a) Der Nibelunge Lied.

In Deutschland ist uns nun die Sage in allererster Linie erhalten in unserm Nibelungenliede. Das Nibelungenlied ist ein ritterliches Epos, in der ältesten Form entstanden im 12. Jahrhundert. Es steht also dem Zeitpunkte, da sich der deutsche Überlieferungszweig vom nordischen trennte, dem 9. Jahrhundert, schon ziemlich fern und hat bereits stofflich eine weitere Entwickelung durchgemacht. Der Stoff war, ehe der Nibelungendichter daran ging, sein Werk zu gestalten, bereits sehr stark verändert. Selbstverständlich hat nun auch unser Dichter noch alles mögliche Neue hinzugefügt und den alten Stoff nach vielen Seiten hin ergänzt oder auch verkürzt.

Das Lied, das uns in mehreren Handschriften erhalten ist, und von dessen weiter Verbreitung außerdem eine große Anzahl Bruchstücke anderer Handschriften zeugen, ist in eine eigenartige Form gegossen. Obgleich ein großes Epos, ein langes erzählendes Gedicht, benutzt es doch keinen glatt durchlaufenden epischen Vers, sondern es liegt uns vor in einer der Ballade nahekommenden Form. Es ist nämlich abgefaßt in Strophen, die, verhältnismäßig wenig umfangreich, dem Dichter häufig beschränkende Fesseln anlegen. Bald ist die Strophe zu kurz, den gegebenen Stoff in sich aufzunehmen, bald zu lang, einen einfachen Gedanken kurz darzustellen. Oft bleibt dann in ihr noch Platz für etwas anderes, etwa für den Anfang eines neuen Gedankens. Der Dichter ist bei dieser formalen Schwierigkeit vor die Frage gestellt: soll er den noch freien Raum der vorliegenden Strophe dazu benutzen, einen neuen Gedanken anzufangen, der[S. 32] dann in der Strophe nicht aufgeht, sondern in die nächste übergreift und damit die strophische Gliederung zerstört, oder soll er den Rest mit leeren Redensarten ausfüllen? Beides kommt ziemlich häufig vor. Das hat die Gelehrten, die sich mit dem Nibelungenliede beschäftigt haben, lange Zeit sehr gestört; daß der Grund der vielen vorkommenden leeren vierten Zeilen lediglich der ist, daß die Strophenform eben entweder zu kurz oder zu lang für die geschlossene Darstellung eines Gedankens ist, hat man erst verhältnismäßig spät erkannt.

Die Nibelungenstrophe besteht aus vier paarig gereimten Langversen, so daß also der erste mit dem zweiten, der dritte mit dem vierten durch Reim gebunden ist. Die drei ersten Verse sind einander gleich, und zwar haben sie vor dem Abschnitt, der in die Mitte des Verses fällt, vier Hebungen, nach dem Abschnitt drei Hebungen; die vierte Zeile aber hat vor und nach dem Abschnitt je vier Hebungen. Die vierten Hebungen vor dem Abschnitte (gelegentlich auch die dritten Hebungen der zweiten Hälften des ersten und zweiten Verses) dürfen durch klingende Ausgänge vertreten werden. Als Beispiel setze ich Strophe 924 des Textes C (nach Holtzmanns Bezifferung) hierher und bezeichne die Hebungen:

Gúnthér und Hágené, die réckén vil bált,

lóbten mít untríuwén ein pírsen ín den wált;

mít ir schárpfen gếrén si wólden jágen swî́n,

pérn únde wísendé. waz móhte kǘenérs gesî́n?

Spätere Dichter haben die vierte Zeile den drei übrigen meist gleich behandelt. Diese Neuerung, die in moderner Zeit Uhland aufgenommen hat (z. B. in seinem Balladenzyklus von Eberhard dem Greiner), ist nicht glücklich, denn sie löst die Strophe in Reimpaare auf; dann ist ja durch nichts mehr markiert, daß die Strophe aus vier Versen bestehen soll, sondern die beiden Reimpaare stehen in der Form ganz gleich nebeneinander, und ob wir dann zwei derselben oder drei oder auch nur eins als Ganzes fassen, ist für unser Empfinden ganz gleichgültig. Die vier Zeilen der zwei Reimpaare müssen erst durch eine Besonderheit am Schlusse der ganzen Reihe zusammengeschlossen werden, wie es im alten Liede der Fall ist.

Das Lied setzt (abgesehen davon, daß es mit einer Art[S. 33] Theaterzettel[15] beginnt, der aufzählt, was in Worms, am Sitze des Königs Günther, des Bruders der Kriemhilt, alles vorhanden ist an Helden) gleich an einer vorgerückten Stelle des Stoffes ein, fängt also nicht mit dem eigentlichen Anfang der Sage an. Infolgedessen hat der Dichter an spätern Stellen das eine oder andere berichtweise nachholen müssen.

An den Theaterzettel (wie man die einleitenden Strophen genannt hat, da sie poetisch ohne Wert sind) schließt sich zunächst die Erzählung vom Traume der Kriemhilt an. Kriemhilt ist dieselbe Person, die in der nordischen Sage Gudrun heißt, also die Schwester des burgundischen Königs Günther aus dem Geschlecht der Nibelunge[16]. Sie erzählt ihrer Mutter Ute folgenden Traum: sie hat sich einen Falken erzogen, der ihr lieb ist, und den ihr zwei Adler töten; das ist ihr größter Kummer. Die Mutter deutet den Traum auf den künftigen Gatten Kriemhilts und darauf, daß sie ihn vorzeitig verlieren werde. Daraufhin verschwört die junge Kriemhilt das Heiraten, die Mutter meint aber, sie solle die Rede lassen, denn allein durch die Liebe werde sie auf der Welt froh werden.

Diese kurze Geschichte geht der eigentlichen Erzählung voraus. Sie findet in der nordischen Version gelegentlich ihr Gegenstück, ohne daß dies irgendwie die Darstellung und den Gang der Erzählung beeinflußt. Ehe Sigurd in der nordischen Erzählung an den Hof Gjukis kommt, hat Gudrun einen ähnlichen Traum wie Kriemhilt in der deutschen Sagenfassung. Die nordische Gudrun fährt zu Brynhild[17] und läßt sich von ihr den Traum deuten. Brynhild weiß denn auch gleich (ein Motiv, das im Norden oft verwendet wird, so ungeschickt es ist) alles, was sich aus dem Traume ergibt, und erzählt ihre beiderseitigen Schicksale bis ans Ende mit klaren Worten, ohne daß dies Wissen auf das spätere Verhalten der Personen auch nur den geringsten Einfluß ausübte; eine Seltsamkeit, die wir ähnlich schon S. 6 beobachten konnten.

[S. 34]

Das Lied setzt dann an einer ganz andern Stelle ein. Über Niederland[18] regiert der König Sigemund, vermählt mit einer Gemahlin namens Sigelind. Beider Kind ist Siegfried (mittelhochdeutsch Sîfrit), der als junger Fürst am Hofe seiner Eltern erzogen und mit aller Vornehmheit, aller zeitgemäßen Bildung ausgestattet wird. Er wird waffenfähig erklärt, wie es sich für einen Ritter des 12. Jahrhunderts geziemt, und beschließt, einmal soweit gekommen, zu heiraten. Diesen Wunsch trägt er seinem Vater vor, und zwar will er sich um Kriemhilt, die Schwester des Königs Günther in Worms, bewerben. Der Vater warnt ihn: am Hofe Günthers sei eine Reihe trotziger Helden, die Gefahr, dorthin zu gehen, also ziemlich groß. Siegfried läßt sich dadurch nicht abschrecken, im Gegenteil, er wird eher angereizt, und begibt sich mit geringem Gefolge nach Worms. Dort erscheint er, sofort erkannt von Hagen, der hier der vornehmste Vasall des Königs Günther ist und nicht sein Bruder, aber immerhin ein Verwandter; er führt den Beinamen „von Tronje“ (vgl. S. 83).

Hagen beobachtet den ankommenden Siegfried mit seinen Leuten und sagt: „Ich habe ihn zwar nie gesehen, aber nach dem Auftreten kann der Ankömmling niemand weiter sein als Siegfried.“ Nun berichtet uns der Dichter durch Hagens Mund nachträglich alles, was Siegfried bisher getan hat.

