VI. ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSBETRACHTUNG [93]

Das aber ist die Sehnsucht und die Sorge aller ernsten Reformer unserer Tage, daß unsere Volksschule ein Werkzeug für Charakterbildung werde, auch für die überwiegend große Zahl der geistig schwächer Veranlagten. Die Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts haben uns gelehrt und lehren es immer mehr, daß die Pflege des gedächtnismäßigen Wissens, das nur zu sehr den Geist unserer allgemeinen Volks- und höheren Schulen beherrscht, nicht zu jener Volks- und Menschenbildung führt, welche die modernen Staaten von Tag zu Tag nötiger haben. Sie haben uns gelehrt, daß das Schwergewicht aller Schulen, weit weniger auf Anhäufung des Wissens als auf die Entwicklung von geistigen, moralischen und manuellen Fähigkeiten zu legen ist, daß sie mechanische, aber von Einsicht in ihre Zweckmäßigkeiten getragene Fertigkeiten auszubilden haben, welche der lebenspendenden produktiven Arbeit allzeit bereite, getreue und gewissenhafte [94] Diener liefert zur Vollendung der vom schaffenden Geist diktierten Werke, und daß dieser Weg der Ausbildung für einen großen Teil unserer Bevölkerung der einzige ist, der in diesem Teil Männer und Frauen von starkem, ehrlich gerichtetem Willen zu erzeugen vermag.

Indem die Arbeitsschule die Schule der selbständigen Erarbeitung der Bildungsgüter ist, in dem Sinne, wie ich es in Kap. IV ausgeführt habe, und zwar einer Erarbeitung durch die Gesamtheit des Seelenlebens, ist die Arbeitsschule jene Organisation der Schule, der die Charakterbildung über alles geht. Gerade dieses Zweckes halber sucht sie in ihrem Unterrichtsbetrieb Ernst damit zu machen, die Massenhaftigkeit und die damit notwendig verbundene Oberflächlichkeit des Wissens aus der Schule zu verbannen. Indem sie dabei einen Organisationsbetrieb des Unterrichtes sucht, der dem Kinde gestattet, möglichst viel Erfahrungswissen zu sammeln, baut sie von selbst der unmäßigen Zufuhr von bloß überliefertem Wissen eine Mauer entgegen. Der Sinn der Arbeitsschule ist, mit einem Minimum von Wissensstoff ein Maximum von Fertigkeiten, Fähigkeiten [95] und Arbeitsfreude im Dienste staatsbürgerlicher Gesinnung auszulösen.

Ausgehend von dem äußeren höchsten sittlichen Gut im sittlichen Gemeinwesen, dem Kultur- und Rechtsstaat der Ethik, haben wir gefunden, daß jede öffentliche Schule drei und nur drei Grundfragen zu lösen hat: 1. die Vorbereitung auf den zukünftigen Beruf des einzelnen im Staate; 2. die Versittlichung dieser Berufsbildung; 3. die Befähigung des Zöglings an der Mitarbeit der Versittlichung des Gemeinwesens selbst, dessen Glied er ist. Damit war die ethische Seite der Erziehungs- und Unterrichtsaufgabe der Schule bestimmt, die Richtung, welche die Charakterbildung einzuschlagen hat. Sie führte auf drei Forderungen:

a) In jedem Unterrichtsgebiet hat die Methode des Unterrichts, soweit das Bildungsgut es erlaubt, den Weg der Erarbeitung des Bildungsgutes zu gehen, und dieser Weg ist durch die geistige Struktur des Bildungsgutes vorgezeichnet.

b) Gehören zu den notwendigen Bildungsgütern einer Schule auch technische Bildungsgüter, so hat die Schule auch einen besonderen Arbeitsunterricht als Fach einzugliedern. Dies ist vor allem für die Volksschule unerläßlich. [96]

c) Da moralische Eigenschaften nur innerhalb der sozialen Güter erarbeitet werden können, so ist für die Organisation aller Schulen das Prinzip der Arbeitsgemeinschaft überall, wo es sich durchführen läßt, ein Grundprinzip.

