Aus Briefen der Jungfer Claire Valmont an Rosalie Tütel Mayer

27. Juli 172*.

Entschuldigt, teure Tante, dass ich Euch so lange nicht geschrieben habe, aber über diesem Umzuge haben wir alle den Kopf verloren; jetzt kommt alles nach und nach in Ordnung, und gestern wurde schon das Schild aufgehängt; Papa macht alles selbst, ärgert sich und schilt uns und gestern kam es mit ihm so weit, dass er sein Gilet mit dem Hinterteil nach vorne angezogen hatte. Mama lässt Euch vielmals grüssen; ich habe ein eigenes Zimmer, aber neben dem ihrigen und die Tür lasse ich zur Nacht offen stehen, weil ich immer noch derselbe Hasenfuss geblieben bin. Papa hat, ausser Jean und Pierre, nur noch einen Lehrling und dann noch Jacques Mobert, der unlängst zu uns in Dienst getreten und, wie ich glaube, von hier gebürtig ist. So ein sonderbarer Kauz! Er kam, sich zu verdingen, in später Nacht, als wir uns schon schlafen legen wollten; Papa hätte ihn beinahe, ohne weiter zu reden, davongejagt, aber schliesslich ging alles gut aus. Arbeit gibt es, gottlob! viel, so dass Papa sich ordentlich müde arbeitet; aber was ist dabei zu machen, man muss doch auf irgendeine Art leben. Was soll ich Euch über Lachaise-Dieu sagen? Es ist das ein ganz kleines Städtchen mit einem alten Kloster, das wie eine Festung aussieht, in der Ferne kann man Berge sehen. Ich weiss nicht, ob wir es hier nicht sehr langweilig haben werden, obgleich wir schon einige Bekanntschaften gemacht haben. Einstweilen kommt man noch, wegen der Einrichtung, zu nichts. Lebet wohl, liebe Tante, entschuldigt, dass ich wenig schreibe — ich habe furchtbar wenig Zeit und dann ist es auch so heiss, dass mein Hals ganz nass ist. Ich küsse Euch usw.

Eure Euch liebende Nichte
Claire Valmont.

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15. September 172*.

Ich danke Euch, liebes Tantchen, für das Wintermäntelchen, das Ihr mir gesandt habt. Wirklich, Ihr seid zu vorsorglich, da Ihr mir Euer liebes Geschenk jetzt geschickt habet, wo wir noch in Kleidern auf die Strasse gehen. Ich erkenne das liebe Tantchen Rosalie sowohl in dieser Aufmerksamkeit, als auch in der Wahl des Zeuges! Wo habt Ihr bloss einen solch prächtigen Stoff gefunden? Hauptsächlich einen mit solchem Dessin? Diese so grellen Rosen mit den grünen Blättern auf goldig-gelbem Grunde sind der Gegenstand der Bewunderung aller unserer Bekannten, die uns besonders besuchen, um Euer Geschenk zu sehen, und ich warte mit Ungeduld auf die Kälte, um diese Pracht einzuweihen. Wir sind alle gesund, wenn wir auch bescheiden leben und uns nirgendwo zeigen. Zu Hause macht uns Jacques viel Spass; das ist ein sehr lustiger, lieber junger Mann, talentvoll und arbeitsam, so dass Papa nicht genug Lob finden kann. Mütterchen gefällt es nicht, dass er nicht zur Kirche geht und nicht fromme Gespräche liebt. Natürlich ist das nicht gut, aber man kann diesen Fehler mit seiner Jugend entschuldigen, um so mehr, als Jacques ein sehr bescheidener Jüngling ist: er treibt sich nicht herum, spielt nicht und trinkt nicht. Noch einmal danke ich Euch, liebe Tante, für den Wintermantel und bleibe

Eure Euch liebende Nichte
Claire Valmont.

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2. Oktober 172*

Teures Tantchen, ich wünsche Euch von ganzem Herzen Glück zu Eurem Geburtstage (es ist doch schon das neunundsechzigste Lebensjahr, in das Ihr tretet!) und wünsche Euch ihn mit weniger dunkeln, weniger gemischten Gefühlen zu begehen, als ich sie eben habe. Ach, Tante, Tante. Ich bin so gewöhnt Euch alles zu schreiben, dass es mir viel leichter fällt Euch ein Geständnis abzulegen, als Père Vital, unserem Beichtvater, den ich doch bloss einige Monate kenne. Wie soll ich beginnen? Und womit? Ich zittere, wie ein kleines Mädchen, und nur die Erinnerung an Euer liebes, gutes Gesicht, das Bewusstsein, dass ich für Tante Rosalie immer noch dieselbe kleine Claire bin, verleiht mir Mut. Entsinnet Ihr Euch, dass ich Euch von Jacques Mobert schrieb, nun also, Tante, ich liebe ihn. Erinnert Euch an Eure Jugendzeit, an Regensburg, an den jungen Heinrich von Monschein und geht nicht zu streng ins Gericht mit Eurer armen Claire, die dem Zauber der Liebe nicht widerstanden hat . . . . Er hat versprochen Vater alles zu sagen und mich nach Weihnachten zu heiraten, aber zu Hause argwöhnt niemand etwas und bitte verratet mich nicht. Wie mir leichter geworden ist, seit ich Euch gestanden habe. Ich liebe besonders seine Augen, die so gross sind, wenn er küsst, und dann pflegt er sich mit den Augenbrauen an meine Wangen zu reiben, was bezaubernd angenehm ist.