Als Siegfried einst allein unterwegs war, stieß er auf zwei Könige, die miteinander stritten. Es waren die Brüder Nibelung und Schilbung, Söhne eines alten Königs Nibelung, der eben verstorben war; sie stritten um die Teilung des Erbes. Als Siegfried hinzukam, ward er von ihnen sofort als Unparteiischer berufen und beauftragt, ihnen den Hort, den der Vater hinterlassen, zu teilen; als Lohn gaben sie ihm zuvor das Schwert, das ihr Vater früher geführt hatte, und das Balmung hieß. Siegfried konnte ihnen indes die Teilung nicht zu Danke machen und geriet darüber mit ihnen beiden in Kampf; er besiegte und tötete sie, dann überwand er noch ihren Diener Alberich und ward dadurch Herr der Nibelunge und ihres unermeßlichen Hortes, dessen Bewachung er Alberich anvertraute. Nibelunge[S. 35] heißen also in diesem Teile der Erzählung die ursprünglichen Besitzer des Schatzes.

Weiter berichtet Hagen noch, daß Siegfried einen Drachen getötet hat; doch steht hier die Drachentötung nicht in Zusammenhang mit der Gewinnung des Hortes, sondern ist ein Ereignis für sich. Dagegen wird an sie die Behauptung angeknüpft, daß Siegfried sich im Blute des erschlagenen Drachen gebadet und dadurch eine Hornhaut bekommen habe, die kein Schwert zerschneiden könne. Nur an einer Stelle, auf dem Rücken, wo ihm ein Lindenblatt auf den nackten Körper gefallen wäre, sei das Drachenblut nicht direkt mit der Haut in Berührung gekommen, und habe diese daher ihre natürliche Weichheit behalten.

Die Trennung des Drachenkampfes vom Hortgewinn kann unmöglich alt sein. Schon der Umstand, daß es sich um einen Drachen handelt, den er tötet, weist darauf hin, daß die beiden Ereignisse, Drachentötung und Hortgewinn, zusammenfallen. Denn ein Drache ist an sich ein Schatzhüter. Als solcher ist dies mythische Wesen von vornherein gedacht. Man hat das in Deutschland offenbar vergessen, wie man überhaupt auf die jugendlichen Heldentaten Siegfrieds hier wenig Wert legt; hat man doch auch die Jugendgeschichte schon dadurch, daß er am Hofe des Königs, seines Vaters, als vollgültiger Prinz erzogen wird, gänzlich umgestaltet.

Inzwischen hat Hagen seine Erzählung beendet. Siegfried tritt herein und wird von Günther feierlich empfangen. Wir erinnern uns, daß er ausgezogen war, um Kriemhilt zu werben. Hier in Worms sagt er davon kein Wort, sondern fordert plötzlich ohne jeden Grund Günther zum Kampf um Land und Leute heraus; das dürfte doch wohl so ziemlich das ungeeignetste Mittel für ihn sein, den angegebenen Zweck zu erreichen. Es entwickelt sich eine heftige Szene, die ebenso unbegründet, wie sie entstanden ist, durch ein freundliches Wort Giselhers, des jüngsten Bruders des Königs, beigelegt wird. Siegfried wird wieder ganz friedlich und liebenswürdig, und die ganze Sache ist vergessen. Aber ebenso vergessen ist im Augenblick auch, weshalb er überhaupt nach Worms gekommen ist.

Die Szene hat gar keine Wirkung, vielmehr bringt die liebenswürdige Rede des jungen Giselher alles ins gleiche. Damit ist Siegfried als Gast am Hofe des Königs Günther aufgenommen.[S. 36] Er scheint ganz und gar vergessen zu haben, weshalb er nach Worms gekommen ist, und hält sich hier ein volles Jahr auf, ohne auch nur eine Spur seiner Absicht laut werden zu lassen. Der Dichter bedarf erst eines neuen treibenden Momentes, um die Erzählung ins Rollen zu bringen. Er hat sich dabei nicht ohne Geschick einer Sage bedient, die sonst selbständig vorkommt: er verwendet die Geschichte vom Kampfe der Sachsen und Dänen gegen die Franken oder Burgunden[19]. Die Franken haben in der Zeit Karls des Großen mit den Sachsen und auch mit den hinter den Sachsen wohnenden Dänen, die jene unterstützten, mannigfache Kämpfe ausgefochten. Von diesen Kämpfen ist die Erinnerung jahrhundertelang lebendig geblieben; sie werden nun hier verwendet, um Siegfried zu einem Entschluß zu bringen, sonst würde er zeitlebens der schüchterne Liebhaber bleiben.

Es kommen Boten von Liudeger von Sachsen und Liudegast von Dänemark, um den Burgunden Fehde anzusagen. Günther hat große Sorge, aber Siegfried erlöst ihn, indem er ihm seine Hilfe zusagt. Es wird nun der Feldzug geschildert, der im Handumdrehen durch Siegfrieds Tüchtigkeit den Burgunden die beiden feindlichen Herrscher in die Hände liefert. Damit ist Gelegenheit gegeben zu einem Siegesfeste[20]. Siegfried hat für seine entscheidende Teilnahme am Kampfe eine besondere Belohnung verdient. Sie besteht darin, daß man ihn bei dem Feste zum ersten Male den Frauen des Hofes vorstellt und ihm Kriemhilt zu führen gestattet. So sehen sich Siegfried und Kriemhilt zum ersten Male, ohne sein direktes Zutun (abgesehen davon, daß er mit der Absicht, zu werben, nach Worms gegangen ist), und ohne daß er[S. 37] hier seine Pläne irgendwie weiter verfolgt. Dazu bedarf der Dichter noch eines weitern treibenden Momentes.

Plötzlich kommt eine ganz neue Botschaft nach Worms: es sitzt eine Königin jenseits des Meeres von so großer Schönheit, daß man ihresgleichen nicht kennt, dazu von einer solchen Kraft, daß sie denjenigen, die ihre Hand begehren, auferlegen kann, sie im Speerschießen, Steinwerfen und Weitspringen zu übertreffen; eine Aufgabe, die bisher noch niemand gelöst hat. So führt uns die Erzählung mit einem Sprunge hinüber zu Brünhilt, die uns in der deutschen Überlieferung bisher noch nicht begegnet ist. Sie ist eine heldenhafte Königin, und zwar nach der Anschauung des Dichters in Island gesessen. Wie er dazu kommt, sie nach Island zu versetzen, ist unklar und führt zu Unstimmigkeiten. Aber sie muß jenseits des Meeres sitzen und möglichst weit entfernt, sonst hätten die Zuhörer möglicherweise kontrollieren und dem Dichter falsche Angaben vorwerfen können.

Die Erzählung fährt ganz nach der Art der so häufigen Brautfahrtgedichte fort: Günther überlegt sich, daß er als regierender König verpflichtet ist zu heiraten. Man rät ihm, sich um Brünhilt zu bewerben, die in Island als Königin und als schönste Frau der Gegenwart lebt. Siegfried aber spricht dagegen. Er kennt alles, was sich auf Island bezieht, ohne daß irgendwie erklärt wird, woher. Gewisse Beziehungen zwischen Siegfried und Brünhilt werden durch die eigentümliche Art der Darstellung in unserm Liede zweifellos vorausgesetzt. Aber kein Wort deutet darauf hin, daß der Dichter von einem Verlöbnis zwischen Siegfried und Brünhilt irgendwelche Ahnung hätte. Siegfried weiß nur, daß die Werbung um Brünhilt eine große Gefahr bedeutet. Da sagt nun Hagen: „Wenn du so genau weißt, wie es um die Königin steht, so hilf uns doch dazu, daß wir sie gewinnen“, und Siegfried sagt diese Hilfe zu, wenn Günther ihm seine Schwester zur Frau geben will. Nun ist er endlich so weit, daß er seine Werbung anbringt, um deretwillen er vor mehr als Jahresfrist nach Worms gekommen ist. Günther sagt ihm die Hand der Kriemhilt zu, und nun fahren Günther, Hagen, Siegfried und (verhältnismäßig nebensächlich) Dankwart, Hagens jüngerer Bruder, ohne weitere Begleitung von Worms den Rhein hinab nach Island, nachdem sie sich vorher durch die fleißigen Hände der Frauen in ritterlichem Geschmack haben ausstaffieren lassen. Daran, daß sie unterwegs Siegfrieds Heimat passieren[S. 38] müssen, denkt der Dichter nicht. Als sie sich nach zwölftägiger Fahrt dem Lande der Brünhilt nähern, und allmählich ihr Schloß in Sicht kommt, spricht Siegfried sich darüber aus, wie man die Sache angreifen soll. Dabei sagt er: „Wenn wir dahin kommen, will ich euch leiten, dann werden wir am besten zu unserm Ziele kommen. Nur müssen alle ein und dasselbe behaupten, nämlich Günther sei mein Herr und ich sein leibeigener Mann, dann kommen wir am besten durch.“ Warum er das sagt, ist hier nicht abzusehen. Später allerdings wird seiner Gattin vorgeworfen, daß er ein leibeigener Mann sei. Da nun der Dichter Siegfried als Königssohn schildert, so würde diese in der alten Sage begründete Schmähung hinfällig sein, wenn hier nicht eine neue Unterlage geschaffen würde. Das ist ziemlich ungeschickt angefangen, denn es führt zu nichts; ob er als Freund Günthers oder als sein Vasall nach Island kommt, bleibt gleichgültig.

