X. Petersburg; die letzten zehn Jahre. (1871-1881.)

Mit der Heimkehr Dostojewskys und seiner endgiltigen Ansiedelung in Petersburg tritt des Dichters Leben in seine letzte, seine bedeutendste Phase. Gleich einer Dichtung, die ein Meister vollendet, wo sich das Wesenhafte immer deutlicher und klarer aus dem Beiwerk heraus bis zur letzten Steigerung entwickelt, sehen wir des Dichters Leben sich nach dem Plan vollziehen, danach es angetreten. Dies ist aber nicht in einem behaglichen Sinne Goethe-artig ruhevollen Abschliessens zu verstehen, sondern in echt Dostojewskyscher Art: durch alle Lebensunruhe und allen Temperamentskampf, durch schwere körperliche Störungen hindurch der Abschluss eines Lebens, das bis zum Ende Einheit in leidenschaftlich bewegter Vielheit war.

Das Debut in der Heimat war freilich trübe genug. Anna Grigorjewna erzählt uns, dass sie nach Begleichung der Dresdener Schulden und der Reisekosten mit einer Barschaft von wenigen Rubeln in Petersburg ankamen, und das wenige Wochen vor ihrer Entbindung. Sie hatte gehofft, mehrere kostbare Gegenstände, Pelze usw. wiederzufinden, die man für sie aufbewahrt oder versetzt hatte — sie waren verfallen. Auch eines Hausanteiles, auf welchen sie von mütterlicher Seite her Anspruch hatte, war sie durch allerlei Machenschaften verlustig gegangen, sodass es nun hiess, mit Hilfe von Freunden das Leben einrichten, vor allem den letzten Roman verwerten. Theodor Michailowitsch legte von nun an den administrativen Teil seiner Geschäfte in die Hand seiner Gattin, was den endlichen glücklichen Umschwung ihrer Verhältnisse zur Folge hatte.

Strachow giebt uns darüber ziffernmässige Nachweise, die wir hier folgen lassen. Vor allem hat Anna Grigorjewna Dostojewskaja eine neue Ausgabe von des Dichters Werken veranstaltet, welche folgendes Erträgnis hatte: Im Januar 1873 erschienen „Die Besessenen“ in 3500 Exemplaren, im Januar 1874 der „Idiot“ in 2000 und im Dezember 1875 erschienen die „Memoiren aus einem Totenhause“ in 2000 Exemplaren. Im Dezember 1876 „Schuld und Sühne“ in 2000 und im November 1879 „Erniedrigte und Beleidigte“ in 2400 Exemplaren.

Diese Erfolge beruhigten den Dichter, welcher endlich alle Schulden zu tilgen vermochte, ungemein über das Los seiner Familie, die in Armut zu hinterlassen er stets hatte fürchten müssen. Man hat ferner nach seinem Tode ein Blatt in seinen Rechenbüchern gefunden, darauf die aus seinen Werken allein bezogenen Einkünfte mehrerer Jahre genau verzeichnet waren. So bezog er:

Im Jahre 1877:

aus „Schuld und Sühne“

 

487

R.

12

K.

eingebunden Ex. des „Tagebuchs eines Schriftstellers“ von 1876

 

497

80

„Die Besessenen“, „Der Idiot“, „Totenhaus“

 

561

63

Rest vom Jahre 1876

 

295

40

 

Sa.

1841

R.

95

K.

Im Jahre 1878:

„Die Besessenen“, „Idiot“, „Totenhaus“

 

1199

R.

50

K.

„Schuld und Sühne“

 

548

98

Tagebuch 1876

 

281

68

Tagebuch 1877

 

346

50

 

Sa.

2376

R.

66

K.

Im Jahre 1879:

„Die Besessenen“, „Idiot“, „Totenhaus“

 

1271

R.

99

K.

„Schuld und Sühne“

 

797

16

Tagebuch 1876

 

98

61

Tagebuch 1877

 

121

2

+ „Erniedrigte und Beleidigte“

 

227

24

 

Sa.

2516

R.

2

K.

Im Jahre 1880:

„Die Besessenen“, „Der Idiot“, „Totenhaus“

 

1287

R.

20

K.

„Schuld und Sühne“

 

933

99

Tagebuch 1876

 

247

6

Tagebuch 1877

 

219

14

 

 

2687

R.

39

K.

+ „Erniedrigte und Beleidigte“

 

548

51

+ Tagebuch 1880

 

893

87

 

 

4129

R.

77

K.

„Brüder Karamasow“

 

3681

50

 

 

7811

R.

27

K.

Dazu kamen jene Summen, welche der Dichter für die in den Zeitschriften erscheinenden neuen Romane erhielt. So zahlten ihm die „Vaterländischen Annalen“ i. J. 1875 für den Druckbogen des Romans „Junger Nachwuchs“ (Podrostok, der Adolescent) 250 Rubel, und der „Russkij Wjestnik“ für die „Brüder Karamasow“ (1879-80) 300 Rubel.

Die Einnahmen für Dostojewskys Werke haben sich bis auf den heutigen Tag gesteigert. Anna Grigorjewna macht kein Hehl daraus, ja es ist ihr, die des Dichters schwerste Jahre äusserster Not tapfer geteilt hat, heute eine Genugthuung, es dahin gebracht zu haben, dass der Reingewinn jeder neuen Auflage, die sie selbst verlegt, rund 75000 Rubel betrage. Ein noch sehr reichliches ungedrucktes Material an Briefen, Fragmenten und Dokumenten gestattet es, jeder neuen Auflage, je nach den Zeitumständen, etwas ungedrucktes beizufügen. —

Bald nach seiner Rückkunft hatte der Fürst Wladimir P. Meschtschersky den Dichter näher kennen gelernt und ihn eingeladen, die Redaktion seines Blattes „Grashdanin“ zu übernehmen. Für diese Thätigkeit, welche mit dem Jahre 1873 begann und bis Ende desselben Jahres währte, erhielt der Dichter ein Monats-Honorar von 250 Rubeln, ausser dem Honorar für seine Beiträge. Diese Artikel waren meist Feuilletons über die brennenden Tagesfragen, welche den fortlaufenden Titel „Tagebuch eines Schriftstellers“ führten. Sie bilden heute den ersten Band der unter demselben Titel herausgegebenen Schriften.

In dem von Dostojewsky im Jahre 1876 gegründeten und von ihm ganz allein besorgten Blatte, dem er den gleichen Namen „Tagebuch eines Schriftstellers“ gab, fand er endlich das Feld seiner Thätigkeit, das ihm am meisten zusagte. Allerdings nennt er in einem Briefe an eine bekannte Dame einen anderen Grund, der ihn bewogen habe, diese Monatsschrift zu schaffen. Wir meinen jedoch, dass ihm nicht sowohl das Kennenlernen der Tagesfragen um seines Romanes willen, als der nimmer rastende Wunsch dazu trieb, sich auszusprechen, seine Wahrheit an allem zu messen, was der Tag eben brachte. Der oben erwähnte Brief vom 9. April 1876 beginnt mit einer Erörterung persönlicher Beziehungen und fährt dann fort:

„Sie teilen mir Ihre Gedanken darüber mit, dass ich mich im „Tagebuche“ in Kleingeld umwechsle. Ich habe das auch hier aussprechen gehört. Hier ist, was ich Ihnen unter anderem darauf sagen will: Ich bin zu dem unumstösslichen Schluss gekommen, dass ein Schriftsteller der künstlerischen Richtung ausser dem Poem die von ihm dargestellte Wirklichkeit bis in das allerkleinste Detail mit der grössten Genauigkeit, historisch und aktuell, kennen muss. Bei uns glänzt damit nach meiner Meinung einzig und allein — Graf Leo Tolstoj. Victor Hugo, welchen ich als Romanschriftsteller hochschätze, wofür sich der selige Th. Tjutschew über mich, denken Sie nur, heftig ereiferte, indem er sagte, „Schuld und Sühne“ stehe höher als die „Misérables“, hat uns, ob er auch manchmal sehr breit im Studium des Details ist, wunderbare Studien gegeben, welche ohne ihn der Welt völlig unbekannt geblieben wären. Aus diesem Grunde habe ich, da ich mich dazu vorbereite, einen grossen Roman zu schreiben, beschlossen, mich speziell in das Studium — nicht der Wirklichkeit an und für sich, denn ich kenne sie ohne das — sondern der aktuellen Einzelheiten der laufenden Dinge zu vertiefen. Eine der wichtigsten Aufgaben in dieser Gegenwart ist für mich zum Beispiel die junge Generation und zugleich damit die gegenwärtige russische Familie, welche, ich fühle das, heute ganz anders ist, als vor zwanzig Jahren. Allein es giebt ausserdem noch vieles andere.

Wenn man 53 Jahre zählt, so kann man leicht bei der ersten Unachtsamkeit hinter der gegenwärtigen Generation zurückbleiben. Ich habe unlängst Gontscharow getroffen, und auf meine offene Frage, ob er im gegenwärtigen Lauf der Dinge alles verstehe oder schon aufgehört habe, manches zu begreifen, hat er mir geradeaus geantwortet, dass er vieles nicht mehr begreife (dies unter uns). Natürlich bin ich mir ganz klar, dass dieser grosse Geist nicht nur alles versteht, sondern die Lehrer lehren könnte; allein in dem bestimmten Sinne, in welchem ich ihn fragte (und den er in einem halben Worte verstand), versteht er nicht etwa vieles nicht, sondern er will es nicht verstehen. ‚Mir sind meine Ideale teuer und alles, was ich im Leben liebgewonnen‘, fügte er hinzu, ‚damit will ich nun auch die wenigen Jahre zubringen, die mir übrig bleiben; diese aber zu studieren (er wies auf die den Newsky Prospekt entlang wandelnde Menge) ist mir beschwerlich, denn es ginge meine kostbare Zeit darauf‘ ....

Ich weiss nicht, ob ich Ihnen das klar ausgedrückt habe, Christina Danilowna, aber es reizt mich, noch etwas mit voller Sachkenntnis zu schreiben. Das ist’s, warum ich eine Zeit lang zugleich studieren und das „Tagebuch“ führen werde, damit eine Menge von Eindrücken nicht verloren gehe. Alles das ist natürlich ideal! Würden Sie z. B. glauben, dass ich noch nicht damit zu Stande gekommen bin, mir die Form des „Tagebuchs“ klar zu machen, sogar noch nicht weiss, ob ich sie je in die Richte bringe, sodass möglicherweise dies Tagebuch schon zwei Jahre erscheinen und noch immer keine gelungene Sache sein wird? Beispielsweise: Ich habe zehn bis fünfzehn Themen, wenn ich mich zum Schreiben hinsetze (nicht weniger). Nun muss ich jene Themen, welche mich mehr einnehmen, unwillkürlich zurücklegen: sie werden viel Raum einnehmen, viel Glut verbrauchen (der Prozess Kroneberg z. B.), werden dem Heft schaden, denn es wird dadurch einförmig, arm an Artikeln werden. Andererseits habe ich, allzu naiv, gemeint, dies werde ein wirkliches Tagebuch werden. Ein wirkliches Tagebuch ist fast unmöglich, nur ein präsentables für das Publikum ist möglich. Ich treffe auf Begebnisse und empfange viele Eindrücke, die mich sehr einnehmen — aber wie soll man über das und jenes schreiben? Manchmal ist dies geradezu unmöglich.

