IV. DIE METHODEN DER ARBEITSSCHULE [59]

Die Darstellung der Lösung der drei Aufgaben, die sich aus dem obersten Zweck der Volksschule naturgemäß ergeben, haben uns zum Grundriß einer inneren Organisation der Volksschule geführt, die ich vor neun Jahren in meiner Rede in der Peterskirche zu Zürich mit dem Worte »Arbeitsschule« bezeichnet habe. Wie alt auch das Wort »Arbeitsschule« sein mag, so darf ich doch wohl behaupten, daß der auf diese Weise bestimmte Inhalt des Wortes sich nicht mit einem der früheren Inhalte deckt.

Mit den vorausgegangenen Erörterungen ist nun aber der Begriffsinhalt des Wortes noch nicht erschöpft. Jene drei Aufgaben und die aus ihnen entspringende Organisation geben die ethische Richtung der Charakterbildung an, welche die Erziehung durch unsere Volksschule einschlagen soll. Damit haben wir eine erste Reihe von Merkmalen des Begriffs »Arbeitsschule« gewonnen. [60]

Die zweite Reihe von Merkmalen ergibt sich aus dem Wesen der Charakterbildung selbst. Indem wir aber dem Wesen der Charakterbildung nachgehen, stehen wir vor dem Grundproblem der Erziehung. Es handelt sich dabei nicht darum, welche Ziele wir mit dieser pädagogischen Arbeit anstreben, sondern an welche psychischen Kräfte des Zöglings wir uns zu wenden haben und wie wir sie behandeln müssen. Welche dieser Kräfte sind unveränderlich, welche veränderlich und demnach der Beeinflussung durch Erziehung zugänglich? Wie muß diese Beeinflussung vor sich gehen, daß die persönliche Charakteranlage des einzelnen sich sittlich entwickle, ohne wertvolle Eigenschaften dieses Charakters zu unterdrücken, zu vernachlässigen oder verkümmern zu lassen? Ich habe in meiner Untersuchung über den Charakterbegriff (vgl. »Charakterbegriff und Charaktererziehung«, 2. Aufl. 1913, B. G. Teubner, Leipzig) diese Kräfte zu ermitteln gesucht.

Es sind vier Kräfte, deren Vorhandensein die Möglichkeit, einen wertvollen Charakter erziehen zu können, in Aussicht stellt: Willensstärke, Urteilsklarheit, Feinfühligkeit, Aufwühlbarkeit. Die Kräfte sind natürlich – wie alle [61] Seelenkräfte – nicht völlig voneinander unabhängig. Insbesondere beeinflußt die letzte dieser vier Eigenschaften, die in der Hauptsache eine unveränderliche Anlage zu sein scheint, die drei übrigen in hohem Grade. Denn von der Tiefe und Dauer der Gemütsbewegungen, die mit einem Grundsatz unseres Handelns, einer Maxime unseres Gewissens, einer Idee unserer Welt- oder Lebensanschauung verknüpft sind, hängt zu einem erheblichen Teile die Beharrlichkeit unserer Willensentschlüsse und die Kraft ihrer Umsetzung in Handlungen ab. Natürlich ist es nicht so, als ob die vier Eigenschaften nun auch tatsächlich die Entwicklung eines Charakters gewährleisten. Sie sind notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen, die zum Teil schon in der Charakteranlage gegeben sein müssen. Hinzutreten muß immer eine erworbene Eigenschaft, die einheitliche Organisation der Grundsätze, Maximen, Ideen in unserer Seele unter eine oberste Idee, die unserer ganzen Seelenstruktur entspricht und deshalb unser Wesen in seinem ganzen Umfange und seiner Tiefe ausfüllt.