Inzwischen haben die Frauen die Fremden kommen sehen. Eine von ihnen schildert der Königin, wie die Fremden aussehen, und daß einer in seinem Aussehen dem Siegfried entspräche, ganz als ob Siegfried schon einmal dagewesen wäre. Darauf sagt Brünhilt: „Wenn er hierher gekommen ist, um meine Liebe zu erwerben, so wird es ihm gehen wie jedem andern.“ Dann aber begrüßt sie ihn vor allen andern wie einen alten Bekannten. Er sagt darauf: „Ich danke Euch sehr, Frau Königin, daß Ihr mich zu grüßen geruht. Aber erst müßt Ihr den begrüßen, des Untertan ich bin; Günther ist mein Herr, ihm kommt der Gruß zuerst zu. Er wirbt um Eure Liebe.“ „Gut,“ sagt sie, „wenn dein Herr um meine Liebe wirbt, so muß er wie jeder andere die Kampfspiele bestehen.“ Diese bestehen darin, daß zunächst mit dem Speer geworfen, und der Wurf pariert wird; an zweiter Stelle, daß ein Stein von ungewöhnlicher Schwere möglichst weit geworfen wird, und endlich drittens, daß ein weiter Sprung ausgeführt wird. Günther würde diese Bedingungen nicht erfüllen können, Siegfried kann sie erfüllen. Er kann nun nicht für Günther eintreten, denn dieser muß öffentlich in Gegenwart von Brünhilts Leuten kämpfen. So greift denn der Dichter zu folgendem Auswege: Siegfried bekleidet sich mit der Tarnkappe, dem unsichtbar machenden Mantel, den er seinerzeit dem Zwerg Alberich abgenommen hat, und unterstützt Günther bei den Spielen: beim Speerwerfen mit dem Erfolge, daß Brünhilt ins Straucheln kommt und fällt; beim Steinwerfen wirft er für[S. 39] Günther und übertrifft Brünhilts außerordentlich weiten Wurf. Beim Springen aber wird die Sache recht bedenklich; dem Dichter selbst fällt auf, daß er seinen Zuhörern reichlich viel zu glauben zumutet; er sagt: „Das war ein großes Wunder, nicht bloß weiter zu springen als Brünhilt, sondern im Sprunge auch noch den König Günther zu tragen.“ Diese Ungeschicklichkeit ist eine Folge der Komposition des Ganzen: nach der nordischen Darstellung ward der Preis erworben im Durchreiten des Feuers; das tat Sigurd an Stelle und in Gestalt Gunnars; wenn aber Günther vor allem Volke den Beweis seiner Überlegenheit erbringen muß, wird die Aufgabe des Dichters allerdings arg erschwert.

Siegfried begibt sich nun zum Schiffe zurück, legt dort, ungesehen von den übrigen, die Tarnkappe ab und stellt sich bei der Rückkehr, als ob er keine Ahnung davon hätte, daß die Wettkämpfe schon vorüber sind. Brünhilt, von Günthers überlegener Tüchtigkeit überzeugt, sagt diesem ohne Zögern ihre Hand zu.

Es folgt nun eine eigentümliche Szene, die für den Fortgang der Erzählung nichts bedeutet: um nämlich dem neuen Herrn zu huldigen, werden die Mannen der Brünhilt nach der Burg der Königin zusammengerufen. Jetzt sehen die Gäste, was für eine Menge Recken sich versammeln, und fürchten Verrat. Deshalb entschließt sich Siegfried, heimlich nach dem Nibelungenlande (das etwa in Norwegen gedacht wird) zu fahren und seine Recken zu holen. Er stellt sich dort als Fremder, bezwingt den riesenhaften Burghüter, kämpft mit seinem Kämmerer, dem Zwerge Alberich, und besiegt ihn, erprobt auf diese Weise die Treue seiner Mannen und führt dann tausend der besten Nibelunge zu Schiffe hinüber nach Island. — Die ganze Erzählung ist nur eingeflochten, um darzustellen, wie Siegfried mit Alberich kämpft; der Dichter hat ja die ganze Vorgeschichte weggelassen und bemüht sich, einzelne Szenen derselben gelegentlich nachzuholen; dabei hat er für sein ritterliches Empfinden noch den Vorteil, dem König Günther ein größeres Gefolge zu verschaffen, als die drei Männer, die ihm nach der alten einfachen Darstellung folgten.

Nachdem nun Brünhilt gewonnen ist, fährt man nach der Heimat zurück. Siegfried wird als Bote vorausgeschickt und verkündet den Frauen das Nahen der Braut. Nach der Ankunft[S. 40] wird er mit Kriemhilt verlobt, indem Günther sie bittet, sein Wort einzulösen. Kriemhilt gibt gern ihr Jawort, und die Hochzeit der beiden jungen Paare wird gleichzeitig gefeiert. Als aber an der Hochzeitstafel Brünhilt unerwartet sieht, daß ihres Gatten Schwester mit Siegfried vermählt wird, bricht sie in Tränen aus und erklärt es für eine Schmach, daß Kriemhilt einen Leibeigenen ihres Bruders heiraten soll. Dadurch kommt Günther natürlich in große Verlegenheit; er vermag Brünhilt über die eigentlichen Gründe dieser Heirat nicht aufzuklären, kann aber auch das Vasallentum Siegfrieds nicht ableugnen, da dieser seinerzeit selbst den Rat gegeben hat, ihn als Eigenen hinzustellen.

An dieser Stelle wird Siegfrieds Leibeigenschaft, seine minderwertige Herkunft notwendig gebraucht, und da man ihn zu Anfang des Gedichtes zu einem Prinzen gemacht hatte, mußte man etwas finden, was es der Brünhilt ermöglicht, ihn für einen Leibeigenen zu halten. Daher der seltsame Rat, den Siegfried auf der Reise zu Brünhilt gibt.

In der Brautnacht widersetzt sich Brünhilt ihrem Gatten, weil sie von ihm durchaus den Grund erfahren will, weshalb seine Schwester mit einem Leibeigenen verheiratet wird. Als Günther sein Gattenrecht geltend machen will, fesselt sie ihn sogar; seine Kräfte reichen eben nicht aus, sie zu besiegen. Am andern Tage klagt Günther dem Siegfried, der mit Kriemhilt glücklicher gewesen ist, sein Leid, und dieser muß nochmals helfend mittels der Tarnkappe eingreifen. In der folgenden Nacht überwindet er abermals an Günthers Statt die gewaltigen Körperkräfte der Brünhilt, bis sie selbst sagt, sie habe erkannt, daß er ihr Meister sein könne; dann tritt er zurück, ohne ihre Jungfräulichkeit berührt zu haben, und Günther wird nun ihr Mann.

