IX Das Typenproblem in der Biographik.

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IX.
Das Typenproblem in der Biographik.

Wie man fast erwarten darf, liefert auch das Gebiet der Biographik seinen Beitrag zum Problem der psychologischen Typen. Es ist der naturwissenschaftlichen Methodik eines Wilhelm Ostwald [294] zu verdanken, dass durch die Vergleichung einer Anzahl von Biographien hervorragender Naturforscher sich eine typische psychologische Gegensätzlichkeit herausgestellt hat, welche Ostwald als den klassischen und den romantischen Typus bezeichnet.[295] „Während der erste“, sagt Ostwald, „durch die allseitige Vollendung jeder einzelnen Leistung, aber gleichzeitig durch ein zurückgezogenes Wesen und eine geringe persönliche Wirksamkeit auf seine Umgebung gekennzeichnet ist, fällt der Romantiker durch die entgegengesetzten Eigenschaften auf. Nicht sowohl Vollendung der einzelnen Arbeit, als Mannigfaltigkeit und auffallende Originalität zahlreicher, schnell aufeinanderfolgender Leistungen ist ihm eigen, und auf seine Zeitgenossen pflegt er unmittelbar und stark einzuwirken.“ „Und es soll betont werden, dass die mentale Reaktionsgeschwindigkeit massgebend dafür ist, ob der Entdecker dem einen Typus oder dem andern zugehört. Forscher mit sehr grosser Reaktionsgeschwindigkeit sind Romantiker, solche mit geringer sind Klassiker.“[296] Der Klassiker[S. 460] hat eine langsame Produktionsweise und bringt zuweilen erst relativ spät die reifsten Früchte seines Geistes hervor.[297] Ein nach Ostwald nie fehlendes Kennzeichen des klassischen Typus ist das „unbedingte Bedürfnis, der Öffentlichkeit gegenüber frei von Irrtum dazustehen“.[298] Dem klassischen Typus ist als Ersatz für die „mangelnde persönliche Wirkung eine umso ausgiebigere durch die Schrift gewährt“.[299] Allerdings scheinen dieser Wirkung auch Grenzen gesteckt zu sein, wie der folgende, von Ostwald erwähnte Fall aus der Biographie von Helmholtz erkennen lässt: Anlässlich der mathematischen Untersuchungen von Helmholtz über die Wirkungen von Induktionsschlägen schreibt Du Bois-Reymond an den Forscher: „Du musst — nimm es mir nicht übel — durchaus mehr Sorgfalt darauf wenden, von Deinem eigenen Standpunkt des Wissens zu abstrahieren, und Dich auf den Standpunkt derer zu stellen, die noch nicht wissen, um was es sich handelt, und was Du ihnen auseinandersetzen willst.“ Helmholtz antwortete dagegen: „Was die Darstellung in dem Aufsatze anlangt, so hat sie mir gerade diesmal viel Mühe gemacht, und ich glaubte zuletzt, mit ihr zufrieden sein zu dürfen.“ Ostwald bemerkt dazu: „Auf die Frage nach dem Leser geht er gar nicht ein, da er nach Art des Klassikers für sich selbst schreibt, d. h. so, dass die Darstellung ihm einwandfrei erscheint, und nicht für andere.“ Es ist charakteristisch, was Du Bois in demselben Brief an Helmholtz schreibt: „Ich habe Deine Abhandlung und den Auszug ein paar Mal durchgelesen, ohne zu begreifen, was Du eigentlich gemacht hattest, und wie Du es gemacht hattest. Endlich erfand ich selbst Deine Methode, und nun verstand ich erst allmählich Deine Darstellung.“

