§ 70. Vorstellung dieser Antinomie.

So fern die Vernunft es mit der Natur als Inbegriff der Gegenstände äußerer Sinne zu thun hat, kann sie sich auf Gesetze gründen, die der Verstand theils selbst a priori der Natur vorschreibt, theils durch die 15 in der Erfahrung vorkommenden empirischen Bestimmungen ins Unabsehliche erweitern kann. Zur Anwendung der erstern Art von Gesetzen, nämlich der allgemeinen der materiellen Natur überhaupt, braucht die Urtheilskraft kein besonderes Princip der Reflexion; denn da ist sie bestimmend, weil ihr ein objectives Princip durch den Verstand gegeben 20 ist. Aber was die besondern Gesetze betrifft, die uns nur durch Erfahrung kund werden können, so kann unter ihnen eine so große Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit sein, daß die Urtheilskraft sich selbst zum Princip dienen muß, um auch nur in den Erscheinungen der Natur nach einem Gesetze zu forschen und es auszuspähen, indem sie ein solches zum Leitfaden 25 bedarf, wenn sie ein zusammenhängendes Erfahrungserkenntniß nach einer durchgängigen Gesetzmäßigkeit der Natur, die Einheit derselben nach empirischen Gesetzen, auch nur hoffen soll. Bei dieser zufälligen Einheit der besonderen Gesetze kann es sich nun zutragen: daß 314 die Urtheilskraft in ihrer Reflexion von zwei Maximen ausgeht, deren 30 eine ihr der bloße Verstand a priori an die Hand giebt; die andere aber durch besondere Erfahrungen veranlaßt wird, welche die Vernunft ins Spiel bringen, um nach einem besondern Princip die Beurtheilung der körperlichen Natur und ihrer Gesetze anzustellen. Da trifft es sich dann, daß diese zweierlei Maximen nicht wohl neben einander bestehen zu 35 können den Anschein haben, mithin sich eine Dialektik hervorthut, welche die Urtheilskraft in dem Princip ihrer Reflexion irre macht.

Die erste Maxime derselben ist der Satz: Alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer Formen muß als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurtheilt werden. 5

Die zweite Maxime ist der Gegensatz: Einige Producte der materiellen Natur können nicht als nach bloß mechanischen Gesetzen möglich beurtheilt werden (ihre Beurtheilung erfordert ein ganz anderes Gesetz der Causalität, nämlich das der Endursachen).

Wenn man diese regulativen Grundsätze für die Nachforschung nun 10 in constitutive der Möglichkeit der Objecte selbst verwandelte, so würden sie so lauten:

Satz: Alle Erzeugung materieller Dinge ist nach bloß mechanischen Gesetzen möglich.

Gegensatz: Einige Erzeugung derselben ist nach bloß mechanischen 15 315 Gesetzen nicht möglich.

In dieser letzteren Qualität, als objective Principien für die bestimmende Urtheilskraft, würden sie einander widersprechen, mithin einer von beiden Sätzen nothwendig falsch sein; aber das wäre alsdann zwar eine Antinomie, doch nicht der Urtheilskraft, sondern ein Widerstreit in 20 der Gesetzgebung der Vernunft. Die Vernunft kann aber weder den einen noch den andern dieser Grundsätze beweisen: weil wir von Möglichkeit der Dinge nach bloß empirischen Gesetzen der Natur kein bestimmendes Princip a priori haben können.

Was dagegen die zuerst vorgetragene Maxime einer reflectirenden 25 Urtheilskraft betrifft, so enthält sie in der That gar keinen Widerspruch. Denn wenn ich sage: ich muß alle Ereignisse in der materiellen Natur, mithin auch alle Formen als Producte derselben ihrer Möglichkeit nach nach bloß mechanischen Gesetzen beurtheilen, so sage ich damit nicht: sie sind darnach allein (ausschließungsweise von jeder andern Art 30 Causalität) möglich; sondern das will nur anzeigen: ich soll jederzeit über dieselben nach dem Princip des bloßen Mechanisms der Natur reflectiren und mithin diesem, soweit ich kann, nachforschen, weil, ohne ihn zum Grunde der Nachforschung zu legen, es gar keine eigentliche Naturerkenntniß geben kann. Dieses hindert nun die zweite Maxime bei 35 gelegentlicher Veranlassung nicht, nämlich bei einigen Naturformen (und 316 auf deren Veranlassung sogar der ganzen Natur), nach einem Princip zu spüren und über sie zu reflectiren, welches von der Erklärung nach dem Mechanism der Natur ganz verschieden ist, nämlich dem Princip der Endursachen. Denn die Reflexion nach der ersten Maxime wird dadurch nicht aufgehoben, vielmehr wird es geboten, sie, so weit man kann, zu verfolgen; auch wird dadurch nicht gesagt, daß nach dem Mechanism der 5 Natur jene Formen nicht möglich wären. Nur wird behauptet, daß die menschliche Vernunft in Befolgung derselben und auf diese Art niemals von dem, was das Specifische eines Naturzwecks ausmacht, den mindesten Grund, wohl aber andere Erkenntnisse von Naturgesetzen wird auffinden können; wobei es als unausgemacht dahin gestellt wird, ob 10 nicht in dem uns unbekannten inneren Grunde der Natur selbst die physisch-mechanische und die Zweckverbindung an denselben Dingen in einem Princip zusammen hängen mögen: nur daß unsere Vernunft sie in einem solchen nicht zu vereinigen im Stande ist, und die Urtheilskraft also als (aus einem subjectiven Grunde) reflectirende, nicht als (einem 15 objectiven Princip der Möglichkeit der Dinge an sich zufolge) bestimmende Urtheilskraft genöthigt ist, für gewisse Formen in der Natur ein anderes Princip, als das des Naturmechanisms zum Grunde ihrer Möglichkeit zu denken.

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