III Das Apollinische und das Dionysische.

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III.
Das Apollinische und das Dionysische.

Das von Schiller empfundene und teilweise bearbeitete Problem wurde in neuer und eigenartiger Weise von Nietzsche wieder aufgenommen in seiner von 1871 datierenden Schrift „Die Geburt der Tragödie“. Dieses Jugendwerk bezieht sich zwar nicht auf Schiller, sondern weit mehr auf Schopenhauer und Goethe. Es hat aber, wenigstens anscheinend, mit Schiller den Ästhetismus und den Griechenglauben, mit Schopenhauer den Pessimismus und das Erlösungsmotiv, und unendlich vieles mit Goethes Faust gemeinsam. Von diesen Beziehungen ist natürlich die zu Schiller für unsere Absicht am bedeutsamsten. Wir können jedoch an Schopenhauer nicht vorübergehen, ohne zu bemerken, in welchem Masse er die bei Schiller als blasse Schemen auftauchenden Ahnungen östlicher Erkenntnisse in die Wirklichkeit übergeführt hat. Wenn wir von dem aus dem Kontraste mit christlicher Glaubensfreude und Erlösungsgewissheit stammenden Pessimismus absehen wollen, so ist Schopenhauers Erlösungslehre wesentlich buddhistisch. Er trat hinüber auf die Seite des Ostens. Dieser Schritt ist unzweifelhaft eine Kontrastreaktion gegen unsere okzidentalische Atmosphäre. Wie bekannt setzt sich auch gegenwärtig diese Reaktion noch in nicht unbeträchtlichem Masse fort in verschiedenen Bewegungen, welche mehr oder weniger vollständig nach Indien orientiert sind. Dieser Zug nach Osten macht für Nietzsche in Griechenland Halt. Er empfindet Griechenland auch als das Mittelstück[S. 194] zwischen Osten und Westen. Insofern berührt er sich mit Schiller — wie so ganz anders aber ist seine Auffassung des griechischen Wesens! Er sieht die dunkle Folie, auf der die golden heitere Welt des Olymps gemalt ist. „Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nötigung, schaffen.“ „Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos tronende Moira, jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckenslos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt“ — „wurde von den Griechen durch jene künstlerische Mittelwelt der Olympier fortwährend von neuem überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen“.[95] Die griechische „Heiterkeit“, der lachende Himmel von Hellas als eine schimmernde Illusion vor düstern Hintergründen — diese Erkenntnis war den Neuern vorbehalten; ein gewichtiges Argument gegen den moralischen Ästhetismus! Damit betritt Nietzsche einen gegenüber Schiller bedeutend veränderten Standpunkt. Was wir bei Schiller ahnen durften, dass nämlich seine Briefe über ästhetische Erziehung auch ein Versuch in eigener Sache waren, wird zur völligen Gewissheit bei Nietzsches Schrift — es ist ein „tief persönliches“ Buch. Und in dem Masse, als Schiller sozusagen zaghaft und mit blassen Farben anfängt, Licht und Schatten zu malen, und den in der eigenen Seele empfundenen Gegensatz als „naiv“ gegen „sentimentalisch“ zu begreifen, unter Ausschliessung alles Hintergründlichen und Abgründlichen menschlicher Natur, greift Nietzsches Auffassung tiefer und spannt einen Gegensatz, der in seinem einen[S. 195] Teile der strahlenden Schönheit der Schillerschen Vision in nichts nachgibt, aber in seinem andern Teile unendlich dunklere Töne findet, welche zwar die Kraft des Lichtes erhöhen, aber eine noch tiefere Nacht hinter sich ahnen lassen.

Nietzsche nennt sein fundamentales Gegensatzpaar: Apollinisch-Dionysisch. Wir wollen nun zunächst versuchen, uns die Natur dieses Gegensatzpaares zu vergegenwärtigen. Zu diesem Zwecke setze ich eine Reihe wörtlicher Zitate her, mittelst welcher der Leser — auch ohne die Schrift Nietzsches gelesen zu haben — in den Stand gesetzt ist, sich selber ein Urteil zu bilden, und zugleich meine Auffassung daran zu messen.

