehmlichkeiten, so dass sie sich Ende Mai davon losrissen und in Vevey ansiedelten, wo sie den Sommer über verblieben. Anfangs September gingen sie über den Simplon nach Italien, brachten zwei Monate in Mailand zu und liessen sich für den Winter 1868-69 in Florenz nieder. Die ganze Zeit wurde die Arbeit am „Idiot“ fortgesetzt, dessen Schluss als Separat-Anhang des „Russkij Wjestnik“ im Januar- oder Februarheft 1869 erschien.

War „Schuld und Sühne“, ohne dass man dies in Europa beachtete, ein spezifisch russisches Buch, der Roman der russischen Prinzipien und Probleme, so finden wir im „Idiot“, der, wie wir sahen, im Auslande begonnen und vollendet wurde, etwas ganz anderes in Wirksamkeit treten. Die Gestalt des Helden bietet den Russen kein neues Problem, hat kein neues Wort für sie, während zugleich die vielen Figuren des Beiwerks, mit sichtlichem Zorn und unnachsichtiger Härte hingestellt, in seinen Landsleuten Unwillen ob der Parteilichkeit erwecken mussten, mit welcher der Dichter die Gesinnungsgenossen einer „längst vergangenen Zeit“ brandmarkt. Dostojewsky hat dies später, in dem Roman „Die Besessenen“ noch in höherem Masse durchgeführt.

Für die europäische Lesewelt steht die Sache jedoch anders. Auch sie wird vieles in der Komposition dieses Buches fehlerhaft, die Charaktere der jungen Generation übertrieben, die Handlung gedrängt und doch lose, den Ton ungleich finden, und es wird ihr gerade dieses Scharfe, Krause, Wirre des Beiwerks russisch grausam erscheinen müssen. Die Gestalt des Helden aber, welche dem Russen, als allzuverwandt mit seiner Volksseele, kaum auffällt, ja vielleicht lächerlich erscheint, sie wird uns mit allen Mängeln der Dichtung aussöhnen.

Betrachten wir dies Buch aber weder vom Standpunkt des russischen, noch dem des deutschen Lesers, sondern, da wir ja schon die späteren Werke des Dichters kennen, im Hinblick auf seinen Werdegang, so finden wir darin, ganz im Gegensatz zu den russischen, zeitgenössischen Kritikern (welche die immer schärfer hervortretende Verbissenheit tadeln), die neue Form seiner christlichen Anschauungen sich immer klarer und deutlicher aus der Umgebung widerstreitender Erscheinungen herausschälen.

Fanden wir bei Raskolnikow die Hoffnung auf eine innere Sühne der Schuld durch ein künftiges christliches Glauben und Lieben, so steht hier in diesem „Idioten“ eine Verkörperung hoher, christlicher Weisheit, ohne jegliches „Prinzip“, ohne Zwang, in grösster Anmut vor unseren Augen.

Vollendet künstlerisch, wie alle Expositionen Dostojewskys setzt die Erzählung ein. Schon nach den ersten Seiten wissen wir, dass der Held, der junge Fürst Myschkin, kein Idiot ist, sondern der „reine Thor“, jene herrliche Gestalt, welche in der Litteratur so vieler Völker wiederkehrt, in der deutschen Sage im Parsifal unsterblich lebt, beim russischen Volk aber nicht sagenhaft, als Held, sondern als ein Kind des Volkes, „Iwanuschka-Duratschók“ noch heute lebendig unter ihm einherwandelt, belächelt und bemitleidet von seiner Umgebung, die selbst dereinst ein Stück russischer Sage darstellen wird.

Der junge Mann kommt aus der Schweiz in Petersburg an; er ist ärmlich gekleidet, so dass ihn im Waggon dritter Klasse friert; er hat sein ganzes Hab und Gut in einem Bündelchen bei sich und erzählt seinen Reisegefährten mit der Bereitwilligkeit eines Kindes, dass er, der letzte seines Namens, durch die Güte eines väterlichen Freundes bei einem Schweizer Arzt auf dem Lande untergebracht worden war, wo er von nervösen Anfällen geheilt werden und, so weit es seine Krankheit zuliesse, unterrichtet werden sollte. Seine Gesundheit sei viel besser geworden, seine Erziehung aber dennoch sehr lückenhaft geblieben. Vor zwei Jahren sei der Wohlthäter gestorben, der freundliche Arzt habe ihn aber dennoch bei sich behalten, habe väterlich für ihn gesorgt und ihn erst jetzt aus einem bestimmten Anlass nach Petersburg geschickt, ihm die Reise bezahlt, aber weiter nichts mitgeben können, so dass er nun ohne eine Kopeke anlange und noch nicht wisse, was er beginnen werde. Seine Reisegefährten sind: Rogoschin, der Sohn eines ebenso reichen als geizigen und despotischen Kaufmannes, dem er vor kurzem 10000 Rubel entwendet hat, um sie einer berühmten Schönheit zweifelhaften Rufes zu verehren. (Nun ist der Vater plötzlich gestorben und er kehrt zurück, um sein Erbe anzutreten.) Ferner ein mit allen Salben geriebener kleiner Beamte, schlechtester Sorte. Beide lächeln über die Harmlosigkeit des jungen Fürsten, der selbst erzählt, man hätte ihn in der Schweiz einen Idioten genannt, was er auch sicherlich ohne die treue Pflege jenes Arztes geworden wäre, nun aber nicht sei, wenn er sich auch noch nicht ganz genesen nennen könne.

Als die Rede auf jenes schöne Mädchen, Nastassja Philippowna, kommt, das der Kaufmannssohn leidenschaftlich zu begehren scheint, bekennt Myschkin (zu Rogoschins grosser Freude und Erleichterung) freimütig, dass er immer zu krank gewesen sei, um je ein Weib zu kennen. Damit ist auch für den Leser das Bild Myschkins als das eines Zuschauers in Liebesangelegenheiten klar, was seinen warmen, ja leidenschaftlichen Anteil an Nastassja, sowie später an Aglaia Epantschina, der jüngsten Generalstochter, die ihn liebt, in das reinste Licht stellt.