Diese eigenartige und nicht durchweg glückliche Fassung der Erzählung ist nötig, weil Siegfried später doch wegen unlautern Verkehrs mit Brünhilt ermordet werden muß. Hat er nichts weiter getan, als Günther bei den Kampfspielen unterstützt, so war zu solchem Verkehr keine Gelegenheit. Es ist aber notwendig, daß Siegfried und Brünhilt so vereinigt werden, daß üble Nachrede möglich ist; sonst ist die weitere Entwicklung nicht verständlich. In der nordischen Darstellung ritt Sigurd durch[S. 41] die Lohe und blieb drei Nächte bei der Braut; damit war die Möglichkeit übler Nachrede ohne weiteres gegeben. In der deutschen Darstellung muß sie erst geschaffen werden; die Gewinnung der Brünhilt ist damit in zwei Akte zerlegt.

Nachher zieht Siegfried mit seiner jungen Frau von Worms in seine Heimat am Niederrhein zurück. Die Erzählung ist also vorläufig bei einem Ruhepunkte angekommen. Jahrelang leben beide Paare in glücklicher Ehe an getrennten Orten, Günther mit Brünhilt in Worms, Siegfried mit Kriemhilt in Niederland. Die Erzählung würde zu Ende sein, wenn man die Hauptpersonen nicht wieder zusammenbrächte. Deshalb wird behauptet, daß Brünhilt sich noch immer nicht über Siegfrieds Leibeigenschaft beruhigt habe. Er ist nun zwar, nachdem sein Vater abgedankt hat, König in Niederland, muß aber doch, wenn er Günthers Eigenmann ist, diesem Tribut zahlen; davon bemerkt Brünhilt natürlich nicht das geringste. Sie wendet sich daher an ihren Gatten mit der Bitte, Siegfried und Kriemhilt nach Worms einzuladen. Das geschieht, und sie leisten ohne Hintergedanken Folge, ja sogar der alte Sigemund begleitet sie. In Worms findet glänzender Empfang statt, und es werden die vom Dichter unseres Liedes so gern geschilderten ritterlichen Feste gefeiert. Bei einem Turnier, dem die Damen zuschauen, freut sich jede ihres Gatten und preist seine Vorzüge. Dabei geraten Kriemhilt und Brünhilt in Zwist, denn letztere sagt: „Mag dein Siegfried noch so tapfer sein, er hat doch einen großen Fehler, da er ein Leibeigener ist.“ Darauf erwidert Kriemhilt: „So hätten meine Brüder nie an mir gehandelt, daß sie mich an einen Leibeigenen verheirateten.“ Sie ist also genau derselben Ansicht wie Brünhilt, daß die Ehe mit einem Leibeigenen eine große Schmach wäre. Daraus entwickelt sich das heftige Zerwürfnis der beiden Frauen. Kriemhilt sagt: „Ich werde dir zeigen, daß ich dir nicht nachstehe, indem ich beim Kirchgang den Vortritt vor dir behaupten werde.“ Am Portal des Münsters geraten dann beide Königinnen feindselig aneinander, da Brünhilt natürlich nicht zurücktreten will; Kriemhilt aber überwindet die Gegnerin, indem sie ihr vorwirft, Siegfrieds Kebse gewesen zu sein, und als Beweis den Gürtel vorweist, den Siegfried ungeschickterweise seinerzeit, als er Brünhilt an Günthers Stelle bezwang, mitgenommen und Kriemhilt gegeben hat. Die völlig zerschlagene Brünhilt bricht in Tränen aus; Kriemhilt geht stolz an ihr vorüber und vor ihr ins Münster.[S. 42] Brünhilt klagt ihrem Gatten die ihr widerfahrene Schmach. Siegfried wird von Günther vorgefordert und verteidigt sich, indem er sich mit einem Eide von dem Verdachte reinigt; die Sache erweist sich als das, was sie ist, als bloßer Klatsch, und gilt damit für erledigt. Kriemhilt erhält von Siegfried ihre Strafe für ihre boshaften Reden.

Die ganze Szene ist unglücklich, ungeschickt komponiert. Unser Dichter arbeitet häufig so, daß die Erzählung eigentlich zu Ende gekommen ist und erst durch Einfügung eines neuen Momentes wieder in Fluß gebracht werden kann. Dies neue ist die Gier nach Siegfrieds großem Horte, die in der nordischen Überlieferung nur dem Atli zugeschrieben, hier aber von den Burgunden behauptet wird. Hagen ist der Vertreter des Gedankens, daß durch Siegfrieds Ermordung sein Hort gewonnen werden kann. Dadurch wird die Grundlage der ganzen Dichtung verschoben; führte bisher Brünhilt das Gegenspiel gegenüber Kriemhilt, so geht diese Rolle jetzt völlig an Hagen über. Seinen Herrn gewinnt dieser durch abermaligen Hinweis auf Siegfrieds mögliche Untreue: „Sollen wir Bastarde aufziehen? das wäre geringe Ehre für so gute Helden!“ So wird denn der schwarze Plan geschmiedet, Siegfried zu ermorden, und etwas umständlich ins Werk gesetzt. Man weiß, daß Siegfried eine Hornhaut hat und, außer an einer Stelle zwischen den Schultern, nicht verwundbar ist. Diese Stelle muß herausgebracht werden; mit teuflischer Verschlagenheit holt sich Hagen die Kunde bei Kriemhilt. Er läßt zuerst falsche Boten angeblich von Liudegast und Liudeger nach Worms kommen, die eine erneute Herausforderung zum Kriege überbringen; Siegfried wird um Beistand gebeten und sagt ihn ohne weiteres zu. Nun begibt sich Hagen zu Kriemhilt, kündigt ihr den bevorstehenden Kriegszug an und verspricht ihr, Siegfried an der verwundbaren Stelle besonders zu schützen, da dieser bei seiner großen Tapferkeit und das durch die Hornhaut erzeugte Sicherheitsgefühl gerade leicht verwundet werden könnte; so bringt er sie dazu, die verwundbare Stelle durch ein dem Rocke aufgenähtes Kreuzchen zu bezeichnen, das ihm einen bequemen Zielpunkt für seinen Speer bieten soll. Dann wird der angebliche Kriegszug gegen die Sachsen angetreten. Als Hagen das Kreuzchen auf Siegfrieds Rücken gesehen hat, läßt er andere Boten kommen, die wieder Frieden anbieten, und der Feldzug ist zu Ende. An seiner Stelle wird eine große Jagd angesagt, die in den nächsten[S. 43] Tagen im Odenwald stattfindet[21]. Auf dieser Jagd nun wird Siegfried ermordet, und zwar unter Anwendung einer neuen Hinterlist: das Getränk fehlt beim Jägermahle; Hagen hat es absichtlich nach einem anderen Orte gelenkt, damit der große Jägerdurst nur an einem Waldbrunnen zu stillen sei. Während Siegfried niedergebeugt aus diesem seinen Durst löscht, stößt ihm Hagen von hinten durch das aufgenähte Kreuzchen den Speer ins Herz[22].

Nach Einbruch der Nacht wird der tote Siegfried über den Rhein nach Worms gebracht und der Kriemhilt vor die Kammertür gelegt, so daß sie am andern Morgen, als sie zur Mette gehen will, sofort die Leiche des Gatten findet. Sie erkennt ohne weiteres, daß dieser Mord in Zusammenhang steht mit dem Streite, den sie mit Brünhilt gehabt hat, sowie mit dem, was Hagen aus ihr herausgebracht hat, und erkennt somit zunächst ohne Beweis den Mörder. Der Beweis selbst wird ihr bei der Beisetzung geliefert, indem Siegfrieds Wunde, als Günther und Hagen an seine Bahre herantreten, von neuem zu bluten anfängt. Das ist das Bahrrecht, ein merkwürdiger Aberglaube des Mittelalters, nach dem die Wunde eines Gemordeten wieder zu bluten anfängt, wenn der Mörder in seine Nähe tritt. Trotzdem wird die Übeltat von Günther und Hagen geleugnet: nach ihrer Aussage haben ihn Räuber erschlagen.

