Wie lange das dauerte, wußte er nicht. Als der Zeitpunkt gekommen war, ertönte das Gong. Aber es rief noch nicht unmittelbar zur Mahlzeit, es mahnte nur, sich bereit zu machen, wie Hans Castorp wußte, und so blieb er noch liegen, bis das metallische Dröhnen zum zweitenmal anschwoll und sich entfernte. Als Joachim durch das Zimmer kam, um ihn zu holen, wollte Hans Castorp sich umziehen, aber nun erlaubte Joachim es nicht mehr. Er haßte und verachtete Unpünktlichkeit. Wie man denn vorwärts kommen wolle und gesund werden, um Dienst machen zu können, sagte er, wenn man sogar zu schlapp sei, um die Essenszeit einzuhalten. Da hatte er natürlich recht, und Hans Castorp konnte lediglich darauf hinweisen, daß er ja nicht krank, dafür aber im höchsten Grade schläfrig sei. Er wusch sich nur rasch die Hände; dann gingen sie in den Saal hinunter, zum drittenmal.
Durch beide Eingänge strömten die Gäste herein. Auch durch die Verandatüren dort drüben, die offen standen, kamen sie, und bald saßen sie alle an den sieben Tischen, als seien sie nie davon aufgestanden. Dies war wenigstens Hans Castorps Eindruck, – ein rein träumerischer und vernunftwidriger Eindruck natürlich, dessen sein umnebelter Kopf sich jedoch einen Augenblick nicht erwehren konnte und an dem er sogar ein gewisses Gefallen fand; denn mehrmals im Laufe der Mahlzeit suchte er ihn sich zurückzurufen, und zwar mit dem Erfolge vollkommener Täuschung. Die muntere alte Dame redete wieder in ihrer verwischten Sprache auf den ihr schräg gegenübersitzenden Dr. Blumenkohl ein, der ihr mit besorgter Miene zuhörte. Ihre magere Großnichte aß endlich etwas anderes als Yoghurt, nämlich die seimige Crème d’orge, welche die Saaltöchter in Tellern serviert hatten; doch nahm sie nur wenige Löffel davon und ließ sie dann stehen. Die hübsche Marusja stopfte ihr Taschentüchlein, das ein Apfelsinenparfüm ausströmte, in den Mund, um ihr Kichern zu ersticken. Miß Robinson las dieselben rundlich geschriebenen Briefe, die sie schon heute morgen gelesen hatte. Offenbar konnte sie kein Wort deutsch und wollte es auch nicht können. Joachim sagte in ritterlicher Haltung etwas auf englisch zu ihr über das Wetter, was sie einsilbig kauend beantwortete, um dann ins Schweigen zurückzukehren. Was Frau Stöhr in ihrer schottischen Wollbluse betraf, so war sie heute vormittag untersucht worden und berichtete darüber, indem sie sich auf ungebildete Weise zierte und die Oberlippe von ihren Hasenzähnen zurückzog. Rechts oben, so klagte sie, habe sie Geräusch, außerdem klinge es unter der linken Achsel noch sehr verkürzt, und fünf Monate, habe „der Alte“ gesagt, müsse sie noch bleiben. In ihrer Unbildung nannte sie Hofrat Behrens „den Alten“. Übrigens zeigte sie sich empört darüber, daß „der Alte“ heute nicht an ihrem Tische sitze. Der „Tournee“ zufolge (sie meinte wohl „Turnus“) sei ihr Tisch heute mittag an der Reihe, während „der Alte“ schon wieder am Nebentische links sitze – (wirklich saß Hofrat Behrens dort und faltete seine riesigen Hände vor seinem Teller). Aber freilich, dort habe ja die dicke Frau Salomon aus Brüssel ihren Platz, die jeden Wochentag dekolletiert zum Essen komme, und daran finde „der Alte“ offenbar Gefallen, obgleich sie, Frau Stöhr, es nicht begreifen könne, denn bei jeder Untersuchung sähe er ja beliebig viel von Frau Salomon. Später erzählte sie in erregtem Flüstertone, daß gestern abend in der oberen gemeinsamen Liegehalle – der nämlich, die sich auf dem Dache befinde – das Licht ausgelöscht worden sei, und zwar zu Zwecken, die Frau Stöhr als „durchsichtig“ bezeichnete. „Der Alte“ habe es gemerkt und so gewettert, daß es in der ganzen Anstalt zu hören gewesen sei. Aber den Schuldigen habe er natürlich wieder nicht ausfindig gemacht, während man doch nicht auf der Universität studiert zu haben brauche, um zu erraten, daß es natürlich dieser Hauptmann Miklosich aus Bukarest gewesen sei, dem es in Damengesellschaft überhaupt nie dunkel genug sein könne, – ein Mensch ohne all und jede Bildung, obgleich er ein Korsett trage, und seinem Wesen nach einfach ein Raubtier, – ja, ein Raubtier, wiederholte Frau Stöhr mit erstickter Stimme, indem ihr auf Stirn und Oberlippe der Schweiß ausbrach. In welchen Beziehungen Frau Generalkonsul Wurmbrand aus Wien zu ihm stehe, das wisse ja Dorf und Platz, – man könne wohl kaum noch von geheimnisvollen Beziehungen sprechen. Denn nicht genug, daß der Hauptmann zuweilen schon morgens zu der Generalkonsulin aufs Zimmer komme, wenn diese noch im Bett liege, worauf er dann ihrer ganzen Toilette beiwohne, sondern am vorigen Dienstag habe er das Zimmer der Wurmbrand überhaupt erst morgens um vier Uhr verlassen, – die Pflegerin des jungen Franz auf Nummer neunzehn, bei dem neulich der Pneumothorax mißglückt sei, habe ihn selbst dabei betroffen und vor Scham die gesuchte Tür verfehlt, so daß sie sich plötzlich in dem Zimmer des Staatsanwalts Paravant aus Dortmund gesehen habe ... Schließlich erging Frau Stöhr sich längere Zeit über eine „kosmische Anstalt“, die sich drunten im Ort befinde, und in der sie ihr Zahnwasser kaufe, – Joachim blickte starr auf seinen Teller nieder ...