Die Entwicklung der drei ersten Charaktermerkmale erfordert vor allem Freiheit der Betätigung und Mannigfaltigkeit der Verhältnisse. [62] Damit der Wille sich entwickelt, muß er sich beständig in Handlungen entladen können, und damit er stark zu werden vermag, muß er Freiheit und Bewegung haben. Damit der Verstand klarer urteilen lerne, muß er seine Vorstellungen und Begriffe so weit als möglich durch Erfahrung selbst erarbeiten. Damit die Feinfühligkeit an Umfang zunehme, müssen Verstand und Gemüt frühzeitig in einer Fülle von realen Verhältnissen sich bewegen und so gewöhnt werden, rasch und mannigfaltig zu reagieren. Die Passivität und Rezeptivität der landläufigen Schulen beeinflußt die Entwicklung dieser drei Kräfte oft nur ungenügend, und nicht selten sucht die Entwicklung dieser Kräfte dann Auswege, die der Lösung der Aufgabe, sie ethisch zu richten, neue Schwierigkeiten bereitet. Zwar fließt die alte Pestalozzische Forderung der Selbsttätigkeit des Kindes noch immer wie Honig von den Lippen der Pädagogen. Aber diese Selbsttätigkeit ist, wo sie der Wort- und Buchbetrieb der herkömmlichen Schule nicht überhaupt zum bloßen Schein herabdrückt, im wesentlichen fast durch die ganze Schule hindurch für alle drei Grundkräfte des Charakters an fest vorgeschriebene Geleise gebannt. Es ist leider mehr die [63] Selbsttätigkeit einer Maschine als die der produktiven Arbeit.

Der geringe Einfluß eines solchen Schulbetriebes auf die Charakterbildung konnte nicht verborgen bleiben. Die zunehmende Individualisierung des kulturellen, politischen und sozialen Lebens in Verbindung mit dem immer stärker fühlbar werdenden Mangel an uneigennützigen, klaren, selbständigen Menschen, die unzulänglichen Lösungen der dem Volke übertragenen öffentlichen Aufgaben ließen uns erkennen, daß der modernen deutschen Bildung, wie Lichtwarck am ersten Kunsterziehungstage mit vollem Rechte bemerkte, »die gestaltende Kraft fehlt«. Wir lernen immer mehr die Bedeutung der durch nichts zu ersetzenden, von großen Maximen gerichteten eigenen praktischen Initiative einsehen, die nirgends sich entwickeln kann, wo die Erziehung dem Zögling in allem, was er tut, streng vorgeschriebene Bahnen weist. Immer lauter werden die Stimmen, die nach dem Einzug von frei gewählter oder doch frei sich auswirkender Betätigung in die Mauern der Schulen rufen. In seinem trefflichen Aufsatz »über freiere Gestaltung des Unterrichts auf der Oberstufe des Gymnasiums« in den Blättern für das Gymnasial-Schulwesen [64] 1912, Heft 2, fordert Professor Dr. Paul Joachimsen systematischen Ausbau des Wahlunterrichts in den drei oberen Klassen des Gymnasiums. (Vergleiche auch Kap. VI.) Das Wort von der Pädagogik der Tat wurde zunächst geprägt. Bald aber hatte es dem neuen Schlagwort Platz zu machen, dem Schlagwort vom Arbeitsunterricht als Prinzip, worunter man die Verbindung von einer Fülle manueller Tätigkeiten mit allen herkömmlichen Unterrichtsgegenständen verstand. Schon diese grobe Veräußerlichung des Begriffes »Arbeitsunterricht« als eines Unterrichts in rein manueller Beschäftigung zeigte, wie wenig das Wesen des Begriffes der Arbeitsschule erfaßt worden war. Indem nun aber eine große Anzahl von Schulmännern überdies den manuellen Arbeitsunterricht als Fach vollends ablehnte, beraubte sie auch ihren Arbeitsunterricht als Prinzip ein für allemal des besten Einflusses auf Charakterbildung. Jedoch in drei heiligen Konzilien 1857, 1882 und 1900 hatte die deutsche Lehrerschaft das anathema sit dem fachlichen Arbeitsunterricht in jeder Form gesprochen. Und andernteils hatte die Bewegung für den Handfertigkeitsunterricht das Augenmerk einer großen Zahl von Lehrern nahezu ausschließlich auf die [65] manuelle Arbeit gelenkt. Da ist es nur zu begreiflich, daß die neue Bewegung nicht sofort in die rechten Bahnen kam. Man war überhaupt nicht von der Erwägung ausgegangen, die das wahre Wesen des Arbeitsunterrichts hätte erfassen lassen. Kindergartenbeschäftigung, Handfertigkeitsbewegungen, die alten Forderungen von Selbsttätigkeit usw. führten von vornherein zu einer Veräußerlichung des Arbeitsunterrichts als Prinzip. Weil Arbeiten gewöhnlich eine manuelle Tätigkeit ist, so glaubte man das Problem der Arbeitsschule damit gelöst zu haben, daß man mit jedem herkömmlichen Unterrichtsgebiet der Schule irgendwelche manuelle Tätigkeit verband. Selbst dem Geschichtsunterricht der oberen Klassen der Volksschule glaubte man durch Modellierbögen von Ritterburgen, Laubsägearbeiten nach Bauformen alter Stile, Planzeichnen von Schlachtfeldern usw. den Charakter von Arbeitsunterricht gegeben zu haben. Das Illustrieren von epischen Gedichten und biblischen Erzählungen mußte zur Verherrlichung des neuen Prinzips herhalten. Aber so wenig man sich den Begriff des kategorischen Imperativs erarbeitet, wenn man einen Holzschnitt von Kant nachzeichnet, ebensowenig treffen die erwähnten manuellen [66] Arbeiten den Geist des Arbeitsprinzips. Manuelle Arbeit ist im Dienste eines Unterrichtszweiges nur da »bildend«, wo Begriffe und Erkenntnisse aus Tatsachen der täglichen Erfahrung herauswachsen und das Vorstellungsmaterial aus sinnlicher Beobachtung gewonnen werden muß. Alle im Laufe der Zeiten entwickelten geistigen Arbeitsgebiete haben ihre eigenen spezifischen Arbeitsweisen. Das Arbeitsprinzip ist nur dann gewahrt, wenn die Arbeit beim Eindringen in die Vorstellungskreise und in die Denkungsweise dieses Gebietes den Arbeitsmethoden angepaßt ist, die sich innerhalb jener Geistesgebiete mit psychologischer Notwendigkeit entwickelt haben. Wer durch zeitgenössische Schilderungen und anderes Quellenmaterial oder auch nur aus der Lektüre von historischen Schriften der Gegenwart historische Kenntnisse selbständig erarbeiten läßt, wer durch den Schülern überlassene dramatische Gestaltung von Dichtungen in gebundener und ungebundener Form diese Schüler den Inhalt tiefer erleben und erfassen läßt, wer in Arbeitsgemeinschaften Gelegenheiten schafft zur Entwicklung der Feinfühligkeit im geselligen Verkehr der Schüler, wer die Schüler anleitet, selbst durch [67] eigene Versuche in den Kern der physikalischen, chemischen, biologischen Gesetze einzudringen, sie alle gestalten den Unterrichtsbetrieb nach dem Prinzip der produktiven Arbeit.