Der alte Sigemund, der mit Siegfrieds Mannen doch auch in Worms zugegen ist, denkt nicht daran, sofort Rache für seines Sohnes Tod zu nehmen, sondern zieht klagend in seine Heimat am Niederrhein ab, läßt aber seltsamerweise seine Schwiegertochter in Worms zurück; sie will nicht mitgehen, sondern bei ihren Brüdern bleiben. Dieser ihr Entschluß ist innerlich nicht begründet und um so auffallender, als sie damit ihr Kind verläßt, das sie von Siegfried geboren hat; er ist nur dadurch bedingt, daß die weitere Erzählung ihren ferneren Aufenthalt in Worms erfordert. Diese Seltsamkeiten sind wieder Folgeerscheinungen[S. 44] jener Änderung unseres Dichters, die Siegfried den niedrig erzogenen in einen nach jeder Seite vollwertigen Königssohn umgeschaffen hat; ursprünglich hat offenbar Siegfried als Ehemann keine andere Heimat als Worms, wo denn natürlich seine Witwe zurückbleibt. Von Sigemund hat unser Dichter gewiß nichts weiter gewußt als den Namen, sonst verstünde man nicht die Umwandlung des alten gewaltigen Helden in einen schwächlichen Greis.

Eine weitere Folge des veränderten Standes Siegfrieds ist auch die nun folgende Erzählung, daß der Hort der Nibelunge jetzt erst, indem er als Kriemhilts Eigentum angesprochen wird, aus fernem Lande nach Worms geholt wird. Über das weitere Schicksal des Schatzes ist das Gedicht im Unklaren: an unserer Stelle (Holtzmann 1144 ff.) nimmt ihn Hagen auf eigene Verantwortung ihr weg und versenkt ihn bei „Loche“ (unbekannter Lage) in den Rhein; als Kriemhilt später Etzels Werbung folgt, wird er ihr abermals weggenommen, damit sie die große Macht, die er ihr verleiht, nicht zur Rache benutzen kann; die letztere Auffassung ist gewiß die ältere.

Der erste Teil der Erzählung ist damit zu Ende. Obgleich er in der deutschen Fassung äußerlich recht reichlich ausgestaltet erscheint, ist er innerlich doch viel dürftiger als in der nordischen. Die wichtigen Geschichten von Siegfrieds Jugend und seinem ursprünglichen Verhältnis zu Brünhilt sind kaum erwähnt. Was aus letzterer schließlich wird, hat der Dichter uns zu sagen ganz und gar vergessen. Sie hört für ihn auf interessant zu sein, nachdem sie den Anlaß zur Ermordung Siegfrieds gegeben hat; später wird ihrer kaum noch gedacht; ihre Aufgabe in der Dichtung, Kriemhilts Gegenspieler zu sein, ist eben auf Hagen übergegangen.

So dürftig im Grunde der erste Teil unseres Liedes ist, um so wuchtiger schreitet die Erzählung im zweiten Teile vorwärts. Dieser ist in der nordischen Fassung dürftiger, wenn auch altertümlicher; in der deutschen ist er an Inhalt viel reicher geworden. Charakteristisch ist für ihn das Auftreten vieler neuer Personen, die nur mit ihrem Namen ohne jede erklärende Bemerkung eingeführt werden; so gleich im Anfang (Strophe 1166 des Textes C):

Daz geschach in den gezîten, dô frou Helche erstarp

unt daz der künec Ezele ein ander wîp warp.

[S. 45]

Wer Helche und Etzel sind, wird mit keinem Worte angedeutet, sondern es wird einfach vorausgesetzt, daß das Publikum sie kennt. Wir treten hier in die Dietrichsage ein, die in Süddeutschland heimisch und jedermann bekannt war; alle diejenigen Figuren, die der Dietrichsage entstammen, werden vom Nibelungendichter einfach als bekannt vorausgesetzt. Für Günther und seine Brüder, für Kriemhilt, Siegfried usw. hat er eine erklärende Einführung gegeben; für die Helden der Dietrichsage hatte er das nicht nötig.

Etzel der Hunnenkönig überlegt mit seinen Leuten, wer geeignet ist, seine verstorbene Gattin, die Königin Helche, zu ersetzen. Man rät ihm zu Kriemhilt, der Witwe Siegfrieds, und Etzel schickt seinen ersten Vasallen, den Markgrafen Rüdeger von Bechelaren, nach Worms, daß er für ihn um sie werbe. Rüdeger reist nach Worms und bringt die Werbung vor. Die Könige, ihre Brüder, wissen die große Ehre, die ihnen damit erwiesen wird, wohl zu würdigen; um so bedenklicher äußert sich Hagen. Kriemhilt lehnt indes die Werbung kurzerhand ab, denn sie lebt nur noch dem Andenken ihres gemordeten Gatten. Erst allmählich, als ihr zugeredet wird, kommt ihr der Gedanke, daß sie durch die angebotene Heirat in die Lage versetzt wird, Rache an den Mördern zu nehmen, und auf diese Aussicht hin nimmt sie schließlich Etzels Werbung an. Markgraf Rüdeger muß ihr freilich mit allen seinen Mannen schwören, ihr immer treu zu dienen, angetanes Leid zu rächen und nichts zu versagen. Er denkt dabei nicht an Rache für Siegfried, sondern will ihr die Furcht vor den ihr fremden Verhältnissen, in die sie gehen soll, benehmen. Er hat sich damit für später die Hände gebunden. Hier hat der Dichter die künftige Entwickelung der Dinge sehr geschickt vorbereitet.

Rüdeger geleitet nunmehr Kriemhilt von Worms nach Etzelnburg[23]; König Etzel zieht seiner Braut mit glänzendem Gefolge entgegen und empfängt sie bei Tuln (an der Donau, oberhalb Wiens). Innerhalb Österreichs (im engern Sinne) zeigt sich der Dichter mit den örtlichen Verhältnissen auf das genaueste bekannt; Schritt für Schritt begleitet er Kriemhilt und weiß jeden[S. 46] Ort der Wirklichkeit entsprechend zu benennen, in dem sie über Nacht Herberge genommen hat. In Wien findet das Beilager statt unter großen Festlichkeiten, an denen sich all die ungezählten Scharen des Ostens beteiligen, die sich der Dichter unter König Etzels Hoheit stehend denkt.

Als Gattin des Hunnenkönigs lebt sie zwölf Jahre friedlich; während dieser Zeit gebiert sie Etzel einen Sohn und Erben, den jungen Ortlieb. Dann aber denkt sie an ihre Rache und bewegt ihren Gatten, ihre Brüder einzuladen. Er tut es in guter Meinung. Als Boten werden zwei einfache Spielleute verwendet[24]. Die burgundischen Könige sind trotz übler Vorzeichen bereit, die Schwester aufzusuchen, nur Hagen äußert Bedenken, läßt sie aber fallen, als man ihm vorwirft, er habe wohl Furcht; dann natürlich ist er der erste, der sich dem Zuge nach dem Hunnenlande anschließt. Tausend Ritter und neuntausend Knechte werden mitgenommen.

In dem Augenblicke, da die Burgunden von Worms aufbrechen, tritt uns auf einmal der Name „Nibelunge“ für „Burgunden“ entgegen; im Anfange des Liedes bezeichnete dieser Name nur das Volk, das den Hort ursprünglich besaß, jetzt geht er unvermittelt auf die Burgunden über. Eine Erklärung ist frühzeitig versucht worden (wie es scheint, nicht vom Dichter des Liedes); nach ihr wäre der Name an das Land der früher erwähnten Nibelunge geknüpft und mit diesem nach Siegfrieds Tode auf die Burgunden übergegangen; das ist nach Lehnsrecht ganz korrekt gedacht; doch widerspricht dieser Auffassung, daß Siegfried selbst niemals zu den Nibelungen gerechnet wird. In Wirklichkeit treten wir in diesem Augenblicke in eine vom Dichter benutzte neue Quelle ein. Von hier an beginnt die Erzählung den großartigsten Schwung zu nehmen, von hier an beginnt auch die genauere Übereinstimmung mit der noch zu besprechenden Thidrikssaga. Die Quellen, die unser Dichter bisher benutzt hatte, hatten ihm die jetzt auftretende Bedeutung des Namens Nibelunge nicht geboten.

