I. Einleitung. Übersicht der Quellen.

Das in wirtschaftlicher wie in geistiger Beziehung so reiche Leben des alten Deutschlands erstarb in den Greueln des Dreißigjährigen Krieges. Was unserm Volke bis zu jener Zeit an alten Sagenschätzen lieb und wert gewesen war, geriet damit in Vergessenheit, und ein volles Jahrhundert verging, bis Gelehrte in alten Büchereien die ersten Spuren des alten Reichtums neu entdeckten. Die großen Männer des 18. Jahrhunderts, deren Geschmack anfangs in französischem und später in klassischem Sinne gebildet und geläutert war, blieben allerdings zunächst kalt gegenüber den Denkmälern einer Vergangenheit, deren Empfinden von dem ihren durchaus verschieden war. Erst der völlige Zusammenbruch, den die deutsche Politik und damalige Geisteskultur vor nunmehr (1906) genau hundert Jahren erlebte, bewirkte im Zusammenhange mit dem Erwachen unsers nationalen Fühlens auch eine höhere Wertschätzung der Denkmäler aus alter großer Zeit. Es ist bezeichnend, daß die erste volkstümliche Ausgabe des Nibelungenliedes 1815 in dem Augenblicke erschien, da man sich rüstete, den von Elba zurückgekommenen Napoleon abzuwehren. Der Herausgeber, August Zeune, nannte sie eine „Feld- und Zeltausgabe“ und erwähnte ausdrücklich, daß er sie besorgt habe, „da viele Jünglinge dies Lied als ein Palladium in den bevorstehenden Feldzug mitzunehmen wünschten“. Von jener Zeit an ist nun das Interesse an unserer alten Geschichte und Dichtung ständig gewachsen. Die germanistische Wissenschaft erblühte, gestützt auf die romantische Geschmacksrichtung, die die klassische in der Poesie abgelöst hatte, und erschloß immer neue Quellen für die Kunde der Vorzeit; die moderne Dichtung bemächtigte sich der alten Stoffe und goß sie in neue, der Gegenwart angemessene Formen. Vor allen[S. 2] andern hat Richard Wagner das Verdienst, durch sein gewaltiges Tonwerk, den „Ring des Nibelungen“, die alten Sagen volkstümlich gemacht zu haben, ein Verdienst, das dadurch nicht verringert wird, daß er mit seinem Stoffe recht willkürlich umgesprungen ist. Denn ohne ihn würde das Interesse für die Nibelungensage heute wohl nicht so weit verbreitet sein, wie es tatsächlich der Fall ist.

Welches sind nun die Quellen, aus denen man geschöpft und die alten Stoffe zu neuem Leben erweckt hat? Was bringen sie, und vor allem: worauf beruhen sie?

Im allgemeinen darf behauptet werden, daß alle erzählende Dichtung ihren letzten Ausgangspunkt in wirklich geschichtlichen Ereignissen hat, auch dann, wenn die beglaubigte Geschichte nicht in der Lage ist, solche namhaft zu machen; die ursprüngliche Tatsache ist dann von der Dichtung mit dichtem Beiwerk umsponnen worden, das wie Schlingpflanzen den alten Kern überwuchert und vielleicht erstickt.

Was in der Nibelungensage sicher als geschichtlich erwiesen ist, beruht auf Ereignissen des fünften nachchristlichen Jahrhunderts, also Ereignissen aus der Zeit der Völkerwanderung, die für die germanische Welt des Mittelalters in ganz gleicher Weise das Heldenzeitalter gewesen ist, wie es der trojanische Krieg für die Griechen des Altertums war. Diese Ereignisse sind in ununterbrochener Überlieferung im Gedächtnis bewahrt worden, bis ihr eben der Dreißigjährige Krieg das Grab gegraben hat. Die Überlieferung aber ist in folgender Weise zustande gekommen.

In einer Zeit ganz unentwickelter Verkehrsmittel und so gut wie völlig mangelnder Schrift (die höchstens Besitztum einiger weniger auserlesener Personen war) bildete sich ein Stand fahrender, d. h. herumziehender Leute, die ein Gewerbe daraus machten, das jederzeit lebhaft entwickelte Neuigkeitsbedürfnis ihrer Mitmenschen zu befriedigen. Sie zogen von Ort zu Ort, sammelten und verbreiteten Neuigkeiten jeder Art und fanden auf diese Weise ihren Unterhalt. Solange die Schriftkunde beschränkt war, blieben sie ersehnt und hochangesehen. Mit der fortschreitenden Volksbildung und den gebesserten Verkehrsverhältnissen sank natürlich ihre Bedeutung und damit auch die Achtung.