So erhalte ich seit drei Monaten schon von allen Seiten sehr viele Briefe, mit und ohne Unterschrift — alle voll Teilnahme. Manche darunter sind ausserordentlich interessant und originell, dazu gehören sie allen möglichen jetzt herrschenden Richtungen an. Aus Anlass dieser verschiedenartigsten Richtungen, welche da in der Begrüssung meiner Thätigkeit zusammenfliessen, wollte ich einen Artikel schreiben, namentlich aber den Eindruck niederschreiben (ohne Namensnennung), den ich von diesen verschiedenen Briefen empfangen habe. Dabei ist der Gedanke, der mich mehr als alles in Anspruch nimmt, der: worin liegt unsere Zusammengehörigkeit, wo sind die Punkte, in welchen wir uns alle, die wir den verschiedenen Richtungen angehören, einigen könnten. Aber als ich den Artikel schon überlegt hatte, sah ich plötzlich, dass es um keinen Preis möglich wäre, ihn mit voller Offenheit zu schreiben. Nun aber, ohne Aufrichtigkeit? Ist es wert ihn zu schreiben?

Ja, auch keine Wärme wird bleiben. Vorgestern am Morgen kommen da plötzlich zwei junge Mädchen zu mir, beide etwa zwanzig Jahre alt. Sie kommen herein und sagen: „Wir haben mit Ihnen bekannt werden wollen, schon seit der Fastenzeit her. Alle haben uns ausgelacht und gesagt, Sie würden uns nicht empfangen und, wenn Sie uns auch empfangen sollten, uns nichts sagen. Aber wir haben beschlossen, es zu versuchen, und da sind wir, N. N. und N. N.“ Zuerst hat sie meine Frau empfangen, dann bin auch ich zu ihnen herausgekommen. Sie erzählten, sie seien Studentinnen der medicinischen Akademie, es seien ihrer dort schon 500 Frauenzimmer, und dass sie in die Akademie eingetreten seien, um höhere Grade zu erlangen und später der Gesellschaft Nutzen zu bringen — diesen Typus neuer junger Mädchen hatte ich noch nicht angetroffen (alte Nihilisten kenne ich wohl sehr viele, bin persönlich mit solchen bekannt und habe sie gründlich studiert). Werden Sie mir glauben, dass ich selten eine bessere Zeit verlebt habe, als diese zwei Stunden mit diesen Jungfrauen? Welche Geradheit, welche Natürlichkeit, was für eine Gefühlsfrische, Reinheit des Geistes und Herzens, welcher alleraufrichtigste Ernst und welche alleraufrichtigste Fröhlichkeit. Durch sie habe ich natürlich viele andere kennen gelernt, die ebenso waren, und ich gestehe Ihnen — der Eindruck war stark und sonnig. Aber wie soll man das beschreiben? Bei aller Herzlichkeit und Freude mit der Jugend — unmöglich. Ja, es ist auch fast persönlich. Aber was soll ich in diesem Falle für Eindrücke eintragen?

Gestern nun höre ich da wieder, dass ein junger Mensch, ein Studierender, den man mir gezeigt hatte, da er in einem mir bekannten Hause war, in die Stube des Hauslehrers getreten ist und, auf dessen Tische ein verbotenes Buch erblickend, dieses dem Hausherrn meldet, welcher dann seinen Hofmeister sofort hinausjagt. Als man, in einer anderen Familie, dem jungen Menschen vorhält, dass er eine Schurkerei begangen habe, da hat er das garnicht begriffen. Nun, wie soll ich das erzählen? Das ist etwas Persönliches und dabei ist auch etwas Nicht-Persönliches; es war hier ganz besonders, wie man mir erzählte, jener Denkprozess in den Ansichten und Überzeugungen charakteristisch, demzufolge er nicht begriff und über welchen man ein interessantes Wörtchen sagen könnte.“ —

So beginnen dann endlich für den Dichter bessere Zeiten. Er tilgt nach und nach alle persönlichen sowie die vom Bruder übernommenen Schulden und wenn er, seine Gattin und zwei Kinder auch an seiner Lebenswende noch immer zwei kleine Stuben des Schmiedegässchens unweit der Wladimirkirche innehatten, so haben seine äusseren Zustände an Ruhe und Sorglosigkeit in materieller Beziehung gewonnen und sind, was Anerkennung und Ehrung betrifft, zu einer Höhe gelangt, die trotz aller persönlichen Feindschaften, die ihm sein nervöses und oft wechselndes Wesen eintrug, von Jahr zu Jahr stieg. „Ich habe einen schlechten Charakter“, schrieb er um diese Zeit einmal an eine Freundin, „aber nicht immer, und das ist mein Trost.“

Im Jahre 1875 veröffentlicht Dostojewsky, wie wir schon erwähnten, in den vaterländischen Annalen den Roman: „Der Adolescent“.

Wir haben über die Erzählung „Podrostok“ (der Adolescent), welche nicht mit Unrecht im Deutschen den Titel „Junger Nachwuchs“ führt, weder in des Dichters Briefen, noch bei den russischen Kritikern eine andere als flüchtige Erwähnung gefunden. W. Rósanow meint, es seien darin manche selbstbiographischen Züge enthalten. Wenn man unter selbstbiographisch die Erwähnung auch inneren Fühlens und Erlebens und seiner Eigenform versteht, so kann man sagen, dass es kein Werk Dostojewskys giebt, das nicht selbstbiographische Züge aufwiese. Auch die Schilderung manches äusseren Geschehens tritt uns mit der Lebendigkeit des Erlebten entgegen.

So finden wir in der Schilderung eines Traumes, den Wersilow, des jungen Helden Vater, erzählt, das erlebte Urbild des im Jahre 1877 im Aprilheft des „Tagebuchs“ erschienenen „Traumes eines lächerlichen Menschen“. Ja, der aufmerksame Leser findet in allen Werken Dostojewskys eigentlich immer dieselben Ideen, immer dieselben Typen in unendlichen Variationen wiederkehrend; schon das allein ist nicht nur höchst künstlerisch, sondern auch innenbiographisch.

Der „Podrostok“ nun, dessen Inhaltswiedergabe wir hier für überflüssig erachten, weil der künstlerische Aufbau des Werkes sich nicht ganz mit seiner Grundidee deckt, erscheint uns vom russischen Standpunkt aus als ein Übergang von den Ideen Raskolnikows zum Hinweis auf das künftige, reinchristliche junge Russland, mit dem Dostojewsky seine „Brüder Karamasow“ und somit sein Lebenswerk zu beschliessen gedachte. Von „Schuld und Sühne“, strenger genommen, von seiner Rückkehr nach Russland, angefangen, sehen wir den Dichter unausgesetzt mit der Jugend, der russischen Jugend, beschäftigt, die er, in unendlichen Variationen, von der völligen Abwendung, wie in Stawrogin („Die Besessenen“), bis zu völliger Durchdringung, wie in Myschkin („Idiot“) und Aljoscha Karamasow mit dem Christentum in Contact bringt. Hier und da setzt er Ausgereifte, Alte, welche das Christentum fertig in sich tragen, als feste Stützpunkte, gleichsam Ankerbojen, in dieses überschäumende Jugendmeer hinein. So den ewig pilgernden Bauer Makar, Arkadjis Adoptiv-Vater, so den Starez Sosima, so, wenn auch humoristisch als blindes Werkzeug verwendet, Stepan Trofimowitsch in den „Besessenen“ und die junge Sonja, die ihren naiven Christus durch allen Erdenschmutz hindurchträgt.

Von Raskolnikow, dem „Napoleon“, bis zum Bürschlein Kolja Krassotkin, der — im Epilog der „Karamasow“ — „für die Wahrheit sterben möchte, mögen auch unsere Namen vergehen“, zieht eine endlose Reihe junger Wesen an uns vorüber, durch deren Seele der Geist der Zeit weht. Es ist sehr bedeutsam, was der Dichter in jenem oben citierten Briefe an Christine Danilowna N. sagt, dass er sich bestrebe, mit 53 Jahren noch die Jugend zu verstehen. Gerade er müsste es empfinden, dass mit seiner Liebe, seinem Interesse für die Jugend, seine Thätigkeit begraben würde, dass er, an diese Grenze gelangt, überhaupt nichts mehr zu sagen hätte.

Arkadji Makarowitsch, unser Adolescent, ist eine Art Raskolnikow. Auch er hat seine „Idee“. Nicht ein Napoleon will er sein, sondern ein Rothschild. Er will „ununterbrochen“ und „hartnäckig“ Geld aufhäufen, um die Macht auszuüben, die das Geld verleiht. Aber nicht durch Glanz und Prunk will er das, sondern viel hochmütiger, indem er den Glanz ablehnt und sich erlauben darf, als Bettler einherzugehen, Millionen zu verachten.

Wieso kommt dieser Zwanzigjährige zu seiner „Idee“? Er ist ein unehelicher Sohn, das Opfer der „zufälligen Familie“ unserer Tage, und strebt auf diese Weise alles, was das Schicksal ihm schuldig geblieben, nobel zu quittieren. Er schreibt selbst die Geschichte dieser Ideen, ihrer Entwickelung zur That nieder, sowie das Fiasko, das sie endlich erleidet, und sendet diese Aufzeichnungen an einen klugen, alten Freund zur Beurteilung, ob sie für einen Roman tauglich seien.

Was dieser Aussenstehende darüber sagt, das spricht des Dichters eigene Absicht aus, die Dostojewsky immer oder zumeist im Epilog seiner Hauptgedanken zusammenfassend ausspricht, was manche Neueren ihm mit wenig Glück nachgemacht haben. Denn ein solches Zusammenfassen und Aussprechen wirkt nur bei dem Starken, der seine Ideen künstlerisch auf die Beine zu stellen versteht, als Verstärkung, während sie für den Schwachen zum Rettungsanker für die Verständlichkeit verwendet wird.