1. „Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwicklung der Kunst an die Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist: in ähnlicher Weise wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe, und nur periodisch eintretender Versöhnung abhängt.“ (l. c. p. 19.)

2. „An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntnis, dass in der griechischen Welt ein ungeheurer Gegensatz, nach Ursprung und Zielen, zwischen der Kunst des Bildners, der apollinischen, und der unbildlichen Kunst der Musik, als der des Dionysus, besteht: beide so verschiedenen Triebe gehen nebeneinander her, zumeist in offenem Zwiespalt miteinander, und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigern Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuieren, den das gemeinsame Wort „Kunst“ nur scheinbar überbrückt; bis sie endlich, durch einen metaphysischen Wunderakt des hellenischen „Willens“ mit einan [S. 196] der gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das eben so dionysische wie apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.“[96]

Um die beiden „Triebe“ näher zu charakterisieren, vergleicht Nietzsche die durch sie hervorgebrachten eigentümlichen psychologischen Zustände denen des Traumes und des Rausches. Der apollinische Trieb erzeugt den mit dem Traum, der dionysische Trieb den mit dem Rausch verglichenen Zustand. Unter „Traum“ versteht Nietzsche, wie er selber belegt, wesentlich „innere Vision“ den „schönen Schein der Traumwelten“. Apollo „beherrscht den schönen Schein der innern Phantasiewelt“, er ist „der Gott aller bildnerischen Kräfte“. Er ist Mass, Zahl, Begrenzung und Beherrschung alles Wilden und Ungebändigten. „Man möchte — Apollo als das herrliche Götterbild des prinzipii individuationis bezeichnen.“[97] Das Dionysische hingegen ist die Befreiung des schrankenlosen Triebes, das Losbrechen der ungezügelten Dynamis tierischer und göttlicher Natur, daher der Mensch im dionysischen Chore als Satyr, oben Gott und unten Bock, auftritt.[98] Es ist das Grauen über die Zerbrechung des Individuationsprinzipes, und zugleich die „wonnevolle Verzückung“ darüber, dass es zerbrochen ist. Das Dionysische ist daher vergleichbar dem Rausch, der das Individuelle auflöst in die collektiven Triebe und Inhalte, eine Zersprengung des abgeschlossenen Ich durch die Welt. Daher findet sich im Dionysischen Mensch zu Mensch, „auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen.“[99] Jeder fühlt sich mit seinem Nächsten „Eins“, („nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen“). Seine Indivi[S. 197]dualität muss daher gänzlich aufgehoben sein. „Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden.“ „Die Kunstgewalt der ganzen Natur — offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches.“[100] D. h. die schöpferische Dynamis, die Libido in der Form des Triebes, bemächtigt sich des Individuums als eines Objektes und gebraucht es als Werkzeug oder Ausdruck. Wenn man das natürliche Wesen als „Kunstwerk“ auffassen darf, dann wird der Mensch im dionysischen Zustand allerdings zum natürlich gewordenen Kunstwerk; insofern das natürliche Wesen aber auch eben gerade kein Kunstwerk ist im Sinne dessen, was wir „Kunstwerk“ zu nennen pflegen, so ist es auch nichts als blosse Natur, ungezügelt, in jeder Hinsicht ein Wildbach und nicht einmal ein auf sich und sein Wesen beschränktes Tier. Ich muss der Klarheit und der spätern Diskussion wegen diesen Punkt hervorheben, denn aus gewissen Gründen hat Nietzsche diese Hervorhebung unterlassen und dadurch einen trügerischen ästhetischen Schleier über das Problem ausgebreitet, den er allerdings an einigen Stellen unwillkürlich lüften muss. So z. B. wie er von den dionysischen Orgien spricht: „Fast überall lag das Zentrum dieser Feste in einer überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familientum und dessen ehrwürdige Satzungen hinwegfluteten; gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit.“[101] Nietzsche betrachtet die Versöhnung des delphischen Apollo mit Dionysos als ein Symbol der Versöhnung dieser Gegensätze in der Brust des zivilisierten Griechen. Er vergisst aber dabei seine eigene compensatorische Formel nach der die Götter des Olymps ihr Licht der Dunkelheit der griechischen Seele ver[S. 198]danken: danach wäre die Versöhnung Apollos mit Dionysos ein schöner Schein, ein Desideratum, hervorgerufen durch die Not, die die zivilisierte Hälfte des Griechen empfand im Kampfe mit seiner barbarischen Seite, die sich eben gerade im dionysischen Zustand hemmungslose Bahn brach. Zwischen der Religion eines Volkes und seinem wirklichen Lebenswandel besteht immer eine compensatorische Beziehung, sonst hätte ja die Religion gar keinen praktischen Sinn. Angefangen mit der höchst moralischen Religion der Perser und der schon im Altertum berühmten moralischen Zweifelhaftigkeit persischer