Naturgemäß sind es in erster Linie die großen politischen, also historischen Ereignisse, die sie wiedererzählen und betrachten.[S. 3] Um diese möglichst treu im Gedächtnis behalten zu können, gießen sie dieselben in eine feste Form, indem sie sie in Verse bringen. Die poetische Form ist also zunächst etwas Äußerliches; sie macht aber durch ihre Geschlossenheit sogleich ihren Einfluß auf den innern Stoff geltend, indem sie den Erzähler zwingt, zu ergänzen, was er nicht weiß, also die Beweggründe der handelnden Personen zu erraten. Damit ist aber der Erfindung Tür und Tor geöffnet. Je weiter man sich nun von dem Zeitpunkt der Geschehnisse entfernt, um so schwerer wird natürlich eine richtige Ergänzung, aber auch um so unwichtiger, da schließlich niemand mehr existiert, der den Erzähler Lügen strafen kann. So ist zweierlei möglich geworden: 1. daß der Bericht von den historischen Ereignissen bis zur Unkenntlichkeit entstellt, also zur reinen Sage wird, und 2. daß die Überlieferung jahrhundertelang von der eigentlichen Literatur so gut wie unbemerkt sich hat fortpflanzen können, um dann plötzlich als Stoff größerer Werke in ihr aufzutauchen.

Es sind nun die am Niederrhein wohnenden Franken, die die vorhin angedeuteten Ereignisse des 5. Jahrhunderts fürs erste bewahrt haben. Von ihnen aus, die geographisch etwa den Mittelpunkt der damaligen germanischen Welt darstellen, hat sich dann die Kunde über diese ausgebreitet, am wenigsten nach England, dessen älteste Literatur nur spärliche Zeugnisse für die Nibelungensage aufweist, desto ausgiebiger nach Skandinavien und nach Süddeutschland. Der Gang der Ausbreitung war etwa folgender:

Im 9. Jahrhundert zogen von Skandinavien, insbesondere von Norwegen aus, zahlreiche Scharen von Seeräubern, die sog. Wikinger, gen Süden und plünderten die Küsten Englands und des fränkischen Reiches. An den Küsten der heutigen Niederlande, in der Gegend der Rheinmündungen, wohnten die Franken, die die Überlieferung von den Ereignissen des 5. Jahrhunderts bewahrten. Dort haben sich die nordischen Räuber zeitweise sogar fest angesiedelt und ungefähr zwei Menschenalter hindurch die Küstenländer beherrscht, bis sie im Jahre 891 in der Schlacht an der Dyle von König Arnulf vertrieben wurden. In dieser Zeit müssen die Nordgermanen die Kunde von der deutschen Überlieferung sich angeeignet und nach dem Norden verpflanzt haben. Sie zeigen dabei einen ganz eigenartigen Charakterzug: sie vereinigen nämlich in sich zwei scheinbar entgegengesetzte Züge des germanischen[S. 4] Charakters, auf der einen Seite kriegerisches Wesen in höchster Potenz, blutdürstige Wildheit und Grausamkeit, auf der andern Seite ein Streben nach Gelehrsamkeit, wie es bei diesen wilden Seeräuberhorden kaum verständlich scheint. Es ist das aber vollauf begründet in den Eigentümlichkeiten der alten verkehrslosen Zeit. Die Leute sitzen den Winter über in abgelegenen Tälern und hören und sehen von der Welt nichts. Bei ihrem regen Geistesleben haben sie nun ein ganz besonders starkes Bedürfnis nach Neuigkeiten. Die norwegischen Wikinger haben keine Gelegenheit vorübergehen lassen, südländische Kunde nach dem Norden zu bringen. So haben sie auch die fränkische Nibelungensage nach dem Norden gebracht, wahrscheinlich in der Form einer einheitlichen Dichtung, denn das, was im Norden uns von der Nibelungensage erzählt wird, weicht in vielen Punkten von der deutschen Sage ab, und zwar so, daß die Abweichungen nicht die ursprüngliche Gestalt, sondern eine Änderung darstellen, die auf einen Akt der Willkür zurückgeht. Es weist das darauf hin, daß irgendein nordischer Dichter den am Niederrhein erkundeten Stoff in feste Form gegossen und so nach dem Norden gebracht hat, wo er dann in dieser Gestalt aufgenommen worden ist.