Jener Freund nun weist vor allem auf den Verfall der alten, grundständigen russischen Familie hin, die andere Kinder, andere Jünglinge herangezogen habe, als die hereinbrechende Horde der „zufälligen Familie“, die eine solche Jugend erzeuge wie die heutige. Mit solchen Typen, meint er, werde der russische Roman unmöglich werden. Die Reinheit der Familie müsse es sein, welche nicht allein dem Roman, nein, dem Leben verheissungsvolle Typen schenken würde. Nun zählt der Schreiber dem jungen Menschen, die ehelichen und unehelichen Kinder seines „zufälligen“ Vaters, des geistreichen und haltlosen Neurussen Wersilow, vor, und schliesst:

„Sagen Sie mir jetzt, Arkadji Makarowitsch, dass diese Familie — eine zufällige Erscheinung sei, so wird sich meine Seele darüber freuen. Allein, wird nicht im Gegenteil jene Schlussfolgerung richtiger sein, welche sagt, dass unbedingt schon eine grosse Anzahl russischer Stammfamilien unaufhaltbar und in Massen in zufällige Familien eintreten und in gemeinsamen Chaos, gemeinsame Unordnung mit ihnen zusammenfliessen? Auf einen Typus dieser zufälligen Familien weisen ja auch Sie in Ihrer Handschrift hin. Ja, Arkadji Makarowitsch, Sie — sind Mitglied einer zufälligen Familie, im Gegensatze zu unseren noch vorlängst bestehenden alten Familientypen, die eine von der Ihrigen so sehr verschiedene Kindheit und Jugend hatten.

Ich gestehe, ich möchte nicht der Romancier eines Helden der zufälligen Familie sein! Eine undankbare Arbeit, eine Arbeit ohne schöne Formen. Ja, und diese Typen sind auf jeden Fall — noch eine Gegenwarts-Sache, können daher nicht künstlerisch vollendet werden. Da sind schwere Irrtümer, Übertreibungen, da ist ein Übersehen möglich. Auf jeden Fall müsste man allzu viel erraten. Was aber soll ein Schriftsteller thun, der wünschen würde, nicht nur historisch zu schreiben, der von der Sorge um die Gegenwart bedrängt ist? Raten und — sich irren.

Allein solche „Aufzeichnungen“, wie die Ihren, könnten, so scheint es mir, als Material für ein künftiges Kunstwerk, für ein künftiges Bild einer unordentlichen, aber schon vergangenen Epoche dienen. Wenn des Tages Zorn vorüber sein wird und das Kommende hereinbricht, dann wird der künftige Künstler sogar für die Gestaltung des vergangenen Chaos herrliche Formen finden, dann werden solche Aufzeichnungen, wie die Ihrigen sind, gebraucht werden und ein gutes Material abgeben — wenn sie nur aufrichtig sind, ungeachtet alles Chaotischen und Zufälligen darin ... Es werden da wenigstens einige wahrhafte Züge unversehrt erhalten bleiben, aus denen man wird erraten können, was sich in der Seele manch eines Jünglings jener trüben Zeiten bergen konnte — eine nicht ganz geringfügige Erkenntnis, denn aus den Jünglingen erstehen die Geschlechter.“

Ausser der Korrespondenz mit Fremden, die von Jahr zu Jahr für den Dichter immer drückender wurde, nahm Dostojewskys intensive innere und äussere Vorbereitung zu seinem „letzten Roman“ einen immer grösseren Raum in seinem Leben ein. Er sucht die grossen Mönchklöster mit ihren ‚Skity‘ (Einsiedeleien) wieder auf und widmet vor allem jeden freien Augenblick dem Besuch der Gerichtsverhandlungen, dem praktischen Studium der Rechtspflege; denn so wenig er etwas über die Theorie der Psychiatrie gewusst hatte, da er so treffsicher unzählige Krankheitstypen hinzeichnete — an denen die Wissenschaft lernen könne, wie Dr. Tschiž sagt —, ebensowenig hatte er sich ja um den Buchstaben des Gesetzes, um die Rechtswissenschaft bekümmern können, wenn man auch den Umstand nicht übersehen darf, dass jeder Russe, sei er nun in Sibirien gewesen oder nicht, im ersten Teile seines Lebens reichlich Gelegenheit und Nötigung findet, sich mit dem Wortlaut der Gesetze und dessen praktischen Konsequenzen vertraut zu machen.

Bei Dostojewsky jedoch floss diese praktische, rein verstandesmässige Gesetzeskenntnis mit den tieferen Quellen seines Wesens zusammen. Sein Empfinden der menschlichen Allschuld erweckte von vornherein Neugierde und Teilnahme an aller menschlichen Schuld. Finden wir doch in den grossen Aufsätzen, die er um diese Zeit den Schwurgerichten, den Strafprozessen und ihrem Ausgang widmet, das eifrige Bemühen, den lebendigen Strom subjektiver Wahrheit in das dürre Gebiet der „objektiven“ Pragmatik einzuleiten. Er kämpft da gegen die Verurteilung der Mörderin Kairowa nahezu mit denselben Worten, die er im Epilog des „Hahnreis“ ausspricht: „Niemand, niemand, sie selbst am allerwenigsten konnte wissen, ob sie weiter schneiden werde“ usw.

Seine Anteilnahme an den Dingen der irdischen Gerechtigkeit geht soweit, dass er nach Verurteilung der Arbeiterfrau Kornilowa, welche ihr sechsjähriges Stieftöchterchen vom Fenster ihrer Wohnung im vierten Stockwerke in den Hofraum hinunterstiess, auf Wiederaufnahme des Prozesses drängt und das Gutachten der Ärzte herbeiführt, die nach eingehender Prüfung des Sachverhaltes eine Geistesstörung während der ersten Monate der Schwangerschaft feststellen. Die Frau hatte sich im Untersuchungsgefängnis nach dieser Zeit und der Geburt ihres Kindes weich, reuig, tadellos benommen; sie wurde freigesprochen und Dostojewsky übernahm es, die Versöhnung der Gatten einzuleiten und durch persönliche Teilnahme an ihrem weiteren Zusammenleben zu festigen. — Diese Beschäftigung mit den „laufenden Dingen der Gegenwart“ reift eben die Doppelfrucht seiner Thätigkeit im „Tagebuch eines Schriftstellers“. Sie ist zugleich Vorbereitung für den Roman und Verkündung „seiner Wahrheit“ in diesem eigenartig redigierten Organ.

Auch „die Gesellschaft“ hatte sich in dieser Zeit dem Dichter genähert. Er wird vielfach geladen, gefeiert, nimmt Teil an wohlthätigen Veranstaltungen, Kinder- und Adolescentenbällen; ja, drei Tage vor seinem Tode sollte er bei der ersten Probe einer Kindervorstellung die Rolle des Mönchs, die er übernommen hatte, durchführen, wurde aber durch das Unwohlsein verhindert, das einen so raschen Verlauf zum tötlichen Ausgang nahm. —

Hier seien noch einige Stellen aus Briefen an Freunde und einige diktierte Notizen wiedergegeben, die sein Verhalten während der Zeitströmung von 1870-1880 kennzeichnen, sowie seine Anschauungen über Dinge, welche seinem direkten Lebenswerk ferner liegen. Dazu gehörten z. B. des Dichters Ansichten über das Frauenstudium in Russland. So sehr ihm die Studentinnen gefallen [wie wir oben sahen], so wenig will er etwas davon wissen, dass sie „um Nutzen zu bringen“ — wie das Losungswort der russischen Jugend lautet —, Feldscherinnen und Hebammen werden. Er weist dabei auf die grosse Unbildung aller Spezialisten in Russland („ganz anders in Europa“) hin und verlangt von den jungen Mädchen und Frauen Vertiefung der allgemeinen Bildung: „die Mehrheit der Studenten aber und der Studentinnen, das ist alles ohne jegliche Erziehung. Was ist das für ein Nutzen für die Menschheit?“

In einem Briefe vom Juli 1879 an eine Freundin betont Dostojewsky ihr grosses Glück, Kinder zu besitzen. „Wie gut ist es, dass Sie Kinder haben, wie sehr vermenschlichen diese unsere Existenz in einem höheren Sinne. Kinder sind eine Beschwerde, aber eine unentbehrliche, und ohne sie giebt es kein Lebensziel. Und die europäischen Sozialisten verkünden gemeinsame Erziehungshäuser! Ich kenne vortreffliche verheiratete Menschen, die aber kinderlos sind — nun denn: bei so viel Geist, bei solcher Seele fehlt ihnen doch etwas, und wahrlich, in den höheren Aufgaben des Lebens hinken sie irgendwie.“ Wer Dostojewskys Werke aufmerksam gelesen hat, wird mit dieser Anschauungsart längst vertraut sein. Vom „kleinen Held“ angefangen bis zum Schluss der „Brüder Karamasow“, dem niedergeschriebenen wie dem ersonnenen, den er den Freunden mitteilte, schlingt sich, wie eine Blumenkette, eine unzählbare Reihe von Kindergesichtern; Russlands Kinder, die der Dichter so innig ans Herz drückt, von denen er für Russlands Zukunft so viel hofft.

Eine grosse Anzahl von Schriftstellern und Schriftstellerinnen hat nach des Dichters Tode unzählige Vorträge gehalten und Artikel über ihn und seine Thätigkeit geschrieben. Der Katalog der im Zusammentragen von Urkunden und Materialien unermüdlichen Witwe weist bis zum Jahre 1897 allein 190 grössere und kleinere Schriften und Werke auf, die sie im dazu gegründeten „Museum Dostojewsky“ in Moskau samt ungedruckten (von der Zensur noch nicht zum Druck freigegebenen) Fragmenten, z. B. gewisse Kapitel aus den „Besessenen“, bewahrt. Unter diesen Schriften finden wir nicht wenige über das Thema: „Dostojewskys Kindertypen“. Wir haben nur in einigen davon geblättert, sind indes überzeugt, dass sie alle das nicht auszudrücken vermögen, was z. B. in seinen Briefen über das „winzige Wesen“ Sonja wie ein lebendiger Liebesquell hervorbricht. In der aufregendsten Arbeit begriffen, konnte er, wie seine Gattin erzählt, immer wieder auf Verlangen seines dreijährigen, jüngsten Söhnchens Aljoscha die Repetiruhr schlagen lassen, die er bei sich trug. Man denke nur, was alles in seinen Werken über sein Verhältnis zu Kindern ausgestreut liegt: an die Kinderfreundschaft in „Njetotschka Njeswanowa“, das Kinderkapitel im „Idiot“, an alle kleinen Erzählungen und Skizzen bis zum erschütternden Kapitel über die Kinder in den „Karamasow“, und man wird erkennen, dass sie nicht zufällig da sind, dass sie einen integrirenden Teil seiner Dichtung und seines Lebens ausmachen. — Die Anfrage eines seiner Korrespondenten, was dieser sein noch sehr junges Töchterchen lesen lassen solle, beantwortet Dostojewsky ungefähr mit: das Beste. Walter Scott, Schiller, Goethe, den Don Quixote, Gil Blas, Prescott und die russischen Historiker, sowie Puschkin und Tolstoj unbedingt, Turgenjew und Gontscharow, „wenn er wolle“, ihn aber, Dostojewsky, nur mit Auswahl.