Lebensgewohnheiten hinunter bis in unsere „christliche“ Epoche, wo die Religion der Liebe dem grössten Blutbad der Weltgeschichte assistiert, bewährt sich diese Regel. Darum dürfen wir auch gerade aus dem Symbol der delphischen Versöhnung auf einen besonders heftigen Zwiespalt im griechischen Wesen schliessen. Daraus würde sich die Erlösungssehnsucht erklären, welche den Mysterien jene gewaltige Bedeutung für das griechische Volksleben gab, und welche von den frühern Griechenschwärmern gänzlich übersehen wurde. Man begnügte sich damit, den Griechen naiv alles anzusehen, was einem selber fehlte. Im dionysischen Zustande wurde also der Grieche keineswegs zunächst zum Kunstwerk, sondern er wurde von seinem eigenen barbarischen Wesen ergriffen, seiner Individualität beraubt, in alle seine collektiven Bestandteile aufgelöst, eins gemacht mit dem collektiven Unbewussten (unter Dahingabe seiner individuellen Ziele), eins mit „dem Genius der Gattung, ja der Natur“. Für die bereits erreichte apollinische Bändigung musste dieser Rauschzustand, der den Menschen gänzlich seiner selbst und seiner Menschheit vergessen liess und ihn zu einem blossen Triebwesen machte, etwas Verächtliches gewesen sein, weshalb unzweifelhaft zunächst ein heftiger Kampf zwischen den beiden Trieben ausbrechen musste. Man[S. 199] befreie die Triebe des zivilisierten Menschen! Der Kulturschwärmer bildet sich ein, dass eitel Schönheit herausströme. Dieser Irrtum beruht auf einem tiefgehenden psychologischen Kenntnismangel. Die im zivilisierten Menschen aufgestauten Triebkräfte sind ungeheuer destruktiv und um vieles gefährlicher als die Triebe der Primitiven, der seine negativen Triebe beständig in bescheidenem Masse lebt. Dementsprechend kann kein Krieg der historischen Vergangenheit an grandioser Scheusslichkeit mit dem Krieg zivilisierter Nationen rivalisieren. Es wird bei den Griechen nicht anders gewesen sein. Eben gerade aus der lebendigen Empfindung des Grauens heraus ist ihnen allmählich eine Versöhnung des Dionysischen mit dem Apollinischen gelungen — „durch einen metaphysischen Wunderakt“, wie Nietzsche gleich anfangs sagt. Wir müssen diese Äusserung festhalten, ebenso die andere Bemerkung, dass der in Frage stehende Gegensatz „durch das gemeinsame Wort ‚Kunst‘ nur scheinbar überbrückt“ werde. Wir müssen uns dieser Sätze erinnern, weil Nietzsche gleich wie Schiller die ausgesprochene Tendenz hat, der Kunst die vermittelnde und erlösende Rolle zuzuschreiben. Und damit bleibt das Problem im Ästhetischen stecken — das Hässliche ist auch „schön“; das Abscheuliche, ja das Böse sogar erglänzt begehrenswert im trügerischen Schimmer des Ästhetisch-Schönen. Die Künstlernatur in Schiller sowohl wie in Nietzsche vindiziert sich und ihrer spezifischen Schaffens- und Ausdrucksmöglichkeit die erlösende Bedeutung. Darob vergisst Nietzsche völlig, dass es sich beim Kampfe Apollos gegen Dionysos und ihrer schliesslichen Versöhnung für die Griechen niemals um ein ästhetisches Problem handelte, sondern um eine religiöse Frage. Die dionysischen Satyrfeste waren nach aller Analogie eine Art Totemfeste mit Rückidentifikation mit mythischen Ahnen oder direkt mit dem Totemtier. Der Dionysos[S. 200]kult hatte vielerorts einen mystisch-spekulativen Einschlag, und hat jedenfalls einen sehr starken, religiös erregenden Einfluss ausgeübt. Dass aus der ursprünglich religiösen Zeremonie die Tragödie hervorging, bedeutet genau soviel wie der Zusammenhang unseres modernen Theaters mit den mittelalterlichen Passionsspielen und ihrer ausschliesslich religiösen Grundlage, und erlaubt deshalb nicht, das Problem unter seinem bloss ästhetischen Aspekt zu beurteilen. Der Ästhetismus ist eine moderne Brille, durch welche die psychologischen Geheimnisse des Dionysoskultes in einem Lichte gesehen werden, in dem sie die Alten sicherlich nie sahen und erlebten. Wie bei Schiller, so auch bei Nietzsche wird der religiöse Gesichtspunkt völlig übersehen und durch die ästhetische Betrachtung ersetzt. Gewiss haben diese Dinge ihre ausgesprochen ästhetische Seite, die man nicht vernachlässigen darf.[102] Wenn man jedoch das mittelalterliche Christentum nur ästhetisch begreift, so wird sein wirklicher Charakter verfälscht und veräusserlicht und zwar ebenso sehr, wie wenn man es von ausschliesslich historischem Standpunkt aus begreift. Ein wirkliches Verstehen kann nur auf gleichem Grunde erfolgen, denn niemand wird behaupten wollen, das Wesen einer Eisenbahnbrücke sei hinlänglich verstanden, wenn man sie ästhetisch anempfunden hat. So ist mit der Auffassung, der Kampf zwischen Apollo und Dionysos sei eine Frage gegensätzlicher Kunsttriebe, das Problem in einer historisch und materiell ungerechtfertigten Weise auf das ästhetische Gebiet verschoben, womit es einer Teilbetrachtung unterworfen[S. 201] wird, die niemals im Stande ist, seinem wirklichen Inhalt gerecht zu werden.