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Dieser Fall ist im Leben des klassischen Typus, dem es selten oder nie glückt, „gleichgeartete Seelen an der seinen zu entzünden“[300], ein durchaus typisches Vorkommnis und zeigt, dass die ihm zuerkannte Wirkung durch die Schrift wohl hauptsächlich davon herrührt, dass er in der Regel erst posthum wirkt, d. h. wenn er aus seinen Schriften nachentdeckt wird, wie es etwa Robert Mayer gegangen ist. Auch seinen Schriften scheint sehr oft die überzeugende, zündende, unmittelbar persönliche Wirkung abzugehen, denn die Schrift ist schliesslich ein ebenso persönlicher Ausdruck, wie die Konversation oder der Vortrag. Die durch die Schrift vermittelte Wirkung des Klassikers beruht also weniger auf den äussern anregenden Qualitäten seiner Schrift, als vielmehr auf den Umstand, dass die Schrift schliesslich das einzige ist, was von ihm übrig bleibt und woraus sich nachträglich rekonstruieren lässt, was die Leistung des Mannes war. Denn es scheint eine auch aus der Beschreibung Ostwalds hervorgehende Tatsache zu sein, dass der Klassiker selten mitteilt, was er tut, und wie er es tut, sondern was er erreicht hat, ohne Rücksicht darauf, dass sein Publikum keine Ahnung von seinem Wege besitzt. Es scheint, dass für den Klassiker der Weg, die Art und Weise seines Schaffens von geringerer Bedeutung sind, weil sie mit seiner Persönlichkeit, die er im Hintergrund hält, auf’s innigste verknüpft sind.

