IX. Von der Verknüpfung der Gesetzgebungen des Verstandes und der Vernunft durch die Urtheilskraft.

Der Verstand ist a priori gesetzgebend für die Natur, als Object der Sinne, zu einem theoretischen Erkenntniß derselben in einer möglichen 5 Erfahrung. Die Vernunft ist a priori gesetzgebend für die Freiheit und ihre eigene Causalität, als das Übersinnliche in dem Subjecte, zu einem unbedingt-praktischen Erkenntniß. Das Gebiet des Naturbegriffs unter der einen und das des Freiheitsbegriffs unter der anderen Gesetzgebung sind gegen allen wechselseitigen Einfluß, den sie für sich (ein jedes nach 10 seinen Grundgesetzen) auf einander haben könnten, durch die große Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt, gänzlich abgesondert. Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in Ansehung der theoretischen Erkenntniß der Natur; der Naturbegriff eben sowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Freiheit: und es ist in sofern nicht möglich, 15 LIV eine Brücke von einem Gebiete zu dem andern hinüberzuschlagen. — Allein wenn die Bestimmungsgründe der Causalität nach dem Freiheitsbegriffe (und der praktischen Regel, die er enthält) gleich nicht in der Natur belegen sind, und das Sinnliche das Übersinnliche im Subjecte nicht bestimmen kann: so ist dieses doch umgekehrt (zwar nicht in Ansehung des 20 Erkenntnisses der Natur, aber doch der Folgen aus dem ersteren auf die letztere) möglich und schon in dem Begriffe einer Causalität durch Freiheit enthalten, deren Wirkung diesen ihren formalen Gesetzen gemäß in der Welt geschehen soll, obzwar das Wort Ursache, von dem Übersinnlichen gebraucht, nur den Grund bedeutet, die Causalität der Naturdinge 25 zu einer Wirkung gemäß ihren eigenen Naturgesetzen, zugleich aber doch auch mit dem formalen Princip der Vernunftgesetze einhellig zu bestimmen, wovon die Möglichkeit zwar nicht eingesehen, aber der Einwurf von einem vorgeblichen Widerspruch, der sich darin fände, hinreichend widerlegt werden kann[2]. — Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe ist der 30 LV Endzweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existiren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des Subjects als Sinnenwesens, nämlich als Mensch) vorausgesetzt wird. Das, was diese a priori und ohne Rücksicht auf das Praktische voraussetzt, die Urtheilskraft, giebt den vermittelnden Begriff zwischen den Naturbegriffen 5 und dem Freiheitsbegriffe, der den Übergang von der reinen theoretischen zur reinen praktischen, von der Gesetzmäßigkeit nach der ersten zum Endzwecke nach dem letzten möglich macht, in dem Begriffe einer Zweckmäßigkeit der Natur an die Hand; denn dadurch wird die Möglichkeit des Endzwecks, der allein in der Natur und mit Einstimmung ihrer Gesetze 10 wirklich werden kann, erkannt.

Der Verstand giebt durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur einen Beweis davon, daß diese von uns nur als Erscheinung LVI erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben, aber läßt dieses gänzlich unbestimmt. Die Urtheilskraft verschafft 15 durch ihr Princip a priori der Beurtheilung der Natur nach möglichen besonderen Gesetzen derselben ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellectuelle Vermögen. Die Vernunft aber giebt eben demselben durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung; und so macht die Urtheilskraft 20 den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich.

In Ansehung der Seelenvermögen überhaupt, sofern sie als obere, d. i. als solche, die eine Autonomie enthalten, betrachtet werden, ist für das Erkenntnißvermögen (das theoretische der Natur) der Verstand 25 dasjenige, welches die constitutiven Principien a priori enthält; für das Gefühl der Lust und Unlust ist es die Urtheilskraft unabhängig von Begriffen und Empfindungen, die sich auf Bestimmung des Begehrungsvermögens beziehen und dadurch unmittelbar praktisch sein könnten; für das Begehrungsvermögen die Vernunft, welche ohne Vermittelung irgend einer Lust, woher sie auch komme, praktisch ist und demselben als oberes Vermögen den Endzweck bestimmt, der zugleich das reine intellectuelle Wohlgefallen am Objecte mit sich führt. — Der Begriff der 5 Urtheilskraft von einer Zweckmäßigkeit der Natur ist noch zu den Naturbegriffen LVII gehörig, aber nur als regulatives Princip des Erkenntnißvermögens, obzwar das ästhetische Urtheil über gewisse Gegenstände (der Natur oder der Kunst), welches ihn veranlaßt, in Ansehung des Gefühls der Lust oder Unlust ein constitutives Princip ist. Die Spontaneität im 10 Spiele der Erkenntnißvermögen, deren Zusammenstimmung den Grund dieser Lust enthält, macht den gedachten Begriff zur Vermittelung der Verknüpfung der Gebiete des Naturbegriffs mit dem Freiheitsbegriffe in ihren Folgen tauglich, indem diese zugleich die Empfänglichkeit des Gemüths für das moralische Gefühl befördert. — Folgende Tafel kann die 15 Übersicht aller oberen Vermögen ihrer systematischen Einheit nach erleichtern[3].

Gesammte Vermögen des Gemüths Erkenntnißvermögen Principien a priori Anwendung aufLVIII
Erkenntnißvermögen Verstand Gesetzmäßigkeit Natur
Gefühl der Lust und Unlust Urtheilskraft Zweckmäßigkeit Kunst
Begehrungsvermögen Vernunft Endzweck Freiheit.

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