§ 91. Von der Art des Fürwahrhaltens durch einen praktischen Glauben.

Wenn wir bloß auf die Art sehen, wie etwas für uns (nach der subjectiven Beschaffenheit unserer Vorstellungskräfte) Object der Erkenntniß 5 (res cognoscibilis) sein kann: so werden alsdann die Begriffe nicht mit den Objecten, sondern bloß mit unsern Erkenntnißvermögen und dem Gebrauche, den diese von der gegebenen Vorstellung (in theoretischer oder praktischer Absicht) machen können, zusammengehalten; und die Frage, ob etwas ein erkennbares Wesen sei oder nicht, ist keine Frage, die die 10 Möglichkeit der Dinge selbst, sondern unserer Erkenntniß derselben angeht.

Erkennbare Dinge sind nun von dreifacher Art: Sachen der Meinung (opinabile), Thatsachen (scibile) und Glaubenssachen (mere credibile).

1) Gegenstände der bloßen Vernunftideen, die für das theoretische 15 Erkenntniß gar nicht in irgend einer möglichen Erfahrung dargestellt werden können, sind sofern auch gar nicht erkennbare Dinge, mithin kann man in Ansehung ihrer nicht einmal meinen; wie denn a priori zu 455 meinen schon an sich ungereimt und der gerade Weg zu lauter Hirngespinsten ist. Entweder unser Satz a priori ist also gewiß, oder er enthält 20 gar nichts zum Fürwahrhalten. Also sind Meinungssachen jederzeit Objecte einer wenigstens an sich möglichen Erfahrungserkenntniß (Gegenstände der Sinnenwelt), die aber nach dem bloßen Grade dieses Vermögens, den wir besitzen, für uns unmöglich ist. So ist der Äther der neuern Physiker, eine elastische, alle andere Materien durchdringende (mit 25 ihnen innigst vermischte) Flüssigkeit, eine bloße Meinungssache, immer doch noch von der Art, daß, wenn die äußern Sinne im höchsten Grade geschärft wären, er wahrgenommen werden könnte; der aber nie in irgend einer Beobachtung, oder Experimente dargestellt werden kann. Vernünftige Bewohner anderer Planeten anzunehmen, ist eine Sache der Meinung; denn 30 wenn wir diesen näher kommen könnten, welches an sich möglich ist, würden wir, ob sie sind, oder nicht sind, durch Erfahrung ausmachen; aber wir werden ihnen niemals so nahe kommen, und so bleibt es beim Meinen. Allein Meinen: daß es reine, ohne Körper denkende Geister im materiellen Univers gebe (wenn man nämlich gewisse dafür ausgegebene wirkliche Erscheinungen, 35 wie billig, von der Hand weiset), heißt dichten und ist gar keine Sache der Meinung, sondern eine bloße Idee, welche übrig bleibt, wenn man von einem denkenden Wesen alles Materielle wegnimmt und ihm doch das Denken übrig läßt. Ob aber alsdann das Letztere (welches 456 wir nur am Menschen, d. i. in Verbindung mit einem Körper, kennen) übrig bleibe, können wir nicht ausmachen. Ein solches Ding ist ein vernünfteltes 5 Wesen (ens rationis ratiocinantis), kein Vernunftwesen (ens rationis ratiocinatae); von welchem letzteren es doch möglich ist, die objective Realität seines Begriffs wenigstens für den praktischen Gebrauch der Vernunft hinreichend darzuthun, weil dieser, der seine eigenthümlichen und apodiktisch gewissen Principien a priori hat, ihn sogar erheischt 10 (postulirt).

2) Gegenstände für Begriffe, deren objective Realität (es sei durch reine Vernunft, oder durch Erfahrung und im ersteren Falle aus theoretischen oder praktischen Datis derselben, in allen Fällen aber vermittelst einer ihnen correspondirenden Anschauung) bewiesen werden kann, sind 15 (res facti) Thatsachen [38]. Dergleichen sind die mathematischen Eigenschaften der Größen (in der Geometrie), weil sie einer Darstellung a priori für den theoretischen Vernunftgebrauch fähig sind. Ferner sind 457 Dinge, oder Beschaffenheiten derselben, die durch Erfahrung (eigene oder fremde Erfahrung vermittelst der Zeugnisse) dargethan werden können, 20 gleichfalls Thatsachen. — Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunftidee (die an sich keiner Darstellung in der Anschauung, mithin auch keines theoretischen Beweises ihrer Möglichkeit fähig ist) unter den Thatsachen; und das ist die Idee der Freiheit, deren Realität als einer besondern Art von Causalität (von welcher der Begriff in theoretischem 25 Betracht überschwenglich sein würde) sich durch praktische Gesetze der reinen Vernunft und diesen gemäß in wirklichen Handlungen, mithin in der Erfahrung darthun läßt. — Die einzige unter allen Ideen der reinen Vernunft, deren Gegenstand Thatsache ist und unter die scibilia mit gerechnet werden muß. 30