Ostwald vergleicht seine beiden Typen den 4 alten Temperamenten[301] und zwar hinsichtlich der ihm fundamental erscheinenden Eigentümlichkeit der langsamen und der geschwinden Reaktion. Die langsame Reaktion entspricht dem phlegmatischen und melancholischen Temperament, die geschwinde Reaktion dem sanguinischen und cholerischen. Er betrachtet den sanguinischen und den phlegmatischen Typus als die[S. 462] normalen Mitteltypen, während ihm der cholerische und der melancholische Typus als krankhafte Übertreibung der Grundcharaktere erscheinen. Es ist, wenn man die Biographien von Humphry Davy und Liebig einerseits und von Robert Mayer und Faraday andererseits überblickt, tatsächlich leicht, zu erkennen, dass erstere zugleich ausgesprochene „Romantiker“ und sanguinisch-cholerisch, letztere dagegen ebenso deutliche „Klassiker“ und phlegmatisch-melancholisch sind. Diese Überlegung Ostwalds erscheint mir als durchaus überzeugend, denn die 4 alten Temperamente sind sehr wahrscheinlich nach dem gleichen Erfahrungsprinzip konstruiert worden, nachdem Ostwald auch den klassischen und romantischen Typus aufgestellt hat. Die 4 Temperamente sind offenbare Unterscheidungen nach dem Gesichtspunkt der Affektivität, d. h. der in Erscheinung tretenden affektiven Reaktionen. Diese Klassifikation ist aber, vom psychologischen Standpunkt aus, oberflächlich; sie urteilt ausschliesslich nach der äussern Erscheinung. Nach dieser alten Einteilung gehört ein Mensch, der sich äusserlich ruhig und unauffällig benimmt, zum phlegmatischen Temperament. Er gilt als „phlegmatisch“ und wird damit eingereiht bei den Phlegmatikern. In Wirklichkeit aber kann es so sein, dass er alles ist, nur kein Phlegmatiker, sondern sogar eine empfindsame, ja leidenschaftliche Natur, bei der die Emotion ganz nach innen verläuft, und die stärkste innere Erregung sich durch die grösste äussere Ruhe ausdrückt. Dieser Tatsache trägt die Jordansche Typenauffassung Rechnung. Sie urteilt nicht nach dem oberflächlichen Eindruck, sondern nach einer tiefern Erfassung der menschlichen Natur. Ostwalds fundamentales Unterscheidungsmerkmal beruht, wie die alte Temperamenteinteilung, auf dem äussern Eindruck. Sein „romantischer“ Typus ist charakterisiert durch die Tatsache rascher Reaktion nach aussen.[S. 463] Der „klassische“ Typus reagiert vielleicht ebenso rasch, aber eben nach innen. Wenn man die Ostwaldschen Biographien, durchgeht, so sieht man ohne weiteres, dass der „romantische“ Typus dem extravertierten, und der „klassische“ Typus dem introvertierten entspricht. Humphry Davy und Liebig sind Schulbeispiele für den extravertierten Typus, wie Rob. Mayer und Faraday für den introvertierten Typus. Das Reagieren nach aussen ist für den Extravertierten charakteristisch, wie das Reagieren nach innen für den Introvertierten. Der Extravertierte hat keine besondern Schwierigkeiten in seiner persönlichen Äusserung, er bringt seine Gegenwart fast unwillkürlich zur Geltung, weil er seiner ganzen Natur nach dahin strebt, sich dem Objekt zu übertragen. Er gibt sich leicht an die Umwelt aus und zwar notwendigerweise in einer der Umgebung fasslichen und darum akzeptabeln Form. Die Form ist in der Regel gefällig, jedenfalls aber verständlich, auch wenn sie unangenehm ist. Denn es gehört zum raschen Reagieren und Entäussern, dass nicht nur Wertvolles, sondern auch Wertloses dem Objekt übertragen wird, neben Gewinnendem auch abstossende Gedanken und Affekte. Wegen der raschen Entäusserung und Übertragung sind die Inhalte wenig überarbeitet und darum leicht verständlich und schon aus der bloss zeitlichen Aneinanderreihung der unmittelbaren Äusserungen entsteht eine Stufenfolge von Bildern, welche dem Publikum deutlich den begangenen Weg und die Art und Weise, wie der Forscher zu seinem Resultat gelangt, dartun. Der Introvertierte dagegen, der zunächst bloss nach innen reagiert, entäussert sich in der Regel seiner Reaktionen nicht (Affektexplosionen ausgenommen!). Er verschweigt seine Reaktionen, die aber ebenso rasch sein können wie die des Extravertierten. Sie treten darum nicht in die Erscheinung, und daher macht der Introvertierte leicht den Eindruck der Langsamkeit. Weil unmittel[S. 464]bare Reaktionen immer stark persönlich sind, so kann der Extravertierte gar nicht anders als seine Persönlichkeit erscheinen zu lassen. Der Introvertierte dagegen versteckt seine Persönlichkeit, indem er seine unmittelbaren Reaktionen verschweigt. Er strebt nicht nach Einfühlung, nach Übertragung seiner Inhalte auf das Objekt, sondern nach Abstraktion vom Objekt. Er zieht es darum vor, statt seine Reaktionen unmittelbar zu entäussern, sie innerlich lange zu bearbeiten, um dann mit einem fertigen Resultat herauszutreten. Er strebt darnach sein Resultat vom Persönlichen möglichst zu befreien und als von jeder persönlichen Beziehung klar unterschieden darzustellen. Seine Inhalte treten daher an die Aussenwelt in möglichst abstrahierter und depersonalisierter Form als Resultate langer innerer Arbeit. Damit sind sie aber auch schwerverständlich geworden, weil dem Publikum jegliche Kenntnis der Vorstufen und der Art und Weise, wie der Forscher zu seinem Resultat gelangte, fehlt. Dem Publikum fehlt auch die persönliche Beziehung, weil der Introvertierte sich verschweigt und dadurch seine Persönlichkeit ihm verhüllt. Es sind aber gerade die persönlichen Beziehungen, welche sehr oft da ein Verständnis ermöglichen, wo das intellektuelle Begreifen versagt. Dieser Umstand muss immer sorgfältig berücksichtigt werden, wo es sich um die Beurteilung der Entwicklung eines Introvertierten handelt. Man ist über den Introvertierten in der Regel schlecht informiert, denn man kann ihn nicht sehen. Weil er nicht unmittelbar nach aussen reagieren kann, so tritt auch seine Persönlichkeit nicht hervor. Sein Leben lässt daher dem Publikum immer Spielraum zu phantastischen Deutungen und Projektionen, wenn er — z. B. vermöge seiner Leistungen — überhaupt je zum Gegenstand des allgemeinen Interesses wird.