Die Erzählung, wie die Burgunden an den hunnischen Hof gelangen, berichtet mannigfache Abenteuer. Zunächst erreichen sie die Donau und haben Schwierigkeit, hinüber zu gelangen:[S. 47] das Wasser ist ausgetreten, eine Brücke ist nicht da, auch keine Fähre. Da geht Hagen selbst nach einer Gelegenheit suchen. In einem dem Flusse nahegelegenen Brunnen hört er ein Plätschern und entdeckt zwei badende Wasserweiber (übernatürliche Wesen); ihre Gewänder liegen am Ufer. Er bemächtigt sich derselben und bringt die Nixen dadurch in seine Gewalt. Für Herausgabe der Gewänder versprechen sie ihm zu sagen, was aus der Reise ins Hunnenland wird. Darauf geht er ein, und die eine sagt ihm: „Ihr kommt alle gesund wieder nach Hause.“ Sehr erfreut gibt er ihnen die Gewänder zurück, da aber ruft die andere: „Meine Muhme hat gelogen; in Wirklichkeit kommt niemand von euch zurück als des Königs Kaplan; alle andern bleiben tot im Hunnenlande.“ Außerdem gibt sie ihm noch einen Hinweis, wo eine Fähre zu finden ist, und wie er den Fährmann gewinnen kann. Dieser gilt für einen Dienstmann und Grenzwächter der Bayernfürsten Else und Gelfrat. Hagen sucht ihn auf und ruft in grimmiger Laune hinüber: „Hol’ mich über, ich bin Amelrich, der wegen Feindschaft aus diesem Lande hat fliehen müssen.“ Daraufhin fährt der Fährmann zu ihm hinüber. Hagen bietet ihm außerdem noch einen goldenen Ring von großem Werte an (ein Anerbieten, das sich mit den übrigen Verhältnissen nicht recht verträgt, denn entweder fährt der Fährmann um Lohn oder im Dienste seiner Herren; eins schließt das andere aus; es liegt wieder eine Unstimmigkeit vor, entstanden durch ein Übereinander zweier Schichten der Erzählung). Der Fährmann sagt: „Ihr mögt wohl Amelrich heißen, aber der, den ich zu sehen erwartete, seid Ihr nicht. Das war mein Bruder.“ Indes, das Schiff ist einmal an Hagens Ufer, er springt einfach hinein. Der Fährmann widersetzt sich und schlägt mit seinem Ruder auf den Helden ein; aber Hagen tötet ihn kurzerhand und bringt die Fähre zu seinen Herren; er hat nun lange zu tun, bis er mit dem einen kleinen Schiffchen das ganze Heer von zehntausend Mann übergesetzt hat. Auch hier eine Unstimmigkeit, die durch Überarbeitung hervorgerufen ist: in der ältern Erzählung haben die Könige offenbar eine an Zahl nur geringe Begleitung mitgehabt; der Ferge war ursprünglich ein einfacher Mann, der durch das Angebot eines größern Lohnes sich bereit finden ließ, zu fahren. Das blickt alles noch durch, ist aber übertüncht. Als Hagen die letzten übersetzt, packt er den Kaplan, der mit auf dem Schiffe ist, wirft ihn in die Flut und[S. 48] verhindert ihn sogar, sich aufs Schiff zu retten; trotzdem er nicht schwimmen kann, ertrinkt er indes nicht, sondern gelangt an das eben verlassene Ufer zurück und geht wieder nach Worms. Daran erkennt Hagen, daß ihm das zweite Wasserweib die Wahrheit vorausgesagt hat, und zertrümmert das Fahrzeug, damit kein Feigling entrinnen könne.

Nun ziehen die Nibelunge weiter durch Bayern und bilden eine Nachhut, weil sie erwarten, daß wegen des erschlagenen Fährmannes Rache versucht werden wird. In der Tat werden sie von den Bayern nachts eingeholt und angefallen. Es kommt zu einem Gefecht, in dem sich Dankwart besonders auszeichnet[25]. Nachdem sich die Nibelunge der verfolgenden Bayern entledigt haben, erreichen sie die Grenze des Nachbarlandes und finden den Grenzwächter schlafend. Hagen nimmt ihm sein Schwert ab und weckt ihn; er beklagt sich, daß er die Grenze so schlecht gehütet hat; dabei stellt sich heraus, daß es Eckewart ist, der einzige Burgunde, der Kriemhilt ins Hunnenland gefolgt ist. Eckewart warnt die Burgunden vor Kriemhilt; dann aber weist er sie nicht nach Etzelnburg, wie man doch erwarten sollte, da er im persönlichen Dienste der Kriemhilt steht, sondern nach Bechelaren. Die Eckewart-Episode ist nur verständlich als Überbleibsel einer ältern Fassung, der der Aufenthalt in Bechelaren ganz unbekannt war. In Bechelaren finden sie eine außerordentlich liebenswürdige Aufnahme. Im einzelnen ist die Schilderung derselben ganz besonders wohl gelungen. Der Dichter hat eine neue Verwickelung hineingebracht, indem er den jungen Giselher sich mit des Markgrafen Tochter verloben läßt; das Beilager soll erst bei der doch bald zu erwartenden Rückkehr von Etzelnburg stattfinden. Wie jung diese Einlage ist, zeigt auch der Umstand, daß man im Liede nicht einmal den Namen dieser Tochter Rüdegers erfährt (erst in der Klage wird er genannt: sie heißt Dietlind).

Nun ziehen sie nach Ungarn, dem eigentlichen Hunnenlande, und schicken Boten voraus; daraufhin macht sich Dietrich auf, um mit seinen Amelungen den Nibelungen entgegenzureiten und sie zu warnen. Wer dieser Dietrich ist, und wie er an Etzels[S. 49] Hof kommt, wird als selbstverständlich bekannt vorausgesetzt. Dietrich ist der König (der Ostgoten), der früher in Italien geherrscht hat (in Bern, d. i. Verona), damals aber aus seiner Heimat vertrieben ist und im Exil bei Etzel lebt, bis er schließlich mit hunnischer Hilfe in sein Reich zurückgeführt wird. Die Warnung, die Dietrich den Nibelungen angedeihen läßt, hat keinen Erfolg; sie ziehen weiter und werden zunächst von Kriemhilt allein empfangen: sie begrüßt Giselher, allenfalls auch die andern Brüder, nicht aber den Hagen. Es kommt daher sofort zu einer scharfen Auseinandersetzung zwischen ihnen beiden, die im Grunde die folgende Erzählung teilweise unmöglich macht: klipp und klar tritt hervor, daß die Burgunden sich auf die allergrößte Hinterlist gefaßt machen müssen, daß sie verraten und überfallen werden sollen. Kriemhilt stellt gleich die Frage an Hagen, wo der Nibelungenhort stecke, den er ihr doch hätte mitbringen müssen, und das Ende ist, daß Kriemhilt im Bösen die Burgunden stehen läßt, nachdem ihr Dietrichs Warnung bekannt geworden ist. Während dieser Zeit wird Etzel im Schlosse sitzend und die Gäste erwartend gedacht; er schaut vom Fenster herab, ohne ihnen entgegenzugehen, und macht seine Bemerkungen über die einzelnen Helden, die er sieht. Auch dann erfolgt der eigentliche Empfang noch nicht, sondern es wird erzählt, daß zwei Helden, nämlich Hagen und Volker, der Spielmann von Alzei, sich von den übrigen trennen und den Saal aufsuchen, in dem sich Kriemhilt im Augenblicke aufhält. Sie setzen sich ihren Fenstern gegenüber auf eine Bank, und Hagen legt in offenem Hohne das Schwert Siegfrieds, den Balmung, über seine Knie, damit Kriemhilt an Siegfrieds Tod erinnert werde. Sie erscheint denn auch haßerfüllt vor ihrem Saale, sammelt eine Anzahl Hunnen und fordert sie auf, die beiden festzunehmen. Aber an deren trotziger Haltung scheitert das; die Hunnen haben viel zu große Angst, als daß sie es wagten, sich an ihnen zu vergreifen. Damit muß Kriemhilt den Versuch, Hagen und Volker in ihre Gewalt zu bringen, aufgeben. Sie kehrt in ihren Palast zurück, die Helden aber begeben sich zu ihren Königen, die immer noch auf Etzels Hofe zwecklos herumstehen.

Man sieht, wie ungeschickt der Dichter in der Verbindung der einzelnen Szenen verfährt. Jede ist nur für sich betrachtet künstlerisch zu genießen. Aber es ist alles in die alte Grunderzählung hineingestopft — eine Folge des Stoffhungers jener[S. 50] verkehrsarmen Zeit; kein Dichter mochte, weil er etwas Neues zu sagen wußte, deswegen das Alte weglassen, wenn es sich auch mit jenem nicht vertrug.