3) Gegenstände, die in Beziehung auf den pflichtmäßigen Gebrauch der reinen praktischen Vernunft (es sei als Folgen, oder als Gründe) a priori gedacht werden müssen, aber für den theoretischen Gebrauch derselben überschwenglich sind, sind bloße Glaubenssachen. Dergleichen ist das höchste durch Freiheit zu bewirkende Gut in der Welt, dessen Begriff 5 in keiner für uns möglichen Erfahrung, mithin für den theoretischen Vernunftgebrauch hinreichend seiner objectiven Realität nach bewiesen werden kann, dessen Gebrauch aber zur bestmöglichen Bewirkung jenes Zwecks doch durch praktische reine Vernunft geboten ist und mithin als 458 möglich angenommen werden muß. Diese gebotene Wirkung zusammt 10 den einzigen für uns denkbaren Bedingungen ihrer Möglichkeit, nämlich dem Dasein Gottes und der Seelen-Unsterblichkeit, sind Glaubenssachen (res fidei) und zwar die einzigen unter allen Gegenständen, die so genannt werden können[39]. Denn ob von uns gleich, was wir nur von der Erfahrung anderer durch Zeugniß lernen können, geglaubt 15 werden muß, so ist es darum doch noch nicht an sich Glaubenssache; denn bei jener Zeugen Einem war es doch eigene Erfahrung und Thatsache, oder wird als solche vorausgesetzt. Zudem muß es möglich sein, durch diesen Weg (des historischen Glaubens) zum Wissen zu gelangen; und die Objecte der Geschichte und Geographie, wie alles überhaupt, was 20 zu wissen nach der Beschaffenheit unserer Erkenntnißvermögen wenigstens möglich ist, gehören nicht zu Glaubenssachen, sondern zu Thatsachen. Nur Gegenstände der reinen Vernunft können allenfalls Glaubenssachen 459 sein, aber nicht als Gegenstände der bloßen reinen speculativen Vernunft; denn da können sie gar nicht einmal mit Sicherheit zu den Sachen, d. i. 25 Objecten jenes für uns möglichen Erkenntnisses, gezählt werden. Es sind Ideen, d. i. Begriffe, denen man die objective Realität theoretisch nicht sichern kann. Dagegen ist der von uns zu bewirkende höchste Endzweck, das, wodurch wir allein würdig werden können selbst Endzweck einer Schöpfung zu sein, eine Idee, die für uns in praktischer Beziehung objective 30 Realität hat, und Sache; aber darum, weil wir diesem Begriffe in theoretischer Absicht dieser Realität nicht verschaffen können, bloße Glaubenssache der reinen Vernunft, mit ihm aber zugleich Gott und Unsterblichkeit, als die Bedingungen, unter denen allein wir nach der Beschaffenheit unserer (der menschlichen) Vernunft uns die Möglichkeit jenes Effects des gesetzmäßigen Gebrauchs unserer Freiheit denken können. Das Fürwahrhalten 5 aber in Glaubenssachen ist ein Fürwahrhalten in reiner praktischer Absicht, d. i. ein moralischer Glaube, der nichts für das theoretische, sondern bloß für das praktische, auf Befolgung seiner Pflichten gerichtete, reine Vernunfterkenntniß beweiset und die Speculation, oder die praktischen Klugheitsregeln nach dem Princip der Selbstliebe gar nicht erweitert. 10 Wenn das oberste Princip aller Sittengesetze ein Postulat ist, so wird zugleich die Möglichkeit ihres höchsten Objects, mithin auch die Bedingung, 460 unter der wir diese Möglichkeit denken können, dadurch zugleich mit postulirt. Dadurch wird nun das Erkenntniß der letzteren weder Wissen noch Meinung von dem Dasein und der Beschaffenheit dieser Bedingungen, 15 als theoretische Erkenntnißart, sondern bloß Annahme in praktischer und dazu gebotener Beziehung für den moralischen Gebrauch unserer Vernunft.