Im Norden ist er nun in zahlreichen Liedern von zahlreichen uns gänzlich unbekannten Dichtern behandelt worden. Zunächst geht die Tradition dieser Lieder in der vorhin geschilderten Weise vor sich, d. h. sie werden mündlich übertragen und nicht aufgezeichnet. Erst in einer wesentlich spätern Zeit, im 13. Jahrhundert, entschloß man sich im Norden auf einem eigenartigen Umwege zur Aufzeichnung dieser Lieder.

Bis zum 13. Jahrhundert hatte sich die nordische poetische und prosaische Literatur hoch entwickelt, so hoch, daß man das Bedürfnis empfand, ein Lehrbuch gewisser Eigentümlichkeiten des nordischen Stils anzufertigen. Dies Lehrbuch schrieb um das Jahr 1220 der isländische Skalde Snorri Sturluson; es führt den Titel „Edda“. Dies Wort wird heute gedeutet als Bezeichnung der Herkunft des Buches: aus Oddi, einem Gehöfte im südwestlichen Island, wo Snorri erzogen worden war; andere fassen es als Ausdruck für „Poetik“. Eine Poetik war allerdings nötig, um dem angehenden Skalden eine besondere Eigentümlichkeit der nordischen Dichtweise zu erklären. Man bezeichnete einen einfachen konkreten Alltagsgegenstand nicht gern mit seinem schlichten[S. 5] Namen, sondern bediente sich statt dessen eines Bildes, das aus der Sage entnommen und nicht verständlich war, wenn man nicht die zugehörige Sage kannte. So heißt z. B. das Gold „Otterbuße“, und zwar in Zusammenhängen, in denen weder von „Buße“ noch von „Otter“ irgendwelche Rede ist. Um Ausdrücke dieser Art (die sog. „Kenningar“) zu erklären, ist ein Hauptteil der Edda geschrieben; die Erklärung besteht in der Erzählung der zugehörigen Geschichte.

So erzählt denn Snorri in der Edda eine große Anzahl der verschiedensten Sagen, von denen die überwältigende Mehrzahl uns ohne ihn gar nicht bekannt wäre, u. a. auch die Nibelungensage in nordischer Form. Vielfach werden dabei Dichtungen zitiert, Verse aus Liedern, bruchstückweise natürlich nur, und zwar als Belege. Das hat dazu geführt, daß man diese Lieder im Anschluß an die Snorrische Poetik gesammelt hat. Wer das getan hat, bleibt unbekannt. Die Sammlung ist jedenfalls entstanden um die Mitte des 13. Jahrhunderts und uns im wesentlichen erhalten in einer einzigen, aus Island stammenden, jetzt in Kopenhagen befindlichen Handschrift, die nach dem Aufbewahrungsort in der Königlichen Bibliothek der Codex regius genannt wird. Diese Handschrift stellt sich dar als eine Sammlung von Einzelgedichten in lyrisch-epischer Form, gewissermaßen Balladen, aus der Götter- und der Heldensage. Der größere, zweite Teil der ganzen Sammlung umfaßt nur Lieder aus unserer Nibelungensage. Leider ist uns der Kodex nicht vollständig erhalten, sondern es fehlt gerade aus dem wichtigsten Teile der Nibelungensage eine vollständige Lage, d. h. ein Heft von acht Blättern, das frühzeitig verloren gegangen und nicht ersetzbar ist. Diesen Codex regius bezeichnet man vielfach, aber fälschlich mit dem Namen Edda; ja wenn kurzweg von „Edda“ geredet wird, meint man gewöhnlich diese Liedersammlung. Derjenige, der sie im 17. Jahrhundert entdeckte, der isländische Bischof Brynjolf Sveinsson, nahm an, daß er die Quelle von Snorris Edda vor sich habe, und da er den Namen „Edda“ für Snorris Werk nicht verstand, übertrug er ihn auch auf die Quelle und bezeichnete die Liedersammlung als die ältere Edda. Er wußte auch gleich einen Sammler oder Verfasser anzugeben, den weisen Sämund, von dem uns allerdings nicht viel mehr bekannt ist, als daß er etwa hundert Jahre vor Snorri gelebt und in der Tat mit der Liedersammlung nicht die Spur zu tun hat. Immerhin hat sich der Titel „Edda“[S. 6] für die Liedersammlung festgesetzt; man unterscheidet sie am besten als „poetische“ von Snorris „prosaischer“ Edda, muß sich aber stets gegenwärtig halten, daß der Name „Edda“ für die Liedersammlung nicht authentisch ist.