Die Forderung der Charakterbildung selbst ohne Rücksicht auf ihre ethische Richtung, vor allem die Bildung der Stärke und Festigkeit des Willens, der Klarheit des Urteils, ließ uns zunächst die Notwendigkeit von Freiheit und Mannigfaltigkeit der Betätigung auf allen Unterrichtsgebieten erkennen. Sie zeigte uns, daß auf allen Gebieten des durch eigene Erfahrung erwerbbaren Wissens die bisher begangenen Unterrichtswege in Wege der persönlichen Beobachtung und Erfahrung umzuwandeln sind, daß aber dieses Arbeitsprinzip, soweit es der manuellen Betätigung bedarf, nicht mechanisch auf die Unterrichtsgebiete des nur durch Überlieferung erwerbbaren Wissens übertragen werden darf. Sie lehrte uns weiter, daß der manuelle Arbeitsunterricht als Prinzip, sofern er nicht bloß der oberflächlichen Veranschaulichung, sondern auch der Charakterbildung dienen und ihr nicht direkt gefährlich werden soll, unwiderstehlich einen manuellen Arbeitsunterricht [97] als Fach verlangt und damit auch an den Knabenabteilungen unserer deutschen Schulen einen neuen Typus von Lehrern, den technisch gebildeten Lehrer.

Endlich aber lehrt sie uns ein Letztes und Wichtigstes. Zu den Wurzeln der Charakterbildung gehört vor allem auch die Ausbildung der Urteilsklarheit, oder, was das gleiche ist, der logischen Denkfähigkeit. Sie ist nur erreichbar durch selbständige geistige Arbeit. Die selbständige geistige Arbeit ist noch mehr ein Kennzeichen der Arbeitsschule wie die selbständige manuelle Arbeit. Nur hat sie in der Volksschule die allerbescheidensten Grenzen und selbst innerhalb dieser können noch viele nicht genügend gefördert werden. Sie ist trotzdem das wesentliche Merkmal der Arbeitsschule, da ja auch die manuelle Arbeit zu selbständiger geistiger Tätigkeit schon im Rahmen der Volksschule anregen soll. Die selbständige geistige Arbeit verlangt aber möglichstes Zurückdrängen der alten Formen der Überlieferung von Wissen zugunsten aktiver Erarbeitung des Wissensstoffes überall da, wo und soweit es möglich ist. Dazu ist eine wesentliche Verminderung des gesamten Unterrichtsstoffes, weiterhin die Einführung von geeigneten geistigen [98] Arbeitsstätten und Bibliotheken für Geschichte, Geographie, Naturkunde und Raumlehre, endlich eine entsprechend geistige Schulung der seminaristischen wie technischen Lehrer unbedingt notwendig. Die Gewohnheiten des empirischen Denkens in Gewohnheiten logischen (oder, was das gleiche ist, wissenschaftlichen) Denkens umzuwandeln, das ist ein Grundmerkmal der Arbeitsschule, wie es eine Grundforderung der Charakterbildung ist.

Insoweit unsere höheren Schulen diese schwierigste aller Erziehungsaufgaben erfüllen, sind sie von selbst echte und rechte Arbeitsschulen. In der Fähigkeit, immer größere Gedankenketten mit logischer Strenge aneinanderzureihen zwecks Lösung geistiger Probleme, besteht das Wesen der sogenannten formalen Bildung. Nur vergessen wir immer, daß diese Fähigkeit sich nicht bloß dann zeigen soll, wenn wir am Schreibtisch in kühler Ruhe wissenschaftliche Fragen zu untersuchen haben, sondern vor allem auch im praktischen Verkehr mit den Menschen, wenn Vorurteile, Eitelkeit, Ehrgeiz, Leidenschaft die Wege unseres Denkens zu verlegen versuchen, wenn wir vor ganz unerwarteten Ereignissen stehen und plötzliche Entschlüsse nötig sind, wenn Liebe, Zuneigung, [99] Freundschaft die kühle geistige Energie zu lähmen suchen. Die Erzeugung einer solchen Freiheit unserer logischen Fähigkeiten erfordert ganz andere Einrichtungen als die bloße Beschäftigung mit Algebra oder Geometrie, mit Griechisch, Latein, Französisch oder Englisch. Daß diese Einrichtungen an unseren deutschen höheren Schulen fehlen, darin liegt eben ihr großer Mangel, und an diesem Mangel leiden nicht bloß die vielgeschmähten Gymnasien, sondern auch die vielgepriesenen Oberrealschulen. Ja die letzteren leiden meines Erachtens so lange noch in einem höheren Grade darunter, als ihre übermäßige Stoffüberladung die Schüler nicht einmal in der Ruhe der Studierstube zu festen Gewohnheiten des logischen Denkens in genügender Weise kommen läßt.