In einem Briefe an eine Dame dankt er ihr, dass sie ihn in seinen Werken verstehe, was bei der gesamten litterarischen Kritik nicht der Fall sei, und hegt nur den einen Wunsch, sich einmal ganz aussprechen zu können, wobei er W. S. Solowiow, einen jungen Philosophen [den jetzt hochangesehenen Gelehrten und Dichter] zitiert, der bei seiner Doktor-Disputation das hübsche Wort gesagt habe: „Nach meiner tiefsten Überzeugung weiss die Menschheit unendlich viel mehr, als sie bis heute in ihrer Kunst und Wissenschaft auszusprechen vermocht hat.“

Die kritischen Ausfälle, welche um diese Zeit in Broschüren und Zeitschriften auftauchen, locken Dostojewskys Zorn heraus, dem er aber meist nur in seinem Notizbuch aphoristisch Ausdruck giebt. So ist jene für die russische Ethik bezeichnende Stelle an den Rechtshistoriker K. D. Kawélin gerichtet, wo es heisst: „Sie sagen, das heisse sittlich sein, wenn man nur nach seinen Überzeugungen handelt. Woher haben Sie das genommen? Ich sage Ihnen geradeaus, dass ich Ihnen nicht glaube, und sage im Gegenteil, dass es unsittlich ist, nach seiner Überzeugung zu handeln ..... Blutvergiessen halten Sie nicht für sittlich, aber aus Überzeugung Blut vergiessen, das halten Sie für sittlich. Das Sittliche deckt sich nicht mit dem Begriff der Überzeugung, der man Folge gegeben, weil es manchmal sittlicher ist, seinen Überzeugungen nicht Folge zu leisten, und der Überzeugte, trotzdem er vollkommen bei seiner Überzeugung verharrt, durch ein gewisses Gefühl davon abgehalten wird, die Handlung auszuführen. Er tadelt und verachtet sich mit dem Verstande, allein mit dem Gefühl, das heisst mit dem Gewissen kann er sie nicht ausführen (und weiss es endlich, dass ihn nicht Feigheit zurückhielt). Vera Sassúlitsch hat einen Augenblick lang geschwankt; es ist schwer, die Hand zum Blutvergiessen zu erheben, sagte sie sich. Dieses Schwanken war sittlicher, als das Blutvergiessen selbst.“

An einer anderen Stelle wettert er gegen die Progressisten und Anhänger des Westens, welche jedoch die bureaukratischen Formen und Formeln ablehnen: „Zerstört nur die administrativen Formeln!“ heisst es da, „das ist aber eine Treulosigkeit gegen den Europäismus, es ist ein Verleugnen dessen, dass wir Europäer sind, es ist eine Untreue an Peter dem Grossen. O, auf eine Umgestaltung wird unsere Administration schon eingehen, aber nur in einer untergeordneten Form, praktische Fragen betreffend usw. Allein, dass sie ihren Geist vollkommen umwandeln sollte — nein, nicht um alles in der Welt! Unsere Liberalen, welche im Gegensatz zum Beamtentum auf dem Semstwo bestehen, wahrlich sie widersprechen sich selbst! Das Semstwo, das gesetzmässige Semstwo, das ist ja die Rückkehr zum Volk, zu den Volksgrundlagen (ein von ihnen so sehr verlachtes Wörtchen). Wird also der Europäismus in seiner jetzigen Gestalt bestehen bleiben, wenn sich das gesetzmässige Semstwo einwurzelt? Das ist die Frage. Doch ist das Wahrscheinlichste, dass er sich nicht erhält.

Der Beamte, der jetzige Beamte indessen — das ist der Europäismus, das ist Europa selbst und sein Emblem, das ist gerade das Ideal der Gradowskys, der Kawelins u. a. Folglich müssten unsere Liberalen und Europajunge, wenn sie folgerichtig sein wollten, für den Beamten und seine jetzige Art eintreten, mit kleinen Abänderungen, welche dem Fortschritt der Zeit und ihrer praktischen Forderungen entsprächen. Übrigens, was sage ich? Im wesentlichen treten sie ja auch dafür ein. Gebt ihnen eine Konstitution, so werden sie auch die Konstitution dem administrativen Schutze Russlands anvertrauen“ ....

Und weiter heisst es als Glosse zum Wort Konstitution: „Ja, Ihr werdet die Interessen Eurer Gesellschaft vertreten, aber ganz und gar nicht die des Volkes; Ihr werdet es auf’s neue leibeigen machen, Kanonen werdet Ihr Euch ausbitten, um auf es zu feuern. Die Presse aber! Die Presse werdet Ihr nach Sibirien schicken, so wie sie Euch nur nicht ganz zusagt! Nicht nur Euch widersprechen wird“ usw.

Aus dieser Polemik ist durch alle Verschränkung der Begriffe und Wirrnis der Werde-Elemente in Russland hindurch eines klar: dass das Beamtentum eine furchtbare Krankheit ist, wo immer es sich einfilzt, eines jener historischen Missverständnisse und Missverhältnisse, wonach Diener des Staates allmählich zu Herren des Volkes werden und aus jedem Gemeinwesen eine seelenlose Maschine zu machen vermögen, die alles zermalmt, was in ihre Nähe gelangt und gegen welche auch der beste Wille eines Alleinherrschers machtlos wird. Dostojewsky berührt dieses Thema später noch einmal in einem Briefe an Iwan Sergejewitsch Aksakow, mit welchem er erst nach der denkwürdigen Puschkin-Feier im Sommer 1880 in nähere Beziehungen trat.

Mit dem Jahre 1880 gelangt das Leben und Wirken des Dichters zu seinem äusseren und inneren Gipfelpunkt. In diesem Jahre stellt er durch seine grosse Puschkin-Rede gleichsam für alle Zeiten das Credo des russischen Geistes und Schrifttums fest und im selben Jahre vollendet er sein „letztes Werk“, die Krone von seines Lebens Sinnen und Schaffen, Wünschen und Wirken, die „Brüder Karamasow“.

Nikolaus Strachow erzählt in den „Materialien zu einer Biographie Dostojewskys“ [Petersburg, Suworin 1883] mit grosser Ausführlichkeit den ganzen Verlauf der für die russischen Bestrebungen so bedeutungsvoll gewordenen Puschkin-Feier. Wir folgen ihm in die Einzelheiten dieses „nationalen Ereignisses“ nicht nach. Für uns sind drei springende Punkte wichtig, die mit wenigen Worten hier bezeichnet seien. Erstens die Vorbedingungen, welche dieses Fest zu solcher Bedeutung erhoben, sodann das Konkrete des Verlaufs und endlich das Ergebnis der Feier als Wirkung auf die litterarisch-nationalen Parteien.

Was vorangegangen war, gipfelt in der Spaltung der russischen Schriftsteller und mit ihnen der russischen Gesellschaft in Westler und Slavophile. Dabei ist im Auge zu behalten, dass es sich da nicht um Geschmacks- und Bildungsrichtungen handelte, sondern, wie wir wissen, um die Art des Einflusses auf das Volk. Puschkin allein vereinigte in seiner Dichtergestalt die Anerkennung beider Parteien. Gleichwohl hielten sich zur Zeit die Ultra-Slavophilen der „Moskowskija Wjedomosti“ mit Katkow an der Spitze fern und brachten auch nicht eine Notiz über die Feier. Ihnen war Puschkin und die Gesellschaft der Litteraturfreunde, die ihn feierte, zu „westlich“. Aus alledem lässt sich begreifen, dass man von den angemeldeten Rednern etwas Ausschlaggebendes, Endgiltiges erwartete.

Turgenjew, welcher die erste Rede halten sollte, war am Vortage durch Acclamation zum Ehrenmitglied der Moskauer Universität ernannt worden. Man sah in ihm „den unmittelbaren und würdigen Nachfolger Puschkins“, da auch er, wenn man es nicht zu genau nahm, ähnliche Züge aufwies: als russischer Dichter mit westlicher Kultur. Turgenjew hatte seine Rede in der Einsamkeit seines Landgutes ausgearbeitet und las sie nun, von lebhaften Beifallssalven unterbrochen, in der ersten Festversammlung im Adelskasino am 7. Juni vor. Die Schlussstimmung war jedoch eine geteilte, da Turgenjew die Frage offen liess, ob Puschkin ein nationaler Dichter sei oder nicht, ja auch nicht darauf einging, diese Frage zu beleuchten.

Nach einer Pause sollten Dostojewsky und Aksakow, dieser als Vertreter des reinen Slavophilentums, sprechen. Aber schon als Dostojewsky begann, und mit dem inneren Feuer, das in ihm brannte, den „russischen Menschen“ im Saale mit den Worten anrief, die wir schon einmal anführten: „Demütige Dich, stolzer Mensch, und vor allem, brich Deinen Hochmut, demütige Dich, müssiger Mensch, und vor allem, mühe Dich auf heimatlichem Boden“ — da fühlte dieser „russische Mensch“, der lautlos den Saal füllte, dass das Wort des Tages gesprochen war, und lauschte bewegt bis ans Ende, da die Begeisterung in unerhörten Jubel ausbrach, in einen Versöhnungsjubel, wie ihn Russland noch nie erlebt hatte.

Des Dichters synthetischer Geist hatte hier den Punkt getroffen und ans Licht gebracht, der beide Strömungen versöhnte, nach dem es unbewusst alle verlangte und der eine neue Aera des litterarischen Wirkens anbahnte. Er hatte das Wort gesprochen, dass Puschkins westliche Kultur durchaus national von ihm verwertet worden sei, dass er in sich eben durch seine echt russischen Anschauungen die Verbindung mit dem Geist des Westens in einer Weise herstelle, die mustergiltig für alle Nachkommenden sei, wie man das ja an seinen dichterischen Gestalten sehen könne. Hier führte Dostojewsky seine Gedanken mit Zuhilfenahme einiger Beispiele aus, die — uns ein Zeuge dieser Feste erzählte — durchaus nicht einwandfrei, ja geradezu gewaltsam ausgelegt waren. Derselbe Zeuge, Professor St.... in Moskau, schildert indes selbst die lebendige Wirkung dieser Rede als eine ungeheure, der man sich erst später bei kühler Überlegung aus sehr stichhaltigen Gründen entwand. Für uns ist das gleichgiltig. Das, was Dostojewsky zeigen und erweisen wollte, was er in sich trug, als er jene Argumente heranzog, das war das Wahre und Befruchtende an seiner Rede und das ist es wohl auch heute noch, was, ihm selbst unbewusst, dennoch in der Seele manches modernen Russen nachklingt. Diese Rede war es denn auch, welche die Versöhnung der streitenden Elemente anbahnte.

