Die Nervenzellen wollen wir besonders ins Auge fassen, weil wir uns überzeugt haben, daß die Altersveränderungen, die das Gehirn erfährt, sehr beträchtlich sind, und weil sich uns ergeben hat, daß das Versagen bestimmter Teile des Gehirnes das schnelle Hinsterben der andern gealterten Zellen des Zellenstaates einleitet.
Eine ganze Anzahl von Forschern hat sich mit der Frage befaßt, worin die Veränderungen bestehen, die die Nervenzellen im Alter erfahren. Daß sie im hohen Alter an Größe abnehmen, wissen wir schon. Aber noch eine andere Veränderung hat man an den gealterten Nervenzellen beobachtet, und diese interessiert uns hier ganz besonders.
Abb. 23. Nervenzellen aus dem Rückenmark eines im Alter von 3 Jahren verstorbenen Knaben. Die mit Osmiumsäure schwarz gefärbten Körnchen sind über die ganze Zelle verstreut. Manche Zellen sind von Körnchen ganz frei. (In manchen Zellen hat der Schnitt den Zellkern nicht mitgetroffen).
Es ist das große Verdienst von Mühlmann, einem russischen Forscher, unsere Erkenntnis über die Altersveränderungen der Nervenzellen in beinahe zwanzigjähriger mühseliger Forscherarbeit gefördert zu haben. Man hatte gefunden, daß in den Nervenzellen alter Leute kleine, fettglänzende Körnchen und dunkle Stäubchen oder Pigment vorkommen, und man nahm zunächst an, daß das Vorkommen von Fettkörnchen und Pigment in den Nervenzellen mit irgendwelchen Krankheiten der alten Leute zusammenhängen müsse. Hier haben nun die Untersuchungen von Mühlmann eingegriffen. Er beschränkte sich nicht darauf, die Nervenzellen bloß alter Leute auf ihren Gehalt an den fraglichen Fett- und Pigment-Körnchen zu untersuchen. Er untersuchte auch die Nervenzellen von Menschen, die schon in jugendlichem Alter gestorben waren. So hat er im Laufe der Zeit die Nervenzellen von Leuten untersucht, die im Alter von 1, 2, 3, 8, 15, 18, 19, 24, 26, 29, 38, 48, 53, 60, 70, 83 und 90 Jahren gestorben waren, und es hat sich dabei folgendes herausgestellt.
Wenn man die Nervenzellen von Kindern mit dem Mikroskop untersucht, so findet man in manchen Zellen kleine glänzende Körnchen, die über den ganzen Zelleib verstreut sind. Betupft man das Stückchen Rückenmark oder Gehirn, das man auf einem Glasplättchen unter dem Mikroskop liegen hat, mit einem Tropfen der sogenannten Osmiumsäure, so werden die glänzenden Körnchen schwarz (Abb. 23). Osmiumsäure hat die Fähigkeit, fettartige Stoffe zu schwärzen. Wir müssen darum annehmen, daß diese Körnchen aus Fett bestehen. Betupfen wir nun ein Stückchen Gehirn oder Rückenmark mit Alkohol oder Äther, so verschwinden die glänzenden Körnchen: Alkohol und Äther haben die Fähigkeit, Fett aufzulösen. Folglich ist unsere Vermutung, daß die glänzenden Körnchen in den Nervenzellen aus einem fettähnlichen Stoff bestehen, bestätigt. Wie uns die Abbildung zeigt, sind die Körnchen bei jugendlichen Personen nicht in allen Zellen enthalten, und in den einen ist ihre Zahl größer, in den andern geringer. Aber wenn man ein Stückchen Rückenmark oder Gehirn mit dem Mikroskop untersucht, so findet man in der einen oder anderen Zelle doch solche Körnchen in den Nervenzellen, auch wenn es sich um die Leichen von Kindern handelt, die kaum ein Jahr alt geworden sind.
Untersucht man die Nervenzellen von ältern Personen, z. B. im Alter von 16 und 19 Jahren (Abb. 24 u. 25), so findet man, daß hier die Körnchen schon in größerer Anzahl in den Zellen vorhanden sind. Sie liegen hier viel dichter in den Zellen, und die Zahl der Zellen, in denen die Körnchen vorkommen, ist größer als bei kleinen Kindern. Außerdem kann der Untersucher feststellen, daß die Körnchen, auch wenn man sie nicht erst mit Osmiumsäure färbt, schon an und für sich ein dunkleres Aussehen haben, die Körnchen sind dunkelbraun bis schwarz geworden, und man muß sie jetzt als Pigment bezeichnen.