In der intensiven Beschäftigung besonders mit den alten Sprachen steckt ein ganz hervorragendes Stück Arbeitsschule für alle, deren angeborene oder anerzogene Interessen vom Inhalt der alten Schriftsteller erfaßt werden. In keiner Güterreihe ist die tatsächliche Erarbeitung des Kulturgutes eine so selbstverständliche und kaum zu verfehlende Unterrichtsmethode als in der Reihe der fremdsprachlichen Kulturgüter, in der Übersetzung dichterischer, philosophischer, historischer [100] Werke. Daß diese Arbeitsschule so oft nicht erfolgreich ist, hängt nicht wenig davon ab, daß der Betrieb des Unterrichtes diese Interessen nicht nur nicht zu entwickeln weiß, sondern vielfach direkt tötet. Ich spreche hier aus langer Erfahrung, nicht bloß aus Schülererfahrung, sondern noch mehr aus der Erfahrung als Lehrer am humanistischen Gymnasium. Es gibt tatsächlich wenige Schüler, die nicht ein natürliches Interesse für die Erzählungen Homers, für die Metamorphosen Ovids, für die lebendigen historischen Schilderungen Sallusts, für die Dramen des Sophokles, für die Oden, Episteln und Satiren des Horaz, für die Germania oder für die Annalen des Tacitus haben. Aber wenn, sei es, daß die sprachliche Entwicklung der Schüler noch nicht weit genug gefördert ist, sei es, daß zu vielerlei durcheinander getrieben wird, die Lektüre solcher Werke sich über viele Monate, ja über ein ganzes Jahr oder gar deren zwei hinzieht, dann erlahmt selbst bei gutem Unterricht naturnotwendig das Interesse, und nur eine ganz selten große Lehrpersönlichkeit kann die kaum mehr glühenden Kohlen durch ihr eigenes Feuer immer wieder anfachen. Mit dem Erlahmen des Interesses am Inhalt aber verliert das Werkzeug der klassischen Sprache [101] des Altertums den besten Teil seiner Kraft nicht bloß für die Erarbeitung des geistigen wie ästhetischen Gesamtbildes eines Werkes, sondern auch in Hinsicht auf die Schulung zum logischen Denken. Ist vollends der Lehrer auch noch ein langweiliger oder sonstwie ungeeigneter Mensch, dann regiert die hier zu leistende Arbeit höchstens noch der eiserne Zwang und die Furcht vor unvermeidlichen Folgen, und der scharfe logische Sinn der Schüler ist nicht mehr auf die schwierigen Stellen seiner Klassiker gerichtet, sondern lediglich noch darauf, wie er auf bequeme aber sichere Weise dem Zwang und der Langeweile entgehen kann. Das ist freilich auch eine logische Schulung, aber eine höchst ungewollte und unmoralische.

Es gibt wirksame Mittel, diesen Gefahren zu entgehen. Das eine wäre, jedes Werk unter Ausschaltung aller anderen gleichzeitigen Lektüre der nämlichen oder auch einer zweiten oder dritten Sprache, also unter Zuhilfenahme der ganzen den sämtlichen sprachlichen Zwecken eingeräumten Unterrichtszeit, die eine Woche bietet, so rasch, als es das scharfe Erfassen des Inhalts gestattet, vollständig durchzuarbeiten. Ist das Werk zu umfangreich, so müssen einzelne Teile in Übersetzung [102] ganz oder auszugsweise vom Lehrer gegeben werden. Alles liegt daran, es in möglichst kurzer Zeit bis zum Schlusse zu lesen. Je jünger der Schüler ist, je kurzfristigere Ziele also das Interesse hat, desto wichtiger wird diese Forderung. Eine Lektüre der Odyssee, die sich über zwei oder gar drei Jahre erstreckt, trägt schon den Todeskeim in sich. Muß jeder Schüler jeden Vers präparieren? Können nicht Gruppen von Versen immer verschiedenen Schülern zugewiesen werden? Kann nicht der Lehrer selbst gewisse Gruppen übernehmen? Sollte nicht hier der Platz sein, den Gedanken der Arbeitsgemeinschaft in Aktion zu setzen? Machen nicht freiwillige Schülerkränzchen schon längst das gleiche? Glaubt irgendein Schulmann, daß ein solcher literarischer Schülerverband auch nur ein halbes Jahr zusammenhalten würde, wenn er die literarische Kost eines Klassikers wochenweise in Teelöffelportionen einnehmen müßte wie der Kranke eine Medizin? Sobald die Homerlektüre beginnt, würde ich die lateinische Lektüre beiseite legen. Was schadet es, wenn vier bis fünf Monate hindurch Rom schweigt, solange Griechenland redet? Rom kann doch nachher um so besser wieder zu Worte kommen. Ich bin [103] überzeugt, daß vor hundert und mehr Jahren, als die Schulbureaukratie noch nicht so entwickelt war wie heute, die lateinischen Schulen in der Mehrzahl nur auf diese Weise die alten Klassiker gelesen haben.