Das Wesen der Arbeitsschule und des in ihr lebendig werdenden Arbeitsprinzips ist eben ein völlig anderes, als es sich selbst in den Köpfen derjenigen Arbeitsschulapostel und Werkunterrichtsprediger spiegelt, die auf Kongressen das neue Evangelium ausbreiten wollen. Der 21. Kongreß des Deutschen Vereins für Knabenhandarbeit und Werkunterricht in Charlottenburg 1912 war mir wieder ein wenig erfreulicher Beleg hierfür. Ich will daher versuchen, dieses Wesen der Arbeitsschule in aller Kürze klarzulegen. Eine eingehende Untersuchung der hier aufgestellten Begriffe findet man in meiner Abhandlung: Das Grundaxiom des Bildungsverfahrens und seine Folgerungen für die Schulorganisation (Verlag Deutsche Union, Berlin 1917).

Die Bildung des Kindes geht immer in der Weise vor sich, daß es in der Umgebung, in der es aufwächst, die Kulturgüter ergreift und erlebt, welche die Gemeinschaft, der das Kind angehört, als solche Kulturgüter wertet, also die Sprache, die Sitten und Gebräuche, die Verfassungen und [68] Rechtssysteme, die Religion, die Begriffe und Gesetze der Wissenschaften, die Wissenschaften selbst, die Kunstgüter, die technischen Güter. Nicht alle sprechen das Kind, den Knaben, den Jüngling in gleicher Weise an; für Tausende und aber Tausende hat es in seinem eigenen Wesen keinen Schlüssel, sie sich zugänglich zu machen, sie zu assimilieren, sie zu erarbeiten. Gewisse Begriffe, Maximen, Glaubenssätze, Naturgesetze, Kunstformen, Sittlichkeitsvorstellungen, Sachkonstruktionen, Arbeitsverfahren usw. dem Gedächtnis einzuverleiben, das gibt keine Bildung; auf das Erarbeiten kommt es an. Denn nur durch das Erarbeiten bilden sich die Seelenfunktionen in ihrer Totalität, werden leistungsfähiger, kräftiger, zielstrebiger. Nur im Erarbeiten entwickeln sich geistige und sittliche Gewohnheiten, die wir am gebildeten Menschen so hoch schätzen.

