Die Begriffe des Guten und Bösen bestimmen dem Willen zuerst ein 25 Object. Sie stehen selbst aber unter einer praktischen Regel der Vernunft, welche, wenn sie reine Vernunft ist, den Willen a priori in Ansehung seines Gegenstandes bestimmt. Ob nun eine uns in der Sinnlichkeit mögliche Handlung der Fall sei, der unter der Regel stehe, oder nicht, dazu gehört praktische Urtheilskraft, wodurch dasjenige, was in der Regel allgemein 30 (in abstracto) gesagt wurde, auf eine Handlung in concreto angewandt wird. Weil aber eine praktische Regel der reinen Vernunft erstlich, als praktisch, die Existenz eines Objects betrifft und zweitens, als praktische Regel der reinen Vernunft, Nothwendigkeit in Ansehung des Daseins der Handlung bei sich führt, mithin praktisches Gesetz ist und zwar 35 nicht Naturgesetz durch empirische Bestimmungsgründe, sondern ein Gesetz der Freiheit, nach welchem der Wille unabhängig von allem Empirischen (blos durch die Vorstellung eines Gesetzes überhaupt und dessen Form) bestimmbar120 sein soll, alle vorkommende Fälle zu möglichen Handlungen aber nur empirisch, d. i. zur Erfahrung und Natur gehörig, sein können: so 5 scheint es widersinnisch, in der Sinnenwelt einen Fall antreffen zu wollen, der, da er immer so fern nur unter dem Naturgesetze steht, doch die Anwendung eines Gesetzes der Freiheit auf sich verstatte, und auf welchen die übersinnliche Idee des sittlich Guten, das darin in concreto dargestellt werden soll, angewandt werden könne. Also ist die Urtheilskraft der reinen 10 praktischen Vernunft eben denselben Schwierigkeiten unterworfen, als die der reinen theoretischen, welche letztere gleichwohl, aus denselben zu kommen, ein Mittel zur Hand hatte: nämlich da es in Ansehung des theoretischen Gebrauchs auf Anschauungen ankam, darauf reine Verstandesbegriffe angewandt werden könnten, dergleichen Anschauungen (obzwar nur von 15 Gegenständen der Sinne) doch a priori, mithin, was die Verknüpfung des Mannigfaltigen in denselben betrifft, den reinen Verstandesbegriffen a priori gemäß (als Schemate) gegeben werden können. Hingegen ist das sittlich Gute etwas dem Objecte nach Übersinnliches, für das also in keiner sinnlichen Anschauung etwas Correspondirendes gefunden werden kann, 20 und die Urtheilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft scheint daher besonderen Schwierigkeiten unterworfen zu sein, die darauf beruhen, daß ein Gesetz der Freiheit auf Handlungen als Begebenheiten, die in der121 Sinnenwelt geschehen und also so fern zur Natur gehören, angewandt werden soll. 25
Allein hier eröffnet sich doch wieder eine günstige Aussicht für die reine praktische Urtheilskraft. Es ist bei der Subsumtion einer mir in der Sinnenwelt möglichen Handlung unter einem reinen praktischen Gesetze nicht um die Möglichkeit der Handlung als einer Begebenheit in der Sinnenwelt zu thun; denn die gehört für die Beurtheilung des theoretischen 30 Gebrauchs der Vernunft nach dem Gesetze der Causalität, eines reinen Verstandesbegriffs, für den sie ein Schema in der sinnlichen Anschauung hat. Die physische Causalität, oder die Bedingung, unter der sie stattfindet, gehört unter die Naturbegriffe, deren Schema transscendentale Einbildungskraft entwirft. Hier aber ist es nicht um das Schema 35 eines Falles nach Gesetzen, sondern um das Schema (wenn dieses Wort hier schicklich ist) eines Gesetzes selbst zu thun, weil die Willensbestimmung (nicht die Handlung in Beziehung auf ihren Erfolg) durchs Gesetz allein, ohne einen anderen Bestimmungsgrund, den Begriff der Causalität an ganz andere Bedingungen bindet, als diejenige sind, welche die Naturverknüpfung ausmachen.