Wir gelangen nun zum Abschluss von des Dichters Wirken und Leben.

Selten wird einem schaffenden Genius das hohe Glück zu teil, dass sein letztes Wort auch der vollendetste Ausdruck seiner Kunst war; wie oft verwischt ein Allerletztes die Wirkungen eines ganzen Lebens. Dostojewsky ist dieses Glück geworden. Denn wenn es auch durch die Äusserungen seiner Gattin und seiner Freunde beglaubigt ist, dass er eine Fortsetzung der „Brüder Karamasow“ schon fertig in sich trug, wenn wir auch wissen, wie er sich die Lösung dieses Problems im russischen Sinne vorgesetzt hatte, so können wir der Meinung eines seiner nahesten Freunde nur beipflichten, wenn wir annehmen, dass die Ausführung dieses Schlusses so weit hinter dem Plane zurückgeblieben wäre, als überhaupt Erfüllungen hinter Hoffnungen, Ausführungen hinter genialen Entwürfen zurückstehen. In den „Brüdern Karamasow“ aber ist ja schon in der Exposition, d. h. im Kapitel vom Starez Sosima, das Höchste als Ahnung und Ziel für den Helden Aljoscha ausgesprochen; der Leser empfängt ja von diesem „vorläufigen“ Bilde des „russischen Christus“, das der Dichter in Aljoscha erst ausführen wollte — wie er andeutet und alle Freunde bezeugen — vollauf alles, was auf ihn wirken soll: die Ahnung, gleichsam die Verheissung eines reinsten Zustandes. Hier musste jede Ausführung zurückstehen, im besten Falle als Wiederholung wirken. Wohl aber dürfen wir dem Dichter dafür dankbar sein, dass er uns sagte, wo er hinaus wollte; ganz besonders darum, dass es auch für jene, die es nicht schon in dem Vorhandenen herausgelesen haben, keinen Zweifel über die Absichten des Dichters gebe.

Wir setzen bei deutschen Lesern die Bekanntschaft mit dem Buche voraus. Sowohl die Fabel, als auch die Richtung — welche im Kapitel vom Starez angezeigt ist — liegen klar zu Tage. Allein im Grossartigen, im Ungeheuren, das in dem Kapitel vom Grossinquisitor heraustritt und scheinbar allgemein menschlich ist, das in jeder Sprache hätte geschrieben werden können, da vibriert schon die tiefe russische Note mit, die russische Seele, die ihren Gottesdurst in Erdenlust und verneinende Grübelei zerspaltet. Das brennende Begehren nach dem Glauben, das diese „Legende“ geschaffen hat, ein Begehren auch in der Seele eines mit allen Vorzügen westlicher Bildung ausgestatteten Geistes wie Iwan Karamasow, das ist echt russisch. Diese Figur Iwans und diese Episode beleuchten uns auch urplötzlich, was Dostojewsky unter seiner „russischen Allmenschlichkeit“ versteht. Die ewige Frage nach dem Gotte, die dieses Volk durch alle Zeiten hindurch, auf allen Gebieten in sich behält, ist ihm Bürgschaft, dass diese zwei Züge, so untrennbar wie sie es sind, zugleich allgemein menschlich und echt russisch sind.

Echt russisch ist auch das Schuldthema aufgenommen und durchgeführt. Ganz unbewusst und selbstverständlich fliesst dieses „an allem und für alle und alles schuldig sein“ wie ein Element durch die Menschen und Ereignisse des Romans, bis es in den Bekenntnissen Sosimas bewussten Ausdruck erhält. Ja, Rósanow, der geistvolle Kommentator, findet darin einen Fehler, dass nicht auch die Kinder in diese Allschuld einbezogen sind, die Iwan als „unschuldig unter der Disharmonie der Welt Leidende“ hinstellt; dass der Dichter nicht auch ihnen die Erbsünde zugeteilt hat; eine orthodoxe Einseitigkeit, vor welcher ein feineres Gefühl den Künstler glücklich bewahrt hat.

Ganz besonders russisch aber ist der endgiltige Hinweis auf Russlands reinere Zukunft, die Jugend. Dieses Motiv der russischen Jugend, das wir in allen seinen grösseren Werken, gleichsam hinter ihnen her, wie ein Dämmern künftiger Tage fühlten, das er im Epilog des Podrostok geradezu verkündet, hier bricht es plötzlich hervor und wir sehen mit einemmal das ganze Gebiet ringsum beleuchtet, vor uns die Zukunft des Helden jenes Atridenromans der Karamasow, der das Sühnungswerk der Iphigenie in modernem und christlichem Sinne zu vollenden hat. Aljoscha sollte, so war des Dichters Plan, nach des alten Sosima Gebot in die Welt zurückgehen, ihr Leid und ihre Schuld auf sich nehmen. Er heiratet Lisa, verlässt sie dann, um der schönen Sünderin Gruschenka willen, die sein Teil Karamasowschtschina[34] zu Falle bringt, und tritt nach einer bewegten Periode irrenden und verneinenden Lebens, da er kinderlos geblieben ist, geläutert wieder ins Kloster ein; er umgiebt sich da mit einer Schar von Kindern, die er bis an seinen Tod liebt und lehrt und leitet. Wem fiele hier nicht der Zusammenhang mit der Erzählung des Idioten von den Kindern ein, wem nicht der kleine Held, alle die entzückenden Kinderzüge, die nur die Liebe entdeckt. Nun fällt aber auch ein Abglanz dieser Stimmung wie Feuerschein in die unerbittliche Geisselung der Gott-losen Jugend in den „Besessenen“, im „Idiot“, im „Jungen Nachwuchs“, und wir sehen den Dichter förmlich mit seinen zwei Simson-Armen die Säulen jenes Götzentempels umklammern, um sie in Trümmer zusammenzuwerfen. Wir sehen seinen Hass, seine Ungerechtigkeit und Übertreibung als die Zerstörungsarbeit an, auf dem Platze, wo allein ein neuer Aufbau möglich ist. — — Diese Jugend sehen wir, von ihm verdammt, zu Grunde gehen, um jener anderen willen, die er in der Seele trägt und welcher dereinst Russlands Zukunft gehören soll.

Die Fabel des Romans ist bei aller Füllung desselben mit einer Unzahl von Episoden, Ereignissen, Zufälligkeiten u. dergl. klar und einfach genug. Wer Dostojewsky kennt, der weiss, dass er nur wenige Themen hat, ja eigentlich ein einziges Urthema, aus dem er immer wieder das Gerippe eines Problems aufbaut, das er in lebendige Menschen einfleischt, denen er ihre individuelle Seele einhaucht. So fände ein Spurensucher in Dostojewskys Werken reichliches Nachweismaterial für Varianten und Wiederholungen des Grundthemas. Was gäbe es da für Ernten für einen Nachwuchs von Kommentatoren im Sinne der Goethe-Forschung, wenn so etwas in Russland möglich wäre! Was im jungen Russland nachgeforscht und nachgewiesen wird, ist heute noch der Sinn, nicht das i-Tüpfelchen des Mysteriums einer Dichtung. Dieser Nachweis aber ist leicht, denn der Sinn der Wiederholungen ist immer augenfällig.

So wiederholen sich des Dichters Gedanken über die „neuen Ideen“ in den „Tagebüchern“, in „Schuld und Sühne“, in „winterlichen Betrachtungen über Sommereindrücke“ [diese allerdings durch die Londoner Einflüsse modificiert], in den „Besessenen“ usw, nahezu wörtlich, da es sich für ihn in erster Linie um die Wirkung, nicht um die Stilschönheit seiner Worte handelt. Den „Traum eines lächerlichen Menschen“ träumen wir ihm zweimal nach, finden dessen Grundidee in dem kleinen Aufsatz wieder, den er unter dem Titel „Das goldene Zeitalter in der Tasche“ im Januarheft des Tagebuchs von 1876 publiciert, und zuletzt als positiven Hintergrund seiner Hoffnungen für die Zukunft. Auch die Figuren Dostojewskys kehren, unendlich variirt, niemals zum Typus herabsinkend, häufig wieder. Namentlich treten für das Auge des Russen gewisse Merkmale immer wieder auf, deren Gemeinsamkeit dem europäischen Leser oft darum entgeht, weil ihm das Merkmal selbst nichts sagt. So sind Iwan Karamasow und Raskolnikow, der Fürst Walkowsky und Swidrigailow, der „Idiot“ und Aljoscha Karamasow, der Starez Sosima und der Wanderbettler Makar im „Jungen Nachwuchs“, der Fürst Sokolsky ebenda und der alte Fürst in „Onkelchens Traum“ eigentlich Variationen einer Wesenheit, mit künstlerischer Vollendung bis ins Kleinste individualisiert. Nur Dmitri Karamasow steht ohne Gegenspielart da. Er ist auch der Träger des echt Dostojewskyschen Elements des Unbewussten, das eigentlich die Komplikation und den Abschluss des uns bekannten Teiles der Fabel herbeiführt.

Der alte Karamasow ist ein Wollüstling niederster, bis ins Mysteriöse gehender Art. Er erzeugt mit zwei Frauen und einer blödsinnigen Bettlerin, die er vergewaltigt, vier Söhne, welche, jeder in seiner Art durch den Anteil der Mutter modificiert, ihr Teil vom Karamasowschen Erbe in sich tragen. Die erste Gattin war nach einem kurzen Romantismus, der sie veranlasst hatte, ohne alle Not mit ihm durchzugehen, energisch geworden, hatte ihn bald geprügelt und zuletzt mit dem dreijährigen Dmitri und ihrer Mitgift allein gelassen. Die Spuren dieser Ehe prägen sich in Dmitris Zügellosigkeit und der mit einem deklamatorischen Pathos vermengten unordentlichen Ehrlichkeit aus. Iwan, der ältere Sohn der hysterischen „Schreiliesel“, die hinwieder der Gatte prügelte, erbte ausser der Karamasowschtschina (etwa Karamasowerei) die äusserste Reizbarkeit der Nerven seiner Mutter, die ihn zu Hallucinationen führte, während bei Aljoscha, dem Jüngsten, die bösen Mächte sich erschöpft zu haben schienen, wenn sie ihm auch einen Rest jenes Erbübels zuteilten. Der Sohn der Gosse jedoch, Smerdjakow, der nachmalige Vatermörder, ist die Personifikation der Seelenlosigkeit als Produkt bestialischer Triebe, und ihn lässt der Dichter, charakteristisch genug, vom Vater zum Koch ausbilden, gleichsam ein Symbol der verwandten Triebe von Völlerei, Wollust und Grausamkeit.