Aber was heißt nun ein Kulturgut erarbeiten? Was ist psychologisch damit gemeint?

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir überlegen, wie Kulturgüter entstehen, nicht im einzelnen, das würde zu einer Philosophie der Kulturgüter führen, sondern ganz allgemein. Jedes neue Gut, das Menschen der Menschheit schenken, [69] trägt das Gepräge des Geistes, dem es entsprungen. Das mag der Geist eines einzelnen oder der Geist ganzer Völker und ganzer Generationen sein. Das mag ein individuelles oder ein allgemeines Gepräge oder eine Mischung aus beidem sein. Am deutlichsten sehen wir das bei den einzelnen Kunstgütern, die ja überhaupt zu allen Zeiten die individuellsten Güter waren und sein werden. Denn jedes echte Kunstwerk ist der unverfälschte Ausdruck einer Individualität, und zwar so sehr, daß man eine neu ausgegrabene, wertvolle Statue, ein neu entdecktes, wertvolles Drama, ein nicht gezeichnetes, wertvolles Streichquartett sofort und eindeutig auf ihren Autor hin bezeichnen kann. Es trägt neben gewissen objektiven, dem allgemeinen objektiven Geist der Zeit entstammenden Zügen vor allem auch die subjektive Struktur des Geistes, aus dem es geboren wurde.

Ganz das gleiche gilt für alle Kulturgüter ohne Ausnahme. Die deutsche Sprache trägt ebenso die Struktur des deutschen Geistes wie die deutsche Philosophie im ganzen, wie in ihren einzelnen, geschlossenen Systemen. Selbst Maschinen und Werkzeuge tragen ihr individuelles Gepräge, [70] wie Sitten, Gebräuche, Religionsformen. Die verschiedenen Wissenschaften tragen die Struktur ganz bestimmter Denkweisen, und diese Struktur ist eine andere beim Naturwissenschaftler, eine andere beim reinen Mathematiker, eine völlig andere beim Historiker (vgl. vor allem W. Diltheys Akademieabhandlung von 1910: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften), wie übereinstimmend auch sonst die formal logischen Prozesse in allen drei Wissenschaftsgebieten sich verhalten.

Die Tausende von Geräten, die uns täglich umgeben und die wir täglich gebrauchen, tragen in ihrer Konstruktion wie in ihrer ästhetischen Erscheinung eine volkstümliche Struktur, in der die Arbeit, die geistige wie die manuelle, ungezählter Generationen aufgespeichert ist.

Jetzt können wir die Frage beantworten, was heißt ein Kulturgut erarbeiten: Wenn jedes Kulturgut eine geistige Struktur hat, so hat nur derjenige einen Zugang zu ihm, der die gleiche oder doch annähernd gleiche geistige Struktur besitzt; und nur für den, der diesen Zugang hat, wird das Kulturgut zum Bildungsgut werden. Die geistige Struktur des Historikers ist eine andere als die des Physikers, und diese wieder eine andere [71] als die des Philologen oder reinen Mathematikers. Ich kann auf die grundlegenden Verschiedenheiten hier nicht eingehen. Noch ungleich verschiedener sind die geistigen Strukturen der Künstler, der Religionsstifter, der Techniker. Keiner von ihnen besitzt, sofern wir es mit reinen einseitigen Ausprägungen dieser Individualitäten zu tun haben, den Schlüssel zu den Kulturgütern des andern.