Jetzt endlich begeben sich die burgundischen Gäste, geleitet von Rüdeger, in den Saal zu König Etzel um ihn zu begrüßen, werden von ihm in feierlicher Weise empfangen und treten ihm nicht minder höflich entgegen — was nach den beiden scharfen Szenen, die sich bereits zwischen Kriemhilt und ihren Feinden abgespielt haben, ganz unbegreiflich erscheint. Es findet ein Abendessen statt, dann werden die Gäste in einem großen Saale untergebracht, der für die Menge der Erschienenen Platz hat. Nicht alle werden hier einquartiert, nur die Könige und die Ritter, während die Knechte eine Herberge für sich erhalten; an ihrer Spitze steht als Marschall, dessen Amt es ja ist, für das Gefolge zu sorgen, Dankwart, Hagens Bruder. In der Nacht haben die Nibelunge große Sorge vor einem Überfall. Hagen und Volker halten die Nachtwache; letzterer spielt die Fiedel und schläfert damit die übrigen reisemüden, sorgenden Helden ein. Diese Wachsamkeit erweist sich als begründet: bewaffnete Hunnen, von Kriemhilt abgeschickt, schleichen heran. Die beiden Wächter erkennen aber rechtzeitig den geplanten Überfall und rufen die Feinde an; ohne Antwort drückt sich der Gegner, sobald er merkt, daß er seine Absicht nicht erreichen kann, verfolgt von Volkers Hohnreden.

Die Luft wird kühler, der Morgen bricht an. Sie kleiden sich nicht in Festgewänder, sondern in Panzerringe. So gehen sie zur Kirche[26]. Nach dem Kirchgang folgt ein Turnier, bei welchem Volker böswillig einen edlen Hunnen, der recht fein geputzt erscheint, niederstößt, und dadurch große Aufregung bewirkt; Kampf droht auszubrechen, wird aber unterbrochen durch persönliches Eingreifen Etzels, der (wie es scheint, mit bewußter Unwahrheit) sagt: „Volker kann nichts dafür, sein Pferd ist gestrauchelt, so hat sein Speer aus Versehen den Mann getroffen.“ Dann begibt man sich zu Tisch in den Saal, in dem die Helden nachts untergebracht waren.

Bevor man zu Tische geht, sucht Kriemhilt nochmals ihren Willen durchzusetzen. Sie wendet sich aber an ungeeignete Leute,[S. 51] sogar auch an Dietrich, von dem sie doch weiß, daß er zuerst die Nibelunge gewarnt hat. Alle lehnen es ab, bis endlich Etzels Bruder Blödel es unternimmt, gegen das Versprechen hoher Belohnung Kriemhilts Willen zu tun: er soll die Knechte in der Herberge überfallen und damit den Kampf zum Ausbruch bringen. Unmittelbar nachdem Blödel sich bereit erklärt hat, den Verrat zu beginnen, fährt das Gedicht (in der Fassung B, Bartsch Strophe 1912) fort:

Dô der strît niht anders kunde sîn erhaben

(Kriemhilde leit daz alte in ir herzen was begraben),

dô hiez si tragen ze tische den Etzelen sun.

wie kunde ein wîp durch râche immer vreislîcher tuon?

Also: da es auf keine andere Weise möglich ist, den Streit ins Werk zu setzen, so beabsichtigt Kriemhilt ihren und Etzels Sohn der Rache zu opfern. Die Strophe setzt voraus, daß Kriemhilt mit dem Versuche, einige Helden für sich zu gewinnen, nichts erzielt hat; im vorausgehenden ist das gerade Gegenteil berichtet (der Text C hat deshalb auch geändert). Die Erzählung vom Opfer des Kindes wird durch die Thidrikssaga und einen vereinzelten deutschen Bericht des 15. Jahrhunderts[27] bestätigt, auch durch die nordische Darstellung (in der ja Gudrun ihre Söhne schlachtet) unterstützt; auch in unserm Liede war sie offenbar ursprünglich, ist aber durch mehrfache Bearbeitung gemildert worden.

Bei Tisch erscheint nun der junge Ortlieb und wird den Verwandten vorgestellt. Etzel gedenkt der Verwandtschaft mit außerordentlich freundlichen Worten: er hofft, daß sein Sohn das werden soll, was die Oheime sind; allein Hagen meint, der junge Königssohn sähe aus, als ob er nicht lange leben würde.

In diesem Augenblicke erscheint an der Tür des Saales Dankwart, über und über blutbespritzt, und bringt die Botschaft, daß Blödel mit hunnischen Scharen die Knechte der Burgunden überfallen habe, und alle erschlagen seien, auch Blödel selbst. Als einziger ist Dankwart aus dem Gemetzel entkommen. Als Hagen dies hört, springt er sofort auf und schlägt dem Sohne Etzels kurzerhand das Haupt ab, so daß es der Mutter in den[S. 52] Schoß springt[28]. Damit ist Etzel zum Feinde seiner Gäste geworden; er ruft seine Mannen zur Rache auf. Allein da die Burgunden auf den Kampf vorbereitet sind und sogar bei Tische im Harnisch sitzen, die übrigen aber im Festgewande, so haben sie jetzt die Hunnen völlig in der Hand. Volker und Dankwart versperren den Ausgang, und die Burgunden machen zur Rache für ihre erschlagenen Knechte alles nieder, was in der Halle ist, bis Dietrich mit lauter Stimme für sich und die Seinen freien Abzug verlangt. Ihm und Rüdeger wird daraufhin von Günther gestattet, mit den Ihren den Saal zu verlassen; Günthers Feinde, die Hunnen, sollen jedoch drinnen bleiben. Es folgt nun eine höchst seltsame Szene: Dietrich nimmt, als ihm der Ausgang gewährt wird, den König Etzel an einen Arm, die Königin an den andern, und geht mit ihnen ungehindert hinaus. Die Burgunden lassen das zu. Als aber ein Hunne versucht, hinter seinem Könige auch hinauszukommen, schlägt ihm Volker das Haupt ab, so daß es Etzel vor die Füße rollt. Immerhin sind nun Etzel und Kriemhilt, die ärgsten Feinde der Burgunden, aus dem Saale entlassen (was noch drinnen ist, wird von den Burgunden erschlagen), und wir haben eine neue Lage: die Hunnen befinden sich vor dem Saale, die Burgunden in demselben und richten sich zu hartnäckiger Verteidigung ein. Unverständlich aber am Verhalten der Burgunden bleibt, daß sie Etzel und Kriemhilt ungehindert hinauslassen; wenn sie jetzt, da sie wissen, wie die Verhältnisse liegen, sich dieser beiden Hauptpersonen bemächtigen — sie brauchen sie nicht einmal zu töten — so ist der Sieg auf ihrer Seite, aber auch — die Erzählung zu Ende. Offenbar ist hier ein neuer Lappen auf das alte Tuch der überlieferten Erzählung genäht: das Gastmahl, der Kampf des viel zu zahlreichen Gefolges in der Herberge, in dem Dankwart sich besonders auszeichnet, der Kampf der Helden im Saale, all das sind neue Zutaten, im einzelnen zwar gut ausgeführt, mit dem Alten aber ungeschickt verbunden, so daß, wie gesagt, die Erzählung von Rechts wegen in diesem Augenblicke zu Ende gelangt, und zwar zu einem der Überlieferung widersprechenden Ende. Die Torheit, die der Dichter die Burgunden mit der Entlassung der ärgsten Feinde begehen läßt, muß ihm die Möglichkeit geben, in den[S. 53] ursprünglichen Gang der Sage wieder einzulenken. Die Lage wird wieder hergestellt, die sich schon an einer frühern Stelle des Gedichtes vorfindet: die Burgunden in dem Saale, in dem sie während der Nacht untergebracht waren, an der Tür wachend die Haupthelden, in erster Linie Hagen und Volker, und von außen herannahend die feindlichen Hunnen.