Dmitri treibt sich unter fremden Menschen herum und verprasst sein mütterliches Erbteil, während Iwan und Aljoscha einer gewissen Bildung in Seminarien und Lyceen teilhaftig werden.

Alle diese Karamasowschen Abkömmlinge lässt der Dichter, jeden in seiner Weise, mit den ererbten Gaben fertig werden. Bei Dmitri treten sie gewaltsam, brutal, doch mit guten Ansätzen und Reue-Anfällen vermengt, zu Tage. In dieser Mischseele ist dem Unbewussten, Rhapsodischen, Thür und Thor geöffnet, was ja auch die Anklage gegen ihn, seine ungeschickte Verteidigung und die Verurteilung des unschuldig Schuldigen wegen Vatermords zur Folge hat.

In Iwan hat sich die grobe Wollust in spintisierende Lebensgier gewandelt, dies führt ihn zu einer leidenschaftlichen Untersuchung des Lebens und seiner Freuden, sowie dazu, es ungerecht eingerichtet und als etwas Misslungenes zu verurteilen, das er „ablehnt“. Wenn ein Gott ist, sagt er zu Aljoscha, mit dem er sich in einem kleinen Wirtshaus am Vorabend seiner Abreise getroffen hat, um „echt russisch, im Traktir vom Dasein Gottes zu sprechen“; wenn ich auch einen Gott annehme — „seine Werke lehne ich ab“. Schon früher hatte er gesagt: „Weisst du, was ich dahier eben erst zu mir gesagt habe? Sollt’ ich auch nicht mehr an das Leben glauben, müsst’ ich den Glauben an ein teures Weib, an die Ordnung der Dinge aufgeben, ja, sollte ich mich im Gegenteil davon überzeugen, dass alles ein unordentliches, verfluchtes und vielleicht teuflisches Chaos ist, sollten mich auch alle Schrecken der menschlichen Enttäuschung treffen — dennoch werde ich leben wollen, und wenn ich diesen Becher angesetzt habe, so will ich nicht eher davon lassen, als bis ich ihn nicht ganz bewältigt habe. — — Ich habe mich oft gefragt: giebt es im Leben eine Verzweiflung, welche in mir diesen wütenden und vielleicht unanständigen Lebensdurst besiegen könnte, und geantwortet: dass es derlei nicht giebt; das heisst bis zu meinem dreissigsten Lebensjahr — dann aber werde ich selbst nicht mehr wollen, so scheint es mir. Diese Lebensgier nennen manche schwindsüchtige Gelbschnäbel-Moralisten, namentlich Poeten, niedrig. Wahr ist’s, es ist zum Teil ein Karamasowscher Zug, diese Lebensgier, die über alles hinweggeht; auch in dir sitzt sie unbedingt, aber warum ist sie denn niedrig?“ usw. „Die klebrigen Frühlingsknospen lieb’ ich, den blauen Himmel lieb’ ich — das ist’s. Hier ist nicht Verstand, nicht Logik, hier liebst du mit den Eingeweiden, als Wurm liebst du hier, deine ersten jungen Kräfte liebst du ... verstehst du etwas davon?“

Darauf Aljoscha: „Nur allzu gut usw.“ ... Hier ist auch des Jüngsten Karamasowschtschina eingeführt; da er sagt, er „verstehe“ — gehört er auch zur Familie. Dennoch lehnt Iwan das Leben als Werk einer Ordnung und Vernunft, als „Euklidische Geometrie“ ab. „Nicht Gott ist’s, den ich ablehne, verstehe das, sondern die von ihm erschaffene Welt, die Gotteswelt lehne ich ab, ich kann mich nicht entschliessen, sie anzunehmen.“ — Nun folgt ein leidenschaftlicher Protest gegen das Leben, den Iwan mit dem Bekenntnis einleitet, dass er nie begriffen habe, wieso man seine Nächsten lieben könne. In der Ferne, meint er, gehe es noch, aber in der Nähe sei jeder Mensch dem anderen widrig und keiner sei imstande, die Leiden des andern zu begreifen. An diese sehr charakteristische Begleiterscheinung seines Karamasowtums schliesst er sofort die Begründung seines Protestes gegen die Weltordnung an und wendet sich dabei an jenen tiefen Zug in Aljoscha, in den dieses Jünglings Karamasowtum schon gemildert einlenkt, um endlich nach des Dichters Absichten ganz geläutert auszuklingen: die Liebe zu den Kindern.

Iwan sagt ungefähr: wenn ich auch glauben will, dass „die Euklidischen Parallelen“ sich in der Ewigkeit berühren, dass alles Leid und alle Missethat der Menschen zuletzt einmal in Harmonie aufgelöst sein wird — wie kann ich eine Welt zugeben, in der auch nur ein kleines Kind seine unschuldigen Thränlein vergiessen muss? Nun erzählt er Episoden aus Kriegszeiten, aus der Zeit der harten Leibeigenschaft, wo Kinder in der grauenvollsten Weise einer Laune, einer Bestialität zum Opfer fielen [der Dichter benutzt für seine Beispiele hier wie überall Dokumente]. „Die Kinder müssen erlöst werden, sonst giebt es keine Harmonie. Womit, womit aber kaufst du sie los? Ist das denn möglich? Etwa damit, das sie gerächt werden? Aber wozu brauch’ ich die Vergeltung, wozu die Hölle für ihre Peiniger; was kann hier die Hölle gutmachen, wenn jene schon zu Tode gequält wurden? Was ist das aber für eine Harmonie, wenn eine Hölle dazu da ist? Ich will vergeben, ich will umarmen, ich will nicht, dass man weiter leide. Und wenn die Leiden der Kinder darauf gegangen sind, um jene Summe von Leiden voll zu machen, die für das Erkaufen der Wahrheit unumgänglich nötig war, so behaupte ich von vornherein, dass die ganze Wahrheit eines solchen Preises nicht wert ist. Ich will endlich nicht, dass die Mutter den Peiniger umarme, der ihr Kind durch Hunde zerfleischen liess! Sie wage es nicht, ihm zu verzeihen! Wenn sie will, so mag sie ihm für sich verzeihen, mag sie dem Peiniger ihr unermessliches mütterliches Leiden vergeben, allein die Leiden ihres zerfleischten Söhnchens ihm zu verzeihen, dazu hat sie kein Recht, sie darf sie ihm nicht vergeben, wenn auch das Kind selbst sie ihm verziehe. Wenn es aber so ist, wenn sie nicht verzeihen dürfen, wo ist dann die Harmonie? Ist auf der ganzen Welt ein Wesen, welches das Recht hätte, zu vergeben? Ich will keine Harmonie, aus Liebe zur Menschheit will ich keine. Ich will lieber bei den unvergoltenen Leiden verharren. Lieber will ich schon bei meinem ungesühnten Leiden, bei meiner ungemilderten Entrüstung bleiben, auch wenn ich nicht recht hätte. Allzu hoch hat man diese Harmonie geschätzt, es geht durchaus über unsere Mittel, da so viel für den Eintritt zu bezahlen. Darum beeile ich mich, meine Eintrittskarte zurückzustellen. Und wenn ich ein ehrlicher Mensch bin, so bin ich verpflichtet, die Karte so schnell als möglich zurückzugeben. Das thue ich auch“ usw. — —

Nun ruft Aljoscha plötzlich mit leuchtenden Augen: „‚Ist in der ganzen Welt ein Geschöpf, das verzeihen könnte‘, sagst du. Aber dieses Wesen ist und es kann ‚alles und allen vergeben‘ — du hast ihn vergessen.“ — — Wir haben hier wieder das Problem des Kellerbewohners in erhöhter, nicht mehr cynisch negativer Form; hier drängt die Frage des Ausgleichs ihrer Lösung zu und es tritt, zum erstenmale in Dostojewskys Werken, der Name Christi und im folgenden Kapitel vom Grossinquisitor die wunderwirkende Gestalt des wiedergekehrten, schweigenden Christus als Person auf.

Dieses Kapitel in dem engen Rahmen einer auf den russischen Volksgeist gerichteten Studie würdig zu besprechen, wäre ein Vermessen. Wir müssen uns auf Andeutungen und Hinweise beschränken. Den Grundgedanken hüllt Iwan, der dem sanften Bruder seinen Atheismus verkünden will, in die Form der Legende. Zur Zeit der Inquisition werden in Sevilla Scheiterhaufen zur alltäglichen Ketzerverbrennung aufgerichtet. Christus erscheint, ein müder Wandersmann, in der Menge und wird von allen sofort erkannt. Man drängt sich um ihn, wirft sich vor ihm nieder, da er Wunder wirkt. Da erscheint der neunzigjährige Grossinquisitor mit seinem Gefolge und lässt den Allverehrten festnehmen und in ein unterirdisches Gefängnis werfen. In der Stille der Nacht öffnet sich die schwere Thür des Gelasses, und der Inquisitor tritt herein. Christus sitzt an einem Tische, eine Leuchte steht vor ihm. Nun beginnt der Greis mit harter, blutleerer Lippe seine Rede.

Er setzt ihm das Unrecht auseinander, noch einmal gekommen zu sein. „Deine Zeit ist vorüber, sagt er, was hast du aus den Menschen gemacht, denen du die Freiheit schenktest, dir, auf dein Beispiel hin, zu folgen? Sie sind zu schwach für diese Freiheit. Damit hast du nur für die Auserwählten gesorgt, für die Starken, die alle Opfer, alle Demütigung auf sich zu nehmen vermögen, wenn sie dir folgen. Aber die anderen? Bist du denn nur ein Gott der Starken? Siehe, wir, die Kirche, wir lieben die Menschen mehr als du, wir lieben alle, wir nehmen ihre Leiden auf uns, wir vollenden in deinem Namen das Werk, das du nur halb gethan. Und du warst gewarnt. Jener furchtbare und tiefsinnige Geist, der dich angeblich versucht hat, er hat dir drei Mittel an die Hand gegeben, wie du die Menschen für alle Zeiten dir unterthan und wie Kinder glücklich machen konntest. — Du hast sie verschmäht. Nun haben wir sie aufgenommen, diese Mittel, und die Menschen sind beruhigt, beruhigt in deinem Namen. Wozu also bist du gekommen unser Werk zu stören?“

Nun entwickelt der Inquisitor die römische Deutung der drei Darbietungen des „furchtbaren Geistes“, welche die Menschen für alle Zeit im Banne halten: Das Wunder, das Geheimnis und die Autorität. Die gezogene Folgerung ist nun die, dass die unerbittliche und unbedingte Machtforderung der römischen Kirche auf den Atheismus gestützt ist, dass das Wunder kein Wunder, hinter dem Geheimnis — nichts ist, dass aber ihre Autorität durch diese erfundenen und aufrechterhaltenen Mysterien die Gewissen beruhige und den Menschen die Sünde gestatte, die sie ihnen, als schwachen Kindern, nicht entziehen könne, sodass sie ihrer Freiheit, ihnen unbewusst, glücklich wieder ledig würden. „Und morgen lasse ich dich verbrennen. Dixi“, schloss der Greis seine Rede. Christus schweigt noch immer, während der Inquisitor eine Antwort erwartet. Da erhebt sich der Gefangene, tritt auf den Inquisitor zu und drückt einen Kuss auf seine kalten Greiseslippen. Dieser erschauert, öffnet die Thüre und entlässt den Gefangenen in die finstere Nacht.

