§ 60. 261 Anhang. Von der Methodenlehre des Geschmacks.

Die Eintheilung einer Kritik in Elementarlehre und Methodenlehre, welche vor der Wissenschaft vorhergeht, läßt sich auf die Geschmackskritik 35 nicht anwenden: weil es keine Wissenschaft des Schönen giebt noch geben kann, und das Urtheil des Geschmacks nicht durch Principien bestimmbar ist. Denn was das Wissenschaftliche in jeder Kunst anlangt, welches auf Wahrheit in der Darstellung ihres Objects geht, so ist dieses zwar die unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) der schönen Kunst, 5 aber diese nicht selber. Es giebt also für die schöne Kunst nur eine Manier (modus), nicht Lehrart (methodus). Der Meister muß es vormachen, was und wie es der Schüler zu Stande bringen soll; und die allgemeinen Regeln, worunter er zuletzt sein Verfahren bringt, können eher dienen, die Hauptmomente desselben gelegentlich in Erinnerung zu 10 bringen, als sie ihm vorzuschreiben. Hiebei muß dennoch auf ein gewisses Ideal Rücksicht genommen werden, welches die Kunst vor Augen haben muß, ob sie es gleich in ihrer Ausübung nie völlig erreicht. Nur durch die Aufweckung der Einbildungskraft des Schülers zur Angemessenheit mit einem gegebenen Begriffe, durch die angemerkte Unzulänglichkeit des 15 262 Ausdrucks für die Idee, welche der Begriff selbst nicht erreicht, weil sie ästhetisch ist, und durch scharfe Kritik kann verhütet werden, daß die Beispiele, die ihm vorgelegt werden, von ihm nicht sofort für Urbilder und etwa keiner noch höhern Norm und eigener Beurtheilung unterworfene Muster der Nachahmung gehalten und so das Genie, mit ihm aber auch 20 die Freiheit der Einbildungskraft selbst in ihrer Gesetzmäßigkeit erstickt werde, ohne welche keine schöne Kunst, selbst nicht einmal ein richtiger sie beurtheilender eigener Geschmack möglich ist.

Die Propädeutik zu aller schönen Kunst, sofern es auf den höchsten Grad ihrer Vollkommenheit angelegt ist, scheint nicht in Vorschriften, sondern 25 in der Cultur der Gemüthskräfte durch diejenigen Vorkenntnisse zu liegen, welche man humaniora nennt: vermuthlich weil Humanität einerseits das allgemeine Theilnehmungsgefühl, andererseits das Vermögen sich innigst und allgemein mittheilen zu können bedeutet; welche Eigenschaften, zusammen verbunden, die der Menschheit angemessene 30 Geselligkeit ausmachen, wodurch sie sich von der thierischen Eingeschränktheit unterscheidet. Das Zeitalter sowohl als die Völker, in welchen der rege Trieb zur gesetzlichen Geselligkeit, wodurch ein Volk ein dauerndes gemeines Wesen ausmacht, mit den großen Schwierigkeiten rang, welche die schwere Aufgabe, Freiheit (und also auch Gleichheit) mit 35 263 einem Zwange (mehr der Achtung und Unterwerfung aus Pflicht als Furcht) zu vereinigen, umgeben; ein solches Zeitalter und ein solches Volk mußte die Kunst der wechselseitigen Mittheilung der Ideen des ausgebildetesten Theils mit dem roheren, die Abstimmung der Erweiterung und Verfeinerung der ersteren zur natürlichen Einfalt und Originalität des letzteren und auf diese Art dasjenige Mittel zwischen der höheren Cultur und der genügsamen Natur zuerst erfinden, welches den richtigen, nach keinen allgemeinen 5 Regeln anzugebenden Maßstab auch für den Geschmack, als allgemeinen Menschensinn, ausmacht.

Schwerlich wird ein späteres Zeitalter jene Muster entbehrlich machen: weil es der Natur immer weniger nahe sein wird und sich zuletzt, ohne bleibende Beispiele von ihr zu haben, kaum einen Begriff von der glücklichen 10 Vereinigung des gesetzlichen Zwanges der höchsten Cultur mit der Kraft und Richtigkeit der ihren eigenen Werth fühlenden freien Natur in einem und demselben Volke zu machen im Stande sein möchte.

Da aber der Geschmack im Grunde ein Beurtheilungsvermögen der Versinnlichung sittlicher Ideen (vermittelst einer gewissen Analogie der 15 Reflexion über beide) ist, wovon auch und von der darauf zu gründenden größeren Empfänglichkeit für das Gefühl aus den letzteren (welches das moralische heißt) diejenige Lust sich ableitet, welche der Geschmack als für die Menschheit überhaupt, nicht bloß für eines Jeden Privatgefühl gültig 264 erklärt: so leuchtet ein, daß die wahre Propädeutik zur Gründung des 20 Geschmacks die Entwickelung sittlicher Ideen und die Cultur des moralischen Gefühls sei; da, nur wenn mit diesem die Sinnlichkeit in Einstimmung gebracht wird, der ächte Geschmack eine bestimmte, unveränderliche Form annehmen kann.

Der 265
Kritik der Urtheilskraft

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