Nachdem die Reisegefährten angekommen sind, bietet Rogoschin dem Fürsten seine Gastfreundschaft und Hilfe an. Dieser will sich vorerst an den General Epantschin wenden, dessen Gattin ebenfalls eine Fürstin Myschkin ist, und hofft sich dort wegen der Angelegenheit, um derentwillen ihn der Pfleger in die Heimat geschickt hatte, Rat holen zu können. Da er keinen Wert auf diese Sache legt, sie nur nebenher erwähnt und hilflos-vergnügt mit seinem Bündelchen weiter zieht, fragt auch niemand nach dieser Angelegenheit, und er tritt nach einem schüchternen Läuten in die Vorstube des Generals ein, wo ihn ein Kammerdiener misstrauisch von oben bis unten ansieht und endlich gnädig hereinlässt. Die hier folgende Scene, da der junge Fürst seinen Namen nennt, aber mit seinem Bündelchen in der Hand lieber in der Dienerstube bleibt, als dass er in das Wartezimmer der Gäste ginge, ist ganz ausserordentlich geschildert.

Der Diener hält den Besucher natürlich bald für einen „Idioten“, gewinnt aber allmählich und unbewusst Sympathie und eine gewisse Achtung für diesen jungen Menschen, den er gleichwohl nirgends einzureihen weiss. Für den Leser ist aber von den ersten Worten, die Myschkin spricht, sichtbar geworden, dass da ein Wesen tiefster Herzenskundigkeit, weltfremd und unerfahren, doch in den letzten Dingen hellsehend und weise sich entfalten wird. Zugleich kindhaft vertraulich und streng bestimmt in ihren sittlichen Forderungen, lässt uns diese genialische Seele keinen Augenblick über sich im Zweifel. Die Krankheit, welche er nun fast ganz überwunden, ist auch hier sehr künstlerisch verwendet. Nicht ein Hemmnis oder eine Beugung des Charakters durch sie wird hier sichtbar, sondern sie hinderte den jungen Geist am Lernen, so dass auch darüber kein Zweifel sei, dass wir es nicht mit einem „gebildeten Geist“ zu thun haben, sondern mit einem natürlich entfalteten Wesen.

Manche russische Kritiker haben es abfällig beurteilt, dass Dostojewsky dem Fürsten Aussprüche tiefster Weisheit in den Mund legt. Wir können diesem Urteil nicht beipflichten. Der Dichter hat es wohl abgewogen, welcher Art die Weisheit sein müsse, die er den jungen Menschen aussprechen lässt. Immer ist es eine auf das Reinmenschliche gerichtete Wahrheit, eine Feinheit, die aus dem Gemüt quillt und zum Gemüt dringt, keinerlei Reflexions- oder Dogma-Weisheit. Und selbst da, wo Myschkin über den Katholicismus spricht, holt er seine Ansichten aus anderen Quellen, als einer erworbenen Tradition oder einem ausgeklügelten Axiom. Hören wir, was er gleich zu Anfang der Erzählung mit dem Kammerdiener des Generals in der Dienerstube über die Todesstrafe sagt. Der Diener fragt nach dem Auslande, den Sitten, der Gerichtsbarkeit, den Strafen. Da erzählt Myschkin, er habe in Lyon einer Hinrichtung durch die Guillotine beigewohnt, und beschreibt die Guillotine, wie sie so schnell arbeite. Auf des Kammerdieners Antwort, das sei noch gut, wenn es so schnell geschehe, sagt Myschkin:

„Wisst Ihr was? — seht, das habt Ihr bemerkt und das bemerken alle so wie Ihr, und darum ist diese Maschine, die Guillotine, so ersonnen. Mir aber ist gerade damals ein Gedanke in den Kopf gekommen: wie wenn gerade das noch schlimmer wäre? Das scheint Euch lächerlich, ja toll; bei einiger Vorstellung kommt einem aber doch so ein Gedanke in den Kopf. Bedenket: wenn man z. B. die Folter nimmt, dabei giebt es Schmerzen und Wunden, körperliche Qualen; das alles aber zieht ja von der seelischen Qual ab, so dass Du Dich nur mit den Wunden abquälst bis zum letzten Augenblick, bis zum Tod. Aber der Hauptschmerz, der heftigste Schmerz, ist ja vielleicht nicht in den Wunden, sondern darin, dass Du weisst, nun wirklich weisst, dass nach einer Stunde, dann nach zehn Minuten, dann nach einer halben Minute, dann sofort — Deine Seele dem Körper entflieht, dass Du dann kein Mensch mehr sein wirst und dass das schon sicher sein wird; die Hauptsache ist, dass es wirklich geschehen wird. Siehst Du, wenn Du den Kopf unter das Messer legst und hörst, wie es über ihm knirscht, diese Viertelsekunde, siehst Du, das ist das schrecklichste von allem. Wisst Ihr, das ist nicht meine Phantasie, das haben viele gesagt. Ich bin so überzeugt davon, dass ich Euch offen meine Meinung sagen will. Einen Totschlag mit einem Totschlag zu sühnen ist eine unermesslich grössere Strafe, als das Verbrechen selbst. Das Töten infolge eines Urteilsspruchs ist unvergleichlich furchtbarer, als der Totschlag eines Räubers. Derjenige, welchen die Räuber erschlagen, bei Nacht, im Walde oder sonst wie zerhauen, hofft unbedingt, bis zum letzten Augenblicke, noch auf Rettung. Es hat Beispiele gegeben, da Einer, dem schon die Gurgel durchschnitten war, noch hoffte, dass er noch lief oder flehte. Hier aber nimmt man ihm diese ganze letzte Hoffnung, mit der zu sterben es zehnmal leichter ist; man nimmt sie ihm thatsächlich, unwiderruflich fort. Hier ist ein Urteilsspruch und darin, dass Du ihm wirklich nicht entrinnen kannst, darin sitzt ja die furchtbare Qual. Und eine furchtbarere Qual als diese giebt es nicht auf der Welt. Stellt einen Soldaten im Krieg vor die Mündung einer Kanone und schiesst auf ihn, er wird immer noch hoffen, aber leset diesem nämlichen Soldaten das wirkliche Todesurteil vor, so wird er wahnsinnig[23], oder er fängt an zu weinen. Wer hat gesagt, dass die menschliche Natur imstande ist, das auszuhalten, ohne verrückt zu werden? Wozu ist eine solche Beschimpfung, eine so unsinnige, unnötige, so unnütze? Vielleicht giebt es auch einen solchen Menschen, dem man sein Urteil vorgelesen, den man sich abquälen liess und dem man dann gesagt hat: „Geh hin, man hat Dir verziehen“; das wäre ein Mensch, seht ihr, der was erzählen könnte! Von dieser Qual und diesen Todesschrecken hat auch Christus gesprochen. Nein! mit einem Menschen darf man nicht so verfahren!“