Unzweifelhaft muss diese Verschiebung ihren psychologischen Grund und Zweck haben. Der Gewinn der Prozedur ist unschwer zu entdecken: die ästhetische Betrachtung macht aus dem Problem sofort ein Bild, welches der Beschauer gemächlich betrachtet, seine Schönheit sowohl wie seine Hässlichkeit bewundernd, in sicherer Entfernung von jeder Mitempfindung und jedem Miterleben die Leidenschaft des Bildes bloss anempfindend. Die ästhetische Einstellung schützt vor der Anteilnahme, vor der eigenen Hineinverwicklung, welche das religiöse Begreifen des Problems bedeutet. Den gleichen Vorteil sichert die historische Betrachtungsweise, zu deren Kritik Nietzsche selbst eine Reihe der kostbarsten Beiträge geliefert hat.[103] Die Möglichkeit, ein solch gewaltiges Problem — „ein Problem mit Hörnern“, wie er es nennt — bloss ästhetisch nehmen zu können, ist allerdings verlockend, denn sein religiöses Begreifen, welches in diesem Fall das einzig adäquate Begreifen ist, setzt ein Erleben oder ein Erlebthaben voraus, dessen sich der moderne Mensch wohl selten rühmen kann. Dionysos scheint sich aber an Nietzsche gerächt zu haben — man vergleiche seinen „Versuch einer Selbstkritik“, der vom Jahre 1886 stammend, der „Geburt der Tragödie“ einleitend vorgesetzt ist: „Ja, was ist dionysisch? — In diesem Buche steht eine Antwort darauf — ein „Wissender“ redet da, der Eingeweihte und Jünger seines Gottes.“ Das war aber Nietzsche nicht, als er die „Geburt der Tragödie“ schrieb; damals war er ästhetisch affiziert, dionysisch aber erst, als er den „Zarathustra“ schrieb und jene denkwürdige Stelle, mit der er seinen „Versuch einer Selbstkritik“ beschliesst: „Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch,[S. 202] höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!“