Abb. 24. Nervenzellen eines 16jährigen Mannes. | Abb. 25. Nervenzellen einer 19jährigen Frau. | Abb. 26. Nervenzelle aus dem Rückenmark einer 80jährigen Frau. | Abb. 27. Nervenzelle einer 80jährigen Frau. Schematisiert. |
Im höheren Alter liegen die nunmehr ganz dunklen Pigmentkörnchen in dichten Haufen beisammen, wie uns die Abb. 26 zeigt, die uns eine Nervenzelle einer 80jährigen Frau vor Augen führt. Man kann hier die einzelnen Pigmentkörnchen gar nicht mehr zählen, so groß ist die Zahl der dicht beisammen liegenden Körnchen. Manchmal nehmen bei alten Leuten die Pigmentkörnchen beinahe die ganze Zelle ein, so daß nur ein schmaler Saum von Protoplasma in der Zelle von ihnen frei bleibt (Abb. 27).
Wie bei Menschen, so sieht man auch bei Tieren mit zunehmendem Alter die Fett- und Pigmentkörnchen sich in den Nervenzellen häufen. Mühlmann hat die Nervenzellen vom Meerschweinchen, von der Kuh, der Maus, dem Papagei u. a. auf ihren Gehalt an Fett- und Pigmentkörnchen untersucht. Stets waren sie vorhanden, wie uns die Abb. 28 u. 29 für die Kuh und für die Maus zeigen. Sehr schön ist der Unterschied zwischen der jugendlichen und gealterten Nervenzelle auf den Abb. 30 u. 31 zu sehen: die Fettkörnchen fehlen bei dem neugeborenen Meerschweinchen, während sie bei dem 2 1/2 Jahre alten Meerschweinchen in beträchtlicher Zahl vorhanden sind. Ebenso beim jüngern und ältern Papagei (Abb. 32 u. 33). Zuweilen findet man die Pigmentkörnchen auch in dem Kern der Zelle liegen (Abb. 28).
Abb. 28. Nervenzelle aus dem Rückenmark einer zweijährigen Kuh. | Abb. 29. Nervenzelle aus dem Rückenmark einer zweijährigen Maus. Stark schematisiert. | Abb. 30. Nervenzelle eines 1 Monat alten Meerschweinchens. |
Abb. 31. Nervenzelle eines 2 1/2 Jahre alten Meerschweinchens. | Abb. 32. Nervenzelle eines etwa 12 Jahre alten Papageis. Stark schematisiert. | Abb. 33. Nervenzelle eines alten Papageis. Schematisiert. Abbildungen 23 bis 33 nach Mühlmann. |
In manchen Gebieten des Nervensystems häufen sich die Fettkörnchen, die allmählich zu dunklen Pigmentkörnchen geworden sind, früher an als in andern, z. B. in manchen Zellgruppen, die bei der Regulierung der Herzmuskelarbeit und der Arbeit der Atemmuskeln mittun.
Fassen wir zusammen, was uns die Untersuchungen von Mühlmann gelehrt haben, so läßt sich sagen, daß in den Nervenzellen schon in der frühen Jugend Fettkörnchen auftreten, die mit dem Alter an Menge mehr und mehr zunehmen, bis sie schließlich beinahe die ganze Zelle erfüllen.
Pigmentkörnchen hat man auch in den gealterten Zellen aller anderen Organe nachgewiesen. Besonders auffallend ist die Ablagerung eines bräunlichen Pigmentes in den Herzmuskelzellen.
Was hat diese Einlagerung von Pigment in den Zellen zu bedeuten? Diese Frage zu beantworten, ist nicht leicht. Nur Vermutungen können wir darüber anstellen.