Wir wissen, dass Dostojewsky hier die bitterste Frucht seines eigenen Lebens dem jungen Myschkin in den Mund legt, doch ist dies so glaubwürdig aus dem Herzen des „Idioten“ herausgesagt, dass dieser Ausspruch, den des Dichters eigene Erfahrung gereift, hier wie eine Ahnung möglicher Qualen, wie ein Protest gegen diese das weiche und doch feste Empfinden des jungen Mannes beleuchten. Mit diesem Gespräch und dem gleich darauf folgenden Besuch bei der Familie des Generals, wo er der Generalin und ihren drei schönen Töchtern einiges aus seinem Leben in der Schweiz erzählt, ist gleichsam das „Leitmotiv“ des ganzen Romans angeschlagen, durch dessen wirre, gedrängte, mit Personen und Zufälligkeiten überfüllte Handlung die Gestalt des Idioten wie ein irrender Sonnenstrahl hindurchgleitet.

Der Kritiker Michailowsky nennt Dostojewsky in einem geistvollen Essay „ein grausames Talent“ und meint, die „Wollust an unnützer Qual der Nebenmenschen“ sei das charakteristische Merkzeichen seiner schriftstellerischen Thätigkeit, die sich immer nur um das Verhältnis von Wolf und Schaf herumbewege. In der ersten Hälfte seiner litterarischen Laufbahn sei Dostojewsky mit Vorliebe bei den Leiden des Schafes verweilt, das vom Wolf gefressen werde, später aber habe er mit wahrer Wollust die Gefühle des Wolfes geschildert, der das Schaf auffrisst. Diese Vorstellung hat Michailowsky sich wohl aus dem Eindrucke geholt, welchen der „Idiot“ und später „Die Besessenen“ in ihm mochten hervorgerufen haben. Es giebt in der That kaum je eine Lektüre, welche stellenweise solche Qualen hervorzurufen vermöchte. Allein die Deutung Michailowskys ist durchaus herbeigezwungen, denn auch hier, in diesen „grausamsten“ Werken des grossen Dichters und ganz besonders im „Idioten“, wiewohl er künstlerisch weit schwächer ist als „Die Besessenen“, steht er nicht nur auf der Seite des Schafes, sondern er löst die heitere, unbefangene, starke und überzeugte Milde seines Helden wie einen glänzenden Kern aus dem stachlichen Gehäuse des um ihn sich schliessenden Lebens heraus. Diese Lebens-Umgebung, diese Menschen und ihre Zustände, namentlich aber ihr Verhalten gegen den kranken und durch das Mitleid so überaus erregbaren jungen Mann, das alles hat etwas Widerwärtiges an sich, das indessen nur zur Hälfte als Vorwurf auf des Dichters Rechnung zu setzen ist. Wo er die junge Generation nihilistischer, atheistischer Färbung schildert, da ist er beissend, ja bissig bis ins Ungerechte, subjektiv bis zur Blindheit. Er, der im gemeinen Verbrecher des Totenhauses den göttlichen Funken, die „russische Wahrheit“ sucht und findet, ist unerbittlich gegen Verirrungen und Trugschlüsse des Geistes, Irrtümer des Herzens, die er selbst einmal geteilt hatte. Hier liegt die Vermutung nahe, dass er eben darum, weil er gelernt hatte, diese Richtung in sich selbst aufrichtig zu verdammen, das Mass für die Beurteilung der selben Ideen in Anderen verlor. Was uns aber sonst als quälend und unbehaglich in der Umgebung Myschkins entgegentritt, ist das zusammengewürfelte Milieu, das in Russland in gewissen mittleren Kreisen sich bildet, dem der Dichter in jüngeren Jahren wohl selbst mochte angehört haben, das ihn aber sicher als Romancier mehr locken musste, als die ausgeglichene Eleganz der hohen Kreise oder die Einheitlichkeit des Dorflebens.