„Und der Alte?“ fragt Aljoscha. „Der Kuss brennt auf seiner Seele, doch er bleibt bei seiner Idee“, erwidert Iwan. „Und du mit ihm, du mit ihm!“ ruft Aljoscha kummervoll aus. Die Brüder trennen sich. Aljoscha macht sich bittere Vorwürfe, dass er den Bruder Dmitri hatte vergessen können, den er indessen nirgends findet, während Iwan zu Smerdjakow eilt, der für seine pathologische Unmenschlichkeit gern gebildete Beweggründe von Iwan entlehnt. Es bereitet sich in diesen Köpfen und Herzen der Mordgedanke vor, und die Rede und Gegenrede dieser Zwei lässt uns, ohne dass die Sache ausgesprochen würde, das Entsetzliche ahnen, dass irgendwie Dmitri, der mit dem Vater um Geldes willen und aus Eifersucht auf eine leichte Schöne, Gruschenka, im Hader lebt, werde missbraucht oder vorgeschoben werden. Die schreckliche That geschieht zu später Nachtstunde und so, dass aller Verdacht auf Dmitri fällt, der in wilder Ungeduld irgendwo eine Mörserkeule mitgenommen hatte und nach des Vaters Garten geeilt war. Hier hatte er am Fenster gestanden und in rasendem Zorn das Kommen der bestellten Schönen erlauern wollen. Da sieht er den alten Lüstling zum Fenster treten und verbirgt sich. Später will er fliehen, hört Stimmen, sieht sich verfolgt und eilt zum Gartenzaun, über den er sich schwingt. Da wird er vom alten Diener Grigorji am Fuss gepackt, der mit rauschheiserer Stimme schreit: ‚Das ist er, der Vatermörder!‘ Da fällt der Alte aber auch schon wie vom Blitz getroffen zu Boden. Dmitri springt in den Garten zurück, wirft die Keule ins Gras, betastet den Kopf des Alten, der von Blut überströmt ist, und entflieht.

Der Dichter lässt überall, wo Dmitri handelt oder handeln könnte, Dunkelheit walten; es fehlen konkrete Bindeglieder der Erzählung. Dies ist nicht nur einem Kunstgriff im gröberen Sinne zuzuschreiben, der die Spannung und Vermutung des Lesers bis zur Lösung offen halten will, sondern in gleichem Masse dem künstlerisch feineren Hilfsmittel, Dmitris Handeln so darzustellen, wie es, ihm unbewusst, aus der Dunkelheit seiner Seele hervorbricht. Kurz vorher noch hatte er zu Aljoscha gesagt: „Weisst du was? Ich weiss nicht, ich weiss nicht, vielleicht bringe ich ihn nicht um, vielleicht aber bringe ich ihn um. Ich fürchte, dass ich’s thue in derselben Minute, da er mir mit seinem Gesicht verhasst wird. Ich hasse seinen Adamsapfel, seine Nase, seine Augen, sein schamloses Lächeln ... einen physischen Ekel fühle ich. Das ist’s, was ich fürchte, da werde ich mich nicht zurückhalten können.“ — — „Gott hat mich davor bewahrt“, sagt er später. Aljoscha aber weiss von allen diesen Dingen nichts. Er hat den Bruder gesucht, ihn nicht finden können und kehrt nun in das Kloster, wo er als dienender Laienbruder um den Starez Sosima beschäftigt ist, voll Sorge zurück. Er findet dort den Ehrwürdigen, den er schon sterbend wähnte, aufrecht sitzend in seiner Zelle, im Kreise der Mönche und Jünger, die seinen ermahnenden Worten lauschen. Sosima begrüsst den Jüngling liebevoll und fragt ihn nach „dem Bruder“. Er denkt dabei nur an Dmitri, der am Vortage zugleich mit Iwan, dem Vater und anderen das Kloster besucht hatte. Sie waren da vor dem Greise in einen hässlichen Streit geraten, und dieser war aufgestanden, um die Zelle zu verlassen, hatte sich plötzlich vor Dmitri niedergeworfen und den Boden mit der Stirn berührt, „um des Furchtbaren willen, das er in Dmitris Antlitz herankommen gesehen“. Um ihn vor diesem Furchtbaren zu bewahren, hatte er Aljoschas sanftes Antlitz nach ihm ausgesendet.

Nun wendet sich der Greis ganz besonders an Aljoscha und uns wird das „Geheimnis“ offenbar, das der Dichter in das Motto [Ev. Johannis XII, 24] des ganzen Werkes gelegt hat und das in jenem anderen, durch viele seiner Werke gehenden und selten verstandenen Citate seine Gegenseite findet: „Wir alle sind für alle und an allem schuldig.“

Der Starez Sosima sagt: „Ich habe Dich zu ihm gesandt, Alexei, weil ich dachte, dass Dein Bruderantlitz ihm helfen werde. Aber es kommt alles von Gott, alle unsere Geschicke. ‚Wahrlich, wahrlich, ich sage Euch: Es sei denn, dass das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt es allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte.‘

Erinnere Dich daran. Dich aber, Alexei, habe ich viele Male im Geiste gesegnet um Deines Antlitzes willen, wisse es,“ sagte still lächelnd der Greis. „So denke ich von Dir: Du wirst aus diesen Mauern scheiden und wirst in der Welt verweilen — als Mönch. Du wirst viele Gegner haben, aber Deine Feinde selbst werden Dich lieben. Viele Widerwärtigkeiten wird Dir das Leben bringen, allein durch sie wirst Du auch beglückt sein und das Leben segnen und auch andere es zu segnen zwingen — was das Wichtigste von allem ist.“

Dies ist für uns der springende Punkt der Hauptidee vom „Dasein Gottes“, welche ohne Dialektik endlich Iwans geniale Beweisführungen besiegen wird. Aljoschas liebevoll brüderliches Wesen, dessen Abglanz auf seinem Antlitz schon seine Sendung verkündet, es wird die Feinde ihn zu lieben zwingen. Unsere immerwährende Schuld ist also die, dass wir nicht wie das Weizenkorn für uns ersterben, um in anderen Früchte zu bringen, sondern, dass wir zu wenig lieben und dadurch auch die anderen zur Unliebe veranlassen. Das wird bis zur Unumstösslichkeit deutlich da, wo Sosima den Umstehenden seine Jugendgeschichte erzählt, allerdings, seinem Wesen entsprechend, mit einer Beimischung orthodoxer Kirchlichkeit.

Als er ein Kind von neun Jahren gewesen, erzählt er, da sei sein einziger um zehn Jahre älterer Bruder an galoppierender Lungenschwindsucht gestorben. Dieser sei früher ganz ungläubig gewesen, sei aber kurz vor seinem Tode, da er die Vöglein so fröhlich im Baumschatten singen gehört, plötzlich sehr heiter und liebevoll geworden und habe aus Freude darüber geweint, dass er es nun verstehe, wie alles gemeint sei. Auch war es ihm schwer, sich bedienen zu lassen, und er habe den Dienern immer besonders gesagt: „Warum kann ich nicht auch Euch bedienen.“ „Mütterchen, meine Freude,“ sagte er, „es kann nicht wohl sein, dass es keine Herren und Diener gäbe, aber lass mich doch auch der Diener meiner Diener sein. Ja, und noch das sag’ ich Dir, Mütterchen, dass ein Jeder von uns für alle in allem schuldig ist, ich aber mehr als alle.“ Man lächelte und hielt diese Reden für Fieberphantasieen.

Jahre waren nach dem Tode des Jünglings und der Mutter vergangen; der nun herangewachsene Junge war in einer Kadettenanstalt erzogen worden und ist nun als Offizier in einer Provinzstadt stationiert. In einem angesehenen Hause bewundert er die Tochter und bildet sich ein, von ihr geliebt zu sein, entscheidet sich aber nicht zu einem Heiratsantrag, weil er seine schönen Junggesellenjahre noch austoben will. Als er von einer mehrmonatlichen Abwesenheit zurückkehrt, findet er sie als die Frau eines Mannes, den er auch früher oft im Hause getroffen. Er hält sich für angeführt und verlacht, da er sich nicht zugestehen will, dass er das Opfer der eigenen Eitelkeit ist. Eines Tages führt er absichtlich eine Herausforderung des jungen Gatten herbei. Das Duell soll am folgenden Tage stattfinden.

Als der Junker in überaus reizbarer Stimmung spät abends nach Hause kommt, bringt irgend ein kleines Vergehen seines Privatdieners ihn in heftigsten Zorn; er versetzt jenem zwei so heftige Backenstreiche, dass das Gesicht blutet. Der Bursche steht mit aufgerissenen Augen, die Daumen an der Hosennaht, lautlos, wie beim Rapport, vor ihm. Auch nicht einen Versuch der Gegenwehr hat er gemacht, dass er etwa einen Arm erhöbe und vor das Gesicht hielte. — Der Junker legt sich zu Bette, schläft einige Stunden sehr unruhig und erwacht noch sehr früh am Morgen mit einem dumpfen Unglücksgefühl in der Brust. Was ist es doch? Das Duell? Nein, er hat sich schon früher geschlagen, das ist es nicht. Eifersucht? Auch die nicht, da er jetzt ganz klar darüber ist, dass er das Mädchen eigentlich nie geliebt hat. Nun hat er’s: der Diener, der sich nicht wehrte unter den blutigen Schlägen. Der Offizier bedeckt sein in Scham erglühendes Gesicht mit beiden Händen und wirft sich schluchzend auf sein Lager ....