Man kennt die Tatsache, daß im Stoffwechsel mancher Formen der lebendigen Substanz, z. B. bei Bakterien und bei manchen Wirbellosen, Stoffe entstehen, die in die chemische Gruppe der Fettsäuren hineingehören. Unter gewissen Umständen, wie bei Krankheiten, entstehen auch im Stoffwechsel des Menschen Fettsäuren, z. B. bei der Zuckerkrankheit. Fettsäuren nun vereinigen sich mit Glyzerin zu Fett. Gibt man einem Tier größere Mengen von Fettsäuren ein, so findet man nach einigen Stunden in der Lymphe des Tieres zahlreiche Fettkügelchen. Das sagt uns, daß die Zellen des tierischen Organismus die Fähigkeit besitzen, Glyzerin herzustellen, das sich dann mit den Fettsäuren zu Fett vereinigt. Man könnte sich daraufhin vorstellen, daß die fettglänzenden Körnchen, die man in den Zellen des Organismus von der frühesten Jugend an sich bilden sieht und die, wie wir uns oben überzeugt haben, jedenfalls Tröpfchen eines fettähnlichen Stoffes sind, in folgender Weise entstehen. In den Zellen unseres Körpers werden im Stoffwechsel vielleicht auch schon normalerweise Fettsäuren gebildet, die aber im weiteren Verlauf der stofflichen Umsetzungen in den Zellen aus diesen herausgeschafft werden, indem sie zu Kohlensäure und Wasser, den Endprodukten des Stoffwechsels, verbrannt werden. Nun nehmen wir an, daß es mit der Abfuhr der Stoffwechselprodukte aus den Zellen des Zellenstaates gar nicht so gut bestellt ist, wie es sein sollte. Dann werden Stoffwechselprodukte in den Zellen liegen bleiben, obgleich sie hier nicht mehr hineingehören. Die Umsetzungen in den Zellen werden eine Einbuße erleiden und die Weiterverarbeitung der Fettsäuren wird nicht gut genug vonstatten gehen können. Es wird ein Rest von Fettsäuren in den Zellen zurückbleiben. Die Fettsäuren werden zu einer fettähnlichen Substanz verarbeitet werden – das Glyzerin, das die Zellen dazu nötig haben, können sie ja selber herstellen. Wenn dieser Gedankengang richtig ist, dann dürfen wir die fettglänzenden Körnchen oder die Pigmentkörnchen, in die sich die fettglänzenden Körnchen in den Nervenzellen im Laufe der Zeit umwandeln, als Stoffwechselprodukte auffassen, die sich in den Zellen sammeln, weil die Abfuhr der Stoffwechselprodukte aus den Zellen im Zellenstaat nicht ergiebig genug vonstatten geht.
Doch wir dürfen nicht vergessen, daß alle diese Einzelheiten ganz und gar nur Vermutungen sind. Der wirkliche Sachverhalt kann auch anders sein, die Pigmentkörnchen können in den Zellen auch auf eine andere Weise entstanden sein. Wie dem aber auch sei: wir kommen um die Tatsache nicht herum, daß in den Zellen unseres Körpers, vornehmlich in den Nervenzellen und in den Herzmuskelzellen – aber auch in allen andern Zellen sonst –, Pigmentkörnchen, aus fettähnlichen Stoffen entstanden, sich häufen und daß diese Körnchen wahrscheinlich Stoffwechselprodukte der Zellen oder Schlacken des Stoffwechsels schlechtweg sind.
Und jetzt gedenken wir all der Dinge, die wir uns aus der Lebensgeschichte eines Pantoffeltierchens haben erzählen lassen. Wir waren dahin gekommen, daß das sonst unsterbliche Pantoffeltierchen altert und stirbt, wenn sich Schlacken in seinem Zelleib ansammeln. Das Pantoffeltierchen verfällt dabei einer Atrophie, die mit der Altersatrophie im Zellenstaat verglichen werden kann. Nun ist uns die Tatsache vertraut geworden, daß auch in den Zellen des Zellenstaates sich im Laufe des Lebens ganz allmählich Schlacken ansammeln. Was ist da durchsichtiger, als daß die Altersatrophie der Zellen im Zellenstaat in derselben Weise zustandekommt wie die Depression und die Atrophie des Pantoffeltierchens? Die Schlacken, die sich mehr und mehr in der Zelle häufen, stören den Stoffwechsel der Zellen, die Zellen nehmen allmählich an Masse ab, sie werden atrophisch – bis sie schließlich zusammenbrechen, genau so wie das Pantoffeltierchen und seine Verwandten in den Versuchen von Maupas und Calkins.