In diesem mittleren Milieu brodelt das vielfältigste Leben. Es verkehren Menschen mit einander, die ursprünglich nicht zusammen gehörten. Die einen wollen hinauf, die andern müssen hinunter, alle wollen leben, geniessen, verdienen, wenigstens nicht verlieren, etwas gelten, ihren Leidenschaften freien Lauf lassen. Das kostspielige Leben der Hauptstadt gestattet vielen dieser Existenzen nicht, ein eigenes Quartier zu mieten. Man wohnt in Aftermiete (meblirovannye komnaty); der verabschiedete General, der kleine Beamte mit seiner Familie, die Gutsbesitzerswitwe mit ihrer Tochter, verwitterte Excellenzen, versoffene Kollegienräte, Hochstapler, Spieler, Cigaretten rauchende „Generalinnen“, das alles lebt in einzelnen Zimmern auf einem Gange „bei Vermietern“. In den Mietwohnungen minderen Ranges entsteht eine Gemeinschaft des Lebens; man lebt mit, man zieht bald zu dem einen, bald zu dem anderen der Stubennachbarn, man führt politische Gespräche, trinkt, spielt bis tief in die Nacht, streitet und versöhnt sich usw. Jener merkwürdige Typus „verlorener Kinder“ wie sie Dostojewsky als Sonja in Schuld und Sühne, als Nastassja Philippowna im Idiot schildert, ist auch aus diesem Milieu hervorgeholt. Was einer solchen Menschengemeinschaft vom Standpunkt geordneter und vornehmer Verhältnisse als Makel anhaften muss, das bildet wohl einen Vorzug im Leben jener von unserer Gesellschaft zur Schmach erzogenen Wesen. Dostojewsky, der konservative Politiker, ist als Mensch im weitesten Sinne frei und zeigt uns in diesen Gestalten eine merkwürdige Mischung von Verderbnis und Naivetät.

Ganz besonders in Nastassja Philippowna ist diese Keckheit und dieser Stolz der „Verlorenen“, die sich verschenkt, aber nicht verlizitieren will, ganz herrlich hingeworfen. Auch sie, wiewohl sie schon „vom Stoff der Schuld“ viel mehr in sich trägt, als die sanfte Sonja, ruft der Dichter durch Myschkins Mund zum „Liebesmahle“ heran. Myschkin hat ihr Bildnis gesehen, er soll es aus des Generals Kanzlei zu den Damen hinüberbringen. In einem der leeren Säle, die er, das Bild in der Hand, durchschreitet, bleibt er stehen, betrachtet dieses schöne, bleiche, magere Gesicht mit den tiefen Augen und — drückt plötzlich einen innigen Kuss darauf. Wir bleiben aber nicht lange über den Sinn dieses Kusses im Unklaren. Als er bei den Damen sitzt und ihnen von der Schweiz erzählen muss, da sagt er, dass er dort so überaus glücklich gewesen sei. Man lächelt, fragt, nötigt ihn zu reden. „Ich war nicht verliebt — ich war dort .. anders glücklich.“ Nun dringt man noch mehr in ihn und er fährt fort: „Dort — waren immer viele Kinder und ich war die ganze Zeit mit Kindern, nur mit Kindern. Es waren die Kinder aus jenem Dorfe, der ganze Tross, der dort in die Schule ging. Nicht, dass ich sie unterrichtet hätte — o nein, dazu war der Schulmeister da, Jules Thibaut; übrigens habe ich sie wohl auch gelehrt, aber ich war die meiste Zeit nur so mit ihnen — und so sind mir vier Jahre vergangen. Ich brauchte nichts anderes. Ich sprach mit ihnen über alles, habe ihnen nichts verheimlicht. Ihre Eltern und Verwandten wurden alle böse auf mich, weil die Kinder zuletzt gar nicht mehr ohne mich sein konnten und sich immer um mich scharten. Auch der Schullehrer wurde am Ende mein grösster Feind. Es erstanden mir dort viele Feinde und alle um der Kinder willen. Sogar Schneider (jener Arzt, der ihn aufgenommen hatte) beschämte mich. Aber was fürchtete er denn? Einem Kinde kann man alles sagen — alles. Mich hat immer der Gedanke frappiert, wie schlecht doch die Grossen die Kinder kennen, ja wie schlecht Väter und Mütter ihre eigenen Kinder verstehen. Vor Kindern braucht man nichts zu verbergen, unter dem Vorwande, dass sie klein sind und es zu früh für sie sei. Was für ein trauriger und unglücklicher Gedanke! Und wie gut bemerken es die Kinder selbst, dass die Eltern sie für zu klein erachten, um etwas zu verstehen, während sie alles verstehen. Die Erwachsenen wissen es nicht, dass ein Kind auch in der schwersten Sache einen richtigen Ratschlag zu geben vermag. Ach Gott, wenn dich dieses gute Vögelchen ansieht, so vertrauensvoll und glücklich, so muss man sich ja schämen es zu betrügen“. — Weiter heisst es dann: „Anfangs lachten mich die Kinder aus, dann warfen sie sogar Steine auf mich, als sie es gesehen hatten, wie ich Marie küsste. Ich habe sie aber ein einziges Mal geküsst .... Nein, lachen Sie nicht, beeilte sich der Fürst zu sagen, um das Lächeln seiner Zuhörerinnen aufzuhalten — da war nichts von Liebe vorhanden. Wenn Sie wüssten, was das für ein unglückliches Geschöpf war, so würde Ihnen selbst sehr leid um sie, gerade wie mir. Sie war aus unserem Dorfe usw.“

Nun erzählt der Fürst die Geschichte dieses armen, demütigen Wesens, das sich mit niedrigster Arbeit einige Kopeken verdiente; dabei war sie schwindsüchtig. Einmal war ein französischer Kommis des Weges daher gekommen, hatte sie bethört und mit sich genommen, nach acht Tagen wieder fortgejagt. Da war sie die vielen Werst zu Fuss zurückgegangen, eine ganze Woche lang, war in Lumpen gehüllt, elend, erkältet heimgekommen. Die Mutter, welche einen ganz kleinen Handel im Fenster ihrer Kammer versah und davon lebte, beschimpfte sie, gab sie dem Hohn und den Schmähungen der Dorfbewohner preis. Man nahm sie nirgends mehr zur Arbeit, und selbst der Kuhhirt wollte ihr keinen Teil der Herde anvertrauen. Schweigend ging sie aber doch dem Vieh nach und hütete es gut, sodass er ihr hie und da etwas Brot und Käse gab. Da war es, dass der junge Fürst sie einmal traf und ihr 8 Francs gab, die er für eine kleine Diamantnadel eingelöst hatte.