Die besondere Tiefe, mit der Nietzsche das Problem trotz ästhetischer Selbstsicherung erfasst hat, war der Wirklichkeit schon so nahe, dass sein späteres dionysisches Erleben beinahe als unvermeidliche Konsequenz erscheint. Sein Angriff auf Sokrates in der „Geburt der Tragödie“ gilt dem Rationalisten, der sich für den dionysischen Orgiasmus als unzugänglich erweist. Dieser Affekt entspricht dem analogen Fehler, den die ästhetische Betrachtung macht; sie hält sich das Problem vom Leibe. Trotz der ästhetischen Auffassung aber hat Nietzsche doch damals schon die Ahnung der wirklichen Lösung des Problems gehabt, als er schrieb, dass der Gegensatz nicht durch Kunst, sondern durch einen „metaphysischen Wunderakt des hellenischen Willens“ überbrückt wurde. Er setzt „Willen“ in Anführungszeichen, was wir bei seiner damaligen starken Beeinflussung durch Schopenhauer wohl als Beziehung auf den metaphysischen Willensbegriff deuten dürfen. „Metaphysisch“ hat für uns die psychologische Bedeutung von „unbewusst“. Wenn wir also „metaphysisch“ in Nietzsches Formel durch „unbewusst“ ersetzen, dann wäre der gesuchte Schlüssel dieses Problems ein unbewusster „Wunderakt“. Ein „Wunder“ ist irrational, also ist der Akt ein unbewusstes irrationales Geschehen, eine Bildung aus sich ohne Dazutun der Vernunft und der zielbewussten Absicht; es ergibt sich, es wird als ein Wachstumsphänomen der schaffenden Natur und nicht aus Erklügelung menschlichen Witzes, eine Geburt aus sehnsüchtiger Erwartung, aus Glauben und Hoffnung.

Ich lasse dieses Problem hier zunächst fallen, da wir im weitern Verlauf unserer Untersuchung Gelegenheit haben werden, noch ausführlicher auf diese Frage zurückzukommen. Dafür wollen wir daran gehen, die[S. 203] Begriffe Apollinisch-Dionysisch auf ihre psychologischen Qualitäten näher zu prüfen. Betrachten wir zunächst das Dionysische. Die Darstellung Nietzsches lässt ohne weiteres erkennen, dass damit eine Entfaltung gemeint ist, ein Herauf- und Herausströmenlassen, eine Diastole, wie Goethe sagte, eine die Welt umfassende Bewegung, wie sie auch Schiller in seiner Ode „an die Freude“ schildert:

„Seid umschlungen, Millionen.

Diesen Kuss der ganzen Welt.“

und weiter:

„Freude trinken alle Wesen

An den Brüsten der Natur;

Alle Guten, alle Bösen

Folgen ihrer Rosenspur.

Küsse gab sie uns und Reben,

Einen Freund geprüft im Tod;

Wollust war dem Wurm gegeben

Und der Cherub steht vor Gott.“

Das ist dionysische Expansion. Es ist ein Strom mächtigsten All-Empfindens, der unwiderstehlich hervorbricht und wie stärkster Wein den Sinn berauscht. Es ist eine Trunkenheit im höchsten Sinne.