Wir werden also dahin geführt, daß die im Leben entstehenden Stoffwechselprodukte wahrscheinlich nicht sorgfältig genug aus den Zellen, die im Zellverband beisammenleben, herausgeschafft werden können, daß sie sich mehr und mehr in den Zellen häufen, den Stoffwechsel der Zellen stören und eine Atrophie der Zellen hervorrufen. Und sobald die Anhäufung der Schlacken in den Nervenzellen und damit die Atrophie der Nervenzellen weit genug fortgeschritten ist, sind diese Zellen nicht mehr auf ihrem Posten, sie versagen im Dienst. Wir büßen die geistige Frische ein, wir werden alt. Es kommt schließlich der Zeitpunkt, wo auch diejenigen Nervenzellen versagen, die Atmung und Herztätigkeit regulieren. Die alten Herzmuskelzellen und auch alle andern Zellen im Körper sind gleichfalls nicht mehr so recht auf ihrem Posten. Atmung und Herzschlag stehen still – das Sterben der Zellen im Zellenstaat beginnt.
Aber wieso kommt es, daß die Stoffwechselprodukte der Zellen des Zellenstaates nicht so sorgfältig herausgeschafft werden, wie aus dem Zelleib des Pantoffeltierchens? Da müssen wir daran denken, daß so ein Pantoffeltierchen eine freilebende Zelle ist, die von allen Seiten vom Wasser, in dem es lebt, umspült wird. Unter solchen Umständen geht es mit der Ausscheidung der Stoffwechselprodukte sehr leicht. Bei den Zellen aber im Zellenstaat mußte die Sache schwieriger werden. Allerdings, auch die Zellen im Zellenstaat leben im Wasser, in „fließendem Wasser“, denn wir nehmen alle Tage ein paar Liter Wasser auf und erneuern so im Laufe von längstens drei Wochen alles Wasser unseres Körpers. Aber die Zellen im Zellenstaat sind mit Bezug auf das Wasser, das sie umspült, doch schlechter bestellt als das freilebende Pantoffeltierchen. Nur die wenigsten Zellen im Zellenstaat werden von den Körperflüssigkeiten, vom Blut und von der Lymphe, unmittelbar umspült. Die meisten Zellen im Zellenstaat, die in großen Haufen beisammenliegen, können mit dem Blut und der Lymphe nur durch Vermittlung benachbarter Zellen verkehren, die dem Blute näher sind oder direkt von diesem umspült werden. Da ist es leicht begreiflich, daß die Abfuhr der Schlacken im Zellenstaat nicht so sorgfältig vonstatten gehen kann wie beim Pantoffeltierchen, das sich frei im Wasser tummelt. Und die Zellen des Zellenstaates sind in derselben Lage wie ein Pantoffeltierchen, dem man nicht häufig genug das Wasser wechselt. Und sie gehen zugrunde, weil sie mit den Schlacken des Stoffwechsels überladen werden.
Dann kommt noch hinzu, daß das weiche bindegewebige Daunenbett der Blutgefäße im Laufe der Zeit hart geworden ist: das alt gewordene Bindegewebe macht die Blutgefäße starr und stört die prompte Zufuhr von Blut zu den Zellen im Körper.
Und so ergibt sich uns der Schluß: Im Zusammenleben der Zellen im Zellverband liegen die Bedingungen für den Tod des vielzelligen Organismus, für den natürlichen Tod aus Altersschwäche, der sich mit eiserner Notwendigkeit aus dem Leben der Zellen im Zellenstaat entwickelt. Die Schlacken des brennenden Lebensfeuers der Zellen im Zellenstaat bringen das Leben allmählich zum Stillstand. Der Zellenstaat bringt sich selber um.
Mit Bezug auf die Bedeutung, die die Nervenzellen für das Zustandekommen des Todes haben sollen, ist ein Einwand möglich. Ribbert selbst hat diesen Einwand in ansprechender Weise diskutiert.
Man könnte nämlich behaupten, daß die Atrophie der Nervenzellen doch nicht immer daran schuld sein könne, daß nunmehr das Sterben des Zellenstaates beginnt. Sehr viele Menschen sterben bei völliger geistiger Frische, trotzdem sie ein Alter erreichen, das über das Durchschnittsalter der Menschen weit hinausgeht. Man denke an den Historiker Mommsen, der 86 Jahre alt war, als er starb, und an den Physiker Bunsen, der sogar erst mit 88 Jahren starb. Beide waren bis zuletzt bei völliger geistiger Frische. Der berühmte Physiologe Eduard Pflüger, der ein Alter von 81 Jahren erreichte und vor wenigen Jahren in Bonn starb, hielt bis zu den letzten Tagen seines Lebens nicht nur die Vorlesung ab, sondern arbeitete in angestrengter Weise auch noch im Laboratorium an schwierigen wissenschaftlichen Untersuchungen, mit denen er auch literarisch im Mittelpunkte hochwichtiger physiologischer Streitfragen stand. Und dann war er zu Ende des Semesters wenige Tage krank und war tot.