In der Sammlung stehen nun zunächst Götterlieder, dann Lieder aus verschiedenen Heldensagen, zuletzt, wie gesagt, eine Sammlung von Liedern aus der Nibelungensage, die so angeordnet sind, daß sie wenigstens äußerlich eine geschlossene Darstellung der Sage geben. An der Spitze der Sammlung, soweit sie die Nibelungensage angeht, steht ein Gedicht, das sich betitelt: Die Weissagung des Gripir. Sigurd (derselbe Held, der in Deutschland den Namen Siegfried führt) kommt hier als junger Mann zu einem Oheim, namens Gripir, der eigens zu diesem Zwecke von dem Sammler erfunden scheint, und erkundigt sich nach seinem künftigen Schicksal; Gripir ist ein Seher und vermag ihn ohne weiteres über alles, was ihm bevorsteht bis über seinen Tod hinaus, zu orientieren. Es ist das eine Entgleisung der nordischen Dichtweise, wie sie ziemlich häufig vorkommt, daß lebenden Leuten ihr künftiges Schicksal bis in alle Einzelheiten prophezeit wird, ohne daß sie dann auch nur den geringsten Versuch machen, dem Schicksal, das ihnen droht, die Stirn zu bieten; in Wirklichkeit ist denn die Weissagung Gripirs weiter nichts als eine Übersicht über das, was nun in der Sammlung kommt.

Es folgt zunächst eine ganze Reihe von Fragmenten, zu der der Sammler eine Rahmenerzählung geliefert hat; die Strophen sind lose in die Erzählung eingestreut. Man teilt in unsern Eddaausgaben diese Fragmentsammlung in drei Abschnitte ein: die Sprüche von Regin (Reginsmál), die Sprüche von Fafnir (Fáfnismál) und die Sprüche von Sigrdrifa (Sigrdrifumál). Mitten in diesem letzten Teile bricht die Sammlung für uns vorläufig ab, weil die Lücke einsetzt. Nach der Lücke stoßen wir auf den Schlußteil eines einst vollständigen Liedes, also nicht eines von dem Sammler als Bruchstück aufgenommenen Stückes, das nur durch die Ungunst der Verhältnisse für uns ein Bruchstück geworden ist. Hier wird nun, während in dem vorausgehenden Stücke die Erzählung bis dahin geführt war, wo Sigurd die Brynhild kennen lernt, gleich erzählt von den Umständen, die sich um Sigurds Ermordung gruppieren; es fehlt uns also der ganze eigentliche Kern der Sage. Es folgt ein sehr langes Gedicht, das augenscheinlich vollständig erhalten ist, und das den Titel führt:[S. 7] das kurze Sigurdslied. Er erklärt sich daraus, daß jedenfalls das Lied, von dem wir nach der Lücke noch den Ausgang haben, noch länger gewesen ist. Das kurze Sigurdslied erzählt zusammenhängend, aber nicht immer sagenecht, was Sigurd im Reiche der Niflunge[1] erlebt hat, von dem Augenblicke an, wo er es betreten, bis an seinen Tod, und über ihn hinaus, wie Brynhild ihm im Tode folgt.

Den Fortgang der Erzählung bringt ein umfangreiches und ziemlich altes Gedicht, gewöhnlich das zweite Lied von Gudrun genannt (Gudrun ist im Norden der Name derselben Figur, die in Deutschland Kriemhilt heißt, also Sigurds Witwe). Gudrun erzählt selbst ihre Schicksale: wie sie Sigurds Weib und Witwe geworden, wie sie den Atli (den deutschen Etzel) geheiratet, und wie dieser ihre Brüder gemordet hat; für diese Tat plant sie die Rache; die Begründung dieser Rachegefühle gibt uns hier ein zweifellos hochbegabter Dichter. Die Darstellung der Ermordung der Niflunge fehlt in diesem Liede leider; wahrscheinlich hat sie der Sammler gestrichen, weil er in den beiden Atliliedern (vgl. nachher) noch zweimal dieselbe Sache vorgetragen fand.