„Ich hatte lange getrachtet, Marie allein zu treffen, endlich begegnete sie mir hinter dem Dorfe, beim Zaun, an einem Seitenpfade hinter einem Baum. Hier gab ich ihr die 8 Francs und sagte ihr, sie möge sie gut bewahren, weil ich weiter nichts haben würde. Dann aber küsste ich sie und sagte ihr, sie möge nicht denken, ich hätte böse Absichten, dass ich sie nicht darum küsse, weil ich etwa in sie verliebt sei, sondern weil sie mir so sehr leid thue und ich sie von Anfang an nicht im geringsten für schuldig, nur für sehr unglücklich erachtet hätte. Ich hatte so sehr den Wunsch, sie auch gleich zu trösten und zu überzeugen, dass sie sich nicht vor allen so zu erniedrigen habe, aber sie hat das, scheint es, nicht verstanden.“ „Dann, als ich geendet hatte, küsste sie mir die Hand, und ich ergriff sogleich die ihre und wollte sie auch küssen, allein sie zog sie rasch zurück. Da erblickten uns plötzlich die Kinder, eine ganze Schar. Ich erfuhr nachher, dass sie mich schon lange belauscht hatten. Sie begannen zu pfeifen, mit den Händchen zu klatschen und zu lachen, Marie aber lief davon. Ich wollte sprechen, sie aber begannen Steine auf mich zu werfen.“

Weiter fährt er fort: „Ich erzählte ihnen, wie unglücklich Marie sei; bald hörten sie auf zu schmähen und gingen schweigend davon. Nach und nach begannen wir miteinander zu reden; ich verbarg ihnen nichts, erzählte ihnen alles. Sie lauschten mit vielem Interesse und begannen bald Marie zu bemitleiden. Manche von ihnen begrüssten sie nun schon zärtlich, wenn sie ihnen begegnete“ usw. — Zuletzt riefen ihr die Kinder oft zu: „nous t’aimons Marie“! Als sie stirbt, überschütten sie die Kinder mit Blumen, legen ihr einen Kranz aufs Haupt und wollen den Sarg zum Friedhof tragen. Da sie es nicht vermögen, folgt die ganze Schar ihm weinend nach, und der Grabhügel blüht seither unter ihrer Obhut. Er aber, der junge Fürst, wird der Kinder unzertrennlicher Genosse und Berater, wenn auch vom Pastor und dem Lehrer angefeindet. Auch sein Beschützer, der Arzt Schneider, tadelt ihn darob und nennt ihn ein „ewiges Kind“.

Endlich fertigt ihn dieser nach Russland ab, und wir ersehen am ersten Abend nach der Ankunft Myschkins, um was es sich da handelt. Der junge Fürst ist ungeladen zu jener Schönen, Nastassja Philippowna, gekommen, wohin eine Gesellschaft zusammengerufen worden, um ihren Entschluss zu hören: ob sie, mit einer Mitgift ihres ehemaligen Liebhabers ausgestattet, Ganja Iwolgin, einen jungen Streber, der sie um dieses Geldes willen nehmen will, heiraten wird oder nicht.

Myschkin ahnt, dass er hier etwas zu sagen oder zu thun haben werde, und tritt nun, seine Scheu überwindend, in die verblüffte Gesellschaft. Man hat sich jedoch bald mit dem ungebetenen Gaste zurecht gefunden, denn der Abend soll ja anderes, Wichtigeres bringen. Alles ist gespannt. — Da stürzt Rogoschin, des Fürsten wüster Reisegefährte, mit einem Schwarm betrunkener Genossen herein und legt ein Päckchen von 100000 Rubeln auf den Tisch, womit er Nastassja als Geliebte für sich loskaufen will; diese schleudert nun, krampfhaft lachend, eine wilde Herausforderung den Anwesenden, namentlich dem sie verheiratenden alten Liebhaber Totzky ins Gesicht.

„Auch noch verpflichtet wäre ich ihm, so meint er wohl; er hat mir ja eine Erziehung gegeben, mich wie eine Gräfin gehalten, und Geld, wieviel Geld ist da aufgegangen! Einen anständigen Gatten hat er mir gesucht, schon dort, und hier nun diesen. Und was glaubst du — ich habe diese fünf Jahre nicht mit ihm gelebt, habe aber Geld von ihm genommen und gedacht, ich sei im Recht! Ganz unsinnig bin ich ja geworden! Du sagst: Nimm die Hunderttausend und jag’ ihn fort, wenn’s dich ekelt. Freilich ist es ekelhaft .... Ich hätte auch schon lange heiraten können und andere, als diesen hier — aber das ist ja schon gar ekelhaft! Und wofür habe ich meine fünf Jahre in diesem Zorn vergeudet? Und wirst du’s glauben (sie wendet sich da an eine Freundin) oder nicht, dass ich vor etwa vier Jahren zeitweise daran gedacht habe, ob ich nicht kurzweg meinen Athanasji Iwanowitsch nehmen sollte? Das hab’ ich damals aus Bosheit so gedacht; es ist mir damals nicht wenig im Kopf herumgegangen. Ich hätte ihn sicher dazu vermocht, das glaube mir! Er hat selbst einmal dazu gedrängt, ob du’s glaubst oder nicht! Freilich, er hat gelogen, denn er ist schon gar zu gierig, hält nicht Stand. Und später, Gott Lob, ist mir eingefallen: ist er einer solchen Bosheit wert? Da hab’ ich einen solchen Abscheu vor ihm bekommen, dass, wenn er auch um mich gefreit hätte, ich ihn nicht genommen hätte. Ganze fünf Jahre habe ich so forciert! Nein, da ist’s schon besser auf die Strasse, wohin ich auch gehöre! Entweder mich mit Rogoschin verlottern, oder morgen unter die Wäscherinnen gehen! Denn es ist nichts mein eigen, was ich da trage. Geh’ ich fort, so werf ich ihm alles hin, den letzten Fetzen lass’ ich hier — wer aber nimmt mich ohne alles — frage nur den da, Ganja, ob er mich nimmt? Ja, auch Ferdyschtschenko (der Spassmacher der Gesellschaft) nimmt mich nicht! ....“