An diesem Zustand ist das psychologische Element der Empfindung, sei es der Sinnesempfindung, sei es der Affektempfindung, in höchstem Masse beteiligt. Es handelt sich also um eine Extraversion von Gefühlen, die ununterscheidbar an das Element der Empfindung geknüpft sind, weshalb wir sie als Gefühlsempfindungen bezeichnen. Es sind daher mehr Affekte, welche in diesem Zustande hervorbrechen, also Triebmässiges, blind Zwingendes, das sich namentlich in einer Affektion der Körpersphäre ausdrückt.

Dem gegenüber ist das Apollinische eine Wahrnehmung der innern Bilder der Schönheit, des Masses[S. 204] und der in Proportionen gebändigten Gefühle. Der Vergleich mit dem Traum weist deutlich auf den Charakter des Apollinischen Zustandes hin: es ist ein Zustand der Introspektion, der nach innen, nach der Traumwelt ewiger Ideen gekehrten Kontemplation, also ein Zustand der Introversion.

Insoweit ist die Analogie mit unsern Mechanismen wohl unzweifelhaft. Wenn wir aber uns mit der Analogie begnügten, so würden wir mit dieser Beschränkung den Begriffen Nietzsches Gewalt antun, indem wir sie nämlich in ein Prokrustesbett legten.

Wir sehen im Verlaufe unserer Untersuchung, dass der Zustand der Introversion, insofern er zum Habitus wird, immer auch eine Differenzierung der Beziehung zur Ideenwelt, und die habituelle Extraversion eine solche der Beziehung zum Objekt mit sich führt. Von dieser Differenzierung sehen wir bei Nietzsches Begriffen nichts. Das dionysische Gefühl hat den durchaus archaïschen Charakter der affektiven Empfindung. Es ist also nicht rein, abgezogen und aus dem Triebmässigen zu jenem beweglichen Element differenziert, das beim extravertierten Typus den Anweisungen der Ratio gehorcht und sich ihr als williges Instrument leiht. Ebenso betrifft Nietzsches Introversionsbegriff keine reine, differenzierte Beziehung zu Ideen, die sich aus der Anschauung, sei es der sinnlich bedingten, sei es der schöpferisch erzeugten, befreit hätte, zu abgezogenen und reinen Formen. Das Apollinische ist eine innere Wahrnehmung, eine Intuition der Ideenwelt. Der Vergleich mit dem Traum zeigt deutlich, dass Nietzsche sich diesen Zustand als einerseits bloss anschauend, und andererseits als bloss bildmässig denkt.

Diese Characteristica bedeuten etwas Eigenartiges, das wir unserm Begriff der introvertierten oder extravertierten Einstellung nicht zurechnen dürfen. Bei einem vorwiegend reflektierend eingestellten Menschen erfolgt aus dem apollinischen Zustand der Anschauung innerer[S. 205] Bilder eine dem Wesen des intellektuellen Denkens gemässe Bearbeitung des Geschauten. Daraus gehen die Ideen hervor. Bei einem vorwiegend fühlend eingestellten Menschen erfolgt ein ähnlicher Prozess, eine Durchfühlung der Bilder und eine Herstellung einer Gefühlsidee, welche essentiell mit der denkend hergestellten Idee zusammenfallen kann. Ideen sind darum ebenso sehr Gedanke wie Gefühl, z. B. die Idee des Vaterlandes, der Freiheit, Gottes, der Unsterblichkeit, etc. Das Prinzip beider Bearbeitungen ist ein rationales und logisches. Es gibt nun aber auch einen ganz andern Standpunkt, von dem aus die logisch-rationale Bearbeitung ungültig ist. Dieser andere Standpunkt ist der ästhetische. Er verweilt in der Introversion bei der Anschauung der Ideen, er entwickelt die Intuition, die innere Anschauung; in der Extraversion verweilt er bei der Empfindung und entwickelt die Sinne, den Instinkt, die Affizierbarkeit. Für diesen Standpunkt ist das Denken keinesfalls das Prinzip der innern Wahrnehmung der Ideen und ebenso wenig das Gefühl, sondern für ihn ist vielmehr das Denken und Fühlen blosses Derivat der innern Anschauung oder der Sinnesempfindung.