Ein zweites wirksames Mittel ist: der obligatorische stille literarische Vormittag. Am alten Gymnasium in Frankfurt hat er noch, wie mir Geheimrat Risser, ein ehemaliger Schüler dieses Gymnasiums, mitteilt, bis zum Jahre 1873 existiert. Jede Woche kamen die Schüler der Prima einen vollen Vormittag im Lesesaal des Gymnasiums zusammen, um nach freier Wahl sich der zusammenhängenden Lektüre eines Werkes der alten Klassiker hinzugeben. Abwechselnd führten Lehrer und Rektor der Anstalt die Präsenz. Referate vor der Klasse über den Inhalt des Gelesenen schlossen die Arbeiten des einzelnen ab. Der Besuch des Lesezimmers war ebenso eine Pflicht, wie der Besuch des übrigen Unterrichts. Es ist mir durchaus verständlich daß ein solches Unternehmen von Haus aus einen ganz anderen Betrieb des Sprachunterrichts schon voraussetzt, als wir ihn heute vielfach finden. Die Interessen der Schüler mußten von vornherein für eine solche Arbeit gewonnen sein, sonst ergäbe sich aus einer solchen [104] Einrichtung nur eine Reihe verlorener Vormittage. Daß ein solcher Vormittag möglich und erfolgreich ist, ist ein sehr viel besserer Beweis für die Güte der Anstalt als alle Ergebnisse von Absolutorialprüfungen. An solchen Schulen kann man auch die Beschäftigungsmöglichkeiten erweitern. Es wäre durchaus zulässig, in den beiden Primen die Lektüre der Schüler auch auf die deutschen Historiker und Dichter, auf die moderne Wirtschaftsgeschichte, auf die allgemeine Staatslehre oder ähnliches auszudehnen, je nach den frei ausgesprochenen Neigungen der Schüler. Die Hauptsache ist, daß das Gymnasium jedem seiner Schüler Zeit gibt, einer Lieblingsneigung nachzugehen, welche nicht bloß das logische Denken fördert, sondern auch die Seele mit wertvollem Inhalt versieht, und daß es, wie die alte Frankfurter Schule, diese Beschäftigung in vornehmer Weise überwacht. Zum Wesen der Arbeitsschule gehört die Erzeugung von überschüssiger Arbeitsfreude. Ob die höheren Schulen diesen Ehrentitel der Arbeitsschule verdienen, das erkennen wir daran, daß ihre reiferen Schüler nicht bloß die Lust, sondern auch die Zeit finden, sich freiwillig mit wissenschaftlichen Arbeiten gemäß ihren Neigungen zu beschäftigen. [105]