Mehrere Einzellieder, wirkliche Balladen, die lediglich einen einzelnen Moment, ein Stimmungsbild aus der Sage herausgreifen und poetisch behandeln, sind ebenfalls in der Sammlung erhalten: das erste Lied von Gudrun (es schildert die Haltung von Sigurds Witwe an dessen Bahre), dann das Lied von Brynhilds Fahrt zur Unterwelt, ferner ein drittes Gudrunlied und das „Oddruns Klage“ betitelte Einzelgedicht; sie behandeln sämtlich Nebendinge.

Das Hauptereignis, der Untergang der Niflunge durch Atli samt Gudruns Rache, wird erzählt in den beiden Liedern von Atli, die parallel nebeneinander herlaufen, einem ältern (Atlakvida) und einem jüngern (Atlamál); sie geben beide dieselbe Darstellung, denselben Inhalt, dieselbe Szenerie wieder.

Damit ist die Sage, soweit sie der deutschen Überlieferung im Norden parallel geht, zu Ende. Seltsamerweise ist im Norden die Erzählung noch um eine Stufe weiter geführt: Gudrun verheiratet sich (was uns sehr seltsam anmutet) zum drittenmal, und um ihre Schicksale in dieser dritten Ehe drehen sich die beiden letzten Gedichte der Sammlung: Gudruns Aufreizung (Gudrunarhvot) und[S. 8] die Sprüche von Hamdir (Hamdismál); Hamdir ist einer ihrer Söhne aus dritter Ehe.

Es fehlt nun noch eine Brücke über die Lücke; diese bietet uns eine Prosaerzählung, die auch noch im 13. Jahrhundert entstanden ist, und die unsere Liedersammlung (nicht in der uns erhaltenen Handschrift) in vollständiger Gestalt benutzt hat. Die Erzählung führt den Titel: Volsungasaga, die Erzählung von den Wolsungen[2]. Sie ist kein selbständiges Buch, sondern nur der erste Teil und die Einleitung zu einem weiter folgenden Hauptteil, der Ragnars Saga Lodbrokar (Erzählung von Ragnar Lodbrok, einem Wikingerkönig des 9. Jahrhunderts). Die Absicht des ganzen Werkes ist, den im 13. Jahrhundert regierenden norwegischen Königen, die sich als Nachkommen des Ragnar Lodbrok ansahen, dadurch, daß dieser zu einem Schwiegersohne Sigurds gemacht[3], Sigurd seinerseits aber bis auf die alten Heidengötter zurückgeführt wird, göttlichen Ursprung beizulegen. So setzt die Volsungasaga damit ein, daß sie erzählt, wie ein Sohn des Gottes Odin, namens Sigi, eine Herrschaft auf Erden gewinnt. Von ihm springt die Erzählung auf seinen Sohn Rerir und von Rerir auf dessen Sohn Volsung, denjenigen, der den Geschlechtsnamen zuerst führt und damit bekundet, daß mit ihm die alte Sage überhaupt erst anhebt. Was vorausgeht, ist erst, um die Verbindung mit dem Gotte herzustellen, hinzugedichtet. Von Volsung und seinen Söhnen, deren bedeutendster Sigmund heißt, erzählt nun die Volsungasaga eine höchst altertümliche und grausige Geschichte, die, obgleich sie mit der von Sigurd nur äußerlich in Beziehung steht, von Wagner für seine Darstellung der Nibelungensage stark ausgenutzt ist. An sie schließt sich die Erzählung von Sigurd, dem Sohne Sigmunds, und es folgt die gesamte Sage im Anschluß an die vorhin besprochene Liedersammlung, so zwar, daß die Lücke, die in jener vorliegt, hier vollständig für uns ausgefüllt ist. Der Sagaschreiber verfährt so naiv, daß er die Lieder einfach in Prosa umschreibt. Er denkt nicht daran, die notwendigerweise existierenden Widersprüche zwischen den einzelnen Liedern auszugleichen. Wenn zwei Lieder hintereinander stehen, die dieselbe Geschichte behandeln, die einander also in der[S. 9] Prosaerzählung eigentlich ausschließen, erzählt er dieselbe Sache ruhig zweimal. — Das ist die eigentliche nordische Überlieferung, die im wesentlichen schriftlich niedergelegt worden ist im 13. Jahrhundert, obgleich sie natürlich auf wesentlich ältern Quellen beruht. Außerdem ist in die nordische Olafs Saga Tryggvasonar (die Erzählung von Olaf, Sohn des Tryggvi, einem norwegischen Könige, der im Jahre 1000 fiel) auch ein Stück unserer Liedersammlung aufgenommen und kann uns infolgedessen als Kontrolle dienen.