Würden wir auch auf die Zwecke der Natur, die uns die physische Teleologie in so reichem Maße vorlegt, einen bestimmten Begriff von 20 einer verständigen Weltursache scheinbar gründen können, so wäre das Dasein dieses Wesens doch nicht Glaubenssache. Denn da dieses nicht zum Behuf der Erfüllung meiner Pflicht, sondern nur zur Erklärung der Natur angenommen wird, so würde es bloß die unserer Vernunft angemessenste Meinung und Hypothese sein. Nun führt jene Teleologie keinesweges 25 auf einen bestimmten Begriff von Gott, der hingegen allein in dem von einem moralischen Welturheber angetroffen wird, weil dieser allein den Endzweck angiebt, zu welchem wir uns nur sofern zählen können, als wir dem, was uns das moralische Gesetz als Endzweck auferlegt, mithin uns verpflichtet, uns gemäß verhalten. Folglich bekommt der Begriff von 30 Gott nur durch die Beziehung auf das Object unserer Pflicht, als Bedingung der Möglichkeit den Endzweck derselben zu erreichen, den Vorzug in unserm Fürwahrhalten als Glaubenssache zu gelten; dagegen eben derselbe 461 Begriff doch sein Object nicht als Thatsache geltend machen kann: weil, obzwar die Nothwendigkeit der Pflicht für die praktische Vernunft 35 wohl klar ist, doch die Erreichung des Endzwecks derselben, sofern er nicht ganz in unserer Gewalt ist, nur zum Behuf des praktischen Gebrauchs der Vernunft angenommen, also nicht so wie die Pflicht selbst praktisch nothwendig ist[40].

Glaube (als habitus, nicht als actus) ist die moralische Denkungsart 462 der Vernunft im Fürwahrhalten desjenigen, was für das theoretische Erkenntniß unzugänglich ist. Er ist also der beharrliche Grundsatz des 5 Gemüths, das, was zur Möglichkeit des höchsten moralischen Endzwecks als Bedingung vorauszusetzen nothwendig ist, wegen der Verbindlichkeit zu demselben als wahr anzunehmen[41]; obzwar die Möglichkeit desselben, aber eben so wohl auch die Unmöglichkeit von uns nicht eingesehen 463 werden kann. Der Glaube (schlechthin so genannt) ist ein Vertrauen zu der Erreichung einer Absicht, deren Beförderung Pflicht, die Möglichkeit der Ausführung derselben aber für uns nicht einzusehen ist (folglich auch nicht die der einzigen für uns denkbaren Bedingungen). Der Glaube also, 5 der sich auf besondere Gegenstände, die nicht Gegenstände des möglichen Wissens oder Meinens sind, bezieht (in welchem letztern Falle er, vornehmlich im historischen, Leichtgläubigkeit und nicht Glaube heißen müßte), ist ganz moralisch. Er ist ein freies Fürwahrhalten nicht dessen, wozu dogmatische Beweise für die theoretisch bestimmende Urtheilskraft 10 anzutreffen sind, noch wozu wir uns verbunden halten, sondern dessen, was wir zum Behuf einer Absicht nach Gesetzen der Freiheit annehmen; aber doch nicht wie etwa eine Meinung ohne hinreichenden Grund, sondern als in der Vernunft (obwohl nur in Ansehung ihres praktischen Gebrauchs), 464 für die Absicht derselben hinreichend, gegründet: denn ohne ihn 15 hat die moralische Denkungsart bei dem Verstoß gegen die Aufforderung der theoretischen Vernunft zum Beweise (der Möglichkeit des Objects der Moralität) keine feste Beharrlichkeit, sondern schwankt zwischen praktischen Geboten und theoretischen Zweifeln. Ungläubisch sein, heißt der Maxime nachhängen, Zeugnissen überhaupt nicht zu glauben; ungläubig 20 aber ist der, welcher jenen Vernunftideen, weil es ihnen an theoretischer Begründung ihrer Realität fehlt, darum alle Gültigkeit abspricht. Er urtheilt also dogmatisch. Ein dogmatischer Unglaube kann aber mit einer in der Denkungsart herrschenden sittlichen Maxime nicht zusammen bestehen (denn einem Zwecke, der für nichts als Hirngespinst erkannt wird, 25 nachzugehen, kann die Vernunft nicht gebieten); wohl aber ein Zweifelglaube, dem der Mangel der Überzeugung durch Gründe der speculativen Vernunft nur Hinderniß ist, welchem eine kritische Einsicht in die Schranken der letztern den Einfluß auf das Verhalten benehmen und ihm ein überwiegendes praktisches Fürwahrhalten zum Ersatz hinstellen kann.

Wenn man an die Stelle gewisser verfehlten Versuche in der Philosophie ein anderes Princip aufführen und ihm Einfluß verschaffen will, so gereicht es zu großer Befriedigung, einzusehen, wie jene und warum 5 465 sie fehl schlagen mußten.