Mit diesen Betrachtungen über die selbständige geistige Arbeit an Volks- und höheren Schulen sind für mich die notwendigen Merkmale des Begriffes der Arbeitsschule erschöpft. Man erkennt, daß die neue Schule weder einen Bruch mit der Vergangenheit bedeutet, noch Undurchführbares verlangt, und daß all das Gute, was uns die bisherige Schule gegeben hat, reichlich Platz findet im Rahmen der zukünftigen Entwicklung. Was sonst von der neuen Schule verlangt werden mag, entspringt Forderungen der Didaktik. Didaktische Fragen sind aber zum größten Teil Fragen der Logik, zum andern Teil Fragen der Kinderpsychologie, zum dritten Teile Fragen, die von räumlichen, zeitlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen abhängen und von den Bildungszwecken, welche die Gemeinschaft mit der einzelnen Schule verfolgt. Dabei fasse ich »Didaktik« in einem viel weiteren Sinne als im Sinne der bloßen Lehre eines Unterrichtsvorganges. Ich kann nicht auf alle diese didaktischen Forderungen eingehen. Nur eine einzige will ich noch beleuchten, die Frage der Konzentration des ganzen Schulbetriebes. Im Prinzip ist sie für mich gelöst in der Forderung, daß die Schule eine Vorbereitungsanstalt sein soll für den zukünftigen Beruf des Zöglings. [106] Das kann freilich sehr wenig bedeuten, wie in den Volksschulen der großen Stadt, wo die Schüler einer Klasse allen möglichen manuellen Berufen zuwandern, die überdies von vornherein gar nicht bekannt sind; es kann aber auch sehr viel bedeuten, wie in kleinen reinen Landgemeinden, wo Knaben wie Mädchen dem Beruf des Landwirts bzw. der Hauswirtschaft entgegenwachsen. Daß Konzentration eine wesentliche Voraussetzung alles Erfolges ist, weiß jedermann. Aber nicht jene äußerliche Konzentration der Lehrplanschneider, sondern jene innere, die in einem und demselben Zeitabschnitt ihre Tätigkeit auf möglichst wenige Dinge richtet. Geradezu eine Verirrung der Konzentrationsidee aber ist es, die gegenwärtig landläufigen Unterrichtsfächer als Bildungskanäle überhaupt aufzugeben und den gesamten Wissensstoff in ein ganz willkürlich geordnetes System zu bringen. Alles menschliche Wissen hat sich im Laufe der Kultur von selbst in geschlossene, wohlgegliederte Reiche gespalten, genötigt durch die Organisation unserer psychischen Funktionen. Nur in der dem jeweiligen Wissensstoff inhärenten Gliederung entfaltet er die ihm eigentümliche Bildungskraft. Nur in der geistigen Struktur der Wissenschaftsgüter, wie [107] aller Güter überhaupt, liegt ihr immanenter Bildungswert.

Nur indem der Geist der Schüler an dieser Struktur sich emporarbeitet, sofern dies seiner geistigen Veranlagung nach möglich ist, wird dieses Gut zu einem Bildungswerkzeug für ihn und verhilft ihm, die Gewohnheiten des logischen Denkens und die für die Charakterbildung notwendige Klarheit des Urteils zu entwickeln.

Diese übersichtlichen und durchsichtigen Kristallgebäude mit ihrer gesetzmäßigen Führung der Lichtstrahlen der Erkenntnis für Unterrichtszwecke zu zertrümmern und an ihre Stelle das diffuse Licht ihrer Scherbenhaufen zu setzen, das bringt nur der fertig, der keine Vorstellung hat von der Bildungskraft eines selbsterarbeiteten Systems geschlossener Erkenntnis. Selbst für den fachlichen Arbeitsunterricht ist der Unterrichtsgang zunächst durch sein eigenes Wesen bestimmt. Es kann keinen pädagogischen Sinn haben, den im Interesse einer immer stärkeren Willenszucht und einer immer sicherer werdenden Ausübung der elementaren mechanischen Arbeitsprozesse wohlgeordneten Gang seiner systematischen Entwicklung zu unterbinden, um eine sogenannte Konzentration mit allen übrigen Unterrichtsgebieten [108] herzustellen. Nie darf diese Konzentration die ruhige Entwicklung gewisser später notwendiger Fertigkeiten stören. Das schließt natürlich durchaus nicht manuelle Betätigung in den sonstigen Unterrichtsbetrieben aus, ebensowenig wie der systematische Gang des Zeichnens, der gleichfalls ohne Rücksicht auf andere Fächer seine eigenen psychologisch fundierten Wege gehen muß, es ausschließt, daß aller Unterricht sich auch der graphischen Darstellung vom ersten Tage an als Ausdrucksmittel bedient.