Das Mittagessen war sowohl meisterhaft zubereitet wie auch im höchsten Grade ausgiebig. Die nahrhafte Suppe eingerechnet, bestand es aus nicht weniger als sechs Gängen. Dem Fisch folgte ein gediegenes Fleischgericht mit Beilagen, hierauf eine besondere Gemüseplatte, gebratenes Geflügel dann, eine Mehlspeise, die jener von gestern abend an Schmackhaftigkeit nicht nachstand, und endlich Käse und Obst. Jede Schüssel ward zweimal gereicht – und nicht vergebens. Man füllte die Teller und aß an den sieben Tischen, – ein Löwenappetit herrschte im Gewölbe, ein Heißhunger, dem zuzusehen wohl ein Vergnügen gewesen wäre, wenn er nicht gleichzeitig auf irgendeine Weise unheimlich, ja abscheulich gewirkt hätte. Nicht nur die Munteren legten ihn an den Tag, die schwatzten und einander mit Brotkügelchen warfen, nein, auch die Stillen und Finsteren, die in den Pausen den Kopf in die Hände stützten und starrten. Ein halbwüchsiger Mensch am Nebentisch links, ein Schuljunge seinen Jahren nach, mit zu kurzen Ärmeln und dicken, kreisrunden Brillengläsern, schnitt alles, was er sich auf den Teller häufte, im voraus zu einem Brei und Gemengsel zusammen; dann beugte er sich darüber und schlang, indem er zuweilen mit der Serviette hinter die Brille fuhr, um sich die Augen zu wischen, – man wußte nicht, was da zu trocknen war, ob Schweiß oder Tränen.
Zwei Zwischenfälle ereigneten sich während der großen Mahlzeit und erregten Hans Castorps Aufmerksamkeit, soweit sein Befinden dies zuließ. Erstens fiel wieder die Glastür zu, – es war beim Fisch. Hans Castorp zuckte erbittert und sagte dann in zornigem Eifer zu sich selbst, daß er unbedingt diesmal den Täter feststellen müsse. Er dachte es nicht nur, er sagte es auch mit den Lippen, so ernst war es ihm. Ich muß es wissen! flüsterte er mit übertriebener Leidenschaftlichkeit, so daß Miß Robinson sowohl wie die Lehrerin ihn verwundert anblickten. Und dabei wandte er den ganzen Oberkörper nach links und riß seine blutüberfüllten Augen auf.
Es war eine Dame, die da durch den Saal ging, eine Frau, ein junges Mädchen wohl eher, nur mittelgroß, in weißem Sweater und farbigem Rock, mit rötlichblondem Haar, das sie einfach in Zöpfen um den Kopf gelegt trug. Hans Castorp sah nur wenig von ihrem Profil, fast gar nichts. Sie ging ohne Laut, was zu dem Lärm ihres Eintritts in wunderlichem Gegensatz stand, ging eigentümlich schleichend und etwas vorgeschobenen Kopfes zum äußersten Tische links, der senkrecht zur Verandatür stand, dem „Guten Russentisch“ nämlich, wobei sie die eine Hand in der Tasche der anliegenden Wolljacke hielt, die andere aber, das Haar stützend und ordnend, zum Hinterkopf führte. Hans Castorp blickte auf diese Hand, – er hatte viel Sinn und kritische Aufmerksamkeit für Hände und war gewöhnt, auf diesen Körperteil zuerst, wenn er neue Bekanntschaften machte, sein Augenmerk zu richten. Sie war nicht sonderlich damenhaft, die Hand, die das Haar stützte, nicht so gepflegt und veredelt, wie Frauenhände in des jungen Hans Castorp gesellschaftlicher Sphäre zu sein pflegten. Ziemlich breit und kurzfingrig, hatte sie etwas Primitives und Kindliches, etwas von der Hand eines Schulmädchens; ihre Nägel wußten offenbar nichts von Maniküre, sie waren schlecht und recht beschnitten, ebenfalls wie bei einem Schulmädchen, und an ihren Seiten schien die Haut etwas aufgerauht, fast so, als werde hier das kleine Laster des Fingerkauens gepflegt. Übrigens erkannte Hans Castorp dies eher ahnungsweise, als daß er es eigentlich gesehen hätte, – die Entfernung war doch zu bedeutend. Mit einem Kopfnicken begrüßte die Nachzüglerin ihre Tischgesellschaft, und indem sie sich setzte, an die Innenseite des Tisches, den Rücken gegen den Saal, zur Seite Dr. Krokowskis, der dort den Vorsitz hatte, wandte sie, noch immer die Hand am Haar, den Kopf über die Schulter und überblickte das Publikum, – wobei Hans Castorp flüchtig bemerkte, daß sie breite Backenknochen und schmale Augen hatte ... Eine vage Erinnerung an irgendetwas und irgendwen berührte ihn leicht und vorübergehend, als er das sah ...