Mit Hohnreden begrüßen sich die Gegner, und Kriemhilt bietet großen Lohn demjenigen, der ihr Hagen in die Hände liefert. Hier treten einige Helden auf, die ursprünglich einem andern Sagenkreise angehören, aber, da man sie sich im Hunnenlande lebend denkt, in unsere Sage eingeführt werden. Es sind Irnfrid, Landgraf von Thüringen, Hawart der Däne und sein Mann Iring. Sie versuchen zuerst den Ansturm auf die im Saale verschanzten Burgunden, finden aber nach kleinen Erfolgen ihren Tod, ohne daß die Gesamtlage sich ändert; die Szene ist also überflüssig und dadurch als junger Zusatz gekennzeichnet[29].

Die Nacht bricht herein. Während derselben versucht Kriemhilt ihre Feinde zu vernichten, indem sie den Saal in Brand stecken läßt. Allein trotz der großen Not, die dadurch über die Burgunden hereinbricht, entgehen sie doch dem sichern Tode, hauptsächlich durch Hagens Ratschläge. Sie trinken das Blut der Gefallenen und sind am andern Morgen noch alle am Leben. Es bedarf also noch stärkerer Mittel, die Vernichtung der Burgunden durchzuführen. Von den eigentlichen Hunnen ist niemand geeignet, mit ihnen fertig zu werden; es muß ein besonderer Held gewonnen werden, und das ist derjenige, der auf der einen Seite als erster der Vasallen dem Etzel, auf der andern als Vater der Dietlind den Burgunden in gleicher Weise verpflichtet ist, Rüdeger von Bechelaren. Durch fußfällige Bitten erreichen der König und Kriemhilt, daß er sich zum Angriff auf die Burgunden entschließt, trotz seiner verwandtschaftlichen Beziehungen. Damit wird die vom Dichter an seine Person geknüpfte Frage entschieden, welche Treue heiliger ist, die Treue gegen den Herrn oder die gegen Anverwandte. Rüdeger entschließt[S. 54] sich als Urbild eines getreuen Mannes, die Treue gegen seinen Herrn zu wahren, und greift mit seinen Leuten die Burgunden an. Der Kampf endet damit, daß Rüdeger und Gernot einander im Zweikampf töten. Rüdegers Mannen kommen ebenfalls um, und Kriemhilts Ziel ist noch nicht erreicht. Großes Klagen erhebt sich um den vornehmsten der hunnischen Helden, den Freund aller hilfesuchenden Landfremden. Es schallt bis zum Hause König Dietrichs, und er sendet seine Mannen aus, zu erkunden, was denn geschehen sei. Hiltebrand, Dietrichs alter Waffenmeister und Führer seiner Mannen, Wolfhart, der übermütigste von ihnen, und die übrigen Amelunge[30], alle machen sich nach dem Kampfplatze auf; als sie erfahren, daß Rüdeger gefallen ist, erbitten sie sich von den Burgunden seine Leiche. Es wird ihnen aber die höhnische Antwort zuteil: „Holt sie euch selbst, wenn ihr keine Furcht habt.“ So greifen denn die Amelunge grimmerfüllt, aber wider ihres Herrn Dietrichs Willen, die Nibelunge an. In diesem Kampfe kommen alle zu Tode mit Ausnahme von Günther und Hagen auf burgundischer und Hiltebrand, der sich schließlich zur Flucht wenden muß, auf gotischer Seite.

Hiltebrand begibt sich zu Dietrich zurück und berichtet ihm, daß Rüdeger erschlagen ist; als das Dietrich erfährt, rüstet er sich selbst und befiehlt Hiltebrand, die Mannen zu sammeln, da er nun selbst eingreifen will. Hiltebrand erwidert: „Wen soll ich Euch rufen? Alle, die Ihr habt, seht Ihr vor Euch stehen“, und dadurch erfährt Dietrich erst, daß inzwischen seine Leute auch umgekommen sind. Der Angriff erfolgt nun durch Dietrich selbst, der durch seine Stärke die Entscheidung bringt. Immer noch ist er trotz des großen Schadens, der ihm geschehen, geneigt, die letzten burgundischen Helden zu retten. Es gelingt ihm, sie gefangen zu nehmen, und er übergibt sie Kriemhilt mit dem ausdrücklichen Wunsche, daß ihnen nichts am Leben geschehen möge. Kriemhilt verlangt nun von Hagen die Auslieferung des Nibelungenhortes und erhält die Antwort, daß er durch einen schweren Eid gebunden sei, den Ort, wo der[S. 55] Schatz liegt, niemandem zu verraten, solange einer seiner Herren lebe. Darauf läßt Kriemhilt dem Günther das Haupt abschlagen und bringt es Hagen als Beweis des Todes seines Herrn. Hagen aber erwidert (Strophe 2371 Bartsch):

„Nu ist von Burgonden der edel künec tôt,

Gîselher der junge und ouch her Gêrnôt.

den schaz den weiz nu niemen wan got unde mîn:

der sol dich, vâlandinne, immer wol verholen sîn.“

Sie erfährt also den Aufbewahrungsort des Schatzes nicht, tröstet sich aber damit, daß sie den Balmung, den einst ihr Siegfried geführt hat, durch Hagens Gefangennahme in die Hände bekommen hat. Mit ihm rächt sie ihren Jammer, indem sie Hagen eigenhändig tötet. Aber Hiltebrand erträgt nicht, daß Helden von der Art Hagens von einem Weibe fallen; er springt hinzu und tötet Kriemhilt selbst. Der Vernichtungskampf hat nun ein Ende; von namhaften Personen sind ihm nur entgangen Etzel (auf dessen Tod doch gerade die nordische Darstellung hinausgeht), Dietrich und Hiltebrand. Damit schließt unser Lied.

Ein etwas späterer Dichter hat ihm eine Fortsetzung in abweichender Versform (sogenannten kurzen Reimpaaren) unter dem Titel „Klage“ angehängt, ein matt nachklappendes Gedicht, das erzählt, wie die Toten beerdigt werden, und was aus den wenigen Überlebenden noch geworden ist. Für uns ist nur von Interesse die merkwürdige Stelle, die sich am Schlusse der einen Bearbeitung der Klage (C) findet; hier heißt es: was aus Etzel geworden ist, das weiß kein Mensch; es ist unbekannt, was er für ein Ende genommen hat. Für die Entwickelung der Sage aus der Geschichte ist diese Bemerkung von größter Wichtigkeit.

Im Nibelungenliede hat sich das Interesse der Dichter und ihrer Zuhörer andern Teilen zugewendet als in der Lieder-Edda. Während im Norden der erste Teil der Sage ausführlich und breit, teilweise auch in verschiedenen Variationen erzählt wird, ist der zweite Teil einfach und kurz; zwischen den beiden Hauptteilen besteht ein eigentlicher Zusammenhang nicht; ganz äußerlich ist ferner noch ein dritter Teil angehängt, die Geschichte von Svanhild, die zwar in Deutschland wohl bekannt, aber nicht an die Nibelungen-, sondern an die Dietrichsage angeschlossen ist. In Deutschland aber sind die beiden Hauptteile der Sage dadurch innerlich in Verbindung gebracht, daß der Untergang der Burgunden[S. 56] aufgefaßt wird nicht als von Etzel, sondern von Kriemhilt ausgehend, und daß diese nicht, wie im Norden, an ihrem zweiten Gatten den Tod ihrer Brüder rächt, sondern an ihren Brüdern den Tod ihres ersten Gatten; damit ist ein innerer Zusammenhang zwischen dem ersten und zweiten Teile hergestellt: der erste Teil ist die Ursache des zweiten geworden. Daraus ist weiter die Notwendigkeit erwachsen, daß Etzel nicht ermordet wird, sondern übrig bleibt, und die Erzähler zunächst nicht wissen, was aus ihm geworden sein mag. Seine und Kriemhilts Interessen fallen in der deutschen Darstellung eben zusammen, und es mangelt der Kriemhilt jeder Grund, ihn zu töten.

Welche Darstellung der Sage, die nordische oder die deutsche, die ältere ist, das ist nicht schwer zu entscheiden: selbstverständlich diejenige, in der die beiden Teile auseinanderklaffen. Denn das Auseinanderreißen zusammengehöriger Stücke würde niemand unternommen haben; wohl aber kann man jemandem zutrauen, daß er zwei Erzählungen, wie die Geschichte von Siegfried und die Geschichte von dem Untergang der Burgunden und Attilas Tod, die durch beiden gemeinsame handelnde Personen zusammengehalten werden, auch innerlich in ursächlichen Zusammenhang bringt.

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