In Deutschland haben eigentümlicherweise diejenigen, die sicherlich die Kunde von den Ereignissen der Nachwelt übermittelt haben, die Franken, nichts Direktes für die poetische oder schriftliche Darstellung der Sage getan. Wir finden im 10. Jahrhundert, also etwa hundert Jahre nach der Wikingerzeit, eine Spur, daß die Sage vom Niederrhein nach Bayern gelangt ist, nicht auf dem Wege der volkstümlichen Erzählung, sondern, wie es scheint, einheitlich, indem ein fahrender Mann, der die Kenntnis der Geschichte besaß, sie dahin gebracht und dem Bischof Pilgrim von Passau, der damals in Bayern eine große Rolle spielte (er war Bischof von Passau 971–991), vorgetragen hat; der Bischof soll sie dann in lateinischer Sprache durch seinen Schreiber Konrad haben aufzeichnen lassen. Diese Nachricht ist uns überliefert durch eine spätere hochdeutsche Dichtung, die Klage, die zwar nicht ohne weiteres glaubwürdig ist, von der man aber nicht einsieht, wie sie zur Erfindung der Notiz hätte kommen können. So ist denn die Nibelungensage spätestens im 10. Jahrhundert vom Niederrhein nach Oberdeutschland verpflanzt worden und hier in ein Gebiet geraten, in dem eine andere Sage bereits die Alleinherrschaft hat und den Volksgeist und die Volksphantasie vollständig beherrscht und erfüllt; es ist dies die gotische Dietrichsage, die in Bayern zu Hause ist, und die auch durch die Nibelungensage dort nicht hat verdunkelt werden können. Zwischen der gotischen Dietrichsage und der Nibelungensage, wie sie von den Franken herüberkommt, besteht nun ein eigenartiges äußeres Band. In beiden spielt von Haus aus auf Grund der Geschichte der Hunnenkönig Attila eine wesentliche Rolle. Damit ist natürlich für die Menschen des 10.-12. Jahrhunderts erwiesen, daß die beiden Erzählungen gleichzeitig sind und in einem gewissen Zusammenhange stehen; so tritt denn in Oberdeutschland die Nibelungensage als Episode in die Dietrichsage ein. Das hat nicht[S. 10] verhindert, daß gerade die Nibelungensage im 12. Jahrhundert als Stoff eines großen Gedichtes, des einzigen, das wenigstens den Versuch macht, die ganze Erzählung abschließend zu behandeln, verwendet worden ist; das ist unser Nibelungenlied oder, wie sein ursprünglicher Titel heißt, „der Nibelunge Not“. Sein Verfasser ist ein ritterlicher Sänger, ein Angehöriger der obern Stände; nachdem im 12. Jahrhundert die Kulturverhältnisse sich soweit gehoben haben, daß der Ritterstand selbst literarisch tätig ist, arbeiten im Westen und besonders im Nordwesten Deutschlands die ritterlichen Dichter auf Grund modischer, fremder, gewöhnlich französischer Vorlagen; den Angehörigen des Südostens waren solche weniger zugänglich; so griff der Dichter der Nibelunge Not in die Tiefe der Volksüberlieferung und nahm aus ihr einen einheimischen Stoff heraus und herauf. Das ist die Stellung des Nibelungenliedes in der Geschichte der deutschen Literatur.

So wie das Lied uns überliefert ist, ist es nicht ohne weiteres als Werk jenes Mannes zu betrachten. Die Beurteilung dieser Überlieferung ist ganz besonders schwierig; das Originalgedicht besitzen wir ganz bestimmt nicht mehr. Doch war das Lied, wie es uns noch vorliegt, zu Anfang des 13. Jahrhunderts vorhanden, denn Wolfram von Eschenbach zitiert es in seinem Parzival.