Natürlich, ein Frauenzimmer! dachte Hans Castorp, und wieder murmelte er es ausdrücklich vor sich hin, so daß die Lehrerin, Fräulein Engelhart, verstand, was er sagte. Die dürftige alte Jungfer lächelte gerührt.
„Das ist Madame Chauchat“, sagte sie. „Sie ist so lässig. Eine entzückende Frau.“ Und dabei verstärkte sich die flaumige Röte auf Fräulein Engelharts Wangen um eine Schattierung, – was übrigens immer der Fall war, sobald sie den Mund öffnete.
„Französin?“ fragte Hans Castorp streng.
„Nein, sie ist Russin“, sagte die Engelhart. „Vielleicht ist der Mann Franzose oder französischer Abkunft, das weiß ich nicht sicher.“
Ob es der dort sei, fragte Hans Castorp noch immer gereizt und deutete auf einen Herrn mit vorhängenden Schultern am Guten Russentisch.
O nein, er sei nicht hier, entgegnete die Lehrerin. Er sei überhaupt noch nicht hier gewesen, sei hier ganz unbekannt.
„Sie sollte die Tür ordentlich zumachen!“ sagte Hans Castorp. „Immer läßt sie sie zufallen. Das ist doch eine Unmanier.“
Und da die Lehrerin den Verweis demütig lächelnd einsteckte, als sei sie selber die Schuldige, so war nicht weiter die Rede von Madame Chauchat. –
Das zweite Vorkommnis bestand darin, daß Dr. Blumenkohl vorübergehend den Saal verließ, – weiter war es nichts. Plötzlich verstärkte sich der leise angewiderte Ausdruck seines Gesichtes, sorgenvoller als sonst blickte er auf einen Punkt, schob dann mit bescheidener Bewegung seinen Stuhl zurück und ging hinaus. Hier aber zeigte sich Frau Stöhrs große Unbildung im vollsten Licht, denn wahrscheinlich aus gemeiner Genugtuung darüber, daß sie weniger krank war als Blumenkohl, begleitete sie seinen Weggang mit halb mitleidigen, halb verächtlichen Glossen. „Der Ärmste!“ sagte sie. „Der pfeift bald aus dem letzten Loch. Schon wieder muß er sich mit dem Blauen Heinrich besprechen.“ Ganz ohne Überwindung, mit störrisch unwissender Miene, brachte sie die fratzenhafte Bezeichnung „der blaue Heinrich“ über die Lippen, und Hans Castorp empfand ein Gemisch von Schrecken und Lachreiz, als sie es sagte. Übrigens kehrte Dr. Blumenkohl nach wenigen Minuten in der gleichen bescheidenen Haltung zurück, in der er hinausgegangen war, nahm wieder Platz und fuhr fort, zu essen. Auch er aß sehr viel, von jedem Gerichte zweimal, stumm und mit sorgenvoll verschlossener Miene.
Dann war das Mittagessen beendet: dank einer gewandten Bedienung – denn die Zwergin besonders war ein sonderbar raschfüßiges Wesen – hatte es nur eine gute Stunde gedauert. Hans Castorp, schwer atmend, und ohne recht zu wissen, wie er heraufgekommen war, lag wieder auf dem vorzüglichen Stuhl in seiner Balkonloge, denn nach dem Essen war Liegekur bis zum Tee, – sogar die wichtigste des Tages und streng einzuhalten. Zwischen den undurchsichtigen Glaswänden, die ihn von Joachim einerseits und dem russischen Ehepaar andererseits trennten, lag er und dämmerte mit pochendem Herzen, indem er Luft durch den Mund holte. Als er sein Taschentuch benutzte, fand er es von Blut gerötet, aber er hatte nicht die Kraft, sich Gedanken darüber zu machen, obgleich er ja etwas ängstlich mit sich war und von Natur ein wenig zu hypochondrischen Grillen neigte. Wieder hatte er sich eine Maria Mancini angezündet, und diesmal rauchte er sie zu Ende, mochte sie nun wie immer schmecken. Schwindelig, beklommen und träumerisch bedachte er, wie sehr sonderbar es ihm hier oben ergehe. Zwei- oder dreimal ward seine Brust von innerem Lachen erschüttert über die schauderhafte Bezeichnung, deren Frau Stöhr sich in ihrer Unbildung bedient hatte.