Eines sonnigen Vormittags um 11 Uhr verliess Mindernickel das Haus und begab sich durch die ganze Stadt hinauf zum Lerchenberge, jenem langgestreckten Hügel, der um die Nachmittagsstunden die vornehmste Promenade der Stadt bildet, der aber bei dem ausgezeichneten Frühlingswetter, welches herrschte, auch um diese Zeit bereits von einigen Wagen und Fussgängern besucht war. Unter einem Baum der grossen Hauptallee stand ein Mann mit einem jungen Jagdhund an der Leine, den er den Vorübergehenden mit der ersichtlichen Absicht zeigte, ihn zu verkaufen; es war ein kleines gelbes und muskulöses Tier von etwa vier Monaten, mit einem schwarzen Augenring und einem schwarzen Ohr.
Als Tobias dies aus einer Entfernung von zehn Schritten bemerkte, blieb er stehen, strich mehrere Male mit der Hand über das Kinn und blickte nachdenklich auf den Verkäufer und auf das alert mit dem Schwanze wedelnde Hündchen. Hierauf begann er aufs neue zu gehen, umkreiste, die Krücke seines Stockes gegen den Mund gedrückt, dreimal den Baum, an welchem der Mann lehnte, trat dann auf den letzteren zu und sagte, während er unverwandt das Tier im Auge behielt, mit leiser und hastiger Stimme:
»Was kostet dieser Hund?«
»Zehn Mark,« antwortete der Mann.
Tobias schwieg einen Augenblick und wiederholte dann unschlüssig:
»Zehn Mark?«
»Ja,« sagte der Mann.
Da zog Tobias eine schwarze Lederbörse aus der Tasche, entnahm derselben einen Fünf-Mark-Schein, ein Drei- und ein Zwei-Mark-Stück, händigte rasch dieses Geld dem Verkäufer ein, ergriff die Leine und zerrte eilig, gebückt und scheu um sich blickend, da einige Leute den Kauf beobachtet hatten und lachten, das quiekende und sich sträubende Tier hinter sich her. Es wehrte sich während der Dauer des ganzen Weges, stemmte die Vorderbeine gegen den Boden und blickte ängstlich fragend zu seinem neuen Herrn empor; er jedoch zerrte schweigend und mit Energie und gelangte glücklich durch die Stadt hinunter.
Unter der Strassenjugend des Grauen Weges entstand ein ungeheurer Lärm, als Tobias mit dem Hunde erschien, aber er nahm ihn auf den Arm, beugte sich über ihn und eilte verhöhnt und am Rocke gezupft durch die Spottrufe und das Gelächter hindurch, die Treppen hinauf und in sein Zimmer. Hier setzte er den Hund, der beständig winselte, auf den Boden, streichelte ihn mit Wohlwollen und sagte herablassend:
»Nun, nun, Du brauchst Dich nicht vor mir zu fürchten, Du Tier; das ist nicht nötig.«
Hierauf entnahm er einer Kommodenschieblade einen Teller mit gekochtem Fleisch und Kartoffeln und warf dem Tiere einen Anteil davon zu, worauf es seine Klagelaute einstellte und schmatzend und wedelnd das Mahl verzehrte.
»Übrigens sollst Du Esau heissen,« sagte Tobias; »verstehst Du mich? Esau. Du kannst den einfachen Klang sehr wohl behalten ...« Und indem er vor sich auf den Boden zeigte, rief er befehlend:
»Esau!«
Der Hund, in der Erwartung vielleicht, noch mehr zu essen zu erhalten, kam in der That herbei, und Tobias klopfte ihn beifällig auf die Seite, indem er sagte:
»So ist es recht, mein Freund; ich darf Dich loben.«
Dann trat er ein paar Schritte zurück, wies auf den Boden und befahl aufs neue:
»Esau!«
Und das Tier, das ganz munter geworden war, sprang wiederum herzu und leckte den Stiefel seines Herrn.
Diese Übung wiederholte Tobias mit unermüdlicher Freude am Befehl und dessen Ausführung wohl zwölf- bis vierzehnmal; endlich jedoch schien der Hund ermüdet, er schien Lust zu haben, zu ruhen und zu verdauen, und legte sich in der anmutigen und klugen Pose der Jagdhunde auf den Boden, beide langen und feingebauten Vorderbeine dicht nebeneinander ausgestreckt.
»Noch einmal!« sagte Tobias. »Esau!«
Aber Esau wandte den Kopf zur Seite und verharrte am Platze.
»Esau!« rief Tobias mit herrisch, erhobener Stimme; »Du hast zu kommen, auch wenn Du müde bist!«
Aber Esau legte den Kopf auf die Pfoten und kam durchaus nicht.
»Höre,« sagte Tobias, und sein Ton war voll von leiser und furchtbarer Drohung; »gehorche, oder Du wirst erfahren, dass es nicht klug ist, mich zu reizen!«
Allein das Tier bewegte kaum ein wenig seinen Schwanz.
Da packte den Mindernickel ein massloser, ein unverhältnismässiger und toller Zorn. Er ergriff seinen schwarzen Stock, hob Esau am Nackenfell empor und hieb auf das schreiende Tierchen ein, indem er ausser sich vor entrüsteter Wut und mit schrecklich zischender Stimme ein Mal über das andere wiederholte:
»Wie, Du gehorchst nicht? Du wagst es, mir nicht zu gehorchen?«
Endlich warf er den Stock beiseite, setzte den winselnden Hund auf den Boden und begann tief atmend und die Hände auf dem Rücken mit langen Schritten vor ihm auf und ab zu schreiten, während er dann und wann einen stolzen und zornigen Blick auf Esau warf. Nachdem er diese Promenade eine Zeit lang fortgesetzt hatte, blieb er bei dem Tiere stehen, das auf dem Rücken lag und die Vorderbeine flehend bewegte, verschränkte die Arme auf der Brust und sprach mit dem entsetzlich kalten und harten Blick und Ton, mit dem Napoleon vor die Compagnie hintrat, die in der Schlacht ihren Adler verloren:
»Wie hast Du Dich betragen, wenn ich Dich fragen darf?«
Und der Hund, glücklich bereits über diese Annäherung, kroch noch näher herbei, schmiegte sich gegen das Bein des Herrn und blickte mit seinen blanken Augen bittend zu ihm empor.
Während einer guten Weile betrachtete Tobias das demütige Wesen schweigend und von oben herab; dann jedoch, als er die rührende Wärme des Körpers an seinem Bein verspürte, hob er Esau zu sich empor.
»Nun, ich will Erbarmen mit Dir haben,« sagte er; als aber das gute Tier begann, ihm das Gesicht zu lecken, schlug plötzlich seine Stimmung völlig in Rührung und Wehmut um. Er presste den Hund mit schmerzlicher Liebe an sich, seine Augen füllten sich mit Thränen, und ohne den Satz zu vollenden, wiederholte er mehrere Male mit erstickter Stimme:
»Sieh, Du bist ja mein einziger ... mein einziger ...« Dann bettete er Esau mit Sorgfalt auf das Sofa, setzte sich neben ihn, stützte das Kinn in die Hand und sah ihn mit milden und stillen Augen an.