§ 63. Von der relativen Zweckmäßigkeit der Natur zum Unterschiede 25 von der innern.

Die Erfahrung leitet unsere Urtheilskraft auf den Begriff einer objectiven und materialen Zweckmäßigkeit, d. i. auf den Begriff eines Zwecks der Natur nur alsdann, wenn ein Verhältniß der Ursache zur Wirkung zu beurtheilen ist[24], welches wir als gesetzlich einzusehen uns nur dadurch 30 vermögend finden, daß wir die Idee der Wirkung der Causalität ihrer Ursache, als die dieser selbst zum Grunde liegende Bedingung der Möglichkeit der ersteren, unterlegen. Dieses kann aber auf zwiefache Weise geschehen: entweder indem wir die Wirkung unmittelbar als Kunstproduct, oder nur als Material für die Kunst anderer möglicher Naturwesen, 5 also entweder als Zweck, oder als Mittel zum zweckmäßigen Gebrauche anderer Ursachen, ansehen. Die letztere Zweckmäßigkeit heißt die Nutzbarkeit (für Menschen), oder auch Zuträglichkeit (für jedes andere 280 Geschöpf) und ist bloß relativ, indeß die erstere eine innere Zweckmäßigkeit des Naturwesens ist. 10

Die Flüsse führen z. B. allerlei zum Wachsthum der Pflanzen dienliche Erde mit sich fort, die sie bisweilen mitten im Lande, oft auch an ihren Mündungen absetzen. Die Fluth führt diesen Schlich an manchen Küsten über das Land, oder setzt ihn an dessen Ufer ab; und wenn vornehmlich Menschen dazu helfen, damit die Ebbe ihn nicht wieder wegführe, so 15 nimmt das fruchtbare Land zu, und das Gewächsreich gewinnt da Platz, wo vorher Fische und Schalthiere ihren Aufenthalt gehabt hatten. Die meisten Landeserweiterungen auf diese Art hat wohl die Natur selbst verrichtet und fährt damit auch noch, obzwar langsam, fort. — Nun fragt sich, ob dies als ein Zweck der Natur zu beurtheilen sei, weil es eine Nutzbarkeit 20 für Menschen enthält; denn die für das Gewächsreich selber kann man nicht in Anschlag bringen, weil dagegen eben so viel den Meergeschöpfen entzogen wird, als dem Lande Vortheil zuwächst.

Oder, um ein Beispiel von der Zuträglichkeit gewisser Naturdinge als Mittel für andere Geschöpfe (wenn man sie als Zwecke voraussetzt) 25 zu geben: so ist kein Boden den Fichten gedeihlicher, als ein Sandboden. Nun hat das alte Meer, ehe es sich vom Lande zurückzog, so viele Sandstriche in unsern nordlichen Gegenden zurückgelassen, daß auf diesem für alle Cultur sonst so unbrauchbaren Boden weitläuftige Fichtenwälder haben 281 aufschlagen können, wegen deren unvernünftiger Ausrottung wir häufig 30 unsere Vorfahren anklagen; und da kann man fragen, ob diese uralte Absetzung der Sandschichten ein Zweck der Natur war zum Behuf der darauf möglichen Fichtenwälder. So viel ist klar: daß, wenn man diese als Zweck der Natur annimmt, man jenen Sand auch, aber nur als relativen Zweck einräumen müsse, wozu wiederum der alte Meeresstrand und 35 dessen Zurückziehen das Mittel war; denn in der Reihe der einander subordinirten Glieder einer Zweckverbindung muß ein jedes Mittelglied als Zweck (obgleich eben nicht als Endzweck) betrachtet werden, wozu seine nächste Ursache das Mittel ist. Eben so, wenn einmal Rindvieh, Schafe, Pferde u. s. w. in der Welt sein sollten, so mußte Gras auf Erden, aber es mußten auch Salzkräuter in Sandwüsten wachsen, wenn Kameele gedeihen sollten, oder auch diese und andere grasfressende Thierarten in Menge 5 anzutreffen sein, wenn es Wölfe, Tiger und Löwen geben sollte. Mithin ist die objective Zweckmäßigkeit, die sich auf Zuträglichkeit gründet, nicht eine objective Zweckmäßigkeit der Dinge an sich selbst, als ob der Sand für sich als Wirkung aus seiner Ursache, dem Meere, nicht könnte begriffen werden, ohne dem letztern einen Zweck unterzulegen und ohne die Wirkung, 10 nämlich den Sand, als Kunstwerk zu betrachten. Sie ist eine bloß relative, dem Dinge selbst, dem sie beigelegt wird, bloß zufällige Zweckmäßigkeit; 282 und obgleich unter den angeführten Beispielen die Grasarten für sich als organisirte Producte der Natur, mithin als kunstreich zu beurtheilen sind, so werden sie doch in Beziehung auf Thiere, die sich davon 15 nähren, als bloße rohe Materie angesehen.