Sobald aber meine geistige Struktur der geistigen Struktur des Kulturgutes angepaßt ist, werde ich von ihm ganz von selbst ergriffen, und nun fragt sich, ob ich auch geistig oder seelisch stark genug bin, es zu assimilieren. Ich kann es nur assimilieren, indem ich durch ununterbrochene Tätigkeit, die aus der Totalität meiner Individualität wächst, mich in das Wesen des Kulturgutes zu versetzen suche, d. h. eben es erarbeite. Jetzt entfaltet das Kulturgut seinen Bildungswert, und zwar mit zwingender Notwendigkeit. Es ist ja selbst dem analogen geistigen Prozeß entsprungen und speichert gleichsam die Bildungsenergie dieses geistigen Prozesses potentiell in sich auf, bis der adäquate Geist kommt und in der Erarbeitung, Assimilierung des Kulturgutes die potentielle Energie wieder in die kinetische Energie seiner Persönlichkeit verwandelt. [72]

Diese potentielle, in der Struktur der Kulturgüter aufgespeicherte geistige Energie nenne ich den immanenten Bildungswert der Kulturgüter.

Die Arbeitsschule aber ist diejenige Schule, die durch ihre Methoden und durch die Art ihres ganzen Betriebes die immanenten Bildungswerte ihrer Bildungsgüter auslöst.

Es hat also mit dem Geiste der Arbeitsschule nicht das geringste zu tun, wenn man im Geschichtsunterricht den Gang von Schlachten oder die Formen bekannter Baustile zeichnet und modelliert, wenn man im Sprachunterricht Gedichte und biblische Erzählungen illustriert, wenn man manuelle Techniken, wie Schreiben oder Zeichnen, durch andere Techniken, wie Erbsenlegen, Stäbchenzusammensetzungen, Tonformen vorbereitet, und es ist schon gar nichts, rein gar nichts für die Arbeitsschule gesagt, wenn man die geistreiche Unterscheidung von »Werkstättenunterricht« und »Werkunterricht« macht, und nur den Arbeitsunterricht in der Form des Werkunterrichts gelten läßt.

Der Werkstättenunterricht kann den vollendeten Geist der eben definierten Arbeitsschule widerspiegeln, [73] der Werkunterricht nicht und umgekehrt. Was heute unter den Titeln »Arbeitsprinzip« und »Werkunterricht« in den Volksschulen als Bildungsgeist umgeht, mag als Veranschaulichungs- oder Betätigungsprinzip oder als »Spielprinzip« (denn auch das ist bei kleinen Schülern durchaus nicht zu verdammen) in mäßigem Umfange gebilligt, ja empfohlen werden, aber mit dem Begriffe »Arbeitsschule« hat es nichts zu tun. Schon Basedow hat erleben müssen, daß Buchstabenformen aus Brotteig weder die Lese- noch die Schreibfertigkeit gefördert haben. Druck- und Schreibschrift haben gewiß auch ihre nationale wie persönliche Struktur. Auch in ihnen steckt ein bestimmter objektiver Geist. Aber diesen von seinen ersten Anfängen an zu erarbeiten, ist keine Aufgabe der Schule.

Es gibt andere Methoden, welche die durch solche Dinge erstrebte Arbeitsteilung, nämlich der Einführung in das Formsehen und der Einführung in das Form-Darstellen, ebenfalls aufgreifen, aber sich gegen die Psychologie des Arbeitsunterrichtes nicht versündigen. Wer solche Methoden kennen lernen will, dem empfehle ich die Lektüre von Maria Montessori: »Il Metodo della Pedagogia Scientifica«, Città di Castello, Lapi 1910. Bloße [74] manuelle Betätigung ohne Rücksicht auf die feinen physischen und psychischen Zusammenhänge im inneren Verlauf der Betätigungsprozesse und ohne Rücksicht auf die damit verbundene systematische Willensschulung und Urteilsklarheit ist, wie sehr sie den Stempel äußerlicher Arbeit tragen mag, kein Kriterium der Schule, die wir Arbeitsschule nennen wollen.

Als Methoden der Veranschaulichung, als Mittel der Sinnesbildung, als Befriedigung des so lebhaften Tätigkeitstriebes der Kinder, als Belebungsmittel des gesamten Unterrichts können derartige manuelle Beschäftigungen nützlich, bisweilen notwendig werden. Aber damit ist unserer Schule kein neues Bildungselement zugeführt. Es ist höchstens eine alte Forderung erfüllt, die grob vernachlässigt worden ist. Erst wenn manuelle Tätigkeit zur Erarbeitung gewisser Kulturgüter als systematisches Werkzeug der Willensbildung und Urteilsschärfung gehandhabt wird, und selbstverständlich wenn sie nur dort gehandhabt wird, wo dies der Natur der Sache nach notwendig und der Natur der Seele nach möglich erscheint, erst dann liefert sie ein Bildungselement, das unserer Schule bisher fremd war. Das ist aber nur dann der Fall, wenn sie auf jeder Stufe die jeweils [75] vorhandene Ausdrucksfähigkeit der ganzen Psyche des Kindes zur präzisen Wiedergabe dessen veranlaßt, was es spontan, aus eigenartigem Interesse heraus empfindet, sieht, denkt und fühlt, und wenn sie demgemäß in ihrer Anforderung an die Geschicklichkeit und Genauigkeit des Ausdrucks Schritt für Schritt höhere Anforderungen stellt.