Dem Naturgesetze als Gesetze, welchem die Gegenstände sinnlicher 5 Anschauung als solche unterworfen sind, muß ein Schema, d. i. ein allgemeines122 Verfahren der Einbildungskraft (den reinen Verstandesbegriff, den das Gesetz bestimmt, den Sinnen a priori darzustellen), correspondiren. Aber dem Gesetze der Freiheit (als einer gar nicht sinnlich bedingten Causalität) mithin auch dem Begriffe des unbedingt Guten kann keine Anschauung, 10 mithin kein Schema zum Behuf seiner Anwendung in concreto untergelegt werden. Folglich hat das Sittengesetz kein anderes die Anwendung desselben auf Gegenstände der Natur vermittelndes Erkenntnißvermögen, als den Verstand (nicht die Einbildungskraft), welcher einer Idee der Vernunft nicht ein Schema der Sinnlichkeit, sondern ein Gesetz, 15 aber doch ein solches, das an Gegenständen der Sinne in concreto dargestellt werden kann, mithin ein Naturgesetz, aber nur seiner Form nach, als Gesetz zum Behuf der Urtheilskraft unterlegen kann, und dieses können wir daher den Typus des Sittengesetzes nennen.
Die Regel der Urtheilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft 20 ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Theil wärest, geschehen sollte, sie du wohl als durch deinen Willen möglich ansehen könntest. Nach dieser Regel beurtheilt in der That jedermann Handlungen, ob sie sittlich gut oder böse sind. So sagt man: Wie, wenn ein jeder, wo er 25123 seinen Vortheil zu schaffen glaubt, sich erlaubte, zu betrügen, oder befugt hielte, sich das Leben abzukürzen, so bald ihn ein völliger Überdruß desselben befällt, oder anderer Noth mit völliger Gleichgültigkeit ansähe, und du gehörtest mit zu einer solchen Ordnung der Dinge, würdest du darin wohl mit Einstimmung deines Willens sein? Nun weiß ein jeder wohl: 30 daß, wenn er sich ingeheim Betrug erlaubt, darum eben nicht jedermann es auch thue, oder, wenn er unbemerkt lieblos ist, nicht sofort jedermann auch gegen ihn es sein würde; daher ist diese Vergleichung der Maxime seiner Handlungen mit einem allgemeinen Naturgesetze auch nicht der Bestimmungsgrund seines Willens. Aber das letztere ist doch ein 35 Typus der Beurtheilung der ersteren nach sittlichen Principien. Wenn die Maxime der Handlung nicht so beschaffen ist, daß sie an der Form eines Naturgesetzes überhaupt die Probe hält, so ist sie sittlich unmöglich. So urtheilt selbst der gemeinste Verstand; denn das Naturgesetz liegt allen seinen gewöhnlichsten, selbst den Erfahrungsurtheilen immer zum Grunde. Er hat es also jederzeit bei der Hand, nur daß er in Fällen, wo die Causalität aus Freiheit beurtheilt werden soll, jenes Naturgesetz blos zum 5 Typus eines Gesetzes der Freiheit macht, weil er, ohne etwas, was er zum Beispiele im Erfahrungsfalle machen könnte, bei Hand zu haben, dem Gesetze einer reinen praktischen Vernunft nicht den Gebrauch in der Anwendung verschaffen könnte.
Es ist also auch erlaubt, die Natur der Sinnenwelt als Typus 10124 einer intelligibelen Natur zu brauchen, so lange ich nur nicht die Anschauungen, und was davon abhängig ist, auf diese übertrage, sondern blos die Form der Gesetzmäßigkeit überhaupt (deren Begriff auch im gemeinsten Vernunftgebrauche stattfindet, aber in keiner anderen Absicht, als blos zum reinen praktischen Gebrauche der Vernunft a priori bestimmt 15 erkannt werden kann) darauf beziehe. Denn Gesetze als solche sind so fern einerlei, sie mögen ihre Bestimmungsgründe hernehmen, woher sie wollen.