Nietzsches Begriffe führen uns somit zu den Prinzipien eines dritten und vierten psychologischen Typus, die man als ästhetische Typen gegenüber den rationalen Typen (Denk- und Fühltypen) bezeichnen könnte. Es ist der intuitive und der Sinnes- oder Empfindungstypus. Diese beiden Typen haben zwar das Moment der Introversion und Extraversion mit den rationalen Typen gemein, ohne aber einerseits wie der Denktypus, die Wahrnehmung und Anschauung der innern Bilder zum Denken, und andererseits, wie der Fühltypus, das affektive Trieb- und Empfindungserleben zum Gefühl zu differenzieren. Dagegen erhebt der Intuitive die unbewusste Wahrnehmung zu einer differenzierten Funktion, über die auch seine[S. 206] Anpassung an die Welt stattfindet. Er passt sich an mittels unbewusster Direktiven, die er empfängt durch eine besonders feine und geschärfte Wahrnehmung und Deutung dunkelbewusster Regungen. Wie eine solche Funktion aussieht, ist natürlich ihres irrationalen und sozusagen unbewussten Charakters wegen schwer zu beschreiben. Man kann sie etwa dem Daimonion des Sokrates vergleichen; allerdings mit dem Unterschied, dass die ungewöhnlich rationalistische Einstellung des Sokrates die intuitive Funktion möglichst verdrängte, sodass sie sich concret-hallucinatorisch durchsetzen musste, weil sie keinen direkten psychologischen Zugang zum Bewusstsein hatte. Dieses letztere ist aber beim Intuitiven gerade der Fall.

Der Empfindungstypus ist in jeder Hinsicht eine Umkehrung des Intuitiven. Er basiert sozusagen ausschliesslich auf dem Element der Sinnesempfindung. Seine Psychologie orientiert sich nach Trieb und Empfindung. Er ist daher ganz auf den realen Reiz angewiesen.

Die Tatsache, dass Nietzsche gerade die psychologische Funktion der Intuition einerseits und die der Empfindung und des Triebes andererseits hervorhebt, dürfte kennzeichnend sein für seine eigene, persönliche Psychologie. Er ist wohl dem intuitiven Typus zuzurechnen mit Neigung nach der introvertierten Seite. Für ersteres spricht seine vorwiegend intuitiv-künstlerische Art der Produktion, für welche gerade seine uns vorliegende Schrift über die Geburt der Tragödie sehr charakteristisch ist, in noch höherm Masse aber sein Hauptwerk: „Also sprach Zarathustra.“ Für seine introvertiert-intellektuelle Seite kennzeichnend sind seine aphoristischen Schriften, die trotz eines starken gefühlsmässigen Einschlages den ausgesprochen kritischen Intellektualismus in der Art der französischen Intellektuellen des XVIII. Jahrhunderts zeigen. Für seinen intuitiven Typus im allge[S. 207]meinen spricht die mangelnde rationale Beschränkung und Geschlossenheit. Es ist bei dieser Sachlage nicht erstaunlich, dass er in seinem Anfangswerk die Tatsachen seiner persönlichen Psychologie unbewusst in den Vordergrund stellt. Dies entspricht der intuitiven Einstellung, welche in erster Linie über das Innere das Äussere wahrnimmt, bisweilen sogar auf Kosten der Realität. Mittels dieser Einstellung gewann er auch die tiefe Einsicht in die dionysischen Qualitäten seines Unbewussten, deren rohe Form allerdings, soweit wir wissen, erst beim Ausbruch seiner Krankheit die Oberfläche des Bewusstseins erreichte, nachdem sie sich in mannigfachen erotischen Andeutungen in seinen Schriften schon vorher verraten hatte. Es ist in psychologischer Hinsicht daher äusserst bedauerlich, dass die nach der Erkrankung in Turin vorgefundenen, eben in dieser Hinsicht sehr bezeichnenden Schriftstücke dem moralisch-ästhetischen Bedauern zu Liebe der Vernichtung anheimgefallen sind.

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