„Ferdyschtschenko nimmt Euch vielleicht nicht, Nastassja Philippowna, ich bin ein aufrichtiger Mensch“, unterbrach sie dieser; „dafür hingegen — nimmt Euch der Fürst! Ihr sitzet so da und lamentiert — schaut nur einmal den Fürsten an! Ich beobachte ihn schon lange ...“

Nastassja Philippowna wendet sich neugierig nach dem Fürsten um.

„Ist es wahr?“ fragt sie ihn.

„Es ist wahr,“ sagt er leise.

(Der Eindruck dieser Scene ist unbeschreiblich.)

„Da hab’ ich einen Wohlthäter gefunden!“ sagt Nastassja „Übrigens spricht man vielleicht die Wahrheit über ihn, dass er .... so ist. Wovon wirst du denn leben, wenn du so verliebt bist, die Rogoschinskaia zu nehmen, für dich, als — Fürstin?“

„Ich nehme Euch als eine Ehrenhafte, Nastassja Philippowna, nicht als eine Rogoschinskaia“, sagte der Fürst.

„Ich, ehrenhaft?“

„Ja, Ihr,“ usw.

Nun wird die Frage des Unterhalts erörtert und es stellt sich aus einem Briefe, den Myschkin bei sich trägt, heraus, dass er der Erbe einer steinreichen Verwandten ist und es eben diese Angelegenheit war, um deren willen man ihn nach Russland gesandt hatte.

Er will nun ernstlich Nastassja heiraten, sie vor sich selbst retten. Sie entflieht ihm mit Rogoschin, da sie dieses Opfer des Erbarmens nicht annehmen will. Nach vielen höchst aufregenden und den Leser in quälende Spannung versetzenden Episoden setzt Myschkin, dessen Gesundheit allen diesen Erregungen nicht mehr stand hält, doch endlich die Vermählung durch. Schon im Brautgewande und vor dem Altar — entflieht die Braut. Spät in der Nacht, es ist eine helle Petersburger Nacht, erscheint Myschkin vor Rogoschins finsterem, versperrtem Hause. Man lässt ihn nicht ein. Er stellt sich gegenüber Rogoschins Fenster auf, dieser erblickt ihn und holt ihn in die dunkle, durch einen schweren Vorhang abgeteilte Stube. Der Fürst, den schon wiederholte Anfälle seiner Krankheit des klaren, folgerichtigen Denkens zu berauben anfangen, sammelt sich mit schwerer Mühe, um zu begreifen, was hier vorgegangen. Rogoschin führt ihn hinter den Vorhang. Hier liegt auf dem Bette, mit dem Leintuch bis über den Kopf zugedeckt, ein unbeweglicher Körper. Ein nackter Fuss, wie aus Marmor gemeisselt, ist beim unteren Bettende sichtbar und ringsum weisse Gewänder, Spitzen, Brillanten — — — Sie war mit Rogoschin leise in das unbewohnte Haus hinaufgeschlichen, „damit Myschkin sie nicht finde“. Hier hatte sie die Nacht auf seinem Bette zugebracht, hier hat er ihr sein Messer ins Herz gestossen. Darauf hat er sich zu Füssen des Bettes vor den Vorhang hingesetzt und gewartet. Nun erzählt er das alles, vom Fieber geschüttelt, dem Fürsten. „Du sollst aber keinen Anfall hier bekommen und schreien, sonst musst du fort.“ — — Allmählich verlässt beide das Bewusstsein. — Am andern Morgen findet man Rogoschin im Fieber schreiend und rasend, Myschkin neben ihm auf dem Boden sitzend, nun vollständig blödsinnig — und dem Kranken bei jedem Schrei zärtlich Haar und Antlitz streichelnd .....

Es ist wohl hier der Platz für einen Brief, welchen der Dichter neun Jahre später an einen jener Korrespondenten richtete, die ihn in seinen letzten Lebensjahren so oft um Rat in schweren Gewissensfragen angingen. Dieser Brief ist in mehr als einem Sinne und in mehr als einer Richtung bedeutsam und interessant.

Er lautet:

„Petersburg, 14. Februar 1877.

Geehrter Herr Kowner!

„Ich habe Ihnen lange nicht geantwortet, weil ich ein kranker Mensch bin und sehr schwer an meiner Monatsschrift arbeite. Auch muss ich jeden Monat einige Dutzende von Briefen beantworten. Endlich habe ich eine Familie und noch andere Geschäfte und Verpflichtungen. Ich habe thatsächlich keine Musse zum Leben, und mich in eine längere Korrespondenz einzulassen, ist mir unmöglich. Besonders mit Ihnen.

Ich habe selten etwas gelesen, das geistvoller geschrieben wäre, als Ihr erster Brief an mich (Ihr zweiter Brief ist etwas für sich).

Ich glaube Ihnen vollkommen alles, was Sie mir darin über sich selbst sagen. — Über Ihr einstmals begangenes Verbrechen haben Sie sich so klar und (wenigstens was mich anbelangt) so verständlich ausgedrückt, dass ich, ohne Ihre That in deren Einzelheiten zu kennen, diese jetzt mindestens ebenso ansehe, wie Sie selbst.