Übrigens, da von allem Intelligibelen schlechterdings nichts als (vermittelst des moralischen Gesetzes) die Freiheit und auch diese nur, so fern 20 sie eine von jenem unzertrennliche Voraussetzung ist, und ferner alle intelligibele Gegenstände, auf welche uns die Vernunft nach Anleitung jenes Gesetzes etwa noch führen möchte, wiederum für uns keine Realität weiter haben, als zum Behuf desselben Gesetzes und des Gebrauches der reinen praktischen Vernunft, diese aber zum Typus der Urtheilskraft die Natur 25 (der reinen Verstandesform derselben nach) zu gebrauchen berechtigt und auch benöthigt ist: so dient die gegenwärtige Anmerkung dazu, um zu verhüten, daß, was blos zur Typik der Begriffe gehört, nicht zu den Begriffen selbst gezählt werde. Diese also als Typik der Urtheilskraft bewahrt vor dem Empirism der praktischen Vernunft, der die praktischen Begriffe 30125 des Guten und Bösen blos in Erfahrungsfolgen (der sogenannten Glückseligkeit) setzt, obzwar diese und die unendlichen nützlichen Folgen eines durch Selbstliebe bestimmten Willens, wenn dieser sich selbst zugleich zum allgemeinen Naturgesetze machte, allerdings zum ganz angemessenen Typus für das sittlich Gute dienen kann, aber mit diesem doch nicht einerlei ist. 35 Eben dieselbe Typik bewahrt auch vor dem Mysticism der praktischen Vernunft, welcher das, was nur zum Symbol diente, zum Schema macht, d. i. wirkliche und doch nicht sinnliche Anschauungen (eines unsichtbaren Reichs Gottes) der Anwendung der moralischen Begriffe unterlegt und ins Überschwengliche hinausschweift. Dem Gebrauche der moralischen Begriffe ist blos der Rationalism der Urtheilskraft angemessen, der von der sinnlichen Natur nichts weiter nimmt, als was auch reine Vernunft für 5 sich denken kann, d. i. die Gesetzmäßigkeit, und in die übersinnliche nichts hineinträgt, als was umgekehrt sich durch Handlungen in der Sinnenwelt nach der formalen Regel eines Naturgesetzes überhaupt wirklich darstellen läßt. Indessen ist die Verwahrung vor dem Empirism der praktischen Vernunft viel wichtiger und anrathungswürdiger, weil der Mysticism 10 sich doch noch mit der Reinigkeit und Erhabenheit des moralischen Gesetzes zusammen verträgt und außerdem es nicht eben natürlich und der gemeinen Denkungsart angemessen ist, seine Einbildungskraft bis zu übersinnlichen126 Anschauungen anzuspannen, mithin auf dieser Seite die Gefahr nicht so allgemein ist; da hingegen der Empirism die Sittlichkeit in Gesinnungen 15 (worin doch, und nicht blos in Handlungen, der hohe Werth besteht, den sich die Menschheit durch sie verschaffen kann und soll) mit der Wurzel ausrottet und ihr ganz etwas anderes, nämlich ein empirisches Interesse, womit die Neigungen überhaupt unter sich Verkehr treiben, statt der Pflicht unterschiebt, überdem auch eben darum mit allen Neigungen, die (sie mögen 20 einen Zuschnitt bekommen, welchen sie wollen), wenn sie zur Würde eines obersten praktischen Princips erhoben werden, die Menschheit degradiren, und da sie gleichwohl der Sinnesart aller so günstig sind, aus der Ursache weit gefährlicher ist als alle Schwärmerei, die niemals einen daurenden Zustand vieler Menschen ausmachen kann. 25