Zur festgesetzten Stunde erscheint der Sekundant. „Komm, es ist Zeit.“ Sie gehen vor die Thür, zum Wagen hinaus. „Warte, ich vergass meine Börse“, sagt der junge Duellant und eilt zurück, geradaus in das Kämmerchen des Dieners. „Athanas, ich habe Dir gestern zwei Backenstreiche gegeben, verzeihe Du mir.“ Der Diener schauert wie geschreckt zusammen. Da wirft sich der Herr nieder, mit der Stirn schlägt er den Boden. „Verzeihe mir!“ wiederholt er. „Euer Edelgeboren“, sagt der Bursche, „Väterchen, Herr — — ja wie ist das — — ja bin ich das wert?“ und bricht in Thränen aus. — Man fährt zum Zweikampf. Des Leutnants Stimmung ist ganz umgewandelt; freudestrahlend, glücklich legt er den Weg zurück, sodass der Sekundant sich des wackeren Haudegens freut. Man kommt an und misst die Distanz, der Beleidigte giebt den ersten Schuss ab und streift das Ohr des jungen Mannes ein wenig. „Gott sei gepriesen“, schreit dieser, „es ist kein Mensch getötet worden!“ Dann drückt auch er seine Pistole ab — in die Baumkronen des Wäldchens. Er wendet sich zu seinem Gegner. „Geehrter Herr“, sagt er, „verzeihen Sie mir dummem jungen Menschen, dass ich Sie beleidigt und jetzt auch noch dazu genötigt habe, auf mich zu schiessen.“ Jener wird zornig und fragt: „Ja, haben Sie denn nicht vorgehabt, sich mit mir zu schlagen? Wozu mich dann beunruhigen?“ „Gestern“, erwiderte der Fröhliche, „war ich noch dumm, heute bin ich klüger geworden.“ Man schreit, man will ihn nötigen. „Nein“, sagt er, „ich schiesse nicht. Sie aber — thun Sie es, wenn Sie wollen, ob es auch besser wäre, Sie thäten es nicht.“ Die Sekundanten rufen ihm zu, dass er das Regiment entehre, worauf er erwidert: „Meine Herren, ist es denn wirklich so wunderbar, in unserer Zeit jemand zu begegnen, welcher selbst seine Dummheit bereut und sich öffentlich schuldig bekennt?“ Die Folgen dieses Bekenntnisses sind weittragende. Der junge Bekenner erhält den Abschied, er verlässt den Dienst und die Stadt, und so wird dieses Erlebnis — von innen heraus — der erste Anlass seines späteren Eintritts in ein Mönchskloster.

An einer Stelle seiner biographischen Aufzeichnungen über Dostojewsky sagt N. Strachow, man könne auf den Dichter die Worte anwenden, welche er Puschkin nachgerufen habe: „Er hat ein grosses Geheimnis mit ins Grab genommen und uns überlassen, es auszudeuten.“ Wir finden das nicht. Wir finden vielmehr, dass er uns dieses Geheimnis in seinem grössten, monumentalen Werk gekündet hat. Den „Gott, den er beweisen“ wollte, hat er zuerst mit den blendendsten Künsten der Dialektik vernichtet, um ihn durch das einfache Gebot der Liebe in allen und in jedem wieder aufzurichten. Er spricht durch den Mund Sosimas aus, dass es möglich ist, den Bruder nicht zum Bösen zu zwingen, dass jeder diese Möglichkeit unbewusst in sich trage und diese Blindheit es ist, die alle für sich und alle andern an allem schuldig werden lasse. Dies ist der Kernpunkt dessen, was Dostojewsky mit diesem Atridenbuch, das in die Zukunft, in die russische Zukunft weist, hat sagen wollen. Wenn ich liebe, sagt er, so bin ich glücklich; ich zwinge die anderen zum Glück, da ich nicht für mich leben, sondern gleich dem Weizenkorn ersterben will, um Früchte zu tragen. Das Vollgefühl aber dieser Liebe [vom Glauben ist gar nicht mehr die Rede, da er Accessorium ist] ist — Gott. Wer dieses in sich trägt — und nach des Dichters Meinung trägt es jeder als Keim in sich, weiss es nur nicht und erwartet es nur immer wieder vom Nächsten, was ja das „Geheimnis“ ist — der erlöst schon, wie Aljoscha, durch das Strahlen seines Antlitzes den darbenden Bruder. Wer aber davon nichts weiss, und das sind wir alle, der wird täglich „für alle und an allem schuldig“.

Den Schluss des Romans bildet der eingehend lange Prozess gegen Dmitri und seine Verurteilung, da er zu unbewusst ist, um sich aus der Schlinge zu ziehen, und jene, die ihn retten könnten, im letzten Augenblicke es nicht mehr vermögen. Smerdjakow, der wirkliche Mörder, erhängt sich, und Iwan wird im Gerichtssaal wahnsinnig.

Der Epilog zeigt uns Aljoscha beim Leichenbegängnis eines Schulknaben, den er sehr geliebt, umgeben von einer Schar frischer Buben, die aber noch nicht die rechten sind. Er spricht die Grabrede und fordert von den kleinen Jungen, die ihn umgeben, das Versprechen, in der Erinnerung an den ehrenhaften Knaben, dem sie eben Lebewohl sagen, die Ehre hoch zu halten in allen Versuchungen des Lebens.

September 1880 vollendet Dostojewsky die „Karamasow“. Nun wendet er sich mit voller Kraft der Publicistik zu, da er vieles zu sagen hat und seine gewonnene Autorität ihm gestattet, es fest und sicher auszusprechen. Sehr entschieden drückt er sich auch in einem Briefe an Iwan Aksakow aus, der ihm nach der Puschkin-Feier und einigen gewechselten Briefen näher getreten war. Er kritisiert da einen Artikel Aksakows in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift „Rusj“. „Bei Ihnen (No. 1 der „Rusj“) heisst es: ‚Peter der Grosse habe uns nach Europa hineingezogen und uns europäische Civilisation gegeben‘. Ja, Sie loben ihn fast gerade um dieser europäischen Civilisation willen: diese aber, ihr Scheinbild ist es ja eben, das zwischen der Macht und dem Volke sitzt in Gestalt eines verhängnisvollen Gürtels ‚bester Leute‘ in vierzehn Rangklassen.“

Für den Monat Januar 1881 bereitet nun der Dichter fieberhaft eine grosse Nummer des Tagebuchs für das Jahr 1881 vor, welche eine Reihe von Artikeln über das Verhältnis der „Intelligenz“ zum Volke einleiten sollte. Die Nummer war schon im Druck, Dostojewsky fürchtete jedoch sehr viel von der Zensur, welcher er sich aus Mangel einer Kaution als einer predwaritelnaia Zensura (vorprüfende Zensur) auf Gnade und Ungnade ergeben musste. N. Strachow meint, die Beunruhigung des Dichters habe sich auf die Stelle bezogen, wo es heisst: „Es giebt dafür ein magisches Wort: ‚Vertrauen zeigen‘. Ja, unserem Volke kann man Vertrauen entgegenbringen, denn es ist dessen würdig. Ruft nur die grauen Kittel herbei und fragt sie selbst um ihre Bedürfnisse, um das, was ihnen not thut, und sie werden Euch die Wahrheit sagen, wir aber werden vielleicht zum erstenmale die wirkliche Wahrheit hören.“

Obwohl von kompetenter Seite über das Schicksal der Publikation beruhigt, wich Dostojewskys Aufregung nicht. Am 25. Januar besuchte ihn Orest Miller, um ihn an sein Versprechen eines kleinen Puschkin-Vortrags zu mahnen. Sie konnten sich um das Programm nicht einigen, und Miller verliess den Dichter, zwar ganz begütigt, dennoch in reizbarem Zustande. Seit mehreren Jahren war infolge eines chronischen Bronchialkatarrhs ein Lungenemphysem zu seinen anderen schweren Leiden getreten, und dieses eigentlich secundäre Übel wurde nun die Ursache seines Todes. Eine Lungen-Arterie borst an jenem verhängnisvollen Tage, was sich jedoch anfangs nur durch Nasenbluten ankündigte. Am 26. fühlte er sich ganz wohl; doch trat plötzlich eine Halsblutung ein. Der Hausarzt wurde gerufen und ward Zeuge einer zweiten, stärkeren Blutung, die zur Bewusstlosigkeit führte. Als der Dichter erwachte, verlangte er sofort nach der Beichte und dem Abendmahl. Am 27. fühlte er sich wohler und beschäftigte sich mit der Korrektur der Druckbogen, da er sehr in Sorge war, dass das Blatt am 31. erscheinen sollte. Am 28. ging es bis Mittag ziemlich gut. Doch von da an kam wieder Blut, das nun nicht mehr abliess, langsam aus dem Munde zu fliessen, wie uns eine Freundin des Dichters, Frau Sophie v. H., die ihn besuchte, erzählte. Die Gattin stillte, an seinem Bette sitzend, mit Tüchern das unaufhörlich langsam dem Munde entrieselnde Blut.

Am Nachmittag bat der Dichter Anna Grigorjewna, sein altes Evangelium aufzuschlagen, das seit Sibirien immer bei seinem Kissen lag, und ihm die Stelle vorzulesen, die sie von ungefähr zu Anfang der Seite finden würde. Es war aber das Evangelium Matthäi III, 15: „Aber Johannes wehrete ihm und sprach: Ich bedarf wohl, dass ich von dir getauft werde, und du kommst zu mir? Jesus aber antwortete und sprach zu ihm: Lass es jetzt also sein; also gebühret es uns, alle Gerechtigkeit zu erfüllen.“ [Der russische Text weist den 11. Vers auf, sowie die Worte: aber Johannes hielt ihn zurück usw., und Jesus antwortete ihm: halte mich nicht zurück usw.] Als die Gattin diesen Vers gelesen hatte, sagte Dostojewsky: „Du hörst es — halte mich nicht zurück — das heisst, dass ich sterben werde“, und damit schloss er das Buch ... Am Abend um 8 Uhr 38 Minuten desselben Tages (28. Januar 1881) schloss der Dichter für immer seine Augen.

Das Leichenbegräbnis wurde, niemand konnte es erklären wieso, zu einem Ereignis für Russland. Schon bei der Aufbahrung in der engen Stube, die auch sein Arbeitszimmer gewesen war, drängte sich die Menge derart und erfüllte den Raum so vollständig, dass die Kerzen, die den Katafalk umgaben, aus Mangel an Sauerstoff erloschen. 63 Abordnungen mit Kränzen und 15 Gesangvereine gaben offiziell dem Zuge das Geleite, und ganz Petersburg wälzte sich ihm zur Kirche vom „heiligen Geiste“ lautlos nach, ein in Russland noch nie gesehenes Schauspiel. Am selben Tage, dem 31. Januar, erblickte nach des Dichters heissem Wunsche die erste und letzte Nummer des „Tagebuchs eines Schriftstellers für das Jahr 1881“ zensurfrei das Licht.

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