Damit steht die Entwicklung unserer zukünftigen Schule in ihren wesentlichen Zügen klar genug vor unserem Auge. Ich habe nicht das Gefühl, daß wir, indem wir mit unserer ganzen Kraft dieser Entwicklung die Wege bahnen helfen, revolutionäre Neuerer sind. Ich habe im Gegenteil das Gefühl, daß wir alten, uralten pädagogischen Forderungen zum endlichen Siege verhelfen, indem wir streben, in unseren öffentlichen Volksschulen auch jenen ungeheuren Massen Bildung zu geben, für welche die ausschließlich geistige Arbeit kein Bildungsmittel sein kann. Was wir über eine notdürftige Einführung in den selbständigen Gebrauch von Schrift- und Zahlzeichen hinaus gegenwärtig diesen Massen geben, [109] das ist nicht Bildung, sondern Bildungslack, der sehr bald reißt und springt und bei der überwiegenden Zahl der Schüler innerhalb weniger Jahre sich vollständig abbröckelt. Denn ein Wissen, zu dessen Erarbeitung keine aus praktischer oder geistiger Arbeit erwachsenden Probleme, mögen sie auch allereinfachster Art sein, den Schüler drängen, nach dem also kein innerliches Bedürfnis im Schüler vorhanden ist, das geht ebensowenig mit der Seele eine Verbindung ein wie der Asphaltlack, der auf eine Glasplatte gestrichen wird.

Was heute von uns so heiß und mit aller Klarheit erstrebt wird, war vor hundert Jahren schon von allen pädagogischen Köpfen schmerzhaft vermißt. In Fichtes Nachlaß, Band III, Seite 260 (Bonn 1834) finde ich folgende drastische Darstellung seiner Empfindung: »Kaum entwickelt sich des Kindes Organ zu dem ersten Lallen und bietet so unserer harrenden (Erziehung-)Kunst eine Blöße, so erhält es Worte statt der Dinge und Redensarten statt der Empfindungen. Bald werden ihm die lauten Worte, ein der Anschauung noch immer zu nahe liegendes Schema, in tote Buchstaben verwandelt, bis durch Geläufigkeit auch diese ihre festen Formen verlieren [110] und die Kinder in einem Meere von ungeformtem Buchstabenelement, als ihrer eigentlichen Welt, schwimmen.... Die höchste Kunst der Erziehung ist dann die, ja auf keinem Schatten niederer Potenz den Zögling einen Augenblick verweilen zu lassen ..., sondern ihn schnell zum Schatten des Schattens und zum Schatten wiederum des letzteren und so immer weiter fort zu treiben.... Auf diese Weise ist dann der Generation nur noch eine Nebel- und Schattenwelt ohne irgendeinen sie tragenden Kern von Anschauung, Wahrheit und Realität übrig geblieben.«

Vor allem habe ich das Gefühl, daß wir in unseren Bestrebungen ganz im Geiste dessen handeln, der so viel gepriesen und so wenig verstanden wird, der uns in Lienhard und Gertrud, in den Briefen an Heinrich Geßner und besonders im Schwanengesang so oft gelehrt hat, daß nur »die Arbeit in der das Kind umgebenden Welt« der elementaren Volksschule ihre Bildungskraft gibt. Ja, ich wage es zu sagen: Ohne daß diese Worte sich genau so in seinen Werken finden, war Pestalozzi der felsenfesten Überzeugung, daß die Berufsbildung die Pforte der Menschenbildung ist.

Drei Generationen sind seit seinem Tode dahingegangen. Noch immer harrt sein Werk der [111] Vollendung. »Ich glaube es aussprechen zu dürfen,« sagt er in seiner Rede an sein Haus am 12. Januar 1818, »das Jahrhundert, bei dessen Anfang unsere pädagogischen Nachforschungen begonnen, wird noch an seinem Ende die ununterbrochene Fortsetzung unserer Anstrengungen in Händen von Männern sehen, die ihre Ansichten und Mittel den vereinigten Kräften unseres Hauses danken.« Der Flugsand der Gedankenlosigkeit hat Berge über Wahrheiten geschüttet, die einst das Herz des unermüdlichen Forschers nach Menschenbildung erfüllten. Aber wirkliche Wahrheiten steigen immer wieder wie Geister aus ihren Grüften auf und wandern umher und beunruhigen die Herzen der Menschen, bis sie endlich Erlösung und Ruhe finden in der Verwirklichung des realen Lebens. Wir alle, die wir mit wissenschaftlichem Ernst und hingebender Energie einer Schulorganisation die Wege bahnen, die dem Vater der Volksschule vor Augen schwebte, bringen diesen Geistern die ersehnte Erlösung. Vielleicht wird dann das Ende des 20. Jahrhunderts das in Vollendung schauen und genießen, was er am Anfang des 19. Jahrhunderts in heißen Kämpfen und in bitterer Not seiner Erkenntnis abgerungen hat.

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