Sie beurteilen meine Romane. Darüber kann ich natürlich nicht mit Ihnen reden; doch hat es mir gefallen, dass Sie den „Idiot“ als den besten darunter hervorheben. Stellen Sie sich vor, dass ich dieses Urteil schon fünfzig Mal, wenn nicht öfter, gehört habe. Das Buch wird auch alljährlich verkauft und jedes Jahr in einer grösseren Anzahl von Exemplaren. Ich habe den „Idioten“ darum jetzt genannt, weil alle, die mit mir darüber als von meinem besten Werke sprechen, etwas besonderes in der Zusammensetzung ihrer Geistesfähigkeiten haben, das mich sehr berührt und mir sehr gefällt. Wenn sich diese Geistesrichtung nun auch bei Ihnen findet, so ist das für mich nur um so besser, natürlich wenn Sie aufrichtig sind. Aber wenn es auch nicht so wäre ....

NB. Die zwei Zeilen Ihres Briefes, worin Sie sagen, dass Sie keinerlei Reue über das von Ihnen begangene Verbrechen in der Bank empfinden, sind nicht recht nach meinem Sinne. Es giebt etwas, das höher ist, als die Beweisführung der Vernunft und aller erdenklichen hinzugetretenen Umstände, etwas, dem sich zu unterwerfen ein jeder sich verpflichtet fühlen muss (das heisst, wieder als einem Symbol). Sie sind vielleicht so gescheit, dass Sie sich über diese unerbetene Offenheit meiner Bemerkung nicht beleidigt fühlen; denn, erstens bin ich nicht besser, als Sie oder irgend Einer (und dies ist durchaus keine falsche Demut, wozu auch?); und zweitens, wenn ich Sie auch in meinem Herzen freispreche (so wie ich auch Sie auffordere, mich freizusprechen), so ist es immer besser, wenn ich es thue, als wenn Sie selbst es thun. Scheint Ihnen das unklar? (Hier nebenbei zur Erläuterung eine kleine Parallele. Der Christ, das heisst der volle, der höhere, ideale Christ sagt: „Ich habe meinen Besitz mit den armen und niederen Brüdern zu teilen, ich habe ihnen allen zu dienen.“ Der Kommunard aber sagt: „Du hast mit mir, dem Armen und Niedrigen zu teilen, du hast uns zu dienen.“ Der Christ wird recht, der Kommunard wird unrecht haben.) Übrigens ist Ihnen vielleicht jetzt noch unverständlicher, was ich Ihnen sagen wollte.

Nun zu den Juden. Über ein solches Thema kann man sich in einem Briefe nicht aussprechen, besonders mit Ihnen nicht .... Sie sind so gescheit, dass wir einen solchen strittigen Punkt auch in hundert Briefen nicht erledigen und uns dabei nur abquälen würden. Ich will Ihnen nur sagen, dass ich auch von anderen Israeliten Briefe mit ähnlichen Bemerkungen bekommen habe. So habe ich namentlich vor kurzem einen ideal vornehmen Brief von einer Jüdin erhalten, welcher ebenfalls mit bitteren Vorwürfen schloss. Ich denke, ich werde, veranlasst durch diese mir von Israeliten gemachten Vorwürfe, einige Zeilen im Februarheft meines Tagebuches schreiben (das ich übrigens noch nicht zu schreiben begonnen habe, da ich bis heute noch infolge meines letzten epileptischen Anfalles leidend bin). Jetzt sage ich Ihnen nur, dass ich durchaus kein Feind der Juden bin, niemals ein solcher war. Allein — schon ihr, vierzig Jahrhunderte währender Bestand beweist, wie Sie selbst mir sagen, dass dieses Geschlecht eine ausserordentliche Lebenskraft besitzt, welche im Laufe seiner ganzen Geschichte nicht anders konnte, als sich als verschiedene status in statu formulieren. Ein sehr kräftiger status in statu ist unbestreitbar auch bei unseren russischen Juden vorhanden. Wenn es aber so ist, wie ist es dann anders möglich, als dass sie, wenigstens teilweise, zur Wurzel der Nation, zur russischen Volksfamilie eine Dissonanz bilden? Sie weisen auf die Intelligenz der Juden hin — nun, Sie selbst sind ja auch eine Intelligenz und — sehen Sie nur ...

Aber lassen wir das, dies Thema ist ein zu langes. Ich habe viele Bekannte, die Juden sind, auch Jüdinnen, die mich auch jetzt oft um Rat angehen. Doch lesen sie das „Tagebuch eines Schriftstellers“; und obwohl sie, wie alle Israeliten, was das Judentum anbelangt, empfindlich sind, so sind sie mir doch nicht feind und kommen doch zu mir.

Was die Sache der Kornilowa[24] anlangt, bemerke ich nur, dass Sie nichts wissen, daher auch nicht kompetent sind. Aber was sind Sie doch für ein Lehrling. Mit einem solchen Blick auf das Herz des Menschen und seine Handlungen bleibt ja nichts übrig, als im Kot materieller Genüsse zu versinken ...

... Übrigens kenne ich Sie ja, ungeachtet Ihres Briefes, gar nicht. Ihr Brief (der erste) ist hinreissend schön und gut. Ich will mit voller Seele glauben, dass Sie vollkommen aufrichtig sind. Aber auch wenn Sie nicht aufrichtig wären ... es ist dies einerlei; denn Unaufrichtigkeit in einem gegebenen Falle ist eine in ihrer Art höchst komplizierte und sehr tiefe Sache. —

Glauben Sie an die volle Aufrichtigkeit, mit der ich Ihnen die mir dargereichte Hand drücke; erheben Sie sich aber im Geiste und formulieren Sie Ihr Ideal. Sie haben es ja bis zum heutigen Tage gesucht, oder nicht?