Wenn daher Ostwald sagt, dass die geistige Frühreife für den Romantiker charakteristisch sei,[S. 465] so müssen wir hinzufügen, dass der Romantiker seine Frühreife eben zeigt, während der Klassiker vielleicht ebenso frühreif sein kann, seine Produkte aber in sich verschliesst, nicht aus Absicht, sondern aus Unvermögen, sich ihrer unmittelbar zu entäussern. Wegen der mangelhaften Gefühlsdifferenzierung haftet dem Introvertierten noch sehr lange eine gewisse Linkischkeit an, ein eigentlicher Infantilismus der persönlichen Beziehung, d. h. desjenigen Elementes, das der Engländer als „personality“ bezeichnet. Seine persönliche Äusserung ist dermassen unsicher und unbestimmt, und er selber in dieser Hinsicht dermassen empfindlich, dass er es nur mit einem ihm vollendet erscheinenden Produkt wagen kann, sich der Umgebung zu zeigen. Auch zieht er es vor, sein Produkt für ihn sprechen zu lassen, anstatt dass er persönlich für sein Produkt eintritt. Aus dieser Einstellung ergibt sich natürlich eine so grosse Verzögerung seines Erscheinens auf der Szene der Welt, dass man ihn leicht als spätreif bezeichnen kann. Ein solch oberflächliches Urteil aber übersieht völlig den Umstand, dass der Infantilismus des scheinbar Frühreifen und nach aussen Differenzierten einfach innen ist, in seiner Beziehung zu seinem Innern. Diese Tatsache offenbart sich erst später im Leben des Frühreifen, z. B. in Form einer moralischen Unreife, oder, was sehr häufig der Fall ist, in einem auffälligen Infantilismus des Denkens.

Der Romantiker hat in der Regel günstigere Möglichkeiten für seine Entwicklung und Entfaltung als der Klassiker, wie Ostwald richtig bemerkt. Er tritt eben sichtbar und überzeugend vor das Publikum, und lässt seine persönliche Bedeutung durch äussere Reaktionen unmittelbar erkennen. Es stellen sich dadurch für ihn rasch viele wertvolle Beziehungen her, welche seine Arbeit befruchten und deren Entwicklung nach der Breite [302] hin begünstigen. Umgekehrt bleibt der[S. 466] Klassiker verborgen; der Mangel an persönlichen Beziehungen beschränkt die Ausdehnung seines Arbeitsgebietes, dadurch aber gewinnt seine Tätigkeit an Tiefe und die Frucht seiner Arbeit an Dauerhaftigkeit. Die Begeisterung besitzen beide Typen, jedoch fliesst dem Extravertierten der Mund über, wessen ihm das Herz voll ist, während die Begeisterung dem Introvertierten den Mund schliesst. So entzündet er auch keine Begeisterung in seiner Umgebung, und daher fehlt ihm der Kreis ähnlich gearteter Mitarbeiter. Wenn er auch die Lust und den Drang zur Mitteilung hätte, so schreckt ihn doch der Lakonismus seines Ausdruckes und der dadurch bedingten verständnislosen Verwunderung seines Publikums von weitern Mitteilungen ab, denn sehr oft traut ihm auch niemand zu, dass er etwas irgendwie Außerordentliches mitzuteilen hätte. Sein Ausdruck, seine „personality“ erscheinen dem oberflächlichen Urteil als gewöhnlich, während der Romantiker nicht selten schon von Hause aus „interessant“ aussieht und die Kunst versteht, diesen Eindruck mit erlaubten oder auch unerlaubten Mitteln noch zu unterstreichen. Diese differenzierte Ausdrucksfähigkeit ist ein passender Hintergrund zu bedeutenden Gedanken und hilft dem mangelhaften Verständnis des Publikums entgegenkommend über die Lücken seines Denkens hinweg. Es ist darum durchaus für den Typus zutreffend, wenn Ostwald die erfolgreiche und glänzende Lehrtätigkeit des Romantikers hervorhebt. Der Romantiker fühlt sich in den Schüler ein und weiss darum im richtigen Augenblick das richtige Wort. Der Klassiker dagegen ist bei seinen Gedanken und Problemen und übersieht darum völlig die Schwierigkeiten des Verstehens bei seinem Schüler. Vom Klassiker Helmholtz bemerkt Ostwald[303]: Er ist „trotz seines riesigen Wissens, seiner umfassenden Erfahrung und seines schöpferischen Geistes nie ein[S. 467] guter Lehrer gewesen: er reagierte nicht augenblicklich, sondern erst nach einiger Zeit. Wenn ihm im Laboratorium ein Schüler eine Frage vorgelegt hatte, so versprach er, darüber nachzudenken und brachte auch nach einigen Tagen die Antwort. Diese befand sich aber um eine so weite Strecke von der Stellung des Schülers entfernt, dass dieser nur in den seltensten Fällen den Zusammenhang zwischen der Schwierigkeit, welche er empfunden hatte, und der abgerundeten Theorie eines allgemeinen Problems, die ihm der Lehrer vortrug, herauszubringen vermochte. So fehlte nicht nur die augenblickliche Hilfe, auf die es dem Anfänger am meisten ankommt, sondern auch die unmittelbar auf die Persönlichkeit des Schülers bemessene Führung, durch welche dieser von der anfänglichen natürlichen Unselbständigkeit in kleinen Stufen zu der vollkommenen Beherrschung des gewählten wissenschaftlichen Gebietes entwickelt wird. Alle diese Mängel rühren ganz unmittelbar daher, dass der Lehrer nicht sofort auf das eben aufgetretene Lernbedürfnis zu reagieren vermag, sondern für die erwartete und erwünschte Einwirkung solange Zeit braucht, dass die Wirkung selbst darüber verloren geht.“