Wie reimt sich das damit zusammen, daß ein Versagen der Nervenzellen den Tod unseres Zellenstaates einleitet?
Die Sache liegt hier vielleicht so: Die Arbeit des Gehirnes beruht auf einem Zusammenarbeiten vieler Nervenzellen, und jede Zellgruppe kann dabei für sich im Dienst versagen. Während z. B. die Nervenzellen, die der Atmung und dem Blutkreislauf vorstehen, noch rüstig arbeiten, können die Nervenzellen, die das Denken besorgen, schon mehr oder weniger atrophisch sein. Das ist im Alter ja auch die große Regel. Es kann nun aber auch der Fall eintreten, daß die Nervenzellen, die der Atmung und dem Blutkreislauf vorstehen, eher versagen, als die Zellen, deren Arbeit Denken ist! Dann wird der Greis bei völliger geistiger Frische sterben. Die Altersveränderungen in den Nervenzellen, die das Denken besorgen, werden bei solchen Menschen, die andauernd geistig tätig sind, sich weniger schnell bemerkbar machen. „Die fortgesetzte Übung der Nervenzellen, die mit besserer Blutzufuhr und besserer Ernährung verbunden ist, wird dadurch auch eine lebhaftere Durchspülung des Protoplasmas und eine leichtere Abfuhr der Stoffwechselprodukte herbeiführen,“ sagt Ribbert. Die Nervenzellen aber, die für die Regelung der Herztätigkeit und der Atmung in Betracht kommen, werden bei diesen Menschen in demselben Tempo der Atrophie und dem Tode entgegenschreiten, wie bei allen anderen Menschen, die aus Altersschwäche sterben. Und dann wird plötzlich der Tag gekommen sein, wo den silberweißen Greis, den wir alle wegen seiner geistigen Frische bewundert, der Sensenmann ereilt hat.
Diese Auffassung ist wohl plausibel. Das sieht ein jeder ein. Wir wissen, daß z. B. ein Muskel mit Bezug auf seine Ernährung viel besser davonkommt, wenn er Arbeit leistet, als wenn er keine Arbeit tut. Voraussetzung ist natürlich, daß er nicht überanstrengt wird, daß ihm genügend Zeit zur Erholung gelassen wird. Aber es ist doch zunächst bloß eine Vermutung, daß es so auch mit den Nervenzellen ist, daß die andauernde geistige Tätigkeit die Nervenzellen, die Denkarbeit leisten, vor einer allzuschnellen Überladung mit den todbringenden Stoffwechselabfällen verschont.
Abb. 34. Rückenmark, aus dem Wirbelkanal herauspräpariert. Von hinten. Man sieht bei A die Armanschwellung, die Stelle, wo die vielen großen Nervenzellen liegen, welche die Muskeln des Armes regieren. Bei B die Lendenanschwellung mit den Nervenzellen für die Beinmuskeln. Nach Toldt.