Mit aufrichtiger Hochachtung

Ihr
Th. Dostojewsky.“

Mehr als langatmige Abhandlungen es vermöchten, kündet uns dieser Brief die ganze Eigenart Dostojewskys. Gleichsam im Vorübergehen, wie unbewusst, streift er einige der bedeutendsten Probleme der Gegenwart und löst sie in seinem ihm eigenen Sinn. In seiner Freude über jene, welche den „Idioten“ als sein bestes Werk ansehen, steckt eine ganze Ethik der unbefleckten Wahrheit, so wie in jener Parallele zwischen Christ und Kommunard sein soziales Glaubensbekenntnis enthalten ist. Die Andeutung über die Lüge, die „in gegebenem Falle eine sehr ernste und komplizierte Sache“ ist, deckt sich mit dem Ausspruch, den er Rasumichin in den Mund legt: „Lügen wir uns zur Wahrheit durch“, und reisst gleichsam vor unseren Augen das Dornengestrüpp der Lüge auseinander, das oft unseren Weg zur Wahrheit umwirrt; und wie gewandt endlich kehrt er, in der Berührung der Judenfrage, seines Korrespondenten eigene Waffe gegen diesen, um damit zum hundertsten Male sein Credo an die „nationale Grundlage“ des Volks zu erhärten. —

Das Leben in Florenz war ebenso einförmig wie das in Genf gewesen, doch gab es hier viele Kunstsammlungen, welche nicht nur von Anna Grigorjewna, sondern auch von Theodor Michailowitsch oft besucht wurden. Des Dichters Lieblinge waren hier Rafaels „Madonna della Sedia“ und „Johannes der Täufer“. Ganz besonders entzückte den Dichter der Campanile und Ghibertis Thor des Battisterio. Auch ein Lesesaal war hier, wo man russische Zeitschriften finden konnte. Ausserdem beschäftigte sich Dostojewsky hier mit den Dichtern der 40er und 50er Jahre, namentlich Balzac und George Sand. Bekannte Russen gab es hier gar keine, so dass das Ehepaar zehn Monate in Florenz zubrachte, ohne mit irgend jemand ein russisches Wort zu wechseln. Übrigens empfand Theodor Michailowitsch eine ausserordentliche Sympathie für das italienische Volk und fand es immer dem russischen sehr ähnlich. In Theater-Aufführungen kamen sie sehr selten, weil sie allzuwenig Geld hatten, um sich ein solches Vergnügen zu gestatten.

Im Juli 1869 ging das Ehepaar über Venedig, Triest, Wien und Prag nach Dresden. Venedig machte auf den Dichter einen besonders bezaubernden Eindruck und es blieb immer das Ziel seiner Träume. Er hatte es anfangs vorgehabt, sich in Prag niederzulassen, um mit Rieger und Palacky näher bekannt zu werden, welche ihn sehr interessierten. Der Umstand jedoch, dass in Prag keine möblierten Wohnungen zu finden waren, nötigte ihn, Dresden zu seinem Wohnort zu erwählen. Hier wurde ihm am 14. September (1869) die zweite Tochter geboren und das brachte neue Freuden und neue Sorgen in das Leben der Wandernden. Den Dichter erfüllte die Geburt einer Tochter mit Glück und er widmete diesem Kinde jede freie Minute, wie sie auch sein erster Gedanke beim Erwachen war. Zu Ende des Jahres schrieb Dostojewsky den „Hahnrei“ und das ganze Jahr 1870 hindurch die „Dämonen“ (in einer Übersetzung „Die Besessenen“ genannt), welche anfangs 1871 im „Russkij Wjestnik“ zu erscheinen begannen.

Auch hier fand Theodor Michailowitsch keine näheren Bekannten; übrigens liebte er es nicht besonders, im Auslande Verkehr mit Russen zu pflegen, die er nur oberflächlich kannte. Seine Lektüre schöpfte er hier aus russischen Zeitschriften und einigen Werken, die er mit sich genommen oder sich verschrieben hatte, so die Werke Belinskys, „Krieg und Frieden“ von Tolstoj und einige andere. Das Buch jedoch, zu welchem er immer wieder zurückkehrte und das ihn, seit er es von den Frauen der Dezembristen in Sibirien auf dem Wege dahin erhalten, nie verlassen hatte, war das Evangelium.

In Dresden musste die Familie zwei Jahre verbleiben und, wie Anna Grigorjewna selbst berichtet hat, es gehörten gerade diese zwei Jahre zu den schwersten Zeiten der freiwilligen Verbannung. „Er litt immer mehr darunter,“ sagte sie, „dass er sich von Russland entfernt habe, es nicht mehr kenne.“ In seinen Briefen drückt er oft diese Sehnsucht nach Russland aus. Allein die Rückkehr war schwer zu bewerkstelligen, weil man dazu von vornherein grosse Geldsummen brauchte. Dazu gehörte, dass man nicht nur hier ganz loskam, dass man nach Petersburg übersiedelte, sondern die Wechsel und Schulden einlöste, welche von der Leitung der „Epocha“ her noch unbeglichen waren. Lange warteten sie auf günstige Umstände, aber so viel Geld brachten sie doch nie auf. Ungeachtet ihres höchst bescheidenen Lebens wurde doch alles eingesandte Geld zu diesem verbraucht. Ein bedeutender Teil ging für die Erhaltung der Witwe des dahingeschiedenen Bruders, ein anderer für die des (offenbar nicht wohlgeratenen) Stiefsohnes Theodor Michailowitschs auf, ebenso für die Interessen der bei der Abreise versetzten Effekten (die zuletzt doch verfielen). Da sie keinen Ausgang aus allen diesen Schwierigkeiten vor sich sahen, dabei aber fühlten, dass es ihnen unerträglich wurde, unter diesen Verhältnissen in der Fremde weiter zu leben, entschlossen sie sich, alle Folgen einer solchen Rückkehr auf sich zu nehmen, und kehrten am 8. Juli 1871 nach Petersburg zurück, wo am 16. desselben Monats ihr erster Sohn Theodor geboren wurde.

Share on Twitter Share on Facebook