Ostwald’s Erklärung durch die Langsamkeit der Reaktion des Introvertierten erscheint mir ungenügend. Es ist nicht nachzuweisen, dass Helmholtz eine geringe Reaktionsgeschwindigkeit besass. Er reagiert bloss nicht nach aussen, sondern nach innen. Er ist in den Schüler nicht eingefühlt, darum versteht er nicht, was der Schüler wünscht. Weil er ganz auf seine Gedanken eingestellt ist, so reagiert er nicht auf den persönlichen Wunsch des Schülers, sondern auf die Gedanken, welche die Frage des Schülers in ihm angeregt hat, und zwar so rasch und gründlich, dass er sofort einen weitern Zusammenhang ahnt, den er im Moment zu überblicken und in abstrakter und ausgearbeiteter Form wiederzugeben unfähig ist, aber nicht, weil er zu lang[S. 468]sam denkt, sondern weil es objektiv unmöglich ist, die ganze Ausdehnung des geahnten Problems in einem Augenblick in eine fertige Formel zu fassen. Er merkt natürlich nicht, dass der Schüler keine Ahnung von diesem Problem hat, sondern ist der Meinung, dass es sich um ein Problem handle und nicht um einen für ihn höchst einfachen und billigen Rat, den er ohne weiteres zu erteilen im Stande wäre, wenn er sich nur klar machen könnte, was der Schüler in diesem Moment braucht, um weiter zu kommen. Als Introvertierter ist er aber nicht in die Psychologie des Andern eingefühlt, sondern er ist nach innen, in seine eigenen theoretischen Probleme eingefühlt und spinnt den vom Schüler aufgenommenen Faden dem theoretischen Problem entlang weiter, wohl dem Problem angepasst, nicht aber dem augenblicklichen Bedürfnis des Schülers. Diese eigentümliche Einstellung des introvertierten Lehrers ist in Hinsicht der Lehrtätigkeit natürlich sehr unzweckmässig und auch ungünstig hinsichtlich des persönlichen Eindruckes, den der Introvertierte macht. Er erweckt den Eindruck der Langsamkeit, Sonderbarkeit, ja sogar der Beschränktheit, daher er nicht nur von einem weitern Publikum, sondern auch von seinen engern Fachgenossen sehr oft unterschätzt wird, solange bis seine Gedankenarbeit von spätern Forschern nachgedacht, überarbeitet und übersetzt ist. Der Mathematiker Gauss hatte eine solche Lehrunlust, dass er jedem einzelnen Studenten, der sich bei ihm meldete, die Mitteilung machte, sein Kolleg würde wahrscheinlich nicht zu Stande kommen, um auf diese Weise, der Notwendigkeit, lesen zu müssen, sich zu entledigen. Das Peinliche an der Lehrtätigkeit lag für ihn, wie Ostwald treffend bemerkt, in der „Notwendigkeit, in der Vorlesung wissenschaftliche Resultate aussprechen zu müssen, ohne vorher auf das Eingehendste den Wortlaut festgestellt und ausgefeilt zu haben. Ohne diese Bearbeitung seine Ergebnisse andern mitzuteilen, mag[S. 469] ihm ein Gefühl erregt haben, als sollte er sich Fremden im Nachtgewande zeigen.“[304] Mit dieser Bemerkung berührt Ostwald einen sehr wesentlichen Punkt, nämlich die oben schon erwähnte Abneigung des Introvertierten, andere als ganz unpersönliche Mitteilungen an die Umgebung gelangen zu lassen.