Verzeihet mir, liebe Tante, und seid nicht bös auf Eure arme

Claire Valmont.

Ich wollte bloss noch sagen, dass Jacques gar kein Hiesiger ist und in Lachaise-Dieu kennt niemand ihn, wir haben es uns ganz ohne Grund eingebildet. Aber ist das eigentlich nicht ganz gleichgültig? Nicht wahr? . . .

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6. Dezember 172*.

Es ist wahr, dass ein Unglück niemals allein kommt! Mama bemerkte gestern meine Taille und fing an mich auszufragen und ich gestand alles. Ihr könnt Euch Mamas Kummer, Papas Zorn vorstellen. Er schlug mich ins Gesicht und sagte: „Ich habe nie geglaubt, eine Dirne zur Tochter zu bekommen“, dann ging er fort und warf die Tür zu. Mama tröstete sich unter Tränen selbst, so gut sie konnte. Wie Ihr mir fehlet, liebe Tante, Eure Liebkosungen, Euer Rat. Jetzt gehe ich nirgendwohin aus und ich werde keine Gelegenheit haben Euern Mantel einzuweihen. Aber schrecklicher, als alles, ist, dass Jacques unsverlassen hat. Ich bin überzeugt, dass er sich in seine Stadt aufgemacht hat, um den Segen seiner Eltern zu erbitten; wie dem aber auch sein möge, er ist nicht da, und meine Langeweile und Niedergeschlagenheit wird durch seine Abwesenheit nur noch grösser. Mir scheint, dass alle von meiner Schande wissen, und ich fürchte mich ans Fenster zu treten; ich nähe ohne zu rasten, obgleich es mir jetzt schon schwerfällt lange gebückt zu sitzen. Ja, eine schwere Zeit ist für mich gekommen. Wie das Lied singt:

„Plaisir d’amour dure qu’un moment,

Chagrin d’amour dure toute la vie.“

Lebet wohl usw.

Eure Euch liebende
Claire.

2. Juni 172*.

Ihr habet wohl geglaubt, liebe Tante, dass ich schon tot sei, als Ihr so viele Monde keinen Brief von mir erhieltet. Zum Unglück bin ich noch am Leben. Ich will ruhig alles erzählen, was vorgefallen ist. Jacques ist nicht da, möge Gott ihm seine Bosheit vergeben, wie er uns von den Ränken Satans erlöst hat. Am 22. Mai kam ich mit einem Kinde, einem Knaben, nieder. Aber, allgütiger Gott, was war das für ein Kind: ganz behaart war es, ohne Augen, mit deutlich sichtbaren Hörnern auf dem Kopfe. Man fürchtete für mein Leben, als ich mein Kind zu sehen bekam. Mein Kind, wie schrecklich! Desungeachtet wurde beschlossen, es nach dem Ritus der heiligen katholischen Kirche zu taufen. Während des heiligen Sakramentes fing das für die Taufe vorbereitete Wasser zu dampfen an, es erhob sich ein fürchterlicher Gestank, und als die Anwesenden, nachdem der ätzende Dampf sich verzogen hatte, die Augen wieder öffnen konnten, erblickten sie im Taufbecken, statt des Kindes, einen grossen schwarzen Rettich. Mögen wir vor den Ränken Satans verschont bleiben. Könnet Ihr Euch den ganzen Kummer, das ganze Entsetzen und die Freude darüber vorstellen, dass wir nicht völlig ins Verderben gestürzt worden sind. Als man mir alles erzählte, was in der Kirche vorgefallen, war ich wie wahnsinnig. Bei uns wurde eine Messe gelesen und jeden Tag wird mit geweihtem Wasser gesprengt. Für mich werden Gebete um Austreibung böser Geister gelesen. Père Vital riet meinen Organismus vom bösen Samen zu reinigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ihr würdet mich nicht wiedererkennen, liebe Tante, so habe ich mich in dieser Zeit verändert. Nicht jeden trifft ein solches Unglück. Aber Gott erhalte alle, die ihre Zuversicht auf ihn setzen. Lebet wohl usw.

Eure Euch liebende
Claire Valmont.

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15. Juni 172*.

Ich schreibe Euch wieder, liebe Tante, weil ich glaube, dass Ihr Euch unserer Angelegenheiten wegen beunruhiget. Nach meiner Reinigung begannen die Einwohner auch bei sich die Überbleibsel der Spuren des bösen Geistes auszurotten. Man erinnerte sich an alle Arbeiten, die Jacques Mobert (obgleich es besser wäre ihn Teufel Beelzebub zu nennen) gemacht hatte: Stiefel, Halbstiefel, Schuhe und Kanonenstiefel, und nachdem sie alles auf dem Platze vor der Abtei zu einem Haufen geschichtet hatten, wurde es verbrannt. Nur der alte Uhrmacher Limosius weigerte sich seine Stiefel herzugeben, weil ihm, wie er sagte, dauerhafte Stiefel wichtiger seien, als ein alberner Aberglaube. Aber er ist natürlich ein Jude und Gottloser, der nicht um die Errettung der unsterblichen Seele besorgt ist. Lebet wohl, liebe Tante, usw.

Ich verbleibe Eure Euch liebende
Claire Valmont.

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