Mühlmann hat nun vor einigen Jahren Untersuchungen ausgeführt, die diese Vermutung vielleicht zu stützen vermögen. Er hat die Pigmentmenge in den Nervenzellen des Rückenmarks, die die Muskeln des rechten und linken Armes regieren, bestimmt. Er fertigte sich mikroskopische Schnitte von der „Arm-Anschwellung“ des Rückenmarkes (Abb. 34) an und zählte in einer ganzen Serie von Schnitten die Nervenzellen aus, wobei er sich die Zahl der Nervenzellen, die stark pigmenthaltig waren, besonders notierte. Die Zählungen von Mühlmann haben ergeben, daß die Zahl der Nervenzellen, die stark pigmenthaltig waren, auf der rechten Seite geringer war als auf der linken. So waren nach Mühlmann bei 18 Personen im Alter von 18 bis 46 Jahren auf der linken Seite 77,2 Prozent aller Zellen stark pigmenthaltig, auf der rechten Seite nur 74,8 Prozent. Die Personen, deren Nervenzellen Mühlmann auf ihren Pigmentgehalt untersucht hat, waren rechtshändig und sie hatten somit mit dem rechten Arm im Laufe ihres Lebens mehr Arbeit geleistet als mit dem linken. Mühlmann ist der Meinung, daß seine Untersuchungen dafür sprechen, daß die mehr arbeitenden Nervenzellen weniger Pigment enthalten, d. h. weniger Stoffwechselprodukte anhäufen, als diejenigen Zellen, die weniger gearbeitet haben. Ohne weitere Untersuchungen ist es nicht möglich, zu entscheiden, ob Mühlmann hier wirklich recht hat: der Unterschied von rechts und links ist in den Zählungen von Mühlmann doch zu gering. Wollte man aber die Ergebnisse der Mühlmannschen Untersuchungen auf die Nervenzellen des Gehirnes, die die Denkarbeit leisten, übertragen, so wäre hier der Sachverhalt so: Bei manchen Leuten, bei denjenigen, die als geistig hochstehende Menschen andauernd geistig tätig sind, werden bestimmte Nervenzellen des Gehirns mehr Arbeit leisten als bei andern Leuten, die nicht in einem solchen Maße geistig arbeiten. Bei den ersten werden die Denkzellen weniger Pigment anhäufen als bei den zweiten. Und darum werden die geistig arbeitenden Menschen ihre geistige Frische länger erhalten können als die andern.
Aber auf jeden Fall darf man nicht glauben, daß jede vermehrte Arbeit dahin führen müsse, daß nun die Zellen, die diese Arbeiten leisten, mit Bezug auf eine Durchspülung mit Blut besser gestellt sind als die Zellen, die weniger Arbeit leisten. Nein, das ist nur innerhalb bestimmter Grenzen möglich. Sobald wir den Zellen unserer Organe, sei es den Nervenzellen, die Denkarbeit leisten, den Herzmuskelzellen, die das Blut durch die Blutgefäße treiben, den Muskeln, die mechanische Arbeit leisten, den Nierenzellen, den Zellen der Lunge usw. eine zu große Arbeit zumuten, der sie nicht gewachsen sind, dann brechen sie unter der vermehrten Arbeit zusammen, wie die Erfahrung tausendfältig lehrt. Für alle Zellen unseres Körpers gibt es ein zuwenig und ein zuviel an Arbeit, das ihnen ein frühes Grab gräbt, und eine bestimmte Arbeitsleistung, die ihnen am zuträglichsten ist und ihnen ein langes und gesundes Leben sichert. Es ist das „Optimum“ an Arbeit, wie der wissenschaftliche Ausdruck für diese Dinge lauten könnte. Dieses Optimum an Arbeit, die „bestgrößte“ Arbeitsmenge, ist das allein wirksame Lebenselixier – wenn man schon auf der Suche nach einem solchen ist –, das die Wissenschaft uns zu bieten vermag.
Aber auch dieses Lebenselixier ist nicht so wirksam, daß es alle Scharten in den Nervenzellen auswetzen könnte, die das Alter in ihnen setzt. Auch der geistig hochstehende und andauernd geistig arbeitende Mensch büßt im Alter an Geisteskraft ein. Aber gewöhnlich schrauben wir unsere Erwartungen gegenüber einem Greis von 80 und 90 Jahren nicht mehr so hoch und wir schätzen darum seine Denkleistungen höher ein, als eigentlich berechtigt wäre. „Das wirkliche Verhalten,“ sagt Ribbert, „beurteilen wir richtiger, wenn wir uns, wie wir es ja oft tun, so ausdrücken, daß wir sagen, dieser oder jener ist für sein Alter noch merkwürdig frisch. Damit sagen wir zugleich, daß doch tatsächlich schon eine Abnahme der geistigen Funktionen bemerkbar ist. Sie laufen langsamer ab und werden einseitiger. Und diese Verminderung der psychischen Tätigkeit führen wir mit vollem Recht zunächst auf die zu dieser Zeit allerdings noch nicht zu den höchsten Graden fortgeschrittenen Veränderungen der Ganglienzellen zurück. Nimmt deren Atrophie weiterhin immer mehr zu, so steigert sich die Abnahme der psychischen Funktionen. Geordnetes Denken wird allmählich unmöglich, neue Eindrücke werden nicht mehr verarbeitet, es stellt sich Gleichgültigkeit gegen die Umgebung ein, das Gehirn vegetiert nur noch und seine Tätigkeit erlischt allmählich bis zum Eintritt des Todes.“