„Der Nibelunge Not“ ist ein literarischer Erfolg allerersten Ranges gewesen. Denn von dem Augenblick an, wo das Gedicht existiert, schießen Gedichte der gleichen Stoffklasse in gleicher Form wie Pilze aus dem Boden; bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts beherrschte die deutsche Heldensage (wie man dieses Stoffgebiet als Ganzes nennt) einen großen Teil des literarischen Interesses Süddeutschlands. Im Laufe dieser Zeit tritt allerdings dieser Stoff allmählich mehr und mehr in die zweite Linie zurück, eine natürliche Folge der ständigen Schwankungen und Wellen des literarischen Geschmacks. Andere, weniger urwüchsige Stoffe wurden jetzt bevorzugt; das Lied war für die vornehmen Stände nicht vornehm genug, für die untern Stände wiederum aber noch zu fein. So geriet es allmählich in Vergessenheit und wurde ungefähr ums Jahr 1500 abgelöst durch eine eigenartige, wenig künstlerische Dichtung, das „Lied vom Hürnen Seifrid“. Es geht nicht einfach auf das Nibelungenlied zurück, sondern hat manche Besonderheiten, und darin besteht seine Bedeutung für die Sagenforschung. Aber sein dichterischer Wert ist gleich Null. Daß Seifrid[S. 11] hier „hürnen“ heißt, will besagen: er hat eine durch Drachenblut wie Horn gehärtete Haut. Der Hürnen Seifrid ist uns nun schon gar nicht mehr handschriftlich erhalten. Er tritt erst in die Literaturgeschichte ein, nachdem der Buchdruck schon vorhanden ist: um 1500 tritt er auf, etwa ein Jahrhundert lang (bis 1611) wird er wiederholt aufgelegt; schließlich liefert das Gedicht den Stoff zu dem in eigenartiger Weise modernisierten und eigentlich verballhornten Volksbuche vom „gehörnten Siegfried“, das mit modischen, halb lateinischen, halb französischen Floskeln verbrämt ist[4]. Aus dem „Hürnen Seifried“ ist ein „gehörnter“ Siegfried geworden. Es ist in der Tat gemeint, daß er Hörner auf dem Kopfe trägt; ein vollständiges Mißverstehen des alten Beinamens. Das Volksbuch ist im wesentlichen während des 18. Jahrhunderts lebendig, doch nur in den untersten Kreisen des Volkes. Es ist in bezug auf seinen Sagengehalt nichts weiter als eine Ausgestaltung des Hürnen Seifried, also für eine Untersuchung der älteren Sagenform ohne Belang.

Der deutsche Zweig der Entwicklung unserer Sage ist im 13. Jahrhundert auf literarischem Wege in Skandinavien eingeführt worden, und zwar durch einen Norweger, der zum nördlichen Deutschland innige Beziehungen hatte. Er nennt als seine Gewährsmänner Leute aus Bremen, Münster und Soest, also aus Städten, in denen damals der Handel besonders mit Skandinavien blühte. Sein Werk umfaßt das ganze Gebiet der deutschen Heldensage, in erster Linie also die Dietrichsage, von den Ahnen Dietrichs beginnend bis auf seine Entführung durch ein schwarzes Höllenroß. Innerhalb dieses Rahmens ist auch die Nibelungensage erzählt, und zwar in deutscher Form, in einer Form, die zu unserm Nibelungenliede in nächster Beziehung steht, so zwar, daß wir nicht etwa nur anzunehmen brauchen, sie beruhe auf denselben Erzählungen, sondern es muß, wenigstens stellenweise, ein und dieselbe Dichtung beiden zugrunde liegen. Ob etwa das Nibelungenlied selbst vom Verfasser dieses Buches benutzt worden ist, mag vorläufig dahingestellt bleiben. Der Titel des Werkes ist „Thidrikssaga Konungs af Bern“, die Erzählung von König Dietrich[S. 12] von Bern. Dieser, der ja der Hauptheld der süddeutschen Sage ist, ist hier der Mittelpunkt des deutschen Heldenzeitalters. Um ihn gruppiert sich alles, an ihn schließt sich auch die Nibelungensage an; denn er ist in dem großen Nibelungenkampfe derjenige, der den Ausschlag gibt, der allein in der Lage ist, die Nibelunge zu überwinden. Wie uns die Thidrikssaga erhalten ist, ist sie nicht einheitlich, sondern es haben mehrere Hände ihre jetzige Gestalt bewirkt. Immerhin ist sie eine wundervolle Quelle, die vollständigste Quelle unserer deutschen Heldensage überhaupt. Sie hat begreiflicherweise manche Nachdichtung auf nordischem Boden hervorgerufen; solche sind für die Erkenntnis der ältern Sagenform ebenso belanglos wie das deutsche Volksbuch.

[S. 13]

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