Ein besonderes Gebiet der Arbeitsschule ist nun auch der Arbeitsunterricht im Sinne der manuellen Arbeit. Er ist vor allem ein Unterrichtsfeld der Volksschule, weil eben die psychische Form des praktischen Verhaltens die Grundstruktur der kindlichen Seele ist. Nun gibt es Schulmänner, welche einen solchen manuellen Arbeitsunterricht zwar als Betätigungsprinzip in gewissen anderen Unterrichtsfächern zulassen, nicht aber als eigentliches Unterrichtsfach.

Aber Arbeitsunterricht als Prinzip und Arbeitsunterricht als Fach gehören zusammen wie Griff und Klinge des Messers. Überall, wo die Förderung des technischen Ausdrucksvermögens zum Unterrichtsprinzip erhoben wird, ist die entsprechende technische Schulung eine unabweisbare Notwendigkeit. Manuellen Arbeitsunterricht [76] überhaupt abzulehnen, ist konsequent, wenn auch unpsychologisch; ihn aber als methodisches Prinzip zuzulassen, dagegen als Fach zu verdammen, das ist gedankenlos. Seit Pestalozzi ist Pflege des sprachlichen Ausdrucksvermögens sowohl Unterrichtsprinzip als Unterrichtsfach. Die Forderung »jede Stunde eine Sprachstunde« würde wenig Zweck haben, hätte die Schule nicht zugleich besondere Fachstunden für die Schulung des sprachlichen Ausdruckes. Wir fordern nicht bloß Korrektheit der mündlichen und schriftlichen Ausdrucksweise in allen Unterrichtsstunden, wir widmen außerdem einem besonderen fachlichen Sprachunterricht eine recht beträchtliche Unterrichtszeit. Der von mir vor vielen Jahren aufgestellte und jetzt allgemein gebilligte Satz: »kein Sachunterricht ohne Zeichnen« würde für die Entwicklung der graphischen Ausdrucksfähigkeit und des ästhetischen Sinnes geradezu verhängnisvoll werden, hätten wir nicht zugleich auch einen rein fachlichen Zeichenunterricht, der im Schüler systematisch gewisse technische Fertigkeiten erzieht, ohne welche sein Ausdrucksvermögen höchst stümperhaft bleiben müßte. Würden wir Rechnen bloß als Unterrichtsprinzip anerkennen ohne besondere technische [77] Übungen im Rechnen, wir würden bald die Erfahrung machen, daß der verschwommene Inhalt der so gewonnenen Zahlvorstellungen sie mehr und mehr untauglich macht zur Aufhellung sachlicher Begriffe. Unsere Mädchenreigen in den Oberklassen der Volksschule werden ohne systematische Übungen, welche erst dem Willen die Macht geben, das Muskelspiel zu beherrschen, ewig auf dem Niveau des harmlosen Kinderspieles bleiben. Nun ist aber das räumliche Ausdrucksvermögen, wie es in der manuellen Technik sich äußert, als bloßes Vermögen der Seele betrachtet, in nichts, rein gar nichts von den beiden andern Vermögen des sprachlichen oder graphischen Ausdruckes verschieden. Wenn einzelne es für minderwertig halten in Hinsicht auf den Zweck der Erziehung gegenüber den beiden andern, so kann man das zur Not noch begreifen. Wer es aber schätzt und seine Pflege als Erziehungsmittel für notwendig erachtet, der muß die gleichen Konsequenzen ziehen, die er bei der Pflege der andern Ausdrucksvermögen fordert. Mit diesen Erwägungen kommen wir auf ein neues Grundmerkmal der rechten Arbeitsschule als einer Schule der Charakterbildung.

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