Gott, Freiheit und Seelenunsterblichkeit sind diejenigen Aufgaben, zu deren Auflösung alle Zurüstungen der Metaphysik, als ihrem letzten und alleinigen Zwecke, abzielen. Nun glaubte man, daß die Lehre von der Freiheit nur als negative Bedingung für die praktische Philosophie 10 nöthig sei, die Lehre von Gott und der Seelenbeschaffenheit hingegen, zur theoretischen gehörig, für sich und abgesondert dargethan werden müsse, um beide nachher mit dem, was das moralische Gesetz (das nur unter der Bedingung der Freiheit möglich ist) gebietet, zu verknüpfen und so eine Religion zu Stande zu bringen. Man kann aber bald einsehen, 15 daß diese Versuche fehl schlagen mußten. Denn aus bloßen ontologischen Begriffen von Dingen überhaupt, oder der Existenz eines nothwendigen Wesens läßt sich schlechterdings kein durch Prädicate, die sich in der Erfahrung geben lassen und also zum Erkenntnisse dienen könnten, bestimmter Begriff von einem Urwesen machen; der aber, welcher auf Erfahrung 20 von der physischen Zweckmäßigkeit der Natur gegründet wurde, konnte wiederum keinen für die Moral, mithin zur Erkenntniß eines Gottes hinreichenden Beweis abgeben. Eben so wenig konnte auch die Seelenkenntniß durch Erfahrung (die wir nur in diesem Leben anstellen) einen Begriff von der geistigen, unsterblichen Natur derselben, mithin für die 25 Moral zureichend verschaffen. Theologie und Pneumatologie, als 466 Aufgaben zum Behuf der Wissenschaften einer speculativen Vernunft, weil deren Begriff für alle unsere Erkenntnißvermögen überschwenglich ist, können durch keine empirische Data und Prädicate zu Stande kommen. — Die Bestimmung beider Begriffe, Gottes sowohl als der Seele (in Ansehung 30 ihrer Unsterblichkeit), kann nur durch Prädicate geschehen, die, ob sie gleich selbst nur aus einem übersinnlichen Grunde möglich sind, dennoch in der Erfahrung ihre Realität beweisen müssen: denn so allein können sie von ganz übersinnlichen Wesen ein Erkenntniß möglich machen. — Dergleichen ist nun der einzige in der menschlichen Vernunft anzutreffende 35 Begriff der Freiheit des Menschen unter moralischen Gesetzen zusammt dem Endzwecke, den jene durch diese vorschreibt, wovon die erstern dem Urheber der Natur, der zweite dem Menschen diejenigen Eigenschaften beizulegen tauglich sind, welche zu der Möglichkeit beider die nothwendige Bedingung enthalten: so daß eben aus dieser Idee auf die Existenz und 5 die Beschaffenheit jener sonst gänzlich für uns verborgenen Wesen geschlossen werden kann.

Also liegt der Grund der auf dem bloß theoretischen Wege verfehlten Absicht, Gott und Unsterblichkeit zu beweisen, darin: daß von dem Übersinnlichen auf diesem Wege (der Naturbegriffe) gar kein Erkenntniß möglich 10 ist. Daß es dagegen auf dem moralischen (des Freiheitsbegriffs) gelingt, 467 hat diesen Grund: daß hier das Übersinnliche, welches dabei zum Grunde liegt (die Freiheit), durch ein bestimmtes Gesetz der Causalität, welches aus ihm entspringt, nicht allein Stoff zum Erkenntniß des andern Übersinnlichen (des moralischen Endzwecks und der Bedingungen seiner 15 Ausführbarkeit) verschafft, sondern auch als Thatsache seine Realität in Handlungen darthut, aber eben darum auch keinen andern, als nur in praktischer Absicht (welche auch die einzige ist, deren die Religion bedarf) gültigen Beweisgrund abgeben kann.

Es bleibt hiebei immer sehr merkwürdig: daß unter den drei reinen 20 Vernunftideen, Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, die der Freiheit der einzige Begriff des Übersinnlichen ist, welcher seine objective Realität (vermittelst der Causalität, die in ihm gedacht wird) an der Natur durch ihre in derselben mögliche Wirkung beweiset und eben dadurch die Verknüpfung der beiden andern mit der Natur, aller drei aber unter einander 25 zu einer Religion möglich macht; und daß wir also in uns ein Princip haben, welches die Idee des Übersinnlichen in uns, dadurch aber auch die desselben außer uns zu einer, obgleich nur in praktischer Absicht möglichen, Erkenntniß zu bestimmen vermögend ist, woran die bloß speculative Philosophie (die auch von der Freiheit einen bloß negativen Begriff geben 30 konnte) verzweifeln mußte: mithin der Freiheitsbegriff (als Grundbegriff 468 aller unbedingt-praktischen Gesetze) die Vernunft über diejenigen Gränzen erweitern kann, innerhalb deren jeder Naturbegriff (theoretischer) ohne Hoffnung eingeschränkt bleiben müßte.

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