Ostwald hebt hervor, dass der Romantiker in der Regel seine Laufbahn schon relativ frühe abschliessen muss wegen überhandnehmender Erschöpfung. Ostwald ist geneigt, diese Tatsache ebenfalls durch die grössere Reaktionsgeschwindigkeit zu erklären. Da ich der Ansicht bin, dass der Begriff der mentalen Reaktionsgeschwindigkeit wissenschaftlich bei weitem noch nicht geklärt ist, und es bis jetzt keineswegs nachgewiesen ist, auch kaum nachzuweisen sein wird, dass die Reaktion nach aussen rascher erfolgt, als die nach innen, so scheint mir die frühere Erschöpfung des extravertierten Entdeckers wesentlich auf der ihm eigentümlichen Reaktion nach aussen zu beruhen. Er fängt schon sehr frühe an zu publizieren, wird rasch bekannt, entfaltet bald eine intensive publizistische und akademische Tätigkeit, pflegt persönliche Beziehungen zu einem ausgedehnten Freundes- und Bekanntenkreis und nimmt überdies ungewöhnlichen Anteil an der Entwicklung seiner Schüler. Der introvertierte Forscher fängt später an zu publizieren, seine Arbeiten folgen einander in grössern Zwischenräumen, sind meistens spärlicher im Ausdruck, Wiederholungen eines Themas sind vermieden, insofern nicht etwas grundlegend Neues dazu vorgebracht werden kann; infolge des prägnanten Lakonismus der wissenschaftlichen Mitteilung, die häufig alle Angaben über den zurückgelegten Weg oder über die bearbeiteten Materialien vermissen lässt, werden seine Arbeiten nicht verstanden und nicht beachtet und so bleibt der Forscher unbekannt. Seine Lehrunlust sucht keine Schüler, seine mangelnde Be[S. 470]kanntheit schliesst Beziehungen zu einem grössern Bekanntenkreis aus, und daher lebt er in der Regel nicht nur aus Not, sondern auch aus Wahl zurückgezogen, der Gefahr entrückt, sich zu viel auszugeben. Seine Reaktion nach innen führt ihn immer wieder zu den engbegrenzten Wegen seiner Forschertätigkeit, die an sich zwar sehr anstrengend und auf die Dauer ebenfalls erschöpfend wirkt, aber keine Nebenausgaben auf Bekannte und Schüler zulässt. Allerdings fällt erschwerend in Betracht, dass der offenkundige Erfolg des Romantikers auch eine lebenfördernde Erfrischung ist, die dem Klassiker sehr oft versagt bleibt, sodass er seine einzige Befriedigung in der Vollendung seiner Forscherarbeit zu suchen gezwungen ist. Es scheint mir daher, dass die relativ frühzeitige Erschöpfung des romantischen Genies auf der Reaktion nach aussen beruht, und nicht auf der grössern Reaktionsgeschwindigkeit.

Ostwald denkt sich seine Typeneinteilung nicht als absolut in dem Sinne, dass nun jeder Forscher ohne weiteres als dem einen oder andern Typus zugehörig dargestellt werden könnte. Er ist aber der Ansicht, „dass gerade die ganz Grossen“ sich sehr oft auf das bestimmteste in die eine oder andere Endgruppe einreihen lassen, während die „mittlern Leute“ viel häufiger auch die Mittelglieder bezüglich der Reaktionsgeschwindigkeit darstellen.[305]

Zusammenfassend möchte ich bemerken, dass die Ostwaldschen Biographien ein für die Psychologie der Typen zum Teil sehr wertvolles Material enthalten und die Übereinstimmung des romantischen mit dem extravertierten einerseits, und die des klassischen mit dem introvertierten Typus schlagend dartun.

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