Wenn aber vollends der Mensch durch Freiheit seiner Causalität die Naturdinge seinen oft thörichten Absichten (die bunten Vogelfedern zum Putzwerk seiner Bekleidung, farbige Erden oder Pflanzensäfte zur Schminke), manchmal auch aus vernünftiger Absicht das Pferd zum 20 Reiten, den Stier und in Minorca sogar den Esel und das Schwein zum Pflügen zuträglich findet: so kann man hier auch nicht einmal einen relativen Naturzweck (auf diesen Gebrauch) annehmen. Denn seine Vernunft weiß den Dingen eine Übereinstimmung mit seinen willkürlichen Einfällen, wozu er selbst nicht einmal von der Natur prädestinirt 25 war, zu geben. Nur wenn man annimmt, Menschen haben auf Erden leben sollen, so müssen doch wenigstens die Mittel, ohne die sie als Thiere und selbst als vernünftige Thiere (in wie niedrigem Grade es auch sei) nicht bestehen konnten, auch nicht fehlen; alsdann aber würden diejenigen Naturdinge, die zu diesem Behuf unentbehrlich sind, auch als Naturzwecke 30 angesehen werden müssen.

Man sieht hieraus leicht ein, daß die äußere Zweckmäßigkeit (Zuträglichkeit eines Dinges für andere) nur unter der Bedingung, daß die 283 Existenz desjenigen, dem es zunächst oder auf entfernte Weise zuträglich ist, für sich selbst Zweck der Natur sei, für einen äußern Naturzweck angesehen 35 werden könne. Da jenes aber durch bloße Naturbetrachtung nimmermehr auszumachen ist: so folgt, daß die relative Zweckmäßigkeit, ob sie gleich hypothetisch auf Naturzwecke Anzeige giebt, dennoch zu keinem absoluten teleologischen Urtheile berechtige.

Der Schnee sichert die Saaten in kalten Ländern wider den Frost; er erleichtert die Gemeinschaft der Menschen (durch Schlitten); der Lappländer findet dort Thiere, die diese Gemeinschaft bewirken (Rennthiere), 5 die an einem dürren Moose, welches sie sich selbst unter dem Schnee hervorscharren müssen, hinreichende Nahrung finden und gleichwohl sich leicht zähmen und der Freiheit, in der sie sich gar wohl erhalten könnten, willig berauben lassen. Für andere Völker in derselben Eiszone enthält das Meer reichen Vorrath an Thieren, die außer der Nahrung und 10 Kleidung, die sie liefern, und dem Holze, welches ihnen das Meer zu Wohnungen gleichsam hinflößt, ihnen noch Brennmaterien zur Erwärmung ihrer Hütten liefern. Hier ist nun eine bewundernswürdige Zusammenkunft von so viel Beziehungen der Natur auf einen Zweck; und dieser ist der Grönländer, der Lappe, der Samojede, der Jakute u. s. w. 15 Aber man sieht nicht, warum überhaupt Menschen dort leben müssen. Also sagen: daß darum Dünste aus der Luft in der Form des Schnees 284 herunterfallen, das Meer seine Ströme habe, welche das in wärmern Ländern gewachsene Holz dahin schwemmen, und große mit Öl angefüllte Seethiere da sind, weil der Ursache, die alle die Naturproducte herbeischafft, 20 die Idee eines Vortheils für gewisse armselige Geschöpfe zum Grunde liege: wäre ein sehr gewagtes und willkürliches Urtheil. Denn wenn alle diese Naturnützlichkeit auch nicht wäre, so würden wir nichts an der Zulänglichkeit der Naturursachen zu dieser Beschaffenheit vermissen; vielmehr eine solche Anlage auch nur zu verlangen und der Natur 25 einen solchen Zweck zuzumuthen (da ohnedas nur die größte Unverträglichkeit der Menschen unter einander sie bis in so unwirthbare Gegenden hat versprengen können), würde uns selbst vermessen und unüberlegt zu sein dünken.

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